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ARCHIVALISCHE ZEITSCHRIFT - mgh- · PDF fileDer absolute Staat fand spker ein Arsenal von...

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ARCHIVALISCHE ZEITSCHRIFT Herausgegeben von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns rl‹) 75. Band Heinz Lieberich zum 29. 1. 1980 1979 BOHLAU VERLAG KOIN WIEN
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ARCHIVALISCHEZEITSCHRIFT

Herausgegeben von der

Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns

rl‹)75. Band

Heinz Lieberich zum 29. 1. 1980

1979

B O H L A U V E R L A G K O I N W I E N

116 Heinrich Koller

untereinander iiberhandnahmen", diirfte die Kurie, um nicht allzuvieleEntscheidungen vorwegnehmen zu miissen, immer mehr Abstand davongenommen haben, namentliche Besitzbestkigungen zu erteilen. Folg-lich diirfte weniger die Entscheidung Alexanders III., als die Zunahmeder Gerichtsverfahren den Ausschlag gegeben haben, daí3 immer mehran der Glaubwiirdigkeit der Traditionsnotizen gezweifelt und die Vor-lage der Siegelurkunden verlangt wurde. Wegen dieser Vorschrift diirf-ten damals viele Traditionsnotizen zu Siegelurkunden umgearbeitetund gelegentlidi verfàlscht worden sein". Unsere knappe Obersicht hatauch gezeigt, daf3 manche Spezialuntersuchungen noch ausstehen, ohnedie kein endgiiltiges Urteil gefàllt werden kann. So enthàlt daher dieseStudie nur einige Beobachtungen und Anregungen, aber nodi kein end-giiltíges Ergebnis.

" Vgl. dazu O. Hagen e de r, Die geistliche Geridusbarkeit in Ober- und Nieder.ósterreicb, 1967." Dazu Fic htenau, Urkundenwesen S . 247ff .

Der Widerruf*Fn Privilegien im friihen Mittelalter

VOil

HERMANN KRAUSE

Im Zeitalter betonter Chancengleichheit sind Privilegien auf jedenFall verdkhtig und fast ganz aus dem Gesichtskreis des praktischenJuristen entschwunden. Das 5.ndert aber nichts daran, da13sie, verliehenvon Kaiser und Npsten, von anderen weltlichen wie geistlichen Macht-tràgern, in der Zeit von 500 bis 1500 das Bild der abendÚndischenRechtsentwicklung weitgehend gepKigt haben. Richtig faflar werdensie uns erst mit der Verbreitung der Schriftlichkeit, wenn auch bisweilendie altere Schicht reiner Miindlichkeit noch durchscheint. Zun5.chst nebenKapitularien und Volksrechten beherrschen sie seit dem Ausklang derKarolinger die schriftliche Rechtsiiberlieferung jedenfalls des weltlichenRechts fast allein. Einzelakt und Personbezogenheit sind ihre Merk-male. Auf der Hóhe des Mittelalters kommt eine neue Welle allgemeinformulierter Rechtsaufzeichnungen. Gesetzgebung wird zum Mittel derHerrschaft. Die Auseinandersetzung zwischen Privilegienrecht undLandeshoheit beginnt. Die Verleihung von Privilegien wird als Aus-flu13 der Gesetzgebungsmacht erfaf3t. Fiihrend bei der theoretischenDurchdringung ist die Kanonistik. Wenn der Papst es ist, der den Sk-zen des Kirchenrechts ihre Giiltigkeit verleiht, so schlief3t man daraus,daB ihm auch die Herrschaft iiber ihren Fortbestand zukommt. Er kannaus seiner Machtvollkommenheit Gesetze aufheben oder àndern. Dem-entsprechend steht auch die Fortexistenz von Privilegien zu seinerDisposition: er kann sie wiederrufen'. Schon bei Rolandus, dem nach-maligen Papst Alexander III. 1181), ist diese Position allgemein er-reicht. Die niichsten Jahrhunderte bringen die Entfaltung der Lehremit dem mannigfachen Bemiihen, die plenitudo potestatis zwar demBestande nach nicht anzuzweifeln, aber ihr praktisch doch gewisseGrenzen zu ziehen, die in der subtilen Unterscheidung zwischen Diirfenund Kiinnen gefunden werden. Praktisch heiRt das, daf3 der Widerrufeiner causa, eines rechtfertigenden Grundes, bedarf. Das weltlicheRecht schwenkt voli auf die kanonistische Lehre von der Widerruflich-

Dorninikus Lin dner, Die Lehre vom Privileg nach Gratian und den Glossa-toren, 1917, S. 95ff.

118 Hermann Krause

keit der Privilegien cin2. Der Widerruf ist dabei nur einer unter meh-reren Griinden, die zum Wegfall eines Privilegs fiihren. Das BriinnerSch6ffenbuch des Stadtschreibers Johann von Gelnhausen (1353) bietetetwa mit seinem Katalog von acht Verlustgriinden° einen anschaulichenBeleg. Der absolute Staat fand spker ein Arsenal von Waffen fiir semeZwecke vor.

Auf der Wende der Zeit stand Gratian. In seinem Denken flossen dieOberlieferungsstriinge seit der friihen Zeit des Christentums zusammen.Fiir die Jahrhunderte, die auf ihn folgten, hatte die Quellenmasse ausden ersten 1100 Jahren des Christentums die Gestalt der annnernd4On0 Textausziige angenommen, die sein Dekret versammelte. Sie bil-deten die Basis dessen, was man spker die „Rechtskirche" genannt hat.Gratian Úutete ganz eigentlich „das juristische Jahrhundert Europas"ein, zugleich sein Herold und sein Gesch6pf; denn die Zeit war reif4.Die Rechtswissenschaft, geistlich wie weltlich, begann ihre Arbeit. Dieheutige Wissenschaft der Rechtsgesdfichte setzt deshalb hier an, soweitsie systematisch bemiiht ist. Es geniigt, auf zwei Beispiele zu verweisen:einmal auf den beriihmten siebten Band (1965) der von Gabriel Le Brasgeleiteten „Histoire du Droit et des Institutions de l'Eglise en Occi-dent", der das „l'Age Classique 1140-1378" zum Gegenstand hat,zum andern auf das von Helmut Coing herausgegebene „Handbuchder Quellen und Literatur der neueren europàischen Privatrechts-geschichte" (1973ff.), das bewufit erst mit der Renaissance des 12. Jahr-hunderts, der Ausbildung des wissenschaftlichen gemeinen Rechts, ein-setzt; iiber die Berechtigung dieser Abgrenzung soli hier nicht gestrittenwerden°. Aber es ist bezeichnend, dafi bei Le Bras (Lefebvre) die Privi-legien in der Rechtsquellenlehre einen eigenen Abschnitt haben°, der

2 H. Kr anse: Dauer und VerOnglichkeit im mittelalter lichen Redit , ZRG° 75(1958) 244f.' E. Fr. R6ssler, Die RechtsdenkmWer aus Biihmen und Mitren II, 1853, S. 1ff. ,hier Tit. 285: Unde considerandum est, quod privilegium amittitur multis modis;primo: per actum contrarium, per quem aliquis renuntiat juri suo; secundo: spatiopraescriptionis; tertio: tempore limita tionis elapso; quarto: per sententiam sicut incasu praescripto . . . ; quinto: tollitur privilegium primum per secundum faciensmentionem expressam de priori; sexto: per concedentis revocationem, sicut si privi-legium aliquas continet gratias, quas ille, qui concessit in praeterito, revocat infuturo. Septimo amittitur privilegium per renuntiationem propriam et expressam.Ultimo per abusum, quod exponi potest per non usar,: vel per contrarium usurnCerte dici potest: privilegium mereris arnittere, quia permissa tibi abusus es potestate.• H. Krause, Art. Gesetzgebung, HRG I Sp. 1606ff. , hier 1613.• Kritik dazu bei Horst Fuhrmann, DA 30 (1974) 602.o S. 487ff. in dem von Le f eb v re bearbeiteten Abschnitt: La théorie généraledu droit.

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sich aus der zeitgen6ssischen Kanonistik speist, wnrend das Coing'scheHandbuch zwar an etlichen Stellen von konkreten Privilegien spricht,ihnen aber als Figur bislang keinen eigenen Platz einaumt7. Will mandie Gesamterscheinung „Privileg" im deutschen Schrifttum wenigstenskurz vor Augen bekommen, mufi man auf 5.1tere Literatur zuriidt-greifen, etwa auf Otto von Gierke° oder auf das W6rterbuch des Deut-schen Staats- und Verwaltungsrechts von Stengel-Fleischmann°, wogesagt wird, dafi sich allein im kanonischen Recht ein einigermafiengeschlossenes System iiber das Privilegienrecht gebildet habe. BeideDarstellungen lassen auf den ersten Blidt erkennen, dafi das Institut infriiheren Perioden der Entwicklung seme Auspr4ung erfahren hatteund mit einiger Miihe in den Rechtszustand der Jahrhundertwendeeingefiigt wurde. In beiden Darstellungen wird auch der Widerruf be-handelt". Wnrend Gierke in ihm nur mehr einen Fall der gesetz-geberischen Aufhebung sehen will, greifen Hinschius-Kahl auf denLiber Extra (1234) zuriick" und zitieren: privilegium rrzeretur amittere,qui permissa sibi abutitur potestate. Sie hatten daftir besser schonGratian, nicht erst Gregor IX. anfiihren sollen. Denn wie fiir das 12.,so scheint auch noch fiir das 20. Jahrhundert Gratian am Anfang derDinge zu stehen, wenn es sich um den Widerruf von Privilegien handelt.

Was aber war vor Gratian? Die Frage sieht im ersten Augenblidtetwas miifiig aus; denn Gratian gibt ja durchweg an, aus welcher Quelleer seme Skze gesch6pft hat. Indessen ist doch verh5.1tnism5sig wenigdamit gewonnen, dati wir eine Dekret-Stelle auf dieses Konzil oderjenen Papst zuriickfiihren kiinnen. Die in Deutschland Ongige rascheKlassifizierung als rezipiertes Recht bleibt gleichfalls nodi ziemlich ander Oberflkhe. Man sollte nicht bei solcher simplen Einweg-Betrach-tung stehen bleiben, sondern sich dessen bewufit werden, dafi die un-zweifelhafte Rezeption eines r6mischen oder kanonischen Satzes dodierst dann verstkidlich wird, wenn man diejenigen Ziige im mittel-alterlichen Recht aufdeckt, die in irgendeiner Weise der rezipierten

' In Bd . II , 2 , 1976 , S . IX wird zwar e in Beit r ag von H . M ohnhaup t iiberdie Privilegien fiir den Abschnitt iiber die Institutionen angekiindigt, im spker er-schienenen ersten Teilband, 1977, S. XV aber in den dritten Teilband verschoben.Man sicht also nodi nicht, warum die Figur iiberhaupt erst im Zeitraum 1500-1800angesiedelt ist, in dem die groffe gestaltende Wirkung des Privilegs ihren H6hepunktschon iiberschritten hatte.

Deutsches Privatredu I, 1895, S. 302ff.o 2 . Au f l. B d . III , 1 9 1 4 , Ar t . „P r ivilegiu m" vo n H in sch iu s u n d K a 1 1 1 ,S. 196ff.1 0 0 . v . G i e r k e S . 3 0 7 ; H i n s c h i u s - K a h l S . 2 0 0" X, 5,33, 24.

120 Hermann Krause Der Widerruf von Privilegien im friihen Mittelalter 121

Einrichtung schon vorgearbeitet haben, ihr gewissermaf3en den Bodenbereiteten. Freilich darf man nicht erwarten, Spuren eines eigenenSystems an das Tageslicht zu bringen. Das deutsche Gewohnheitsrechtdes Mittelalters entwidtelte sich von Fall zu Fall und wurde bei gleicherZielsetzung oft ganz unterschiedlich ausgedriickt. Das seit dem 12. Jahr-hundert festere Formen annehmende Untervogtverbot z. B. erschien inden einschÚgigen vier Urkunden Lothars 111.12 und den acht UrkundenKonrads 111.13in ganz wechselnder sprachlicher Fassung. Mitten in die-

ser Reihe wurde es gar als communis lex totius regni nostri (DKIII 241)apostrophiert, aber man zog daraus keine Konsequenz; die kaiserlicheKanzlei, von Gesetzgebungsvorstellungen weit entfernt, blieb wie beiEinzelakt und Personbezogenheit so bei ungebundener sprachlicherVariation". Darin liegt die Schwierigkeit der Ermittlung von Vor-stufen oder Ansatzpunkten der Rezeption im eigenen Bereich; zurKenntlichmachung des Gemeinten habe ich manchmal von einer „Ge-stimmtheit" des nodi nicht rationalisierten einheimischen Rechts fiirsystematisch durchgebildete Erscheinungen des r8mischen und kano-nischen Rechts gesprochen15.

Das Ziel der folgenden Ausfiihrungen ist mithin das Aufspiiren friih-mittelalterlicher Vorstufen der seit Gratian systematisch anvisiertenWiderruflichkeit von Privilegien. Dabei muf3 das Augenmerk auf dieGesamtheit der Rechtsiiberlieferung dieser Periode gerichtet werden.Die Fragestellung fiir die Stoffsammlung lautete: wo gibt es Spureneines einseitigen Aullerkraftsetzens oder eines sonstigen Auf3erkraft-tretens erteilter Privilegien, die zum Institut eines durchgebildetenWiderrufsrechts hinfiihren keinnen? Das Material wird in drei Gruppenvorgefiihrt, die nicht aus theoretischen Griinden „vorentwickelt" wur-den, sondern die sich aus der ganz unhomogenen Fundmasse langsamherausentwickelt haben.

Die erste Gruppe sammelt sich um die Vorstellung vom Mifibraucbeines irgendwie gearteten Vorrechts. Sie wird an den Anfang gestellt,weil sich in ihr schon friih eine feste sprachliche Fassung herausgebildethat, die fast eineinhalb Jahrtausende iiberdauerte. Der Ansatzpunktfindet sich bei Augustinus in der Predigt De tempore sermo CCXLV Il",die in das erste Viertel des 5. Jahrhunderts zu setzen ist. Er redet dort

" DD. L III. 23, 75, 84, 86." DD. K IH. 30, 38, 169, 188, 211, 241, 268, 169.14 Vgl. meine Besprechung des Diplomata-Bandes fiir Konrad III., ZRG 2 88(1971)309f." ZRG! 82 (1965) 94; 87 (1970) 404." Opera divi Aurelii Augustini, Venedig 1550, Bd. 10, S. 250. A.

im AnschluI3 an 1. Kor. 11, V. 14 und 15 davon, daf3 es einem Mannzur Unehre gereiche, wenn er sein Flaar lang wachsen lasse; w5trender nach Gottes Ordnung die Vorherrschaft liber das Weib habe, sprecheer sie sich selber ab, wenn er gegen die Ehre seines Geschlechts seinHaupt in der Oberftille seiner Haare verstedte. Ein solcher Mann seiin Wahrheit nicht so sehr den Weibern, sondern dem unversandigenVieh (Psalm 49,13) zu vergleichen. Und er fiigt als Begriindung hinzu:Judicio enim legum iure ab obtenta dignitate dejicitur, qui privilegiosibi concesso abutitur' 7. Dieser Schluf3satz iiberrascht. Er geheirt nichtzur Sprache der Bibel, der Augustin bis dahin folgte. Man hat eher dasGefiihl, hier einer Erinnerung an die Zeit zu begegnen, in der er Lehrerder Rhetorik in Rom- -i-ind Mailand war und damit auch gewisse juri-stische Grundkenntnisse zu vermitteln batte. Mher belegen làft sichdicse Hypothese freilich nicht. In dcr Oberlieferung des riimischenRechts findet sich kein Anhaltspunkt. Das Privileg, um das es sich hierhandelt, primatus super mulierem, der Vorrang's vor der Frau, dieVorherrschaft iiber sie, ist nichts anderes als die substantivische undvom Mann her gesehene Formulierung der Genesis-Fluchformel iiberdas Weib: sub viri potestate eris, et ipse dominabitur tui". Augustinbenutzt zur Kennzeichnung die dem riimischen Recht gelàufigen Wortedignitas und privilegium. Das Hiniibergleiten in die juristische Sph5.rewird damit deutlidi, ohne daf3 doch der urspriinglidie Zusammenhangmit der unmittelbaren góttlichen Einsetzung verloren gegangen w5.re.Der angeprangerte Mi13brauch, das Wachsenlassen der Haare beimMann, soli die Vertreibung aus dem Besitz des Vorredits nach sichziehen; man spiirt in dem dejicitur das aktive Element der Entsetzung.

Noch am Ende des gleichen Jahrhunderts taucht diejenige Formulie-rung des Augustinischen Grundgedankens auf, der die Zukunft geheirte.Papst Simplicius (468-483) schrieb im Jahre 482 einen Brief an denErzbischof von Ravenna20, in dem er ihn riigte, weil er jemandeninvitus, gegen seinen Willen, zum Bischof geweiht hàtte; er wolle nicht

" Bei Augustin lautet die Stelle im Zusammenhang: Audivimus Paulum doctoremgentium dicentem Corintbijs, Vir si comam nutriat ignominia est illi. Cum enim virex dei ordinatione primatum babet super mulierem, qui contra honorem sui sexussuperfluitate capillorum caput velat, primatum suum sibi abiudicavit, ut merito deodicatur, Homo cum in honore esset non intellexit, comparatus est, ut vera dicamus,non tam mulieribus, sed etiam iurnentis insipientibus. ludicio enim legurn iure abobtenta dignitate dejicitur, qui privilegio sibi concesso abutitur.' 3 So iibersetzt Luther primatum in Kolosser 1, 18." 1. Mose 3, 16.!° A. Thiel : Epistolae Romanorum pontificum genuinae I, 1868, ep. 14, S. 201ff.,aus der Collectio Dionysio-Hadriana.

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aufbauschen, was geschehen sei, um nicht mit einem fórmlichen Urteilvorgehen zu miissen: nam privilegium meretur amittere, qui permissasibi abutitur potestate. Wenn aber dergleichen von neuem geschehe,miisse der Erzbischof mit der Entziehung der Weihegewalt redmen21.Die Ahnlichkeit mit der Sentenz Augustins springt in die Augen; schondie Correctores Romani haben darauf aufmerksam gemacht22. Die An-nahme, Simplicius habe die Stelle in den Sermones Augustins gekannt,liegt nahe. Der Tatbestand klingt bei Augustin und Simplicius fastgleich: qui privilegio sibi conesso abutitur — qui permissa sibi abutiturpotestate. Zwar sind die Gewalt iiber die Frau und die Weihegewalt(potestas ordinis) verschiedene Dinge; die eine entstammt direkt demgóttlichen Fluch nach dem Siindenfall, die andere entstammt der Voll-macht, die Gott der Kirche gegeben hat. Aber der Sprachgebrauch desfiinften Jahrhunderts erlaubte, beide Erscheinungen mit demselbenWort privilegium zu bezeichnen: Augustin im Tatbestand, Simpliciusin der Reditsfolge. Beide sollen durch Marauch verloren gehen.Abusus ist sowohl das Wachsenlassen des m5.nnlichen Haupthaares wiedie Ordination eines dazu nicht Willigen — die Spannweite dieses Be-griffs wird schon hier deutlich. Aber eine menschliche Verwirklichungder Androhung Augustins lift sich kaum vorstellen. Die Siindenfall-Verfluchung gehiirt ganz und gar in den Bereich geittlichen Handelns.Simplicius dagegen holt die Folgen des MifIrauchs auf die Erde herab:Verlust der Weihegewalt durch Urteil des Papstes. Erst damit war demSatz allgemeine Brauchbarkeit zugewachsen. Insgesamt kann man sichnur schwer dem Eindruck entziehen, daf3 Simplicius die Augustinstellebei seiner Formulierung vor Augen gehabt hat.

Wenn die Linie nach riickwrts nicht voli beweisbar ist, so ist dasWeiterwirken der Simplicius-Regel bis hin zu Gratian desto besser ge-sichert. Horst Fuhrmann hat es aufgehe11t23, deshalb geniigen hier kurzeHinweise. Im neunten Jahrhundert taudit das Zitat wie auf pàpstlicherSeite, so auch im Bereich der frànkischen Kirche auf. Die Streitschriften

21 Nolumus exaggerare, quod gestum est, ne cogamur iudicare quod dignum est;nam privilegium meretur amittere, qui permissa sibi abutitur potestate. Denunciamusautem, quod, si post aliquid tale presumpseris, et aliquem seu episcopum, vel pres-biterum, vel diaconum invitum lacere forte credideris, ordinationes tibi Ravenna tisecclesiae ve! Emiliensis noveris auferendas."t Stern-Anmerkung zu C 11, 3, 63 in der Ausgabe des Corpus Iuris Canonici 1879(Neudr. 1959) von Aemilius Friedber g.

Zur Sulle Venerabilem. H istor ische Forschungen f iir Walter Schlesinger ,1974, S. 514ff. , Nachweise besonders S. 516 Anm. 11. Vgl. H. Fuh r m an n :Einflufl und Verbreitung der pseudoisidorischen Mschungen, 1972/74, II, 500,Anm. 204; III, 680, 734.

des Investiturstreites liefern mehr als ein halbes Dutzend Beispiele sei-nes Gebrauchs, charakteristischerweise stets in der Kurzform seinesKernsatzes unter Beiseitelassung seines konkreten Sachzusammen-hangs. Damit verschwanden auch die auf den Papst hindeutendenWorte ne cogamur iudicare" aus diesem Zweig der Oberlieferung, sodal in der Folgezeit die Regel fiir jeden Privilegienerteiler benutzbarwurde. Die grof3en kirchenrechtlichen Sammlungen vor Gratian ver-mitteln ein unterschiedliches Bild. Die 74-Titel-Sammlung und Deus-dedit kennen gleichfalls nur die Kurzform, wnrend Burchard vonWorms, Bonizo, Ivo von Chartres die Langform bieten; beide Formennebeneinander verwenden Anselm von Lucca und die CollectioCaesaraugustana.

Das also war der Bestand, den Gratian bei der Abfassung seinesDekrets vorfand. Der Simpliciusbrief wird viermal zitiert: in der voll-sandigen Langform in D 74 c. 725; in der Kurzform in C 11,3,6326mitder Gratianischen Rubrica Privilegio meretur exui, qui eodem abutitur;in C 25,2, dictum post c. 21 5 2 und in der Rubrik zu C 25,2,23. Gra-tian hat die Kurzform nodi intensiviert, indem er die Verlustfolge inden ersten beiden Zitaten durch Einfiihrung eines omnino versarkte27.Bedeutsamer als die kleinen sprachlichen Anderungen ist das jeweiligeAnwendungsfeld des Simpliciusbriefes. Nur in der Distinctio 74 ist derurspriingliche Zusammenhang bewahrt, sie handelt von der Frage, objemand gegen seinen Willen ordiniert werden darf. Dagegen wird inder dritten Quaestio der Causa 11 gepriift, ob ein wegen aktiven Ver-stoBes gegen das privilegium fori abgesetzter Geistlicher sich dem Urteildes Bischofs auf jeden Fall zu fiigen habe. Hier wird in Pars IV (abc. 44) das Problem des ungerechten Urteils zur Diskussion gestellt.Wer willkiirlich urteilt, sich von HaB oder GeNligkeit leiten lggt, solinach einem Zeugnis Gregors die potestas ligandi atque solvendi ver-lieren (c. 60). Von da ist es nur nodi ein kleiner Schritt, auch auf denVerlust von Privilegien wegen MifIrauchs der durch sie verliehenenpotestas aufmerksam zu machen. Durch die Autoriat Gratians sind

Vgl. oben Anm. 21.Lefebvre (oben Anm. 6) S. 512 irrt, wenn er vermerkt, da fi hier Gregor der

Grafie unter thergehung des Simplicius als Quelle angegeben verde. Die ridnigeHerkunft des Canons ist am Schluf3 des ihm unmittelbar vorangehenden Gratiani-schen Dictums verzeichnet. — Der SchluBsatz der Langform (oben Anm. 21) kehrtselbsCndig nodi einmal in C 25, 2, 23 wieder.

Hier versehentlich auf das Registrum Gregors zurtickgefiihrt, was schon die Cor-rectores Romani richtiggestellt haben." Privilegium omnino meretur amittere.

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nunmehr sowohl die Bindung an eine bestimmte Art des Millbrauchswie die Bindung an ein Papsturteil iiber die Folgen im Einklang mitder vorangehenden Entwiddung endgilltig gelóst. Der Simpliciusbriefhatte sich zu einer Generalklausel, wie man modem n sagen kiinnte, ge-wandelt. Wiederum eine neue Seite wird ihm in C 25,2, dictum p. c. 21abgewonnen. Die Quaestio 2 stellt den beriihmten Grundsatz an denAnfang, daB lteren Privilegien nicht durch neuere die Fortgeltung ent-zogen werden diirfe. Dafiir werden zunkhst 21 Belege beigebracht.Aber Gratian selber zweifelt. In seinem dictum p. c. 21 h'àlt er der5.Iteren Ansicht entgegen, daB die Kirche aus Griinden der pietas wieder necessitas die Privilegien vieler Kirchen habe mindern oder auf-heben miissen, entweder nur fiir eine bestimmte Person oder allgemein.Und er fiigt hinzu: Personaliter íuxta illud . worauf die Kurzformdes Simpliciusbriefes folgt28. Er dient hier einmal dazu, die alte undvielfàltig dokumentierte Lehre von der Unverànderlichkeit verliehenerPrivilegien zu erschiittern; denn wenn sie wegen MifIrauchs verlorengehen kiinnen, sind sie eben nicht schlechthin intemerata et inviolata,wie eine oft wiederholte Wendung Pseudoisidors aus einem angeblichenAnacletbrief" es verkiindete. Zum zweiten dient sie der Herausarbei-tung der unterschiedlichen Wirkung einer necessitas".

Die weitere Geschichte der insbesondere auch von Innozenz III.mehrfadi herangezogenen Simpliciusstelle ist hier nicht auszubreiten.Nur darauf mag nodi hingewiesen werden, dafl sie nicht nur ein Ele-ment zur Ausschmiidtung alter und neuer Kirchenrechtssammlungenwar, sondern auch durchaus in der Praxis benutzt wurde. Vom Kónigs-hof liegt ein Beleg aus dem Jahre 1149 vor: der Bischof von Mindenhatte einen Auftrag zur Konsekration der entweihten Kirche zu Kem-nade nicht befolgt. Ein /vIandat Konrads la& ihn wissen, dafl dieseNichtbeachtung zum Verlust des Privilegs, d. h. des Weiherechts, fiih-ren und làdt ihn zur Verantwortung vor ein Flirstengericht.Die Anwendung der Simplicius-Formel steht fest; nur dariiber, ob diekinigliche Kanzlei sie damals schon aus dem Text Gratians oder aus

Allgemein zu C 25 qu. 2 Lindner (oben Anm. 2), S. 96f." Ep isto la Anacle t i P r ima c . X V bei P au lus H insch ius: D ecre ta les P seudo-Isidorianae, 1863 (Neudr. 1963), S. 73; danach z. B. Synode von Hohenaltheim,916, MGH Const. I Nr. 433 c. X; Gratian C 25, 2, 1. Ober die Erfindung derAnaclet-Briefe H. Fu h r mann (oben Anm. 23) I S. 182f." Dazu H. F uhr mano (oben Anm. 23), Schlesinger-Festschrift S. 517 Anm. 14." D K III. 212: Ceterum si reconciliationem ecclesie .. amplius dif ferre tempta-veris, quoniam privilegium meretur amittere, qui concessa abutitur potestate, noseius purgationem ulterius dissimulare nequaquam valebimus.

Der Widerruf von Privilegien im friihen Mittelalter 1 2 5

einer àlteren Kompilation entnahm, kann man zweifeln32. Der Kònighandhabt die Verlustandrohung genauso wie der Papst. Ob Simpliciusseinerzeit auch der weltlichen Macht dieses Durchsetzungsmittel hattezuspielen wollen, diirfte zu verneinen sein. Ein Konfliktfall stand in-dessen nicht ins Haus, da der konkrete Streit, der das Mandat ausgelósthatte, ein solcher zwischen zwei geistlichen Instanzen war, nàmlichzwischen dem Abt Wibald von Stahl° und dem Bischof Heinrich vonMinden um den Besitz des Kanonissenstifts Kemnade33.

Eine zweite Entwicklungslinie 15.uft unter den Stichworten Straf-klausel, Lehensverwirkung, Vermógenskonfiskation.Die damit ange-sprodienen Positionen interessieren in unserem Zuszmmerharig insoweit,als es bei ihnen zu einem Verlust verliehener Rechte kommt. Sie liegenanfànglich ineinander oder so nahe beieinander, da{ ihre TrennungMiihe macht. Erst im Laufe der Zeit kommt es zu deutlichen Aus-differenzierungen aus einer urspriinglich noch undifferenzierten Herr-schaftsgewalt

Von der Strafklausel kommen hier weder die zu manchen Zeitenmkhtig anschwellenden Fluchformeln in Betracht, nodi die aus derAntike iibernommene poena dupli oder die Geldstrafe in ihren son-stigen Erscheinungsformen, nodi der seltener begegnende Schadens-ersatz. Wohl aber weist in unsere Richtung die Piinformel Chilperichs I.(561-586) in seinem Befehl zur Wiedererrichtung des Klosters Beau-vais34, erteilt omnibirr-; .. agentibus regni nostri, also geistlichen wieweltlichen Wiirdentiigern": Si quis autern . temerarie temptaveritviolare: iram summi iudicis ... incurrat, et quantamcumque possessio-nem habere videtur, legibus amittet ... Der vollstàndige Vermógens-verlust umfaBt ungeschieden Eigengut und verliehenes Gut und beraubtetwaige Urkunden ihrer Wirkung. Dodi wird davon nodi nicht geson-dert gesprochen. Wenn aber Berengar II. im Jahre 953 bei einer Be-stkigung fiir das Kloster S. Michele in Barrea vorschreibt36: inlicitasatque damnosas seu inutiles conscriptiones vel commutaciones evacuen-tur, so wird mit conscriptio schon die VerMerung durch eine cartabesonders angesprochen37; die Formel wandert wenige Jahre spker in

H . K r a u s e , Z R G 2 88 (1971) 311f. ; H. F u hrmann, a.a0. , S. 517 Anm. 12.Vorbemerkungen zu DD K III. 182, 207.

" D Merow. 8.35 G. Waitz, Deutsdie Verfassungsgeschichte4 II, 2, 1953, S. 119 Anm. 1." I Diplomi di Ugo e d i Lotar io , d i Berengar io 11 e d i Alber to , a cura LuigiSchiaparelli, Roma 1924, Nr. 8." J . F . N ier me ye r : Mediae Lat in ita t is Lexicon Minus, 1976, S . 253 s. v.conscriptio 1: aliénation au moyen d'une drarte.

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Diplome Ottos I. fiir den gleichen EmpÚnger". Weiter nach Nordengibt es zunkhst mehr einschlàgige Filschungen, in denen das Durch-einanderlaufen der Linien besonders deutlich wird". Seit Heinrich I.spielt der in Schenkungsurkunden angedrohte automatische Riickfallbei Entziehungen und Zweckentfremdungen eine Rolle". Bald wirddie Riickfallklausel auf Fine gewaltsamer Eingriffe Dritter (nicht nurdes Schenkers oder seiner Nachkommen) ausgedehnt und ebenso kein-nen andere Personen als der Schenker zum EmpUnger des rùckfallen-den Gutes bestimmt werden". Erst im 12. Jahrhundert feiert, soweitersichtlich, der Verlust des gesamten Verm5gens in den Strafklauselnder Diplome seme Wiederbelebung". In einer Verleihung Lothars III.fiir die Bamberger Kirche heilk es vom Verletzer: omni iure seculari,nisi resipiscat, privaretur". Unter Konrad III. wird die Wendungconditi onis sue dignitate careat iiblich"; einen inhaltlichen Unterschiedbedeutet der Wechsel des Ausdrucks nicht. Verwandt mit der gegenjedermann gerichteten Strafklausel der Urkunden ist die unter Lo-thar III. sich verbreitende gezielte Androhung des Rechtsverlustesgegen Vi5gte. Sie ist ein Teil des schon im 11. Jahrhundert einsetzendenund oben beriihrten" Kampfes gegen den AmtsmifIrauch der Kloster-vógte, speziell gegen die Einsetzung von Unteryógten. Ein Vogt, deralso handelt und die Belastung des Klosters dadurch vervielfaltigt, soli,wie Lothar nach dem Vorbild Heinrichs V. der Propstei S. Felix undRegula in Ziirich 1130 bestkigt, privatus honore suo seiner Vogtei fiirimmer verlustig gehen". W5.hrend zunkhst nodi der Untervogt an

" DD O I. 261, 263; DO II. 254. Die Panformel aus DO I. wurde spater in demDiplom Karls des Grofgen far Montecassino von 787, D Karol. 158, interpoliert." D Karol. 265 fiir die Kirche von Le Mano, Falschung von c. 835-840: episcopusin iure eiusdem ecclesie easdem res revocare faciat ... Qui negligit censutn, perdatagrum et per hanc auctoritatem sive eorum negligentia vel contemptu ipsa perdantbeneficia. — D Karol. 71 fili- Kloster St. Germain des Prés, Interpolation von einerHand des 10. Jahrhunderts: qui non vult rerum amissione multari.'° D H I. 19 fiir Kloster Kempten: si eis abstraherentur, ad condonatores vel suc-cessores eorum retnearent; DD 0 I. 202; H n. 56, 192; H III. 167, 169-174; HIV. 274." D O I. 203 fiir S. Emmeram in Regensburg: si episcopus . aut aliqua potenspersona hanc traditionis firmitatem violenter infringere voluerit, cuncta que traditafuerant, redeant in ius et potestatem domine fudite et fui eius Heinrici ducis seuipsorum beredis proximi." In Italien batte er sich gehalten, Beispiel D H II. 172 fiir Bisdiof von Cremona." D L III. 54, Wiederholung in der Bestatigung D K III. 160." DD K III. 23, 49, 52, 53, 61, 65, 176." Bei Anm. 11-13." D H V. Stumpf 3107; D L III. 23, ferner 55, 87.

seme Stelle tritt, erscheint bald der princeps, sub cuius potestate locusest, als Vollzieher der Ersetzung". Diese Gestaltung wird jedoch als-bald durch die zur Regel werdende Errrachtigung des jeweiligen Klo-sterabtes abgelbst, den Vogt, wenn er sich als non patronus sed predo"erweist, als Tyrannen seiner Wiirde zu berauben und einen andern zuberufen".

In die Wirklichkeit ilbertragen bedeutete die Absetzung eines Vogtesdessen Lehensverlust, denn die Vogtei war Objekt lehensrechtlicherVergabung". So erklkte Friedrich Barbarossa, indem er ein Reichs-weistum des Hofgerichts wiedergab, juristisch genauer: si quis princi-palis advocatus subadvocatum sibi constituat vel patiatur, eiusdemadvocatie beneficium amittat51. Damit sind wir in den Bereich desLehensrechtes eingetreten. Seine Entfaltung, zumal in Deutschland,vollzog sich fast ganz aufkrhalb der Schriftlichkeit. Deshalb gibt es nurwenige verstreute Nachric.hten, die sich in unseren Gedankengang ein-fiigen lassen. Allerdings hiiren wir zu Beginn fast so etwas wie einenTrompetenstof3. Er entstammt einer Arenga der Zeit Theuderichs III.und lautet: Merito bene ficia quae possident amittere videntur, qui nonsolum largitori bus ipsorum bene ficiorum ingrati existunt, verum etiaminfideles eis esse comprobanturn. Man ist von ferne an den Simplicius-brief erinnert und hat hier gleichsam ein Gegenstlick zu ihm aus demBereich des weltlichen Kónigsrechts. Dem Privilegienverlust wegenMiBbrauchs entspridit der Beneficienverlust wegen Untreue. Auch imsiebten Jahrhundert ktinnen wir so wenig wie im fiinften scharfkantigeRechtsbegriffe erwarten. Der verschwimmenden Bedeutungsbreite vonprivilegium entspridit die „schier unbegrenzte Zahl" der Verwendungs-meiglichkeiten von bene f Aber fiir uns geniigt die Vergegen-wktigung, da B hier mit bene ficium „eine Vorstufe" des fankischenLehensredits in das Spiel gebracht wird. Denn konkret hat die Ur-kunde Theuderichs III. die Verleihung von Giitern zum Inhalt, dieeinem rebellischen Herzog, der wegen Verbindung zu Austrasien nobisinfidelis apparuit, entzogen und zum Kiinigsgut geschlagen waren.Hundert Jahre spker klingt es im Capitulare Aquitanicum Pippins

" D L III. 67.i 8 So D K III. 38; vorher schon DD L III. 77, 84, 87." D K III. 87, ferner D K III. 268." Mit te is-Lieber ich : Deutsche Rechtsgeschichte", 1978,S . 147." D Fr I. 125 fiir Kloster Wessobrunn, a. 1155; dazu H . K r a u s e , Z R G ° 9 4(1977) 265." D Merow. 46, a. 677." H. Mitteis, Lehnredit und Staatsgewalt, 1933, S. 107. Zur „Vorstufe" S. 115.

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von 76854schon praziser und aufgefacherter: Wer ein kiinigliches Bene-ficium besitzt, es aber nicht richtig bestellt, der soli es verlieren, abermag sein Eigengut behalten55. Dem folgt: wer sein Kettenhemd beimAufgebot nicht dabei hat, verliert beneficium cum brunia, erst recht soliit-", bei Ausbleiben trotz Aufgebots des Seniors das bene ficium ent-zogen werden55. Die Androhung kann sich erweitern: beneficium ethonorem perdat 57; dabei bedeutet honor jedenfalls urspriinglich Amts-lehen im Gegensatz zur gew5hnlichen Landleihe, spater verwischen sichdie Grenzen bis hin zum einfachen Pleonasmus. Heinrich Mitteis hatdem Material in seiner hier nur angedeuteten Breite die allmahlicheHerausdifferenzierung einer Lehensverwirkung aus der anfanglich un-geschiedenen Vermtigenskonfiskation kraft Banngewalt entnommen.Wenn dann „Teilkonfiskationen" dem „Zugriff auf das Lehen als aufein Objekt dinglicher Haftung, also einem rein privatrechtlichen Ge-sichtspunkt" gegeniibergestellt werden58, so ist dariiber das letzte Wortvielleicht noch nicht gesprochen; man meint mehr den Dogmatiker alsden Rechtshistoriker zu heiren. Die weitere Rolle der Lehensverwir-kung, insbesondere auch in den Lehensgesetzen Konrads II., LotharsIII. und Friedrichs I., ist hier nicht zu verfolgen; fdr uns war nur derAnsatzpunkt wichtig.

Es bleibt in dieser Gruppe noch ein kurzer Blick auf die eben schonberiihrte Konfiskation zu werfen. Die Einziehung des Vermeigenswird uns fatlar als Folge von Taten, die modem n als Hoch- oder Lan-desverrat zu bezeichnen waren. Urkundliche Belege liefern die Weiter-vergabungen des an den Knig gefallenen Gutes. Der Langobarde Aio,quando infidelis et fugitivus apparuit, verlor omnes res proprietatissue", die Karl der Grde aber nach Begnadigung zuriickgab. Ludwigder Deutsche schenkte dem Kloster Herrieden die Giiter, die Ratopropter quandam per fidiam amisit, und die kraft Rechtens an denHerrscher gegangen waren°. Oder es wurden Giiter, die Hildemann

" Capitularia I Nr. 18 c. 5: Quicumque nostrum beneficium habet, bene ibi laboredet condirgat; et qui hoc lacere non vult, dimittat ipsum beneficium et teneant (I)suas res pro prias." Weiteres Mater ial dazu bei H. Mit teis S . 155ff . Insbesondere Capitula perse cribenda, 818/819, Cap. I Nr. 140 c. 3, 5.5° Capitulare missorum, 805, Cap. I Nr. 44 c. 6; Capitulare Aquisgranense, 801/813,Cap. I Nr. 77 c. 20." Capitulare Haristallense, 779, Cap. I Nr. 20 c. 9; Capitulare Bononiense, 811,Cap. I 74 c. 5 ." a . a .0 . S . 157.5° D Karol. 187, a. 799.5° D LdD 5, a. 831.

fallaci versucia deceptus ultra modum donationis excessit subripiendo,deshalb durch Urteil dem Kónigsgut zugeschlagen". So oder ahnlichklingt es, wenn die Schuldigen weltliche Personen waren. lnfidelitasist der Hauptvorwurf. Es nimmt nicht Wunder, daS dem Begnadigtengegeniiber bei der Riickgabe ein besonderer Treuevorbehalt gemachtwurde". Doch wird auch der Bestand einer Schenkung von vornhereinbegrenzt: ea ratione si fidem suam erga nos inviolatam servasset; spaterwurden Treue und Eid gehrochen63. Von den im Zuge solcher Vorgangeungintig gewordenen friiheren Verleihungen wird nicht besonders ge-sprochen. Die Konfiskationen sind auch nicht auf die Falle vorangehen-der Treuevorbehalte beschrnkt64. Oh immer ein fórmliches Urteil ge-sprochen wurde, bleibt offen.

Insgesamt hat man ein Beispiel vor Augen fiir die Offenheit desRechts". Ob Riickfalisklausel, Verwirkungsandrohung, Treuevorbe-halt — entscheidend ist, dafl alle diese Mittel der Fiille der kóniglichenGewalt entfliden, die auch dann ausgeiibt werden kann, wenn die Ver-leihung jeder ausdriiddichen Sicherung durch eines der genanntenMittel entbehrte. Sie gewinnen erst in Jahrhunderten Kontur und Ab-grenzung. Und sie kiinnen sich auch in der entgegengesetzten Richtungentwickeln. Kirchlichen Empflingern gegeniiher ist man mit dem Treue-Vorbehalt sparsam. Immerhin kommt er vor, so z. B. bei der Verlei-hung des Rechts zur freien Abtswahl an Fulda 77468. Unter Ludwigdem Frommen ist daraus eine unverbindliche Ermahnung zur Reichs-treue geworden, die in den Urkunden in Verbindung mit der iiblichenAufforderung zu Gebeten fiir das Herrscherhaus standig wieder-kehrt". Diese parere-im peno -Forme! wandert in der Folgezeit durchdie Diplome der deutschen Karolinger seit Lothar I., bisweilen auch

" D LdK 76, a. 910." Wie Anm. 59; Thnlidl D LdK 57, a. 908." D LdD 96, a. 859; Ludwig der Fromme fiir den Getreuen Johannes, a. 815, A 1 t -m a n n - B e r n h e im : Au sge wn I t e U r ku n d e n 5, 1920, Nr. 135.

Thca Vie n ken: Die Geltungsdauer weltlicher Dokumente im und hoch-mittelalterlichen Reich, 1242, S. 40ff., 59." H. Kr ause : Keinigtum und Rechtsordnung in der Zeit der s'achsisdlen undsalischen Herrscher, ZRG2 82 (1965) 39ff." D Karol. 86: quamdiu ipsa congregatio sub regula sancta vivere .. videtur etordinem sanctum observant et nobis fideles apparent licentiam habeant.47 Miihlbacher° Nr. 531, 541, 549, 601, 663, a. 814-818. Oblicher Wortlaut seitNr. 541: quieto ac libero ordine possidere et nostro fideliter parere imperio atqueexorare. E. E. St e n gel: Die Immuniffi in Deutschland I, 1910 (Neudr. 1966),S. 39f., 72f., 644f., ohne der Forme! irgendwelches Gewicht beizumessen. Fortlassungder Formel S. 76, 78ff.; Beispiel Miihlbacher! Nr. 547.

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auf weltliche Empfanger gemiinzt", und 1Úuft unter den Ottonenaus. Greifbare Folgerungen scheint man aus ihr, soweit ersicht-

lich, nicht gezogen zu haben.Die dritte Gru ppe von Erscheinungen versammelt sich um die Stich-

worte fraus — metus — utilitas; um zum negativen Inhalt der beidenersten Leitworte zu passen, miif3te das dritte eigentlich inutilitas heffien.Doch kommt dieses Substantiv in den Quellen kaum vor und die Ober-schrift des 22. Titels im Buch I des Codex Justinianus fiigt ohne Be-denken das contra utilitatern und das per mendaciam aneinander. Vonden Tatbestànden der ersten und zweiten Gruppe unterscheidet sichdie dritte dadurch, daf3 nicht erst ein sp5.terer MifIrauch, eine spkereTreulosigkeit oder dergleichen die Aufhebung der Urkunde nach sichzieht, sondern daf3 der Rechtsverstof3 schon bei ihrer Erlangung statt-gefunden hat.

Das, was man als fraus, als Erschleichung oder Betrug, bezeichnenkann, fiihrt direkt auf das spkrómische Recht zuriidt. Im Codex Theo-dosianus stand die im Jahre 333 erlassene Konstitution des KaisersKonstantin, dafl, auch wenn es sich schon um Vollstredtung handelte,bei Bittgesuchen an den Kaiser der ganze Rechtsvorgang gepriift wer-den solite, falls Betrug im Spiele gewesen sei, si fraus intervenit69. DerSatz ging in die Lex Romana Visigothorum von 506 iiber mitsamt derverallgemeinernden Interpretatio wohl des fiinften Jahrhunderts:Quicquid non vera sed falsa petitio a principe obtinuerit, quia frausintervenit, non valebit". Hier wurde also der Schritt von der zur Ab-fassungszeit wohl nicht mehr kaiserlichen Nachpriifung zurUngiiltigkeit schlechthin vollzogen. Um die Wende des 6. Jahrhundertshat der Gedanke im merowingischen Bereich die Fassung erhalten:Si quis auctoritatem nostram subreptitie contra legem elicuerit fallendoprincipem non valebit. Wenn jemand eine kilinigliche Urkunde mittelsErschleichung im Widerspruch zum Gesetz durch nuschung des Herr-schers herausgelockt hat, soli sie ungiiltig sein". Das Edikt Chlotars II.

Zuerst D L I. 66, a. 842, fiir Getreuen Alphar: ita tamen, ut nusquam a nostradiscedat fidelitate, sed inmobiliter in nostris perseveret obsequiis absque aliquatergiversatione, spker verkiirzt zu ita dumtaxat, ut in nostra perseveret fidelitate.'° Codex Theodosianus I, 2 , 6; dazu P . Classen, Recht und Schrif t im Mittel-

alter, 1977, S. 48; spUter Codex Justinianus I, 22,4." Ausgabe von G. Haenel, 1848 (Neudr. 1962), Cod. Theodos. I, 2,4. So auchdie Epitomae." Cap. I Nr . 8 , Chlo tar ii P raecept io c . 5 . Auctoritas w i r d v o n N i e r m e y e r(oben Anm. 37), s. v. auctoritas Nr. 3, unter Hinweis auf das Chlotar-Praecept mit„acte écrit (diph5me ou mandat) émanant du roi" wiedergegeben.

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von 614 zieht fiir den speziellen Fall der Entfiihrung einer Nonnedurch ein erschlichenes Prazept demgem513 die Konsequenz seiner Wir-kungslosigkeit". Das tragende Element ist nicht der Betrug als solcher,sondern der gerade gegen den Knig veriibte Betrug. Damit ist ein Tonangeschlagen, der in spiiteren Restitutionsflil len immer wieder erklingt:Der Kònig war zwar unterrichtet, doch quamvis mendaciter". DieBiirger von Cremorn—aben Otto III. bei der Erlangung eines Privilegsnefanda deceptionis fraude geauscht". Heinrich IV. hob ein scriptumprecepti . fraudulenter adepti wieder auf". Die Umsande, die unterMiUchtung einer Erstverleihung zu einer spker durch Restitution wie-der riidtgàngig gemachten Zweitverleihung fiihrten, wurden freilich oftnur in ganz allgemeinen Wendungen angedeutet, so dA Erschleichung,Gewalt, Irrtum hkifig nicht mehr voneinander zu sondern sind.

Eine zweite Entwiddungslinie steht unter dem Stichwort regis mettivel iussu. Es tritt zuerst in der Lex Visigothorum, Forma Reccesvin-diana II, 1, 29 auf". Der Ko5nig stellt fest, dai 3 die Richter oft ausFurcht vor dem Kiinig oder auf dessen Befehl ungerecht entschiedenhaben. Er meint damit, wie der weitere Satz zeigt, ein doppeltes, nkn-lich sowohl Vertr4e in Sdiriftform wie Urteile, die iussu aut metti prin-cipumzustande gekommen seien und die er deswegen aufhebt. Die eigent-liche Quelle des Unrechts ist hier nicht der Handelnde, sondern dernig, man kann nur auf einen Nachfolger hoffen, der es wiedergutmacht"und die ungerechten Instrumente beseitigt. Die einpr4rsame Formel einerkaiglichen Rechtsbeugung wanderte in die grof3en Rlschungen des9. Jahrhunderts. Bei Pseudoisidor findet sie sich gleich dreimal", dazu

" Cap. I Nr. 9, a. 614, c. 18: praeceptum . nullum sorciatur effectum.7 3 Karl d . Kahle D 236, a. 861, Recueil des Actes de Charles Le Chauve parG . T e s s ie r 1 1 , 1 9 5 2 ." D O III. 222, a. 996." D H IV. 335, a. 1081." MGH Leges in Quart I, Leges Visigothorum, ed. K. Z e urne r, 1902 (Neudr.1973), S. 76: cum repertum fuerit, qualemcumque scripture contractum seu quod-cumque iudicium non iustitia vel debitis legibus, sed iussu aut metu principum esseconfectum, et hoc . . in nihilo redeat. Die Oberschrift des Kapitels spricht voniniustum iudicium et de/initio iniusta. Definiti° bedeutet hier, im Gegensatz zuiudicium, Vertrag.77 Ober den Zusammenhang von Reccesvinds Gesetz mit dem achten Konzil vonToledo Fr. Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im friihen Mittelalter,1914, S. 339. Die dort S. 340 erwAnte Urkunde Heinrichs IV., Stumpf Nr. 2808,hat sich als Filschung erwiesen, vgl. Vorbem. zu D H IV. 303.7 8 Ausgabe von P . Hinschius oben Anm. 27: Episto la Calixt i I. pr ima, c . VIS. 137; Epistola Marcellini prima, c. IV S. 222f.; Regulae sexte synodi Sirnadsi pape,S. 683. Alle diese Stiicke sind alschungen.

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bei Benedictus Levitan und in den Capitula Angilramni". Spater ver-lauft sich ihre Spur.

Schliefflich muti noch der Rechtsvorgange gedacht werden, die alsinutiles klassifiziert und deswegen beseitigt werden. Mindestens dengeistigen Hintergrund hat man wohl in der Gegenerscheinung derutilitas publica zu suchen, deren Vorrang vor Reskripten, pragmati-schen Sanktionen, privaten Kontrakten im Codex Justinians verkiindetwar81. Ludwig der Fromme hob die Vergabe zweier Villen an dasKloster Fulda durch seinen gleichnamigen Sohn auf, weil der Abtselbst eandem traditionem als inutilem et irrationabilem betrachtetbatte wegen fehlender Verfiigungsbefugnis des Sohnes82. Zehn Jahrevorher hatte der gleiche Herrscher bereits im Capitulare missorumWormatiense83 Tauschgeschafte der Kirchen aufgekist, die inutiles etincommodae atque irrationabiles gewesen seien. Otto I. befahl im Jah-re 966 zugunsten des Bistums Volterra", alle Schenkungen, Libellar-und Conscriptionsakte der Vorganger des jetzigen Bischofs als inutilesper omnia et instabiles zu betrachten, soweit sie irrite et supervacueatque iniustae erschienen. Das gleiche druckte die Lombardische Synodevon 1077 dahin aus, alle Prakarien und Tauschgeschafte iiber Kirchen-gut seien ungiiltig, es sei denn, sie entsprachen dem Nutzen der Kirche".Freilich zeigt sich auch hier die Offenheit des Rechts einmal mehr. DieCharakterisierung als inutilis ist gangig, aber fiir die Nichtigkeitsfolgenicht etwa notwendig. Es tut dasselbe, wenn die Diplome die zu be-seitigenden Handlungen als iniuste et inordinate geschehen", als superaliquo ipsius abbatie darnpno 87, als contra deum88 bezeichnen. DieAufkrungen der herrscherlichen Gewalt sind noch nicht zu festen, erstrecht nicht zu rechtlich notwendigen Formeln geronnen.

berblickt man das Material im ganzen, so sieht man, daB der Sim-pliciusbrief nicht der einzige Trager der Entwicklung des Widerrufs-rechts ist. Der Gedanke, das trotz aller Ewigkeitsklauseln eine Ver-

" MGH Leges in Poi. Il 2, S. 17ff., I c. 405.8° c. 18 (b is) = Sal. XVIII, bei Hinschius S . 768.81 Cod. I, 22,6; XII, 62, 3. Zur Bedeutungsbreite von utilitas im friihen MittelalterN i e r m e y e r (oben Anm. 37)S.1055." E. Dr onke: Codex diplomaticus Fuldensis, 1850, Nr. 524." Cap. H Nr. 192 c. 5." D 0 I. 334.85 MGH Const. I Nr. 67: decrevit precarias et commutationes rerum eccle-siasticaruni nullas omnino nisi cum utilitate ecclesiarurn fieri.88 DO II. 231." D O III. 237.88 D H II. 300.

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leihung — diese im weitesten Sinne genommen — wieder hinfallig wer-den kann, drlic.kt sich im Friihmittelalter auf mancherlei Weise aus.Den Quellen ist haufig nicht zu entnehmen, ob der Verlust eines Privi-legs durch einen Akt des Verleihers herbeigefiihrt werden soli oderautomatisch eintritt. Die Vermutung spricht fiir eine herrsc.herlicheHandlung. Die moderne Frage, ob sie konstitutiv oder nur deklara-torisch gewirkt habe, ist fiir die Friihzeit wahrscheinlich falsch gestellt.Fiir sie paBt die Annahme der nur deklaratorischen Feststellung einesschon durch die Tat selbst herbeigefiihrten Rechtsverlustes nicht. Es gibtnur sich nacheinander in der Zeit in mehreren Stufen vollziehendeRechtsvorgange, ohne dA man die einzelne Stufe fiir sich gewichtenkiinnte.

Oberai! — mag es sich um abusus, fraus, metus, fehlende utilitas, umPiinformel, RUckfaiikiausel, Lehensverwirkung, Konfiskation han-deln — stiAt man schliefflich auf den persiinlichen Trager der Macht,weltlich oder geistlich. Die aufgezahlten Vokabeln deuten unterschied-liche Voraussetzungen fiir einen Rechtsverlust an, unmittelbare Aus-wirkungen schadlichen Verhaltens oder schon formalisierte Androhun-gen, die die Folgen im voraus verkiinden. Aber das Recht ist nodiweithin offen. Auch ohne Riickgriff auf allmahlich sich verfestigendeFormeln und Tatbestande kann der Herrscher eingreifen — wenn erpolitisch dazu in der Lage ist.

Die seit der Hohenstaufenzeit sich vollziehende Rezeption des kano-nistisdi gepragten Widerrufsrechts in Deutschland war also nicht dieAufnahme eines fremden, vedlig neuen Gedankens. Dergleichen gab esauch schon in der Entwicklung des weltlichen Rechts". Zum Teil ent-stammte sie spatantiken Wurzeln wie die fraus-Gruppe der Erschlei-chung dem Codex Theodosianus, zum Teil war sie eigenes Gewachs dermerowingisch-karolingisdien Periode wie die sich entfaltende Lehens-verwirkung. Zu dem Verlust eines Privilegiums wegen MiBbrauchseiner potestas bei Simplicius gesellte sich in ganz. ahnlidien Worten derVerlust eines Benefiziums wegen Treulosigkeit bei Theuderich III.;abteus und irfidelitas waren nicht wz;t vone'inander entfernt. Demoffenen Katalog der zu einem allgemeinen Widerrufsrecht hinfiihren-den Griinde entspricht die noch ganz ungeschlossene Umschreibung derFolgen. In dem hier herangezogenen Material werden dafiir folgendeWendungen gebraucht: non valere, in nihilo redire, ad nihilum redi-gere, nullum effectum sortiri, vigore carere, virtutem non habere —o Dazu H. A ppelt, Der Vorbehalt kaiserlicher Rechte in den Diplomen FriedrichBarbarossas, MIOG 68 (1960) 81,96, 97.

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amittere, perdere, auferre, expoliari, privari, dimittere — infirmare,infringere, dampnare, rum pere, rescindere, cassare, anullare — vacuuset inanis, inutilis, irrationabilis, irritus, iniustus. Das spatere Leitwortrevocare, revocatio taucht im Sinne von Widerruf erst im Hochmittel-alter auf. Bezeichnend ist, daf3 unter den sechs Bedeutungen, die beiNiermeyer" zum Stichwort revocare aufgefiihrt werden, „widerrufen“sich iiberhaupt nicht befindet. Im fríihen Mittelalter heiflt revocarehauptskhlich soviel wie Besitz ergreifen, wieder an sich nehmen, zu-riickziehen, als ein Eigentum in Ansprudi nehmen, iibertragen, wieder-herstellen. Ein graBeres Anwendungsfeld hat es im neunten Jahrhun-dert in den Restitutionsallen. Erst nach Gratian wandelt es sich lang-sam zum Terminus technicus, als welcher es dann etwa in der GoldenenBulle9' in Erscheinung tritt. Einem ahnlichen Prozell unterlag die Viel-gestaltigkeit der Grande, die, von ganz verschiedenen Ausgangspunktenaus, zum Verschwinden eines Privilegs fiihren konnten. Sie wurdenschliefilich unter dem schon sehr abstrakten Begriff der causa zusam-mengefaílt, fiir deren Bejahung dann wiederum konkretere Gesichts-punkte entwickelt wurden. Doch liegt diese Stufe schon ganz jenseitsunseres vorgratianischen Blickfeldes, in dem die Maglichkeiten ausgeistlichem und weltlichem, aus spatantikem und merowingisch-karo-lingischem Recht nodi ohne die strenge Zucht eines wissenschaftlichenSystems ohne scharfe Grenzen durdieinanderlaufen.

" Wie Anm. 37, S. 919.91 K. Z e u in e r, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassungin Mittelalter und Neuzeit', 1913, Nr. 148, Cap. XIII: De revocatione privilegiorum.Dazu F i. Kr ause Kaiserrecht und Rezeption, 1952, S. 31, 64.

Ius ArchiviZum geschichtlichen Archivrecht

VonFRIEDRICH MERZBACHER

Am Anfang der wissenschaftlichen Behandlung des Archivrechtsdiirfte der Tractatus de jure archivi et cancellariae des Schwarzburg-RudolsCdter Hofrats und Jenenser Jurium Doctor Ahasver Fritsc h(1629-1701)' stehen, der 1664 in Jena 2 vereiffentlicht wurde. Kurzdanach aber besdiaftigten sich nahezu skinliche Publizisten, Vertreterdes affentlichen Red*3-des ramisch-deutschen Reiches, mit der Materiedes ius archivi. Der Ordinarius far affentliches Recht und Lehnrechtan der Universitk Tiibingen Gabriel Schwede r3 interpretierte inseiner Introductio in Ius Publicum Imperii Romano -Germanici Novis-simum4 das Archivrecht als die Berechtigung, Archive oder Briefkam-mern aufzurichten und den darin verwahrten Urkunden vollen (wart-lidi „valligen") Glauben zu verschaffens. Nicht von ungeahr betonteder Stra13burger Praktiker Johann Schilter (1632-1705)° in seinenInstitutiones Iuris Publici Romano -Germanici, da13 die Kraft (vis)des Archivrechtes von der Autoritk dessen abhangig sei, in dessen Ge-walt das Archiv stche, sei cs originar oder kraft Verleihung. Nicht vonungefàhr ordnete man daher von gelehrter Seite das ius archivi mit derZeit unter die iura superioritatis, mithin die Hoheitsrechte, ein. Darausfolgte zwangslaufig, daf3 das Archivrecht den Fiirsten und Stkiden desReiches zukams. Nicht von ungeahr hatte bereits der byzantinische

V gl. ilb e r ih n J o h an n H e in r ich Zed le r , G r o B es vo llsan d iges U n ive r sa l-Lexicon aller Wissenschaften und Kiinste, IX. Bd., Halle und Leipzig 1735, Nach-drudt Graz 1961, Sp. 2144f.; Erich D ti h ring, Geschichte der deutschen Rechts-pflege seit 1500, Berlin 1953, S. 394.• Mit Anhang 72 Seiten — Typis ac Sumtibus Georgi Sengenwald i.

Vg1. Zedler, a.a.0. , 36. Bd. , Leipzig und Halle 1743, Nachdrudc Graz 1962,Sp. 63ff.' 2. Aufl., Tiibingen 1685.• Sectio II, Caput XIII, § 14, S. 945.• Vgl. D ech ring, a.a.0. , S. 438.7 StraBburg 1696, Teil I, Lib. IV, Tit. VI, § III, p. 369.• Vgl. Ahasver F r it $c h, De jure archivi et cancellariae, bei Jacob Wencker,Collecta archivi et cancellariae jura, StraBburg 1715, Cap. III, n. 3/4, p. 20.


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