+ All Categories
Home > Documents > Arbeit Der Streit um unsere Zeit - info-team.ch · Rucksack das Portemonnaie und hält es ans...

Arbeit Der Streit um unsere Zeit - info-team.ch · Rucksack das Portemonnaie und hält es ans...

Date post: 11-Aug-2019
Category:
Upload: duongphuc
View: 213 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
14
Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal Allgemeinbildung: Arbeitszeit Seite 1 Teil 3/TK 8 Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda Arbeit Der Streit um unsere Zeit Autoren: Claudia Imfeld und Nicole Krättli Bild: Sonderegger/Cortis und Kilian Kessler Mediziner fordern, dass streng kontrolliert wird, wie viel wir arbeiten. Das Gesetz verlangt, dass die Arbeitszeit der Angestellten aufgezeichnet wird. Arbeitge- ber sträuben sich. Doch: Stempeluhren halten uns gesund, sagen Mediziner. Ratgeber: Wie viel darf man arbeiten? Das sagt das Gesetz Zürich, 7.52 Uhr: Riccardo Trombini braucht eine grosse Tasse Kaffee, um in die Gänge zu kommen. Am Vorabend hatte er einen Geistesblitz und startete um 23 Uhr nochmals den Laptop, um seine Idee festzuhalten. Nun sitzt der Informatiker im Büro des Zürcher Jungunternehmens Starmind und klickt sich durch IT-Blogs. Seine E-Mails hat er bereits im Tram gecheckt – die Fahrzeit will genutzt sein, findet er. Zeiterfassung? Kennt der 30- Jährige nicht. Zollikofen, 8.00 Uhr: Thomas Stauffer stellt sein Velo in der Garage ab, kramt aus dem Rucksack das Portemonnaie und hält es ans schwarze Kästchen beim Eingang des Büro- hauses. Das System registriert 8.00 Uhr im Zeitkonto des Projektleiters. Sein Arbeitstag im Bundesamt für Informatik und Telekommunikation beginnt. Im Büro im vierten Stock sucht er sich einen Arbeitsplatz und fährt den Laptop hoch. Er sieht die Mails durch und macht sich an die Detailplanung eines aktuellen Projekts. Es war nur eine Frage der Zeit, dass es eskalieren würde. Am 11. September 2013 mar- schierten ein Arbeitsinspektor und ein Jurist bei Goldman Sachs in Zürich ein. Die In- vestmentbank war angezeigt worden – vom Schweizerischen Bankpersonalverband. Insi- dern zufolge hat die Bank weder systematisch Arbeitszeiten aufgezeichnet noch sich an die gesetzlich vorgeschriebene Kompensation von Überzeit gehalten. Die Ermittlungen sind mittlerweile abgeschlossen, das Verfahren läuft aber noch. Ein Verstoss gegen das Arbeitsgesetz wäre kein Einzelfall, sagt Peter Meier, Präsident des Interkantonalen Verbands für Arbeitnehmerschutz. «Heute kennt kaum noch jemand das Arbeitsgesetz, und die Arbeitszeit wird generell immer weniger erfasst. Und das Gesetz ist ein Flickwerk aus Vorschriften, Ausnahmen und Ausnahmen von Ausnahmen. Deshalb ist es enorm schwer verständlich.» Inzwischen sind weitere Personalverbände dem Bei- spiel des Bankpersonalverbands gefolgt. Auch die Verlagshäuser Ringier und Tamedia haben Verfahren am Hals. Das Gesetz sagt: Arbeitszeit notieren! Tatsächlich erfasst jeder sechste Angestellte seine Arbeitszeit nicht. Das zeigt eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) aus dem Jahr 2012. Besonders prekär ist es bei Banken, Versicherungen und Medienhäusern. Bei ihnen klaffen Praxis und Recht weit auseinander. Gemäss Arbeitsgesetz dürfen in der Schweiz weder Firmen noch Angestellte frei wählen, ob sie ihre Arbeitszeit rapportieren oder nicht. Die tägliche und wöchentliche
Transcript

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 1

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

Arbeit Der Streit um unsere Zeit

Autoren: Claudia Imfeld und Nicole Krättli

Bild: Sonderegger/Cortis und Kilian Kessler

Mediziner fordern, dass streng kontrolliert wird, wie viel wir arbeiten.

Das Gesetz verlangt, dass die Arbeitszeit der Angestellten aufgezeichnet wird. Arbeitge-

ber sträuben sich. Doch: Stempeluhren halten uns gesund, sagen Mediziner.

Ratgeber: Wie viel darf man arbeiten? Das sagt das Gesetz

Zürich, 7.52 Uhr: Riccardo Trombini braucht eine grosse Tasse Kaffee, um in die Gänge

zu kommen. Am Vorabend hatte er einen Geistesblitz und startete um 23 Uhr nochmals

den Laptop, um seine Idee festzuhalten. Nun sitzt der Informatiker im Büro des Zürcher

Jungunternehmens Starmind und klickt sich durch IT-Blogs. Seine E-Mails hat er bereits

im Tram gecheckt – die Fahrzeit will genutzt sein, findet er. Zeiterfassung? Kennt der 30-

Jährige nicht.

Zollikofen, 8.00 Uhr: Thomas Stauffer stellt sein Velo in der Garage ab, kramt aus dem

Rucksack das Portemonnaie und hält es ans schwarze Kästchen beim Eingang des Büro-

hauses. Das System registriert 8.00 Uhr im Zeitkonto des Projektleiters. Sein Arbeitstag

im Bundesamt für Informatik und Telekommunikation beginnt. Im Büro im vierten Stock

sucht er sich einen Arbeitsplatz und fährt den Laptop hoch. Er sieht die Mails durch und

macht sich an die Detailplanung eines aktuellen Projekts.

Es war nur eine Frage der Zeit, dass es eskalieren würde. Am 11. September 2013 mar-

schierten ein Arbeitsinspektor und ein Jurist bei Goldman Sachs in Zürich ein. Die In-

vestmentbank war angezeigt worden – vom Schweizerischen Bankpersonalverband. Insi-

dern zufolge hat die Bank weder systematisch Arbeitszeiten aufgezeichnet noch sich an

die gesetzlich vorgeschriebene Kompensation von Überzeit gehalten. Die Ermittlungen

sind mittlerweile abgeschlossen, das Verfahren läuft aber noch.

Ein Verstoss gegen das Arbeitsgesetz wäre kein Einzelfall, sagt Peter Meier, Präsident des

Interkantonalen Verbands für Arbeitnehmerschutz. «Heute kennt kaum noch jemand das

Arbeitsgesetz, und die Arbeitszeit wird generell immer weniger erfasst. Und das Gesetz

ist ein Flickwerk aus Vorschriften, Ausnahmen und Ausnahmen von Ausnahmen. Deshalb

ist es enorm schwer verständlich.» Inzwischen sind weitere Personalverbände dem Bei-

spiel des Bankpersonalverbands gefolgt. Auch die Verlagshäuser Ringier und Tamedia

haben Verfahren am Hals.

Das Gesetz sagt: Arbeitszeit notieren!

Tatsächlich erfasst jeder sechste Angestellte seine Arbeitszeit nicht. Das zeigt eine Studie

des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) aus dem Jahr 2012. Besonders prekär ist es

bei Banken, Versicherungen und Medienhäusern. Bei ihnen klaffen Praxis und Recht weit

auseinander. Gemäss Arbeitsgesetz dürfen in der Schweiz weder Firmen noch Angestellte

frei wählen, ob sie ihre Arbeitszeit rapportieren oder nicht. Die tägliche und wöchentliche

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 2

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

Arbeitszeit muss festgehalten werden, zudem Arbeitsbeginn, Arbeitsende, Überzeit und

Pausen. Von der Aufzeichnungspflicht befreit waren bislang vor allem die obersten Füh-

rungskräfte, selbständig erwerbende Künstler und Wissenschaftler. In der Schweiz

verstossen somit Hunderttausende Jobs gegen das Arbeitsgesetz und seine Verordnun-

gen.

Das hat auch die Bundesbehörde erkannt. Bei Verhandlungen mit Arbeitgeber- und Ar-

beitnehmervertretern versuchte sie, das Gesetz an die heutige Realität anzugleichen.

Bisher ohne Erfolg. Letzten Sommer begrub das Seco seinen Vorschlag, dass Angestellte

mit einem Jahreslohn von über 175'000 Franken ihre Arbeitszeit nicht mehr erfassen

müssen. Bis eine definitive Lösung gefunden ist, gilt seit Januar eine Übergangsregelung:

Firmen müssen die Arbeitszeit für einzelne Angestellte nicht mehr lückenlos dokumentie-

ren. Das täglich geleistete Stundentotal reicht. Die Lockerung gilt – mit vielen Zusatzkri-

terien – für Kaderleute, vollamtliche Projektleiter und Mandatsträger.

Wem schreibt der Chef die Arbeitszeit vor?

Ein Grossteil der Schweizer Arbeitnehmenden arbeitet mit festen Arbeitszeiten oder flexi-

bel mit Zeiterfassung. Anteil der Beschäftigten in Prozent.

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 3

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

Wer ist zufrieden mit der Arbeitszeitregelung?

«Ich bin mit meiner Arbeitszeitregelung sehr zufrieden oder zufrieden»: Anteil der Beschäftigten in Prozent

«Wenn ich meine Stunden aufschreiben würde, könnte ich sie ansammeln und im Sommer mal länger freimachen.» Riccardo Trombini, Informatiker

Zollikofen, 10.06 Uhr: Thomas Stauffer kauft sich in der Kantine einen Kaffee, liest den

«Bund». Ein Arbeitskollege setzt sich zu ihm. Sie diskutieren über den Fussballmatch

vom Vorabend. Ausgestempelt hat Stauffer nicht. Muss er auch nicht. Gemäss Bundes-

personalrecht steht ihm eine halbe Stunde Pause zu – 15 Minuten am Morgen, 15 Minu-

ten am Nachmittag. Die Pausenzeit funktioniert auf Vertrauensbasis. Es gibt Zeiten, da

verzichtet der 43-Jährige auf sie. Gut sei das nicht. Von Zeit zu Zeit ein kurzer Unter-

bruch wirke sich positiv auf die Gesundheit aus und sei deshalb sinnvoll, sagt der Projekt-

leiter.

Zürich, 10.20 Uhr: Riccardo Trombini geht zum gedeckten Tisch im Aufenthaltsraum.

«Breakfast for Champions» nennt das junge Team die zweiwöchentlich stattfindende

«Sitzung». Heute informieren die Chefs über die Expansion nach Deutschland.

Flexible Arbeitszeiten ohne jede Zeiterfassung: Viele Angestellte befürworten das mit

dem Argument, Familie oder Hobby und Beruf liessen sich so besser abstimmen. In einer

Metastudie fanden angelsächsische Forscher Hinweise, dass es sich positiv auf das Wohl-

befinden auswirkt, wenn man die Arbeitszeit selber bestimmen kann. Auch die im Auftrag

des Seco durchgeführte Studie zu flexiblen Arbeitszeiten belegt: Angestellte, die ihre Ar-

beitszeit nicht erfassen müssen, sind mit ihrer Arbeit am zufriedensten.

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 4

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

Arbeitgeber wollen weniger Zeiterfassung:

Für Daniella Lützelschwab vom Schweizerischen Arbeitgeberverband bestätigt das, was

sie täglich von Angestellten hört: «Viele sehen ihre Pflicht nicht darin, fünfmal die Woche

acht Stunden lang im Büro zu sitzen, sondern ihre Aufgaben gut und effizient zu erledi-

gen.» Deshalb fordert der Arbeitgeberverband, dass leitende Angestellte oder solche mit

grosser Flexibilität in der Jobgestaltung ihre Arbeitszeit nicht mehr erfassen müssen.

Pauschale Aussagen, wer genau zu dieser Gruppe zählen soll, seien aber kaum möglich,

gesteht Lützelschwab. «Die Kriterien ändern sich von Branche zu Branche, von Region zu

Region, von Firma zu Firma.» Der Arbeitgeberverband will daher Modelle für die einzel-

nen Branchen finden.

Neue Technologien haben den Alltag verändert. Strikte Trennung von Arbeit und Privatle-

ben sei kaum mehr realistisch, findet Lützelschwab. «Die meisten beantworten während

der Arbeitszeit private Mails; im Gegenzug schauen sie in der Freizeit auch mal geschäft-

liche Nachrichten an.» Da Minuten aufzuschreiben sei wenig sinnvoll.

Wer arbeitet mehr als vertraglich vereinbart?

Anteil der Beschäftigten in Prozent, die mehr arbeiten als vertraglich vereinbart

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 5

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

Wird die Mehrarbeit erfasst?

Anteil der Beschäftigten in Prozent, deren Mehrarbeit im Betrieb erfasst wird.

«Wenn ich freihabe, bin ich für die Firma nur in Notfällen telefonisch erreichbar.» Thomas Stauffer, Informatiker

Zürich, 12.03 Uhr: Riccardo Trombini hat an Richtlinien zum Umgang mit Kundendaten

gearbeitet. Fürs Mittagessen geht er hinüber in den Aufenthaltsraum. Eine Hotdog- und

eine Sandwichmaschine stehen bereit, zwei Mitarbeiterinnen bereiten sich Salate zu.

Nach dem Essen spielt Trombini mit einem Kollegen eine Partie Fussball auf der Playsta-

tion – um den Kopf zu lüften.

Zollikofen, 12.20 Uhr: Thomas Stauffer hat eine lange Sitzung hinter sich. Jetzt macht er

sich auf in die Kantine und hält am Eingang sein Badge ans Erfassungsgerät. Er kann

Mittagspause machen, wann er will. Allerdings zieht ihm das System nach sieben Stun-

den Arbeitszeit automatisch eine halbe Stunde ab, falls er nicht ausstempelt. Stauffer

findet das eine gute Sache. So komme man weniger in Versuchung durchzuarbeiten –

und die Gespräche mit den Kollegen in der Kantine täten gut.

Luca Cirigliano vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund sieht zwar die Vorteile flexibler

Arbeitszeiten. Aber gerade deshalb müsse die Arbeitszeiterfassung verstärkt statt abge-

schafft werden. Mit Apps und Computertools lasse sich die gearbeitete Zeit heute schnell,

einfach und überall erfassen. Für ihn ist klar: Es braucht die Arbeitszeiterfassung zum

Schutz der Arbeitnehmenden. Vor der Firma – aber auch vor sich selbst. «Das Risiko der

Selbstausbeutung ist in unserer Gesellschaft sehr hoch», so Cirigliano. Ein Blick in die

Statistik zeigt: Die Zahl psychischer Erkrankungen aufgrund von Berufsarbeit steigt seit

Jahren. Die Kosten für Arztbesuche und Produktionsausfälle aufgrund von Stressleiden

belaufen sich auf mehr als vier Milliarden Franken pro Jahr. Faktoren wie das Arbeiten in

der Freizeit oder eine tägliche Arbeitszeit von mehr als zehn Stunden (mindestens ein-

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 6

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

bis zweimal pro Woche) sind laut der Seco-Studie zu Stress bei Erwerbstätigen besonders

riskant.

«Ein überdurchschnittliches Engagement mag zu Beginn der Karriere für einige Jahre

gutgehen», sagt Gewerkschafter Cirigliano. «Doch sobald das Privatleben mehr von ei-

nem fordert, etwa weil man eine Familie gründet oder im Alter mit gewissen Beschwer-

den zu kämpfen hat, machen sich die Menschen damit krank.» Der Zürcher Arbeitsin-

spektor Peter Meier beobachtet das bei seinen Kontrollen in Betrieben regelmässig: «Wo

es keine Arbeitszeiterfassung gibt, wird mehr gearbeitet.» Und wo viel gearbeitet werde,

nehme die Gefahr von Burn-outs und anderen Erkrankungen zu.

«Arbeitszeiterfassung: Kein Allheilmittel»:

Arbeitszeiterfassung als Rezept gegen Burn-outs? Daniella Lützelschwab vom Arbeit-

geberverband warnt vor simplen Schlussfolgerungen: «Die Zahl der Burn-out-Fälle ist

alarmierend hoch. Doch es wäre verkürzt, zu glauben, Arbeitszeiterfassung sei das All-

heilmittel dagegen.» Die Burn-out-Zahlen seien ja trotz gesetzlich verankerter Arbeits-

zeiterfassung gestiegen – auch bei Menschen, die ihre Arbeitszeit erfassen.

Wer geht krank zur Arbeit?

«Gehen Sie auch zur Arbeit, wenn Sie krank sind?»; Selbstaussagen von Schweizer Angestellten in

Prozent.

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 7

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

Wer fehlt häufiger?

«Wie oft haben Sie wegen Krankheit im letzten Jahr gefehlt?»; Fälle von mehr als 25 Krankheitsta-gen wurden nicht berücksichtigt.

Zürich, 15.01 Uhr: Riccardo Trombini ist im «Tunnel». So nennen Informatiker den Zu-

stand, wenn sie völlig in ihrer Arbeit versinken. Kein Blick links, kein Blick rechts. An

Pause ist nicht zu denken. Trombini kennt aber auch andere Phasen – in denen er unpro-

duktiv ist, sich nicht richtig konzentrieren kann. Dann organisiert er auch mal vom Büro

aus ein Geschenk für seine Freundin – oder setzt sich zwei Stunden in die Sonne. Seine

Devise: produktive Phasen nutzen, ohne auf die Uhr zu schauen, und in unproduktiven

nichts erzwingen. Dem 30-Jährigen ist bewusst, dass sich bei ihm Privates stark mit der

Arbeit vermischt. Er findet es völlig in Ordnung: «Jedenfalls besser, als jeden Tag Zeit

mit Aufschreiben zu vertrödeln, wann man genau anfängt zu arbeiten und wann man

Pause macht.»

Zollikofen, 16.05 Uhr: Thomas Stauffer kommt von der Pause zurück. Auf dem Weg in

den vierten Stock ruft er noch schnell daheim an. Er arbeitet seit 15 Jahren für den Bund.

Früher gab es fixe Blockzeiten. Er schätze es sehr, dass er heute freier entscheiden kön-

ne, wann er kommt und wann er geht. Ihm ist wichtig, Arbeit und Privates zu trennen.

Wenn er freihat, ist er bei Notfällen telefonisch erreichbar. Die Geschäftsmails auf seinem

Handy prüft er aber nur, wenn es wegen eines aktuellen Projekts wirklich nötig ist. Will

Stauffer nach 20 Uhr oder am Wochenende arbeiten, muss er das im Voraus vom Chef

bewilligen lassen. Das sei gut so: «Mir ist es wichtig, fit zu sein und Energie für die Arbeit

zu haben. Das gelingt nur, wenn ich zwischendurch abstellen kann.» Das ist ganz im Sin-

ne seines Arbeitgebers, der verhindern will, dass die Angestellten Berge von Überstunden

anhäufen.

Der Zusammenhang zwischen Arbeit, Stress und Krankheit ist kompliziert. Klar ist aber:

Wenn man sich ausgebrannt fühle, hänge das nicht zwingend damit zusammen, ob man

die Arbeitszeit erfasse und Überstunden leiste, sagt der Badener Arbeitsmediziner Dieter

Kissling. Das zeige sich etwa darin, dass die Generation unserer Grosseltern häufig zwölf

Stunden am Tag an sechs Tagen die Woche arbeitete – und psychische Folgeerkrankun-

gen nie das heutige Ausmass erreichten. Ein weiteres Beispiel sei die hohe Burn-out-Rate

bei Lehrpersonen – trotz geregelter Arbeitszeit.

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 8

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

Kissling ist Inhaber des Instituts für Arbeitsmedizin, das im Auftrag von Firmen die Ge-

sundheit von Angestellten untersucht: «Stress hat viele Ursachen. Die Chefs, ihr Füh-

rungsstil und die Unternehmenskultur spielen eine wichtige Rolle.» Auch Schlaf und Pau-

sen seien elementar.

«Nicht alle Angestellten schaffen es, sich selbst Grenzen zu setzen», sagt Kissling. Des-

halb müssten das die Firmen tun. Ein gutes Beispiel sei der Autokonzern VW. Dieser be-

schloss vor drei Jahren, die E-Mail-Funktion der Geschäftshandys 30 Minuten nach Feier-

abend zu stoppen und erst eine halbe Stunde vor Beginn des folgenden Arbeitstags wie-

der zu aktivieren. Auch in den Ferien sollte es laut Kissling absolut tabu sein, die Mit-

arbeitenden zu stören.

«Der Markt wird Firmen in diese Richtung treiben, denn psychische Erkrankungen führen

für sie zu hohen Folgekosten», meint Kissling. Generell werde die Gesundheitsvorsorge in

Zukunft ein noch wichtigerer Vorteil im Wettbewerb um die besten Mitarbeiter sein. «Bis

diese Mechanismen jedoch voll spielen, werden noch viele Menschen krank werden.»

«Oft stecken sie in einem Burn-out»:

Sinnvoll wäre es, wenn Firmen ihre Angestellten regelmässig medizinisch untersuchen

lassen müssten. Aber das sei zu aufwendig und zu teuer, sagt der Arbeitsmediziner. Also

bleibe – bis alle Chefs gelernt hätten, auf ihre Mitarbeitenden zu achten – doch nur der

Ausweg, die Arbeitszeit zu erfassen. «Das allein macht den Angestellten zwar nicht ge-

sünder. Aber zu lange Arbeitszeiten schaden seiner Gesundheit.» Es sei unsinnig, gewisse

Berufszweige, Kaderstufen oder Einkommensklassen von der Arbeitszeiterfassung auszu-

nehmen: «Alle können durch Arbeit krank werden – auch leitende Angestellte.»

Den Workaholics allerdings wird auch die gesetzliche Pflicht, die Arbeitszeit zu notieren,

nicht helfen. Kissling trifft immer wieder Angestellte, die im Gesundheitsfragebogen an-

geben, sich gesund und fit zu fühlen. «Wenn wir dann den Stress mittels eines 24-

Stunden-EKGs messen, zeigt sich oft, dass sie in einem tiefen Burn-out stecken.» Diese

Leute würden auch mit Zeiterfassung gleich weiterarbeiten.

Das Gefühl für die geleistete Arbeitszeit ist bei allen trügerisch: Arbeitnehmende arbeiten

oft weniger, als sie glauben – und zwar fünf bis zehn Prozent. Behauptet ein Manager

also, er habe zwölf Stunden gearbeitet, waren es vielleicht auch nur knapp elf. Das hänge

vor allem damit zusammen, dass jeder «Arbeit» anders interpretiere, sagen Forscher der

Universität Maryland: Für den einen mag es als Freizeit gelten, auch nach Feierabend

seine E-Mails zu checken, andere stufen das als Arbeit ein. Je höher die Position und je

prestigeträchtiger der Beruf des Befragten, desto stärker wurde im Übrigen die eigene

Arbeitsbelastung überschätzt, zeigt die Studie. Diejenigen, die ihre Arbeitszeit also am

meisten überschätzen, sind die Chefs. Insbesondere in leistungsorientierten Branchen

seien Arbeitsstunden ein Statussymbol.

47% arbeiten in ihren Ferien mindestens einmal.

41% telefonieren während des Urlaubs mit dem Chef oder einem Arbeitskollegen.

75% beantworten in den Ferien Geschäftsmails.

51% stören sich daran, in den Ferien vom Geschäft gestört zu werden.

Zollikofen, 17.25 Uhr: Thomas Stauffer beendet eine anderthalbstündige Telefonkonfe-

renz mit einem Projektmitarbeiter. Sie haben online an einem Dokument gearbeitet und

sind gut vorwärtsgekommen. Nun fährt er den Laptop runter und packt den Rucksack.

Unten in der Garage stempelt er aus. Kurz darauf sitzt er mit den Kindern im Keller und

zerlegt ein altes Radio.

Manchmal, sagt Stauffer, sei es schon etwas mühsam mit dem Stempeln. Etwa wenn er

morgens extern arbeite und die Arbeitszeiten nachträglich im System erfassen müsse.

Probleme gebe es auch, wenn er unvorhergesehen zu Hause arbeiten müsse. «Buche ich

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 9

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

die halbe Stunde am Telefon am Abend am nächsten Tag ein oder nicht?» Er halte zwar

viel vom Stempelsystem, trotzdem sei er überzeugt, dass die traditionelle Arbeitszeiter-

fassung nicht überleben werde. «Wir müssen neue Wege finden, um eine gute Work-Life-

Balance sicherzustellen.»

Zürich, 18.23 Uhr: Riccardo Trombini sitzt im Tram und beantwortet noch schnell die

Mail eines Arbeitskollegen. «Wir rufen einander abends selten geschäftlich an, und nie-

mand muss eine Frage sofort beantworten.» Trombini ist überzeugt, dass die Leute moti-

vierter sind, wenn sie ihre Arbeitszeit frei einteilen können. Aber sie arbeiten so auch

mehr. «Wenn ich meine Stunden aufschreiben würde, könnte ich sie ansammeln und im

Sommer mal länger freimachen.» Dass er freiwillig länger als acht Stunden arbeite, hän-

ge auch damit zusammen, dass er bei einer kleinen Firma sei: «Bei uns kommt es auf

jeden Einzelnen an.» Für eine grosse Firma würde er nicht unendlich Überstunden leis-

ten. Und: «Wenn ich Familie hätte, müsste ich wohl umdenken.»

26% arbeiten in den Ferien, weil der Chef das wünscht.

20% arbeiten in den Ferien, weil sie danach nicht auf Berge von Arbeit treffen wollen.

56% arbeiten im Urlaub, weil bei der Arbeit Notfälle auftreten.

33% glauben, aufgrund ihrer Position im Job stets erreichbar sein zu müssen.

Ratgeber: Wie viel darf man arbeiten? Das sagt das Gesetz:

Was zählt zur Arbeitszeit?

Die Zeit, in der sich die Angestellten zur Verfügung des Arbeitgebers halten müssen.

Das Aufräumen nach Ladenschluss oder die Sitzung am freien Nachmittag gelten also

auch als Arbeitszeit. Der Arbeitsweg gehört nicht dazu. Bei auswärtiger Arbeit und ver-

längertem Arbeitsweg gilt: effektiver Weg minus üblicher Weg gleich Arbeitszeit. Auch -

eine angeordnete Weiterbildung gilt als Arbeitszeit. Pausen nur, wenn man den Arbeits-

platz nicht verlassen darf und sich für einen allfälligen Einsatz bereithalten oder das Tele-

fon hüten muss.

Wie lange darf wöchentlich maximal gearbeitet werden?

Das hängt vom Beruf und von der Branche ab. Die gesetzliche Höchstarbeitszeit beträgt

45 Stunden für Angestellte in industriellen Betrieben, Büropersonal, technische und ande-

re Angestellte sowie für das Verkaufspersonal in Grossbetrieben des Detailhandels. Für

alle anderen (also etwa im Gesundheitswesen oder im Gastgewerbe) beträgt die Höchst-

arbeitszeit 50 Stunden. Sie darf nur ausnahmsweise überschritten werden.

Wie wird Mehrarbeit entschädigt?

Grundsätzlich durch Freizeit von gleicher Dauer, sofern der Arbeitnehmer zustimmt. An-

dernfalls Abgeltung mit einem Lohnzuschlag von 25 Prozent. Man muss allerdings unter-

scheiden: Von Überstunden spricht man, wenn die geleistete Mehrarbeit die vertraglich

vereinbarte Arbeitszeit übersteigt. In solchen Fällen kann etwas anderes vertraglich ver-

einbart werden, zum Beispiel dass Überstunden gratis zu leisten sind. Wird hingegen die

gesetzliche Höchstarbeitszeit überschritten, gilt das als Überzeit, die zwingend zu ent-

schädigen ist. Beim Büropersonal, bei technischen und anderen Angestellten sowie beim

Verkaufspersonal in Grossbetrieben des Detailhandels allerdings nur die Überzeitarbeit,

die 60 Stunden im Kalenderjahr übersteigt.

Was tun, wenn laut Arbeitsvertrag Überstunden zwar grundsätzlich kompensiert werden

dürfen, die Zeit aber nirgendwo erfasst wird?

Arbeitgeber sind verpflichtet, die Arbeitszeit in irgendeiner Form zu erfassen. Falls sie es

nicht tun, sollte der Arbeitnehmer die Mehrarbeit selber aufschreiben und jeden Monat

melden. Wenn der Arbeitgeber weiss, dass Überstunden geleistet werden, und nicht da-

gegen einschreitet, kann er laut Bundesgericht später nicht einwenden, die Überstunden

seien nicht angeordnet oder betriebsnotwendig gewesen.

Irmtraud Bräunlich

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 10

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

Timeline: Die Geschichte der Arbeitszeit:

Von der Sanduhr zur Stechuhr: ...

14. Jahrhundert: Auf grossen Baustellen, etwa bei Kirchen, werden Arbeitsbeginn und -

ende sowie die Mittagszeit meist durch Glockenschläge angekündigt. Mit Sanduhren kon-

trollieren die Bauherren oft die Länge der Pause. (Bild: Michael Himbeault)

1797/98: Der bayrische Kriegsminister führt eine Uhr ein, weil seine Beamten offenbar

lieber in den Wirtshäusern sitzen, als die Kanzleistunden einzuhalten. Die Beamten müs-

sen eine persönliche Kennmarke in einen Behälter einwerfen. Im Innern der «Uhr» dre-

hen sich stetig Fächer. Zu spät eingeworfene Marken landen im falschen Fach – der Be-

amte ist entlarvt. (Gemälde von Egbert van Heemskerk II)

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 11

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

1837: In Glarus haben die Arbeiter der Tuchdruckerei Trümpy die Nase voll. Sie streiken.

Der Grund: eine Fabrikglocke, die zu Arbeitsbeginn und -ende läutet. Wer am Morgen

beim Schlag der Glocke nicht vor der Fabrik steht, soll eine Busse zahlen. Die Arbeiter

streiken erfolglos. Zu dieser Zeit orientiert sich das Gros der Bevölkerung noch an der

Kirchturmuhr. (Bild: Ikiwaner; die Stadtkirche Glarus wurde in den Jahren 1863 bis 1866

als Ersatz für die beim Stadtbrand im Mai 1861 zerstörte Vorgängerkirche erbaut.)

1855: An der Weltausstellung in Paris wird die tragbare Wächter-Kontrolluhr des Deut-

schen Johannes Bürk gezeigt. Nachtwächter müssen Schlüssel, die sie bei ihrem Kon-

trollgang vorfinden, in der Uhr drehen. Die Erfindung verkauft sich gut: bei Fabriken,

Stadtbehörden, Eisenbahn und Bergwerken.

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 12

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

18./19. Jahrhundert: Die Industrialisierung bringt neue Instrumente zur Kontrolle der

Arbeiter. Vielerorts sind es einfache Systeme: Der Portier schliesst nach Arbeitsbeginn

die Fabrikpforten. Wer zu spät kommt, erhält keinen Lohn. Oder man kontrolliert mit

Marken: Die Arbeiter nehmen ihre Blechmarke vom einen Brett und hängen sie an ein

anderes Brett, in einen Kasten. Der wird bei Arbeitsbeginn verschlossen. Einen Schub

erhält die Kontrollapparate-Herstellung in den 1880er Jahren. Die einen Modelle drucken

die Nummer des Angestellten und die Zeit auf einen Papierstreifen, sobald der Arbeiter

seinen persönlichen Schlüssel in die Uhr steckt. Andere funktionieren wie heute manche

Mehrfahrtenkarten, die man am Apparat entwertet. Datum und Zeit werden darauf einge-

tragen. (Bild: Die Montagehalle der Maschinenfabrik Escher Wyss in Zürich in der Neu-

mühle im Jahr 1875; aus Hans-Peter Bärtschi: "Industrialisierung, Eisenbahnschlachten

und Städtebau")

1877: Die Stimmbürger nehmen das erste eidgenössische Fabrikgesetz knapp an – mit

181'000 zu 170'000 Stimmen. Elf Stunden werden als Normalarbeitstag definiert. Der

Sonntag gilt in den Fabriken neu als arbeitsfrei. In den folgenden Jahrzehnten werden

Fragen diskutiert wie: Zählt es als Arbeitspause, wenn Eisenbahnarbeiter einen Schritt

zurücktreten müssen, weil ein Zug vorbeifährt? (Bild: Erste Produktionsstätte Ammann's

in Madiswil; Quelle: www.ammann-group.ch)

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 13

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

1919: Die 48-Stunden-Woche setzt sich langsam durch. Im Fabrikgesetz ist sie veran-

kert, aber bei weitem nicht in allen Branchen üblich. Das Feilschen um Minuten beginnt:

Wenn schon die Wochenzeit derart beschränkt wird, wollen die Arbeitgeber das Maximum

aus den Angestellten herausholen. Nun wird mancherorts verhandelt, ob Händewaschen

in den Pausen zur Arbeitszeit zählt. (Bild: Elias Antonius Berkers; Niederlande ca. 1930)

1936: Charlie Chaplins Satire «Modern Times» zeigt die Automatisierung der Arbeit mit

ihren Folgen für den Menschen. Die Stechuhr bestimmt den Alltag der Arbeiter: Ob Pin-

kel- oder Mittagspause, ja selbst dann, als die Hauptfigur vor ihren aufgebrachten Kolle-

gen flüchtet, vergisst sie nicht, aus- und wieder einzustempeln. (Bild: Film "Modern

Times")

Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal

Allgemeinbildung: Arbeitszeit

Seite 14

Teil 3/TK 8

Allgemeinbildung, LP ab 2009, B. Folda

1988: Das Schweizer Stimmvolk will keine gesetzlich verankerte 40-Stunden-Woche. Es

lehnt die Volksinitiative «zur Herabsetzung der Arbeitszeit» des Schweizerischen Gewerk-

schaftsbunds mit 65,7 Prozent ab. Inzwischen schaffen immer mehr Firmen Stempeluh-

ren ab und setzen mit Jahresarbeitszeit auf Flexibilität für sich und die Mitarbeiter.

Neunziger Jahre: Teilzeitarbeit und das sogenannte Homeoffice werden bedeutender, die

Kontrolle der Mitarbeitenden, die von zu Hause aus arbeiten, wird schwieriger. (Bild:

Thinkstock)

02. Mai 2014, Beobachter 9/2014

Quelle: http://www.beobachter.ch/arbeit-bildung/arbeitsrecht/artikel/arbeit_der-streit-

um-unsere-zeit/, 19.06.2015


Recommended