TECHNISCHE MECHANIK 6(1985)Heft4
Manuskripteingang: 30. 3. 1984
Die Lösung der Umkehrauigabe für Industrieroboter mit
kinematischer Redundanz
Pham Anh Tuan, Klaus Zimmermann
l. Einleitung
Der Einsatz und die Entwicklung von Industrierobo-
tern (IR) beeinflußt gegenwärtig im entscheidendem
Maße die Automatisierung der Produktion. Bei der Er—
forschung neuer Roboterkonfigurationen wird neben
bisher bekannten IR-Typen (DSS-, DDD-Struktur u. a.)
auch die Anwendung von redundanten Strukturen un-
tersucht. Sie verfügen über den mechanischen Freiheits-
grad größer 6 und sind für eine Vielzahl von Anwen-
dungsfällen besonders gut geeignet. (z. B. für Arbeiten
in Räumen mit Hindernissen) [3],
Zur Realisierung einer schnellen Bewegung durch den
Roboter muß eine Koordinatentransformation zwi-
schen kartesischen Koordinaten und Roboterkoordina-
ten (verallgemeinerte Koordinaten) durch einen Pro-
zeßrechner in etwa 20 bis 40 mSec ausgeführt werden.
In diesem Zusammenhang lassen sich 2 Grundaufgaben
formulieren:
a) Die direkte Aufgabe
Der Zusammenhang zwischen Roboterkoordinaten
und Lageparametern hat die Form ([2
xs=fs(q) (s=l,2,...,6) (1.1)
q = (ql, q2, . . . , q“) — Roboterkoordinaten
n — Freiheitsgrad des Roboters
x5, s = 1,2, 3 z. B. Zylinder- oder sphärische
Koordinaten
s = 4, 5, 6 z. B. EULER — oder CARDAN
Winkel '
ö f3Mit Hilfe der Jacohi-Matrix (
a a) erhält man einen line-
q
aren Zusammenhang zwischen den Änderungen der Ro-
boterkoordinaten und den Parametern x9.
AxszmtAqa bzw,
öq"
Ax=J(q)'Aq (1-2) (1-2)
mitAx=(Ax1,Ax2,...Ax6)T,Aq=(Aq1,Aq2,...,Aq
_.afs „L5
J(q) (aqa) 3: Ln
Nach Gleichung (1.2) läßt sich jedem Aq genau ein
A x zuordnen („direkte Aufgabe”).
n\T
l
b) Die Umkehraufgabe
Wenn zu jedem gegebenen A x ein Vektor A q derart be—
stimmt werden soll, da5 die Gleichung (1.2) erfüllt wird,
so spricht man von der Umkehraufgabe der Kinematik.
Mit Hilfe der inversen Jacobi-Matrix J—l läßt sich die
Lösung der Umkehraufgabe in der Form
Aq=J-1<q>-Ax (1.3)
darstellen. Für Roboterkonfigurationen sind aber die Be-
dingungen für die Existenz der Matrix J—l i. a. nicht er-
fiillt [9]. Zum Beispiel ist die Jacobi-Matrix fiir redun-
dante Strukturen nicht quadratisch (dim q =# dim x). Für
derartige Fälle sollen in dieser Arbeit Lösungsmöglich-
keiten der Umkehraufgabe gezeigt werden.
2. Die Lösung der Umkehraufgabe
2.1. Die Anwendung der generalisierten inversen Matrix
Die Matrix G heißt generalisierte inverse Matrix zur Ma-
trix] (mxn), wenn die Gleichung
J GJ zJ (2-1)
gilt Die Lösung der Umkehraufgabe läßt sich unter
Verwendung der generalisierten Inversen G in der Form
A q = G ' A x (2.2)
schreiben. Annahme: Es existiere eine Zerlegung der Ma-
trix J = U1 l J2 ], wobei J 1 eine quadratische, nichtsin-
guläre Matrix ist. Für diesen Fall berechnet sich die ge-
neralisierte Inverse G1 nach der Formel:
—1G1 =
gen von J entsprechend der genannten Forderung, so
lassen sich die Vektoren
l 0]T. Bildet man alle möglichen Zerlegune
Aqszk'Ax
berechnen.
Mit jeweils n—m+l linear unabhängigen Vektoren A qk
(k = 1, 2, . . . , n—m+ 1) erhält man die Lösung der Um-
kehraufgabe in der Form ([4], [10]):
A n +1 Ä A E +1 Ä 1 2 3= ' , mit = .q k=l k qk k:1 k ( )
Beispiel:
DDD—Roboterstruktur in der (x, y) Ebene (Bild 1)
Die Zwangsbedingungen (1.1) lauten
41
xc : L1 cos ql _ L2 cos (q1 + q2) + L3 cos (q1 + q2 + q3) J 3 :“—0,12639 0,21443“ Je—l3 z —l,61306 1,23069“
q
— ' - . 0,64689 0,28105 3 712
Ye ' Ll m91 — L2 31" (q1 + q2) + L3 am (ql + q2 + q3)‚ 76 0,7254
2. Schritt:
y qu’ Gq2’ Gq3
3““ 0 0 _0,05774 1.53458
Gq1= i _0,13783 3,6632sll‘6q2: 0 0
10,30277 —7,8606 9,93398 1,94091
—1,61306 1,23069
Gq3= 3.71276 0,7254
3. Schritt: A qk 0 0
x q; 0 q; 0,007384
Aql = q: : 0,017627 Aq2 2 q: z 0
Die Jacobi-Matrix hat die Form: ‘1? 0,0122 11 q: 0,059374
[_L1 sinq1+L2sin01—L3 sinQ2 ]EL2 sian—L3sian l—L2sinQ2
l = 1 l 1u 1 —0.0 2
lLl cosql — L2 cosQl + L3 cosQ2 l —L2cosQ1+L3 cosQ2{ L3cosQ2 q3 0191
7 2
(2.4) Aq3 — q3 — 0.022191
3 0mit: ql +q2=Q1 und q1+q2+q3=Q2 q3
ES 381 gegeben: Für k = 1,2 und Äl = Äz = 0,5 erhält man nach (2.3)
L1 = 0,5 m qlü‘) = 0,75 rad
2 l
L2 ‘ 0’3 m qm) = 2 "d ql 0.003692a
L3: 0,1 111 q?” = 2rad
l A q = q2 = 0.008813 (2.6)
A x = 0,005 m ‘
gesucht:
2.2. Die Anwendung der Pseudoinversen Matrix
Aql (tin), A92 (ti+1)‚ Aq3(ti+1) i Mit der Pseudoinversen Matrix J+ hat die Lösung der
Umkehraufgabe die Form [6], [8] ~
Jacobi-Matrix:
Aq=J+-Ax+<I—J*J>y (2.7)
u —0,l2639 0,21443 0,09993(2 5) +
: - I — Einheitsmatrix, J — Pseudoinv. Matrix zu J,
0’64689 028105 0100376 y _ beliebiger Vektor, (dim y = dim A q)
1- SChI'itt Für die Berechnung von A q nach (2.7) muß J+ bekannt
. _1 _1 _1 sein. Auf Grund des in der Formel willkürlich zu wählen-
Dle BereChnung von] (11’ J (12’ J 93 den Vektors y kann A q nicht eindeutig berechnet wer-
den. Um eine bestimmte (ausgezeichnete) Lösung zu fin-
J = 0,21443 0,09993 —1 = _0113783 3,66325 den, werden alle gefundenen Lösungsvektoren A q auf
Ell 028105 0,00376 <12 10730277 _7,86061 die Erfüllung eines Kriteriums hin untersucht.
2.2.1. Die Methoden von Konstantinov [8]
In [8] wird gezeigt, daß mögliche Lösungen der Umkehr-J2_ “—0,12639 0,09993“ _l _u—0,05774 1,53458”
_ 2
aufgabe die Beschränkungen0,64689 0,00576 q ' 9,93398 1,94091
4-2
AqmingAquqmax
A qmin: = qmin " (10i), A qmax = qmax — q(ti)v
q(ti) — Momentanwert
"erfüllen müssen. qmm und qmax sind Werte, die von der
Roboterstruktur abhängen (Minimum und Maximum der
Roboterkoordinaten). Nach Konstantinov soll die ausge-
zeichnete Lösung A q das Kriterium
H AE—QAq II->Min (2.8)
, Ag: : Aqmax + AC1min
2
erfüllen. Die Matrix Q heißt Wichtungsmatrix und gestat-
tet die Roboterkoordinaten hinsichtlich ihrer Änderun-
gen unterschiedlich zu bewerten. In [5] wird gezeigt, daß
diese nach (2.8) bestimmte ausgezeichnete Lösung A q
die kleinstmögliche Norm
‚Q: =diag(oz1‚a2, . . . ,am)
m u
IIAq II2 = _21 (A1192
l:
besitzt. Die Anwendung des Kriteriums (2.8) sichert die
Erfüllung der Positionieraufg’abe mit minimalem Energie-
aufwand. Aus (2.7) und (2.8) folgt
rAnin II Aff—QAq || = min IIAE—QU+AX+(I‘J+J)Y H
q y
= min II Afi'üQ-fo—Qa—Jlbyl'
Y
(2.9)
Substitution: A q~— Q ' J+ ' A x = A a
Q (I — 1+1) = Q
Dann gilt
min n A§_QAqu=min IIAq—_6y 1| (2.10)
Aq y
Das Funktional (2.10) wird minimiert durch den Wert
[5]
y. =ö+ - Ar +(I—Q*Q>v (2-11)
v — beliebiger Vektor
Aus (2.7) (2.11) erhält man
Aq = J+ Ax + (I—J+J) [6M3 +(I—ö+ 6) v]
und da (I — J+ J) eine Projektionsmatrix ist“
Aq =1+ Ax+Q
Aq=J+Ax+6+Aq+(I—6+6)v (2.12)
1) Projektionsmatrix P: P - x = x, W = P
Sonderfälle:
1. v = 0, Q = I
Aq = J+Ax + (I — J+J) (Ag—1+ Ax) (2.13)
da (I —— 1+ J) eine Projektionsmatrix istl)
2. v=0 Q¢1
Aq=J+Ax +[Q(I—J+J)]+(AE~QJ+AX) (2.14)
3. v¢0
Um auch für diesen Fall mit beliebigen v-Vektor eine
ausgezeichnete Lösung zu finden, benötigt man noch
weitere Kriterien. [8]
2.2.2. Die Methode von Coiffet [4]
In [4] wird von Coiffet folgendes Kriterium betrachtet,
um eine definierte Lösung der Umkehraufgabe zu be-
stimmen:
‘I’(q) =
Damit ergibt sich als Lösung von (1.3)
Aq 21+ Ax + (I -J*J> - grad <I><q> (2.15)
3. Berechnungsmethoden von Pseudoinversen
Matrizen
Die in den vorangegangenen Abschnitten formulierten
Lösungsvorschriften (2.12) —— (2.14) und (2.15) setzen
zu ihrer Anwendung die Kenntnis der Pseudoinversen
Matrix J+ voraus. Im folgenden sollen deshalb einige Me-
thoden zur Berechnung von Pseudoinversen vorgestellt
werden. Zwei Ziele stehen dabei im Vordergrund:
a) Schnelle Berechnung von J+ mit „rechnerfreundli-
Chen” Operationen
b) Eignung der Berechnungsmethode fiir viele Matrizen-
typen
3.1. Einfache Berechnung
Gegeben sei eine Matrix H der Dimension n x m.
a) 11“ = H—l, . (3.1)
falls H eine quadratische, nichtsinguläre Matrix ist.
b) H+ = HT (HHT)-1‚ ' (3.2)
falls n Zeilen linear unabhängig sind, d. h.
det (HHT) 0
c) H+ = (H+ = (HT H)—1 HT, (3.3)
falls m Spalten linear unabhäan sind, d. h.
det (HT H) 0
43
Beispiel:
Für die im Bild 1 gezeigte Struktur und den im Ab-
schnitt 2.1. gegebenen Werten soll die Umkehraufgabe
mit (2.13) und (3.2) gelöst werden. Dazu wurde ein PL-l
Programm entwickelt, daß nach Eingabe der JACOBI-
Matrix den Lösungsvektor A q berechnet.
JACOBI _ MATRIX
J(l,l)= —Ll - SIN(Q(1))+L2- SIN(Ql)—L3‘ SIN(Q2)
J(1,2) = L2 - SIN(Ql)—L3 - SIN(Q2)
J(1,3) = _L3 - SIN(Q2)
J(2,1) = Ll - COS(Q(1))— L2 - COS(Q 1)+L3 - c03(02)
J(2,2) z —L2' COS(Ql)+L3 - COS(Q2)
J(2,3)= L3-COS(Q2)
PSEUDOINVERSE MATRIX '
—1,392484 1,241230
3,186234 0,700230
1,408846 0,067374
DELTA VE‘KTOR
—0,000756
+o,o19432
+0,007331
Eine Abschätzung der Genauigkeit der gefundenen Lö-
sung ist durch das Einsetzen der (q + A q) in die
„Direkte Aufgabe” möglich.
Folgende Fehler (absolut) wurden ermittelt
5x = +4,5- 10-5, 3y = 5,5 - 10—5
Die Bedingung für die lineare Unabhängigkeit der Zeilen
oder Spalten ist nicht immer erfüllt. Für diese Fälle sol:
len zur Berechnung von H+ weitere Methoden vorgestellt
werden.
3.2. Die Methode der Matrixzerlegung
Es ist möglich, eine Matrix in das Produkt zweier Matri-
zen mit jeweils linear unabhängigen Zeilen und Spalten
zu zerlegen [5].
H=C-B (3.4)
C — Matrix mit lin. unabh. Spalten, B — Matrix mit lin.
unabh. Zeilen
Es gilt
H+ z B+ - c” (3.5)
mit B+ nach (3.2) und C+ nach (3.3).
Beispiel:
1 0 1 1 detHHT=detHTH=0
H = 0 +14 0 (3.6)
1 1 0 1
1 0
C: o 1 13:"1 0 1 I“0 1 —1 0
1 1
C+ nach (3.3) B+ nach (3.2)
2 1 1
3—5 5 2 1
(3+: l B+:l 1 3
1 2 1 5 1’2
‘3' 3 37 2 1
0 0 3 (3.7)
—1 5 4
H+=B+C+=é 4-5 —1
3 0 3
3.3. Die Gramm-Schmidt—Methode [5]
Es sei H eine Matrix mit der Dimension n x m, fiir den
Rang k gelte: k = min (n, m). Diese Matrix kann in der
Form geschrieben werden
H-P=(R IS) (3.8)
wobei P eine permutierte Matrix ist (eine aus Nullen und
Einsen bestehende Matrix derart, daß jede Zeile und
Spalte genau eine Eins beinhaltet).
R : eine Matrix n x k, mit linear unabhängigen Spalten
S : eine Matrix, deren Spalten die Linearkombinatio-
nen der Spalten der Matrix R sind.
Für eine beliebige Matrix U kann man schreiben
S=R-U (3-9)
Daraus resultiert fiir die Pseudoinverse Matrix die Form
[5]:
H+ = P(I| U)T (1+ UUT)-l 3* (3.10)
Diese Gleichung ist der Ausgangspunkt für das Rechen-
verfahren, das auf der Methode von Gramm-Schmidt ba-
siert. Die Methode von Gramm-Schmidt wird für die Be-
rechnung von P, R+, U und (I + UUT)‘l verwendet.
Für Beispiel (3.6) wurde H+ mit der Gramm-Schmidt-
Methode berechnet (Ergebnis vgl. 3.7).
Es gibt noch weitere Methoden zur Berechnung der
Pseudoinversen Matrix. So wird in [5] auf die Elimina-
tionsmethode von Gauß, Jordan, die Methode der Gra-
dientenprojcktion und die Methode von Cayley-Hamil-
ton verwiesen.
4. Zusammenfassung
In der Arbeit wurden Lösungsmöglichkeiten fiir die Um-
kehraufgabe bei Industrierobotern mit kinematischer Re-
dundanz vorgestellt. Schwerpunkt der Ausführungen
sollte die Erläuterung der praktischen Anwendbarkeit
der Methoden und weniger ihre aufgründigen theoreti-
schen Erläuterung sein. Dazu wurde auf ausführlicher
Darstellungen in entsprechenden Arbeiten hingewiesen.
Die Mehrzahl der genannten Methoden wurden auf dem
Rechner ES 1040 getestet. Die Einbeziehung weiterer
Programmsysteme (z. B. formal-analyt. Berechnung der
JACOBI—Matrix mit dem System JACOMA [2]) ist vor-
gesehen.
LITERATUR
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Anschrift der Verfasser:
Dipl-Ing. Pham Anh Tuan
Dr. K. Zimmermann
TH Ilmenau, Sektion Gerätetecth
63 Ilmenau
PSF 327