+ All Categories
Home > Documents > 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie...

5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie...

Date post: 06-Sep-2019
Category:
Upload: others
View: 7 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
20
5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN (1770–1827) Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 mit Schlusschor über Schillers Ode »An die Freude« 1. Allegro ma non troppo, un poco maestoso 2. Molto vivace – Presto – Molto vivace 3. Adagio molto e cantabile – Andante moderato 4. Finale mit Soli und Chor LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN Geburtsdatum unbekannt; geboren am 15. oder 16. Dezember 1770 in Bonn; dort Ein- tragung ins Taufregister am 17. Dezember 1770; gestorben am 26. März 1827 in Wien. TEXTVORLAGE FÜR DAS FINALE »An die Freude«, Ode von Friedrich Schiller (1759–1805), verfasst im September 1785 in Dresden; für ihre Verwendung im Finale der »Neunten« wählte Beethoven die Stro- phen 1–4 (von insgesamt 9 Strophen) aus, komponierte aber von der 2. Strophe nur den ersten, von der 4. Strophe nur den zweiten Teil. ENTSTEHUNG Erste Skizzen zum Scherzo (»Fuge«) ent- standen 1815; doch erst 1817/18 begann sich Beethoven mit konkreten Entwürfen zu einer »Symphonie in D«, einem Vorläufer der »Neunten«, zu befassen; Wiederaufnahme der Arbeit im Sommer 1822; Abschluss der Komposition im Februar 1824 in Wien.
Transcript
Page 1: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

5

Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie

»Beethoven hätte uns seinen Segen

gegeben...«WOLFGANG STÄHR

LUDWIG VAN BEETHOVEN(1770–1827)

Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125mit Schlusschor über Schillers Ode »An die Freude«

1. Allegro ma non troppo, un poco maestoso2. Molto vivace – Presto – Molto vivace3. Adagio molto e cantabile – Andante

moderato4. Finale mit Soli und Chor

LEBENSDATEN DES KOMPONISTENGeburtsdatum unbekannt; geboren am 15. oder 16. Dezember 1770 in Bonn; dort Ein-tragung ins Taufregister am 17. Dezember 1770; gestorben am 26. März 1827 in Wien.

TEXTVORLAGE FÜR DAS FINALE

»An die Freude«, Ode von Friedrich Schiller (1759–1805), verfasst im September 1785 in Dresden; für ihre Verwendung im Finale der »Neunten« wählte Beethoven die Stro-phen 1–4 (von insgesamt 9 Strophen) aus, komponierte aber von der 2. Strophe nur den ersten, von der 4. Strophe nur den zweiten Teil.

ENTSTEHUNG

Erste Skizzen zum Scherzo (»Fuge«) ent-standen 1815; doch erst 1817/18 begann sich Beethoven mit konkreten Entwürfen zu einer »Symphonie in D«, einem Vorläufer der »Neunten«, zu befassen; Wiederaufnahme der Arbeit im Sommer 1822; Abschluss der Komposition im Februar 1824 in Wien.

Page 2: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

6

WIDMUNG

»Seiner Majestät, dem König von Preußen Friedrich Wilhelm III. in tiefster Ehrfurcht zugeeignet«: Hohenzollern-König Fried-rich Wilhelm III. (1770–1840) war in der Reihenfolge der geplanten Widmungsträger Beethovens lediglich dritte Wahl; aus unge-klärten Gründen war die ursprünglich vor-gesehene Widmung an seinen Schüler Fer-dinand Ries unterblieben, auf dessen Initi-ative die Londoner » Philharmonic Society« Beethoven den Kompositionsauftrag zur »Neunten« erteilt hatte, und eine zweite geplante Widmung, die dem russischen Zar Aleksandr I. hätte gelten sollen, wurde ebenfalls wieder annulliert, weil der Zar vor Drucklegung der Partitur verstarb.

URAUFFÜHRUNG

Am 7. Mai 1824 in Wien im Kärntner Tor- Theater (Dirigent: Michael Umlauf; Solis - ten: Henriette Sontag, Sopran; Caroline Unger, Alt; Anton Haitzinger, Tenor; Joseph Seipelt, Bass); Beethoven fungierte wegen seiner vollständigen Taubheit nur als eine Art »Nebendirigent« (Programmzettel: »Herr Ludwig van Beethoven selbst wird an der Leitung des Ganzen Antheil neh-men«).

»Man hat die >Neunte Symphonie< in einen Nebel von hohen Worten und schmücken-den Beiworten gehüllt«, schrieb Claude Debussy 1901 in der »Revue blanche«. »Sie ist – neben dem berühmten >Lächeln der Mona Lisa<, dem mit seltsamer Beharr-lichkeit das Etikett >geheimnisvoll< anhaf-tet – das Meisterwerk, über das am meis-ten Unsinn verbreitet wurde. Man muss sich nur wundern, dass es unter dem Wust von Geschreibe, den es hervorgerufen hat, nicht schon längst begraben liegt.«

MYTHOS »LETZTE SYMPHONIE«

Debussy hat gewiss nicht übertrieben: Es dürfte wohl keine zweite Komposition in der Musikgeschichte geben, die eine solch schillernde und widersprüchliche Langzeit-wirkung entfaltet hat wie Beethovens d-Moll-Symphonie: die »Neunte«. Einer-seits schien sie einen historischen End-punkt zu markieren: »Maß und Ziel« der Instrumentalmusik seien mit der »Neunten« erschöpft, glaubte Robert Schumann 1835 feststellen zu müssen – sechs Jahre, bevor er selbst mit seinen Symphonien B-Dur op. 38 und d-Moll op. 120 das Gegenteil beweisen sollte. Und Richard Wagner be-hauptete 1849 kühn: »Die letzte Sympho-nie Beethovens ist die Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinsamen Kunst [...] Auf sie ist kein Fortschritt möglich, denn auf sie unmittel-bar kann nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft, das allgemeinsame Drama fol-gen.« Andererseits diente gerade diese Symphonie – von Berlioz über Liszt bis zu Mahler – als Prototyp einer neuen, die Gattungsgrenzen überschreitenden Sym-phonik. Und eine »Neunte« zu schreiben, war fortan für Komponisten eine riskante Unternehmung: nicht allein, weil sie sich unweigerlich dem Vergleich mit Beethoven

Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie

Page 3: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

7

Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie

Joseph Carl Stieler: Ludwig van Beethoven (1820)

Page 4: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

8

stellen mussten, sondern weil eine irratio-nale Furcht sich breit machte, mit der Kom-position einer »Neunten« an das Ende der eigenen Lebensfrist zu geraten. Anton Bruckner begründete seine tiefsitzende Scheu, sich an eine Symphonie mit der Ord-nungsnummer 9 zu wagen, ausdrücklich mit dem belastenden Gedanken, dass Beet-hoven »mit der >Neunten< den Abschluss seines Lebens« gefunden habe. Und tat-sächlich sollte auch er seine »Neunte« nicht überleben ! Auch Gustav Mahler hat-te, wie wir in den Erinnerungen der Alma Mahler-Werfel lesen, »Angst vor dem Be-griff >Neunte Symphonie<, da weder Beet-hoven noch Bruckner die >Zehnte< erreicht hatten. So schrieb er >Das Lied von der Erde< erst als >Neunte<, strich dann die Zahl durch und sagte mir bei der später folgenden >Neunten Symphonie<: >Eigent-lich ist es ja die >Zehnte<, weil das >Lied von der Erde< ja meine >Neunte< ist.< Als er dann an der >Zehnten< schrieb, meinte er: >Jetzt ist für mich die Gefahr vorbei !< Doch hat er eine Aufführung der >Neunten< nicht erlebt und niemals seine >Zehnte< vollendet. Da Beethoven nach der >Neun-ten< starb und Bruckner seine >Neunte< gar nicht mehr vollenden konnte, so war es eine Art Aberglauben geworden, dass kein großer Symphoniker über die >Neunte< hinauskomme.« Arnold Schönberg sprach schließlich 1912 die Überzeugung aus: »Die >Neunte< ist eine Grenze. Wer darüber hi - naus will, muss fort. Es sieht aus, als ob uns in der >Zehnten< etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine >Neunte< geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe. Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die >Zehnte< schriebe.«

Beethovens d-Moll-Symphonie ist jedoch, bei allen musikhistorischen Folgen, vor allem Gegenstand und Projektionsfläche politischer Ideale und Weltanschauungen geworden. Repräsentiert sie das sieges-bewusste Deutschtum oder das einige Euro-pa ? Spornt sie zum Krieg an, oder ermahnt sie zum Frieden ? Manifestiert sich in ihr eine republikanische Gesinnung ? Ertönt sie gar als Triumphgesang der kämpfenden Arbeiterklasse ? Es lohnt sich, angesichts dieser verwirrenden Vielzahl einander wi-dersprechender Deutungsversuche einen – vielleicht klärenden – Blick zurück in die Geschichte zu werfen und den ideologi-schen Wechselfällen nachzuspüren, denen Beethovens »Neunte« ausgesetzt war.

DIE »NEUNTE« ZUM JAHRESWECHSEL

Die Aufführung von Beethovens d-Moll- Symphonie zum Jahreswechsel folgt einer Tradition, über deren Ursprung in der Ar-beitermusik-Bewegung sich nur die wenigs-ten Konzertbesucher (und -veranstalter) im Klaren sein dürften. Das Leipziger Arbeiterbildungs-Institut ließ für eine »Friedens- und Freiheitsfeier« in der Sil-vesternacht des Jahres 1918 Beethovens »Neunte« einstudieren und aufführen. Kein Geringerer als Arthur Nikisch dirigier-te das Städtische Theater- und Gewand-hausorchester und Mitglieder des Bach- und des Riedel-Vereins sowie des Gewand-hauschores. Der Konzertbeginn in der Al-bert halle des Kristallpalastes war auf 23 Uhr festgelegt, um den Anbruch des neuen, nach dem Ende des Krieges und der Mon-archie mit größten Hoffnungen begrüßten Jahres mit Schillers Worten und Beetho-vens »Freuden«-Melodie gebührend feiern

Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie

Page 5: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

9

Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie

Joseph Carl Stieler: Skizze zum Portrait Ludwig van Beethovens (1819)

Page 6: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

10

zu können. Der historisch-symbolische Rang jener musikalischen Kundgebung spiegelt sich in den Kritiken wider. Nie sei die 9. Symphonie »so zeitgemäß gewesen wie heu-te«, hieß es etwa im »Leipziger Tage blatt«, »wenn wir auch noch inmitten der Not, im wirren Chaos sind. Diejenigen, die in der Novemberrevolution die Erlösung erbli-cken, werden in ihrer Seele beim Lied an die Freude die Resonanz empfinden, die ande-ren werden ihre Sehnsucht nach der Lö-sung aller Wirrnisse, nach dem Frieden im Land in das Werk strömen lassen – ergrei-fen aber muss es heute alle, da wir zu keiner Zeit leidenschaftlicher um unser Schicksal rangen als jetzt.« Die Idee, den Jahres-wechsel mit einer Aufführung der »Neun-ten« zu begehen, machte sich in der Zeit von 1927 bis 1932 auch die Berliner Volks-bühne zu eigen. Mittlerweile sind Silvester-konzerte mit Beethovens »Neunter« land-auf, landab zu einem alljährlichen Brauch geworden: vertraut, beliebt, aber kaum noch erhellt von dem programma tischen An-spruch, wie er die Menschen im Jahr 1918 bewegt hatte.

Beethovens »Neunte« stand auch nach je-nem denkwürdigen 31. Dezember 1918 im Zentrum der Arbeitermusik-Bewegung und ihrer ehrgeizigen Konzertaktivitäten. 1927 nahm der Komponist Hanns Eisler den 100. Todestag Beethovens zum Anlass, dessen Musik zum geistigen Besitz »der aufstei-genden Arbeiterklasse, nicht aber der Bour-geoisie« zu erklären. In der »Roten Fahne«, dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands, schrieb Eisler: »Und wenn dieser gewaltige Hymnus an die Freu-de aufbraust, sich steigert und jubelnd ausklingt, dann kann und muss jeder klas-senbewusste Arbeiter, mit Kraft und Zu-versicht erfüllt, sich sagen können: Diese Töne, die schon jetzt uns, den noch kämp-

fenden Arbeitern, Energien zuführen, wer-den erst recht uns gehören, wenn wir über die jetzt herrschende Klasse gesiegt ha-ben werden und den Millionenmassen der bis dahin Unterdrückten mit dem Triumph-gesang Beethovens zujauchzen werden: >Seid umschlungen, Millionen !<«

FREIHEIT, GLEICHHEIT, BRUDERLIEBE

Die ideologische Inanspruchnahme der »Neunten« durch die politische und musi-kalische Linke reicht zurück bis in die Epo-che des Vormärz. Franz Brendel, Heraus-geber der »Neuen Zeitschrift für Musik« (ab 1844) und Wortführer der musika-lischen Fortschrittspartei, feierte Beetho-ven als Inbegriff »des neuen, durch die Revolution hervorgerufenen Geistes, er ist der Komponist der neuen Ideen von Frei-heit und Gleichheit, Emancipation der Völ-ker, Stände und Individuen«. Namentlich Beethovens »Neunte« glaubte er »mit al-len Fragen der Zeit« assoziieren zu kön-nen. »Das Ideal der Zukunft ist diese rück-haltlose, unbedingte Hingebung an die Menschheit, dieser ächte Socialismus, wie ihn Beethoven zuerst ausgesprochen hat.« Als Brendel von konservativer Seite ange-griffen und aufgefordert wurde, seine Theorie von der Musik als Ausdruck revo-lutionären Zeitgeists zu belegen und zum Beweis einige Takte zu nennen, in denen demokratische Denkungsart nachprüfbar festzustellen sei, ließ er seinen Mitarbei-ter Ernst Gottschald mit stilisierter Empö-rung antworten: »Sie begreifen nicht, wie musikalische Kunstwerke aristokratische oder demokratische Gesinnungen aus-drücken können ? Glauben Sie, dass Beet-hoven zu Schiller’s Gedicht gegriffen, um blos einmal Gesang mit einer Symphonie zu verbinden ? Finden Sie in diesen Tönen kei-

Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie

Page 7: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

11

Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie

Neujahrsglückwunsch Beethovens für Dorothea Ertmann: »An die Baronin Ertman zum neuen Jahre 1804 von ihrem Freunde und Verehrer Beethoven«

Page 8: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

12

ne tiefere Bedeutung als in irgend einem Hymnus ? Wenn er in gewichtigen Accorden singt: >Seid umschlungen, Millionen, die-sen Kuss der ganzen Welt !< – erkennen Sie in solchen Stimmungen gar keinen geisti-gen Zusammenhang mit den Ideen der mo-dernen Demokratie, mit den Ideen der Frei-heit, Gleichheit, Bruderliebe ?«

Wenige Wochen nach dem Ausbruch der Barrikadenkämpfe des Mai 1849 studierte Richard Wagner die »Neunte« in Dresden ein. Unter den Zuhörern der Generalprobe am 31. März befand sich auch der russi-sche Anarchist Michail Bakunin, der am Schluss zum Podium trat und Orchester und Dirigent ermutigte, sie sollten, wenn beim nahen Weltenbrand auch alle Musik verloren ginge, für den Erhalt dieser Sym-phonie ihr Leben wagen. Als dann während der Kampfhandlungen am 6. Mai das Alte Dresdner Opernhaus ein Raub der Flammen wurde, traf Wagner mit einem der Aufstän-dischen zusammen, der ihm zurief: »Herr Kapellmeister, >der Freude schöner Götter-funken< hat gezündet, das morsche Ge-bäude ist in Grund und Boden verbrannt.« Dieses unerwartete Pathos habe, so Wagner in seiner Autobiographie, »seltsam kräfti-gend und befreiend« gewirkt.

URGERMANE ODER ANTIFASCHIST ?

Aber die Rezeptionsgeschichte der »Neun-ten« kennt durchaus nicht nur repub-likanische, linksdemokratische oder sozia-listische Kapitel. Eine ganz andere Welt- und Werksicht offenbart sich schlagartig in jenem Feldpostbrief, den die Zeitschrift »Die Musik« zu Beginn des Ersten Welt-kriegs dokumentierte und dessen Verfas-ser seinen »tatkräftigen Willen« bekunde-te, »einst siegreich und ohne Schatten des

Hohnes der Welt den großen deutschen Freudenhymnus anzustimmen: >Seid um-schlungen, Millionen !<« Auch der Musik-historiker Hermann Abert wusste zu be-richten, dass Beethovens »Kampf- und Helden-Symphonien« – zu denen er die »Neunte« zählte – »in den Tornistern un-serer Feldgrauen zu finden waren. Der Erz-klang in Beethovens Kunst übertönte alle anderen.« Im Dritten Reich wurde Beetho-ven dann apodiktisch zum »Symbol deut-scher Selbstbehauptung« und zum »ger-manischen Meilensteinmenschen« erklärt, »geboren aus der Urkraft deutschen Men-schentums«. »Wer begriffen hat, welches Wesen in unserer Bewegung wirkt«, ver-kündete der nationalsozialis tische Chef-ideologe Alfred Rosenberg, »der weiß, dass ein ähnlicher Drang in uns allen lebt, wie der, den Beethoven in höchster Steigerung verkörperte. Das Stürmende über den Trümmern einer zusammenbrechenden Welt, die Hoffnung auf einen neue Welten gestaltenden Willen, die starke Freude durch leidenschaftliche Trauer hindurch.« Selbstverständlich gelangte die »Neunte« auch bei den Düsseldorfer Reichsmusik-tagen von 1938 zur Aufführung: »Es be-darf wohl keiner Beweisführung, warum der Gedanke, die große deutsche Musik der Vergangenheit auf den Reichsmusiktagen in erster Linie durch Beethovens 9. Sym-phonie repräsentieren zu lassen, ein be-sonders glücklicher ist«, kommentierte die »Zeitschrift für Musik«. Gleichwohl blieb Beethovens Opus 125 mit seiner so gar nicht zeitgemäßen Botschaft »Alle Men-schen werden Brüder« für das national-sozialistische Deutschland ein heikler Fall. Wie in einem Brennglas bündelt sich der ideologische Streit um den »Besitz« der »Neunten« in jenen Zeilen, mit denen Hanns Eisler 1938 die Unvereinbarkeit von Beethovens Symphonie mit Propaganda

Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie

Page 9: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

13

und Realität des Nationalsozialismus unter-strich, um das Werk im selben Atemzug auf die moralisch richtige, d. h. auf seine Seite zu ziehen: »Können wirklich die Faschisten dieses Werk übernehmen ? Bei ihnen müss-ten doch die Worte ganz anders lauten, nämlich so: >Alle Menschen werden Brüder, mit Ausnahme sämtlicher Völker, deren Länder wir annektieren wollen, mit Ausnah-me der Juden, der Neger und vieler ande-rer.< Dieser Beethoven ist kein Zeuge für die faschistische Diktatur, aber er ist das Vorbild für den Antifaschisten, und der große Zeuge für die Wahrheit und die Ge-rechtigkeit unseres Kampfes.«

Und heute ? Ist der Streit um Beethovens »Neunte« entschieden ? In unseren ideo-logisch windstillen Tagen ist er zumindest abgeflaut. Und seit die »Freuden«-Melodie 1972 zur »Europahymne« bestimmt worden ist, tritt auch ihre ursprüngliche friedens-stiftende Idee wieder stärker ins Bewusst-sein: »Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt.« In Augenblicken von historischer Dimension allerdings scheint sich nach wie vor kein anderes Werk zwin-gender zur Aufführung anzubieten als eben diese Symphonie. 1989, nach dem Fall der Mauer, dirigierte Leonard Bernstein am Ort des Geschehens, in Berlin, Beethovens »Neunte«. »Zu umjubelten musikalischen Freiheitsfeiern gerieten über Weihnachten die beiden Berlin-Konzerte unter Leonard Bernstein im Ost- und Westteil der Stadt«, meldete damals die Deutsche Presse- Agentur: »Bei beiden Konzerten ließ der amerikanische Dirigent den Schlusschor von Beethovens 9. Symphonie >Alle Menschen werden Brüder< in leicht geänderter Fas-sung singen: >Freiheit, schöner Götterfun-ken< (im Original: >Freude, schöner Götter-funken<). Sowohl in der West-Berliner Phil-harmonie an Heiligabend als auch im Ost -

Berliner Schauspielhaus am ersten Weih - nachtstag wurden Bernstein und das von ihm geleitete, aus Ost- und Westmusikern international zusammengesetzte Orches-ter enthusiastisch gefeiert. Auf Monitoren neben der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-kirche und auf dem Platz der Akademie verfolgten im Freien Tausende die Konzer-te. Fernseh- und Hörfunkstationen aus mehr als 20 Ländern übertrugen das Ost-Berliner Gastspiel live. Im Programm-heft hatte Bernstein vermerkt: >Ob wahr oder nicht – ich glaube, dies ist ein Augen-blick, den der Himmel gesandt hat, um das Wort >Freiheit< immer dort zu singen, wo in der Partitur von >Freude< die Rede ist. Ich bin sicher, dass Beethoven uns seinen Segen gegeben hätte...<«

Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie

Page 10: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

14

»An die Freude«TEXTVORLAGE FÜR DAS FINALE DER 9. SYMPHONIE

IN DER BEARBEITUNG DURCH LUDWIG VAN BEETHOVEN

FRIEDRICH SCHILLER

Der Gesangstext

REZITATIV (Basssolo)

O Freunde, nicht diese Töne !Sondern lasst uns angenehmereanstimmen,Und freudenvollere.

ALLEGRO ASSAI (Soli und Chor)

Freude, schöner Götterfunken,Tochter aus Elysium,Wir betreten feuertrunken,Himmlische, dein Heiligtum !

Deine Zauber binden wieder,Was die Mode streng geteilt;Alle Menschen werden Brüder,Wo dein sanfter Flügel weilt.

Wem der große Wurf gelungen,Eines Freundes Freund zu sein;Wer ein holdes Weib errungen,Mische seinen Jubel ein !

Ja – wer auch nur eine SeeleSein nennt auf dem Erdenrund !Und wer’s nie gekonnt, der stehleWeinend sich aus diesem Bund !

Freude trinken alle WesenAn den Brüsten der Natur,Alle Guten, alle BösenFolgen ihrer Rosenspur.

Küsse gab sie uns und Reben,Einen Freund, geprüft im Tod,Wollust ward dem Wurm gegeben,Und der Cherub steht vor Gott.

ALLEGRO ASSAI VIVACE. ALLA MARCIA (Tenorsolo und Männerchor)

Froh, wie seine Sonnen fliegenDurch des Himmels prächt’gen Plan,Laufet, Brüder, eure Bahn,Freudig wie ein Held zum Siegen.

Page 11: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

15

Der Gesangstext

Anton Graff: Friedrich Schiller, gemalt 1785 in Dresden zur Entstehungszeit der Ode »An die Freude«

Page 12: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

16

(Chor)

Freude, schöner Götterfunken,Tochter aus Elysium,Wir betreten feuertrunken,Himmlische, dein Heiligtum !

Deine Zauber binden wieder,Was die Mode streng geteilt;Alle Menschen werden Brüder,Wo dein sanfter Flügel weilt.

ANDANTE MAESTOSO

Seid umschlungen, Millionen !Diesen Kuss der ganzen Welt !Brüder – über’m SternenzeltMuss ein lieber Vater wohnen.

ADAGIO MA NON TROPPO, MA DIVOTO

Ihr stürzt nieder, Millionen ?Ahnest du den Schöpfer, Welt ?Such’ ihn über’m Sternenzelt,Über Sternen muss er wohnen.

ALLEGRO ENERGICO, SEMPRE BEN MARCATO

Freude, schöner Götterfunken,Tochter aus Elysium,Wir betreten feuertrunken,Himmlische, dein Heiligtum !Seid umschlungen, Millionen !Diesen Kuss der ganzen Welt !

Ihr stürzt nieder, Millionen ?Ahnest du den Schöpfer, Welt ?Such’ ihn über’m Sternenzelt !Brüder – über’m SternenzeltMuss ein lieber Vater wohnen.

ALLEGRO, MA NON TANTO (Soli und Chor)

Freude, Tochter aus Elysium,Deine Zauber binden wieder,Was die Mode streng geteilt;

POCO ADAGIO

Alle Menschen werden Brüder,Wo dein sanfter Flügel weilt.

POCO ALLEGRO, STRINGENDO IL TEMPO, SEMPRE PIÙ ALLEGRO. PRESTISSIMO

Seid umschlungen, Millionen !Diesen Kuss der ganzen Welt !Brüder – über’m SternenzeltMuss ein lieber Vater wohnen.Freude, schöner Götterfunken !Tochter aus Elysium !Freude, schöner Götterfunken !

Der Gesangstext

Page 13: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

17

Richard Wagner über die »Neunte«

Allen Verehrern des wundervollen Meisters Beethoven steht in Kürze ein seltener Ge-nuss bevor, wenn mit diesem fast zu sinn-lichen Worte die erhabene Wirkung bezeich-net werden kann, von welcher bei würdigs -ter Ausführung und erlangtem edelsten Ver-ständnisse sein letztes derartiges Werk, die Neunte Symphonie mit Schlusschor über Schillers Ode »An die Freude«, sein muss. Dadurch dass die Kapelle gerade dieses Werk zur Aufführung in ihrem diesjährigen sog. Palmsonntags-Konzert gewählt hat, scheint dieser vortreffliche und reiche Verein von Künstlern beurkunden zu wollen, bis zu wel-cher Höhe seine Leistungen sich zu erheben vermögen; denn wie diese Symphonie un-bestreitbar die Krone des Beethoven’schen Geistes ist, enthält sie ebenso unleugbar auch die schwierigste Aufgabe für die Aus-führung; bei dem würdigen Geiste aber, der diesen großen Palmsonntags-Konzertauf-führungen bisher stets innegewohnt hat, dürfen wir mit Sicherheit annehmen, dass diese Aufgabe gewiss eine vollkommene Lösung erhalten werde. – Endlich darf also auch das größere Publikum Dresdens hof -fen, dieses tiefsinnigste und riesenhafteste Werk des Meisters sich erschlossen zu se-hen, dessen übrige Symphonien bereits zu

einer edlen Popularität gelangt sind, wäh-rend dieses Werk bisher noch in die Ferne eines geheimnisvollen, wunderbaren Rätsels entrückt blieb, zu dessen erhebender Lö-sung es aber gewiss nur einer vollkommen geeigneten Gelegenheit und eines kräftigen, mutigen Sinnes für die erhabenste und edelste Richtung der Kunst bedarf, die sich nirgends mit sprechenderer Überzeugung offenbart hat, als in dieser letzten Sympho-nie Beethovens, zu welcher alle seine frühe-ren Schöpfungen der Art uns wie die Skizzen und Vorarbeiten erscheinen, durch welche es dem Meister eben nur möglich werden konnte, sich zur Konzeption dieses Werkes emporzuarbeiten. O höret und staunet !

Würde es nicht gut sein, wenn – wenigstens versuchsweise – irgend etwas geschähe, um auch dem größeren Publikum das Verständ-nis der letzten Symphonie Beethovens, deren Aufführung wir in diesen Tagen ent-gegensehen, näher zu rücken ?! Wir erin-nern hierbei an die wunderlichsten Missver-ständnisse und sonderbarsten Deutungen, denen dieses Werk so verschiedentlich aus-gesetzt war, so dass schon vom Umherlau-fen der darauf beruhenden Gerüchte zu fürchten stünde, nicht dass sich das Publi-

»Haben Schiller und Beethoven umsonst

gelebt ?«RICHARD WAGNER

Page 14: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

18

kum zu jener bevorstehenden Aufführung etwa nicht zahlreich genug einfinden möch-te (dagegen bürgt der Ruf der Wunderbar-keit und Seltsamkeit dieser letzten großen Schöpfung des Meisters, von dem ja man-che behaupten, er habe diese Symphonie im halben Wahnsinn geschrieben !!) – sondern dass ein wahrscheinlich nicht geringer Teil desselben bei einer ersten und nur einma-ligen Anhörung dieser Tondichtung dadurch in Befangenheit und Verwirrung versetzt werde, und ihm somit ein wahrhafter Ge-nuss entgehe. Öfter gebotene Gelegenheit zur Anhörung solcher Werke würde aller-dings das geeignete Mittel zur Verbreitung ihres Verständnisses sein; leider aber kommt diese Vergünstigung meist nur Musikstücken zu gut, die bei ihrer fast übertriebenen Be-greiflichkeit und Leichtverständlichkeit ihrer gar nicht bedürfen !

Es war einmal ein Mann, der fühlte sich ge-drängt, alles was er dachte und empfand, in der Sprache der Töne, wie sie ihm durch große Meister überliefert war, auszudrü-cken: in dieser Sprache zu reden, war sein innigstes Bedürfnis, sie zu vernehmen, sein einzigstes Glück auf Erden, denn sonst war er arm an Gut und Freude, und die Leute ärgerten ihn sehr, wie gut und liebend er auch gegen alle Welt gesinnt war. Nun sollte ihm aber sein einzigstes Glück geraubt werden, – er wurde taub und durfte seine eigene herrliche Sprache nicht mehr verneh-men ! Ach, da kam er nahe daran, sich der Sprache selbst auch berauben zu wollen: sein guter Geist hielt ihn zurück; – er fuhr fort, auch was er nun empfinden musste, in Tönen auszusprechen; – aber ungewöhnlich und wunderbar sollten nun seine Empfin-dungen werden; – wie die Leute von ihm dachten und fühlten, musste ihm fremd und gleichgültig sein; er hatte sich nur noch mit seinem Innern zu beraten und in die tiefsten

Tiefen des Grundes aller Leiden schaft und Sehnsucht sich zu versenken ! In welch wun-derbarer Welt ward er nun heimisch ! Da durfte er sehen – und hören, denn hier be-darf es keines sinnlichen Gehöres, um zu vernehmen: Schaffen und Genießen ist da eines. – Diese Welt aber war, ach ! die Welt der Einsamkeit: wie kann ein kindlich liebe-volles Herz für immer ihr angehören wollen ?! Der arme Mann richtet sein Auge auf die Welt, die ihn umgibt, – auf die Natur, in der er einst voll süßen Ent zückens schwelgte, auf die Menschen, denen er sich doch noch so verwandt fühlt ! Eine ungeheure Sehn-sucht erfasst, drängt und treibt ihn, der Welt wieder anzugehören und ihre Wonnen, ihre Freuden wieder genießen zu dürfen. – Wenn ihr ihm nun begegnet, dem armen Mann, der euch so verlangend anruft, wollt ihr ihm fremd ausweichen, wenn ihr zu eurer Verwunderung seine Sprache nicht sogleich zu verstehen glauben solltet, wenn sie euch so seltsam, ungewohnt klingt, dass ihr euch fragt: Was will der Mann ?! O, nehmt ihn auf, schließt ihn an euer Herz, höret staunend die Wunder seiner Sprache, in deren neuge-wonnenem Reichtume ihr bald nie gehörtes Herrliches und Erhabenes erfahren werdet, – denn dieser Mann ist Beethoven, und die Sprache, in der er euch anredet, sind die Töne seiner letzten Symphonie, in der der Wunderbare all seine Leiden, Sehnsucht und Freuden zu einem Kunstwerke gestaltete, wie es noch nie da war !

»Zu Beethovens Neunter Symphonie«, 1846

Wenn wir aber dem Werte dieser Tapferkeit die Bedeutung der deutschen Musik, wie dies soeben geschah, zur Seite stellen, so meinen wir darunter gewiss eben nur die Musik Beethovens, nicht jedoch die Musik, wie sie heute gerade in Deutschland getrieben wird.

Richard Wagner über die »Neunte«

Page 15: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

19

Richard Wagner über die »Neunte«

Anton Dietrich: Büste Ludwig van Beethovens (»nach dem Leben modellirt«, 1821)

Page 16: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

20

Seine Tapferkeit würde man ihm allerdings nicht wohl zutrauen, wenn man die Musik sich anhört, zu welcher der Deutsche unse-rer Tage tapfer ist, und durch nichts kann eben dem Deutschen schlagender nachge-wiesen werden, dass er das große Vermächt-nis seines Beethoven sich noch gar nicht anzueignen gewusst hat, als durch den Hin-weis auf den Geist seiner öffentlichen und eigentlichen Volksmusik. Wie muss es den Schüler Beethovens gemuten, wenn er unse-re so ernst gestimmten Heere nach den läp-pischen Polka- und italienischen Opernmelo-dien dahinmarschieren sieht ?! Und wenn nun gar das Philister-Liederkränzchen sich vor der Schlacht in seiner albernen Weichlichkeit breit macht, da fragt man sich denn wohl, zu was ein Luther seine »feste Burg« einem solchen Volke geschenkt hat, wenn es ohne alle Skrupel sein »Rheinwachthäuschen« ihm zur Seite setzt. Wie der öffentliche Ge-schmack der Deutschen in Kunstdingen sich gewöhnt hat, das Schlechteste mit dem Besten gleich behaglich zu verschlingen, müssen wir uns denn wohl auch es gefallen lassen, die großartigste Erhebung und die gewichtigsten Taten unseres Volkes von un-seren Dichtern und Musikern so gefeiert zu sehen, als würden sie beim Stiftungsfest eines Turnervereins im Biergarten vor uns ausgeführt. Wenn je, so musste jetzt es sich zeigen, dass es einen Sinn hatte, einen Schil-ler, einen Beethoven von einer deutschen Mutter geboren zu wissen ! Wie wollen wir nun unseren Beethoven feiern ?!

Mit Aufführungen seiner Werke ?! Aber diese werden ja, jahraus jahrein, in unseren Kon-zertsälen gespielt; die Söhne und Töchter unseres vermögenden Bürgerstandes hören sie mit vielem Vergnügen an, und in allen Musikzeitungen wird darüber berichtet, wie ausgezeichnet dies alles sei. Und nun das deutsche Volk ?! Sobald es in die Schlacht

zieht, um unerhörte Taten zu verrichten, spielt man ihm aus dem »Trovatore« dazu auf, oder – noch schlimmer ! – der deutsche Musiker komponiert ihm Schlachthymnen und Germanialieder ! –

Uns dünkt nun, dass gerade diese Erschei-nung, die unwiderleglich sich uns aufdrän-gende Einsicht in den geradezu schmach-vollen Abstand dieser äußeren Erscheinung des deutschen Wesens von seinem inneren An-sich, eben jetzt, und in diesem großen Jahre uns Stoff zu männlich ernsten Erwä-gungen des Grundes jener ungeheuren Er-schlaffung, in welche der öffentliche deut-sche Kunstgeist verfallen ist, zuführe. Diese Erwägungen würden nicht in beiläufiger Kürze zu klaren Erkenntnissen führen kön-nen; dennoch dürften wir sie am richtigsten leiten, wenn wir sie an die Frage knüpften, wie das Andenken Beethovens am würdigs-ten zu feiern sei. Die Geschichte kommt uns zur Hilfe und setzt in das Jahr des hunderts-ten Geburtstages seines großen Musikers die siegreiche Erhebung des deutschen Volkes aus viel hundertjährigem Verfall. Feiert jedes von diesen beiden so, dass die eine Feier der anderen würdig sei, so feiert ihr einzig sowohl jene Geburt wie diese Wiedergeburt würdig. Ergänzt das, was euch Beethoven ist, durch das, was euch die Siege der deutschen Heere sind; empfindet die Kraft der deutschen Tat mit der Energie eines von Beethoven’scher Musik erfüllten Herzens, so begreift ihr die Bedeutung des einen wie des anderen. Dort Taten, hier Werke. Lasset die Taten unserer Siege das Werk eines wahren und ächten deutschen Reiches errichten, so sollen euch jene Werke des großen Beethoven auch zu den edelsten Taten des deutschen Geistes führen. Wie also wollen wir Beethoven feiern ?!

»Beethoven«, 1871 (Schlussabschnitt)

Richard Wagner über die »Neunte«

Page 17: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

21

Richard Wagner über die »Neunte«

Ferdinand Waldmüller: Ludwig van Beethoven (1823)

Page 18: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

22

»Erleuchtungen aus dem Munde des größten

Beethoven-Kenners«STEPHAN KOHLER

Richard Strauss über die »Neunte«

Anlässlich des 125-jährigen Bestehens der »Musikalischen Akademie des Bayeri-schen Staatsorchesters« dirigierte der 73 Jahre alte Richard Strauss 1936/37 eine Serie von 10 Festkonzerten, in denen ne-ben Tondichtungen Franz Liszts und eige-nen Werken sämtliche Symphonien Ludwig van Beethovens erklangen. Die Programm-gestaltung war als musikhistorisches Kol-leg gedacht; weiß man doch, dass Strauss zeitlebens Liszt und Wagner als »Lehr-meister« betrachtet hatte - aber auch die Klassiker, »insbesondere den letzten Beet-hoven«, von dem – wie Strauss bemerkte – »die direkte Linie über den von der Zunft heute noch unerkannten Franz Liszt bis zu meiner Wenigkeit geht«. Die Berufung auf Beethoven als den heimlichen Initiator einer »neudeutschen« Ausdrucksästhetik gehörte schon beim jungen Strauss zum Voka bular künstlerischer Selbstbestäti-gung. So heißt es in einem Brief an Hans von Bü low aus dem Jahre 1888: »Eine An-knüpfung an den letzten Beethoven, des-sen gesamte Schöpfungen nach meiner An-sicht ohne einen poetischen Vorwurf wohl unmöglich entstanden wären, scheint mir das Einzige, worin eine Zeit lang eine selbst-ständige Fortentwicklung unserer Instru-

mentalmusik noch möglich ist. Bei Beet-hoven deckte sich musikalisch-poetischer Inhalt zwar meistens mit der >Sonaten-form<, doch finden sich schon bei ihm Wer-ke, wo er sich für einen neuen Inhalt eine neue Form schaffen musste. Ich halte es für ein rein künstlerisches Verfahren, sich bei jedem neuen Vorwurfe auch eine dem-entsprechende Form zu schaffen.« Zwei Jahre später vergleicht Strauss in einem Brief an Cosima Wagner Beethovens 9. Symphonie mit der »Faust-Symphonie« Franz Liszts, in der die poetische Idee mit einer Genauigkeit zum Ausdruck gelange, »die selbst ein Beethoven nur ahnen konn-te«: »Die drei ersten Sätze der 9. Sym-phonie sind doch das Äußerste, was Beet-hoven leisten konnte, ein darüber hinaus in der Bestimmtheit des Ausdruckes einer poetischen Idee schien ihm nur mit Zuhilfe-nahme des Wortes möglich. Während Beet-hoven die Mehrsätzigkeit unter dem Zwang einer gewissen Konvention der aus dem Tanze entstandenen Sinfonia immer noch beibehielt, wurde Liszt im >Faust< zur mehrsätzigen Form durch die poeti-sche Idee genötigt, die in einem Satze gar nicht darzustellen war.«

Page 19: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

23

Richard Strauss über die »Neunte«

Martin Tejček: Ludwig van Beethoven beim Spaziergang auf dem Glacis (1823)

Page 20: 5 »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben« - mphil.de · 5 Ludwig van Beethoven: 9. Symphonie »Beethoven hätte uns seinen Segen gegeben...« WOLFGANG STÄHR LUDWIG VAN BEETHOVEN

24

Richard Strauss über die »Neunte«

Als wichtigste Anreger-Gestalt für Strauss’ Beethoven-Auffassung darf Hans von Bü-low gelten: »Die Art, wie er den poetischen Gehalt der Werke Beethovens ausschöpfte, war absolut überzeugend. Da war nirgends ein Zug von Willkür, alles zwingende Not-wendigkeit, aus Form und Inhalt des Wer-kes selbst heraus, und sein Wahlspruch: >Lernt erst die Partitur einer Beethoven’ schen Symphonie genau lesen, und ihr habt auch schon die Interpretation<, kann heute noch [1909] die Eingangspforte jeder Hochschule zieren.« Im April 1892 war Strauss zu einer Aufführung der 9. Sym-phonie unter Bülow nach Berlin gewallfahr-tet. Dem Vater schrieb er: »Die Auffassung der 9. war wundervoll, wenngleich Bülow jetzt anfängt, Beethoven zu verweichlichen: er hat gegen früher alle Schroffheiten und Härten seiner Wiedergabe etwas gemildert, er treibt so ein molto crescendo und poco subito nicht mehr auf die äußerste Spitze, diminuendo’s machen sich bemerkbar, auch bringt er nicht mehr dieses äußerste ff aus dem Orchester heraus, das früher seine Stärke war; die Scherzo’s sind nicht mehr so straff und energisch im Tempo wie ehe-dem; nichtsdestoweniger blieb so viel des Herrlichen übrig, dass es viel zu genießen und lernen gab. Der letzte Satz der 9. schien mir nie so großartig wie neulich.« Auf die Herkunft seiner Beethoven-Auffassung an - gesprochen, antwortete Strauss 1929 in einem Zeitungsinterview: »Ich halte da nur das musikalische Andenken an meinen ge-nialen Lehrmeister Hans von Bülow in Ehren, dem ich die gute und sichere Interpretation verdanke.«

Man darf es einen Glücksfall der Interpreta-tionsgeschichte nennen, dass Strauss im An-schluss an den erwähnten Aufführungszyk-lus der »Musikalischen Akademie« seine Di-

rigiererfahrungen schriftlich niederlegte. Er trug in eine Reihe kleiner Taschenpartituren ein, was er der Überlieferung für wert be-fand: »Der Mangel an jeglicher wahren Tra-dition, der die Beethoven-Interpretationen der meisten jüngeren Dirigenten (der buch-stabengetreue, aber romantisch starre Tos-canini macht mit seiner fanatisch korrekten Wiedergabe noch eine rühmliche Ausnahme) nicht zu ihrem Vorteil auszeichnet, veran-lasst mich, Erinnerungen an den Vortrag dieses (neben Mozart !) >schwierigsten< aller Komponisten mit meinen persönlichen Erlebnissen an diesen 9 Symphonien hier festzuhalten, da mein eigenes Leben durch meine Bekanntschaft mit Franz Lachner fast bis Beethoven selbst hinaufreicht, Bü-low aber Belehrungen über den Vortrag Beethovens von Richard Wagner empfangen hat, die aus dem Munde des größten Beet-hoven-Kenners authentische Bedeutung beanspruchen müssen.« Zur 9. Symphonie notierte Strauss u. a.: »Alles Wesentliche über diese Symphonie ist von Rich. Wagner. Bezügl. der Wagner’schen Orchesterretou-chen möchte ich persönlich von den Trom-petenveränderungen des Anfangs des letz-ten Satzes abraten. Original ist charakte-ristischer u. klingt weniger >modern< ! Ganz zu verwerfen sind die von Gus tav Mahler (wenn auch in guter Absicht !) vorgenom-menen Vergröberungen !« Die Kommentare allein zur 9. Symphonie belaufen sich auf weit über 100 Eintragungen und zeugen von der Akribie, mit der sich Strauss sei-nem Vorhaben widmete: der Fixierung einer ungebrochenen Beethoven- Tradition nach Bülows Vorbild. Dass er diese Tradition ver-körperte, wusste er als knapp 30-jähriger schon 1893. Da heißt es in einem Brief an seine Eltern: »Wenn der selige Beethoven nie schlechter aufgeführt worden wäre als von mir, könnt’ er zufrieden sein...!«


Recommended