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1977 - das deutsche Terrorjahr

Date post: 07-Jun-2015
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In diesem Spezial beleuchtet die Tageszeitung HNA verschiedene Aspekte des RAF-Terrorismus und seiner Folgen. Vor allem beschäftigt sich die Redaktion mit Aspekten, die mit Ereignissen und Personen in Nordhessen und Südniedersachsen.
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SONNTAGSZEIT SPEZIAL Der Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) In diesem Sonntagszeit-Spe- zial beleuchten wir verschie- dene Aspekte des RAF-Terro- rismus und seiner Folgen. Vor allem beschäftigen wir uns mit Aspekten, die mit Ereig- nissen und Personen unserer Region zu tun haben. Lesen Sie unter anderem: • „Man hasste oder man lieb- te ihn“ - der Kasseler Doku- mentarfilmer Klaus Stern über Andreas Baader. SEITE 2 • Die Geburtshelferin - Astrid Prolls Weg aus dem beschau- lichen Kassel in die Welt der Gewalt. SEITE 3 • „Ich bin stolz auf meinen Vater“ - der Göttinger Che- mieprofessor Michael Buback über den ermordeten Gene- ralbundesanwalt. SEITE 4 • Streit über die „klamm- heimliche Freude“ - der Nach- ruf des Göttinger Mescalero und seine Folgen. SEITE 5 • Das Superhirn auf der To- desliste - Karl Heinz Beckurts, vom Kasseler Musterschüler zum RAF-Ziel. SEITE 6 • Die RAF bedrohte Sicher- heit und Ordnung - Interview mit Verfassungsschutzpräsi- dent Heinz Fromm. SEITE 7 Welche Erinnerungen ha- ben Sie an den RAF-Terroris- mus? Wie beurteilen Sie die Ereignisse vor 30 Jahren heu- te? Diskutieren Sie mit uns im HNA-Forum unter www.hna.de/forum Der Staat ist nicht erpressbar - Bundeskanzler Helmut Schmidt in einer Fernsehansprache nach der Schleyer-Entführung. Fotos: dpa Tatort Karlsruhe: Generalbun- desanwalt Siegfried Buback und zwei Begleiter werden am Morgen des 7. April 1977 von einem Kommando der terroris- tischen RAF erschossen (Foto oben). Es ist der Auftakt zum Versuch der Roten Armee Frak- tion, ihre Gesinnungsgenossen in deutschen Gefängnissen frei- zupressen. Im „Volksgefängnis“: Arbeitge- berpräsident Hanns-Martin Schleyer (Foto links) wird am 5. September 1977 in Köln ent- führt, seine vier Begleiter er- mordet. Als nach 43 Tagen er- kennbar wird, dass die Frei- pressungsaktion der RAF ge- scheitert ist - inzwischen hat die Bundesgrenzschutz-Einheit GSG 9 ein von Palästinensern entführtes Flugzeug befreit - wird Schleyer mit drei Kopf- schüssen kaltblütig liquidiert. Terror-Gesetze verabschiedet und der Fahndungsapparat modernisiert. Doch die Regie- renden gingen den Terroris- ten nicht auf den Leim, die ge- hofft hatten, der Staat werde seine demokratische Maske verlieren und sein wahres, sein faschistisches Gesicht zei- gen. Wie leicht man in einem Anti-Terror-Kampf auf die schiefe Bahn geraten kann, war zuletzt in den Vereinigten Staaten nach den Attacken vom 11. September 2001 zu besichtigen. Die Beschäftigung mit dem Terror der RAF, der 34 Men- schen das Leben gekostet hat, kann vielleicht helfen, ge- wappnet zu sein, wenn ande- re, heute möglicherweise noch brutalere Extremisten zuschlagen. Baader und Raspe durch ein- geschmuggelte Schusswaffen sowie der Selbstmord von Ensslin, die sich am Zellen- fenster erhängt, • sowie quasi als Schlussakt die Ermordung Hanns-Martin Schleyers irgendwo im Elsass. Seine Leiche wird im Koffer- raum eines abgestellten Autos in Mühlhausen gefunden. Techniker des Terrors Was knapp zehn Jahre zu- vor mit eher symbolischen Brandstiftungen in zwei Frankfurter Kaufhäusern (als Protest gegen den Vietnam- krieg der Amerikaner) begon- nen hatte, erreicht in diesem Deutschen Herbst 1977 seinen blutigen Höhepunkt. „Techni- ker des Terrors“ hat der Publi- zist Ulrich Greiner die „zweite Generation“ der RAF um Bri- gitte Mohnhaupt und Christi- an Klar kürzlich genannt. Ech- te politische Ziele hatten diese Gewalttäter nicht mehr, ih- nen ging es nur noch um Ge- fangenenbefreiung - und die- ser Zweck heiligte alle Mittel. Der Staat und an seiner Spitze der damalige Bundes- kanzler Helmut Schmidt (SPD) hatten dieser bis dahin größ- ten Herausforderung erfolg- reich widerstanden. Zwar wur- den Verteidigerrechte be- schränkt, immer neue Anti- Die Rote Armee Fraktion (RAF) hat zugeschlagen. Was die erschütterte Nation noch nicht ahnt: Es wird noch schlimmer kommen. Denn die „zweite Generation“ der RAF hat sich vorgenommen, mit noch brutalerer Gewalt durch- zusetzen, was ihr bei der Stür- mung der deutschen Botschaft in Stockholm 1975 missglückt war: die Befreiung der RAF- Führer Andreas Baader, Gud- run Ensslin und Jan-Carl Ra- spe, die in Stuttgart-Stamm- heim einsitzen. So folgen im Jahr 1977 • die Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto, der sich seiner geplanten Entführung wider- setzt, • der Versuch, die Bundesan- waltschaft in Karlsruhe mit ei- nem Raketenwerfer zu atta- ckieren, • die Entführung von Arbeit- geberpräsident Hanns-Martin Schleyer, bei der seine vier Be- gleiter erschossen werden, • die Kaperung der Lufthansa- maschine „Landshut“ mit Mal- lorca-Urlaubern an Bord, die Ermordung von Flugkapitän Schumann, schließlich die Be- freiung der Geiseln durch die Bundesgrenzschutzeinheit GSG 9 auf dem Flughafen von Mogadischu (Somalia), • daraufhin der Selbstmord der Stammheim-Häftlinge kenheimer Allee/Moltkestra- ße an einer Ampel stoppen. Ein mit zwei Personen besetz- tes Motorrad der Marke Suzu- ki GS 750 hält neben dem Dienstmercedes. Als die Am- pel auf Grün springt, zieht der Mann auf dem Sozius eine Ma- schinenpistole aus einem Ak- tenkoffer und eröffnet das Feuer. Die drei Insassen haben keine Chance. V ON W OLFGANG B LIEFFERT G ründonnerstag 1977, die Nation freut sich aufs Osterfest. So auch Generalbundesanwalt Sieg- fried Buback (57), der mit sei- nem Fahrer Wolfgang Göbel (30) und Justizhauptwacht- meister Georg Wurster (43) auf dem Weg ins Büro ist. Ihr Wagen muss an der Ecke Lin- 1977 - das deutsche Terrorjahr Mit der Ermordung von Generalbundesanwalt Buback begann der Versuch der RAF, ihre Führungsspitze freizupressen Wochenendausgabe 31.März/1.April 2007
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Page 1: 1977 - das deutsche Terrorjahr

S O N N T A G S Z E I T S P E Z I A L

Der Terror der Roten Armee Fraktion (RAF)In diesem Sonntagszeit-Spe-zial beleuchten wir verschie-dene Aspekte des RAF-Terro-rismus und seiner Folgen. Vorallem beschäftigen wir unsmit Aspekten, die mit Ereig-nissen und Personen unsererRegion zu tun haben.

Lesen Sie unter anderem:• „Man hasste oder man lieb-te ihn“ - der Kasseler Doku-mentarfilmer Klaus Sternüber Andreas Baader. SEITE 2• Die Geburtshelferin - AstridProlls Weg aus dem beschau-lichen Kassel in die Welt derGewalt. SEITE 3• „Ich bin stolz auf meinenVater“ - der Göttinger Che-mieprofessor Michael Bubacküber den ermordeten Gene-ralbundesanwalt. SEITE 4• Streit über die „klamm-

heimliche Freude“ - der Nach-ruf des Göttinger Mescaleround seine Folgen. SEITE 5• Das Superhirn auf der To-desliste - Karl Heinz Beckurts,vom Kasseler Musterschülerzum RAF-Ziel. SEITE 6• Die RAF bedrohte Sicher-heit und Ordnung - Interviewmit Verfassungsschutzpräsi-dent Heinz Fromm. SEITE 7

Welche Erinnerungen ha-

ben Sie an den RAF-Terroris-mus? Wie beurteilen Sie dieEreignisse vor 30 Jahren heu-te? Diskutieren Sie mit uns imHNA-Forum unter

www.hna.de/forumDer Staat ist nicht erpressbar - Bundeskanzler Helmut Schmidt ineiner Fernsehansprache nach der Schleyer-Entführung. Fotos: dpa

Tatort Karlsruhe: Generalbun-desanwalt Siegfried Bubackund zwei Begleiter werden amMorgen des 7. April 1977 voneinem Kommando der terroris-tischen RAF erschossen (Fotooben). Es ist der Auftakt zumVersuch der Roten Armee Frak-tion, ihre Gesinnungsgenossenin deutschen Gefängnissen frei-zupressen.

Im „Volksgefängnis“: Arbeitge-berpräsident Hanns-MartinSchleyer (Foto links) wird am5. September 1977 in Köln ent-führt, seine vier Begleiter er-mordet. Als nach 43 Tagen er-kennbar wird, dass die Frei-pressungsaktion der RAF ge-scheitert ist - inzwischen hatdie Bundesgrenzschutz-EinheitGSG 9 ein von Palästinensernentführtes Flugzeug befreit -wird Schleyer mit drei Kopf-schüssen kaltblütig liquidiert.

Terror-Gesetze verabschiedetund der Fahndungsapparatmodernisiert. Doch die Regie-renden gingen den Terroris-ten nicht auf den Leim, die ge-hofft hatten, der Staat werdeseine demokratische Maskeverlieren und sein wahres,sein faschistisches Gesicht zei-gen. Wie leicht man in einemAnti-Terror-Kampf auf dieschiefe Bahn geraten kann,

war zuletzt in den VereinigtenStaaten nach den Attackenvom 11. September 2001 zubesichtigen.

Die Beschäftigung mit demTerror der RAF, der 34 Men-schen das Leben gekostet hat,kann vielleicht helfen, ge-wappnet zu sein, wenn ande-re, heute möglicherweisenoch brutalere Extremistenzuschlagen.

Baader und Raspe durch ein-geschmuggelte Schusswaffensowie der Selbstmord vonEnsslin, die sich am Zellen-fenster erhängt,• sowie quasi als Schlussaktdie Ermordung Hanns-MartinSchleyers irgendwo im Elsass.Seine Leiche wird im Koffer-raum eines abgestellten Autosin Mühlhausen gefunden.

Techniker des Terrors

Was knapp zehn Jahre zu-vor mit eher symbolischenBrandstiftungen in zweiFrankfurter Kaufhäusern (alsProtest gegen den Vietnam-krieg der Amerikaner) begon-nen hatte, erreicht in diesemDeutschen Herbst 1977 seinenblutigen Höhepunkt. „Techni-ker des Terrors“ hat der Publi-zist Ulrich Greiner die „zweiteGeneration“ der RAF um Bri-gitte Mohnhaupt und Christi-an Klar kürzlich genannt. Ech-te politische Ziele hatten dieseGewalttäter nicht mehr, ih-nen ging es nur noch um Ge-fangenenbefreiung - und die-ser Zweck heiligte alle Mittel.

Der Staat und an seinerSpitze der damalige Bundes-kanzler Helmut Schmidt (SPD)hatten dieser bis dahin größ-ten Herausforderung erfolg-reich widerstanden. Zwar wur-den Verteidigerrechte be-schränkt, immer neue Anti-

Die Rote Armee Fraktion(RAF) hat zugeschlagen. Wasdie erschütterte Nation nochnicht ahnt: Es wird nochschlimmer kommen. Denn die„zweite Generation“ der RAFhat sich vorgenommen, mitnoch brutalerer Gewalt durch-zusetzen, was ihr bei der Stür-mung der deutschen Botschaftin Stockholm 1975 missglücktwar: die Befreiung der RAF-Führer Andreas Baader, Gud-run Ensslin und Jan-Carl Ra-spe, die in Stuttgart-Stamm-heim einsitzen.

So folgen im Jahr 1977• die Ermordung des BankiersJürgen Ponto, der sich seinergeplanten Entführung wider-setzt,• der Versuch, die Bundesan-waltschaft in Karlsruhe mit ei-nem Raketenwerfer zu atta-ckieren,• die Entführung von Arbeit-geberpräsident Hanns-MartinSchleyer, bei der seine vier Be-gleiter erschossen werden,• die Kaperung der Lufthansa-maschine „Landshut“ mit Mal-lorca-Urlaubern an Bord, dieErmordung von FlugkapitänSchumann, schließlich die Be-freiung der Geiseln durch dieBundesgrenzschutzeinheitGSG 9 auf dem Flughafen vonMogadischu (Somalia),• daraufhin der Selbstmordder Stammheim-Häftlinge

kenheimer Allee/Moltkestra-ße an einer Ampel stoppen.Ein mit zwei Personen besetz-tes Motorrad der Marke Suzu-ki GS 750 hält neben demDienstmercedes. Als die Am-pel auf Grün springt, zieht derMann auf dem Sozius eine Ma-schinenpistole aus einem Ak-tenkoffer und eröffnet dasFeuer. Die drei Insassen habenkeine Chance.

V O N W O L F G A N G B L I E F F E R T

Gründonnerstag 1977,die Nation freut sichaufs Osterfest. So auch

Generalbundesanwalt Sieg-fried Buback (57), der mit sei-nem Fahrer Wolfgang Göbel(30) und Justizhauptwacht-meister Georg Wurster (43)auf dem Weg ins Büro ist. IhrWagen muss an der Ecke Lin-

1977 - das deutsche TerrorjahrMit der Ermordung von Generalbundesanwalt Buback begann der Versuch der RAF, ihre Führungsspitze freizupressen

Wochenendausgabe 31.März/1.April 2007

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Ein Schuss in viele Köpfe: Der StudentBenno Ohnesorg wird am 2. Juni 1967 beieiner Anti-Schah-Demo in Berlin von ei-nem Polizisten erschossen.

Dutschkes Fahrrad am Stra-ßenrand: Ein aufgehetzterRechtsradikaler verletztden Studenten am 11. April1968 mit Schüssen lebens-gefährlich.

1968 - die Zeit der Außerparlamentarischen Op-position (APO): Weltweit begehrt die Jugendauf. Links: Studentenführer Rudi Dutschke.

Jux auf der Anklagebank: (von links) Thorwald Proll,Horst Söhnlein, Andreas Baader und Gudrun Ensslinwerden wegen Brandstiftung verurteilt, nachdem sie1968 Brandsätze in Frankfurter Kaufhäusern gezün-det hatten - aus Protest gegen den Vietnamkrieg.

Ein Klima der VerdächtigungenZwei Übernachtungsgäste beim SPD-Politiker Horst Peter entpuppten sich als RAF-MitgliederV O N W O L F G A N G B L I E F F E R T

D eutschland, Anfang der70er-Jahre: Im Gefolgeder gewaltsamen Be-

freiung des Kaufhausbrand-stifters Andreas Baader verän-dert sich das Klima im Land.Wo Kanzler Willy Brandt (SPD)eben noch selbstbewusst an-gekündigte hatte: „Wir wollenmehr Demokratie wagen“, be-ginnt der Staat nun, sich ge-gen echte und vermeintlicheVerfassungsfeinde zu wapp-nen. Der Radikalenerlass zurÜberprüfung von Beamtenan-wärtern erzeugt eine Atmo-sphäre des Verdachts, bei derFahndung nach der Roten Ar-mee Fraktion und vermeintli-chen Sympathisanten stehenLinke und Liberale unter Ge-neralverdacht.

Auch in Kassel. Einer derdas am eigenen Leibe erfahrenhat, ist Horst Peter, bekennen-der Linker. Damals SPD-Stadt-verordneter und Lehrer an derAlbert-Schweizer-Schule, spä-

ter Bundestagsabgeordneter(1980 bis 1994). Es ging umeine Fußnote der RAF-Ge-schichte, die im Kasseler Bio-top aber Wellen schlug undfür einige Tage auch die deut-schen Medien beschäftigte.

Der Reihe nach: Horst Peterund seine Ehefrau, sie studiertSozialarbeit an der Gesamt-hochschule, sind in der Schön-felder Straße mit einer geräu-migen Wohnung gesegnet.Am 28. Dezember 1970 lassensie dort auf Bitten aus dem Be-kanntenkreis eine Frau und ei-nen Mann übernachten. Siestellt sich als Rosi, er als Benvor. Nach den Nachnamenwird in jenen Jahren nicht un-bedingt gefragt. Und spontaneÜbernachtungsgäste sind da-mals im studentischen Milieunichts Ungewöhnliches, sechsWochen vorher beherbergtendie Peters einen GöttingerJura-Studenten namens Ger-hard Schröder. Beim Früh-stück wird mit Rosi und Benüber antiautoritäre Erziehung

gesprochen, dann sind die bei-den wieder weg.

Bei den Ermittlungen nachden beiden Kasseler Bank-überfällen vom 15. Januar1971 stößt die Polizei auch aufHorst Peter. Denn bei Rosihandelte es sich um AstridProll, nach der unter anderemwegen der Befreiung des Kauf-hausbrandstifters Baader ge-fahndet wird, Ben ist wahr-scheinlich der gesuchte Hol-ger Meins gewesen, damalsnoch unbekannt, 1974 starb erim Hungerstreik der RAF.

Polizeischutz für den Sohn

Kaum wird der Name HorstPeter in der Presse genannt,beginnt der Telefonterror. „Istda das Hotel Peter?“, ist danoch die harmloseste Frage ei-nes anonymen Anrufers, ande-re stoßen wüste Beschimpfun-gen aus, wieder andere dro-hen mit Mord und Brandstif-tung. „Unser Sohn erhielt Poli-zeischutz und wurde von Be-amten zwei Wochen lang zum

Kindergarten in Wehlheidenbegleitet“. Peter empört sichnoch heute: „Erklären Sie dasmal einem Sechsjährigen.“

Ermittlungen gegen Peterstellt die Bundesanwaltschaftwenige Monate später ein.Kein Tatverdacht. Genugtu-ung für Horst Peter, der im-mer betont, Astrid Proll per-sönlich nicht gekannt zu ha-ben. Sie war die Tochter einesKasseler Architekten, er selbstSohn eines Bauarbeiters. Zweiverschiedene Milieus, sagt Pe-ter, da musste man sich auchin einer Stadt wie Kassel nichtunbedingt über den Weg ge-laufen zu sein.

Die Verdächtigungen gegenseine Person sieht Peter dennauch zu einem Großteil als Ab-lenkungsmanöver der politi-schen Gegner. Dass ein Brand-stifter (Thorwald Proll) undeine Bankräuberin (SchwesterAstrid) aus der eigenenSchicht stammten, sei für diebürgerlichen Eliten der StadtKassel eine Grenzüberschrei-

tung gewe-sen, die wieein Schockgewirkthabe. Da sei-en die An-schuldigun-gen gegenHorst Petereine will-kommeneEntlastung gewesen.

Er selbst hatte mit Terrornie etwas am Hut. Unser The-ma waren Erziehungsfragen,nicht der bewaffnete Kampf,sagt er heute. Und im Übrigenhätten die RAF-Leute „uns da-mals doch für revisionistischeA...löcher gehalten“.

Die Hoffnung, die leidigeRAF-Geschichte von 1971 seierledigt, trog allerdings. Weni-ge Tage vor der Bundestags-wahl 1980 veröffentlicht dieKasseler CDU eine Anzeige inder HNA, in der das Bild Petersneben das von Astrid Proll ge-stellt wird. Und unter derÜberschrift „Rosi, Ben und

Horst“ wird gefordert: „Heutebrauchen wir Wähler alle In-formationen über die Kandi-daten. Heute sind wir zum Ur-teilen aufgefordert. Und vor-her zum Nachdenken.“

Doch der infame Schussgeht nach hinten los. Inner-halb weniger Tage solidarisie-ren sich hunderte Bürger inAnzeigen mit dem Angegriffe-nen. Auch zahlreiche CDU-An-hänger distanzieren sich vonder CDU-Anzeige. Und so wirdPeter erstmals in den Bundes-tag gewählt. Mit einem nochbesseren Ergebnis als sein le-gendärer Vorgänger HolgerBörner (SPD).

Horst Peter (heute 70), SPD-Bundestagsabgeord-neter von 1980 bis 1994.

Zur Person

• Andreas Baader (1943 -1977), gebürtiger Münchner, beiGroßmutter und Mutter aufge-wachsen, schon als Jugendlicherstraffällig; 1968 verurteilt wegenBrandstiftung in FrankfurterKaufhäusern. Am 14. Mai 1970Befreiung aus der Haft durch be-waffnete Helfer - die Geburts-stunde der terroristischen RotenArmee Fraktion (RAF). 1972 Ver-haftung in Frankfurt, 1977 inStuttgart-Stammheim Verurtei-lung zu lebenslanger Haft. Nachder Befreiung des Lufthansa-Jets„Landshut“ Selbstmord am 18.Oktober 1977 mittels einer ein-geschmuggelten Pistole.• Gudrun Ensslin (1940 - 1977),viertes von sieben Kindern einerevangelischen Pfarrersfamilie, inTuttlingen aufgewachsen. Studi-um in Tübingen und Berlin; ge-meinsam mit Baader als Kauf-hausbrandstifter verurteilt.1977 in Stammheim Selbstmordmit einem Telefonkabel. In ei-nem Grab gemeinsam mit Baa-der und Jan-Carl Raspe in Stutt-gart beigesetzt.

• Klaus Stern (38), aufgewach-sen in Schwalmstadt-Wiera, Aus-bildung zum Briefträger, Studi-um der Wirtschaftspädagogikund Politik. Erster Dokumentar-film 1999 über die Lorenz-Ent-führung 1975. Grimme-Preis2006 für „Weltmarktführer - DieGeschichte des Tan Siekmann“.

Klaus Stern Archivfoto: dpa

Baader war vulgär, hat anderebrutal ausgenutzt ...STERN: Die schoben alle eine al-truistische Fassade vor sichher. Sie sagten: Wir wollen dasGute und Gerechte. Aber auchUlrike Meinhof, die als fein-fühlige, intelligente Frau galt,hat als Redakteurin Sekretä-rinnen oft nach Gutsherrin-nen-Art behandelt. Alles ande-re als fair und demokratisch.Es klingt, als sei die RAF ein Pro-jekt zur Befriedigung eigenerBedürfnisse gewesen, Aner-kennung, Selbstdarstellung ...STERN: Das ist sicherlich einAspekt.Und Baader?STERN: Dessen Befreiung warder Gründungsmythos. Wiebeim Mao-Tse-tung-Kult.

VON MARK-CHRISTIAN VON BUSSE

F ür sein Porträt des RAF-Terroristen Andreas Baa-der hat der Kasseler Do-

kumentarfilmer Klaus Stern2003 den Deutschen Fernseh-preis erhalten. Mit Jörg Herr-mann hat er im Dezember beidtv die Biografie „Andreas Baa-der. Das Leben eines Staats-feindes“ veröffentlicht.

Sie schildern Baader als at-traktive wie abstoßende Figur.Zunächst: Worin bestand seineFaszination?KLAUS STERN: Ihn umgab eineAura. Er war charmant undfurchtlos. Er hat den Mundsehr weit aufgerissen und Ta-ten folgen lassen. Das war so-wieso eine großmäulige Zeit ...... und Baader hat sich in Szenegesetzt.STERN: Dafür gibt es viele Anek-doten. Baader ist 1965/66 wieein Schauspieler über denKu’damm geschlappt, mit lan-gem Ledermantel, Sonnenbril-le und zwei Hunden. Er hatsich in der Schwulenszenewohlgefühlt und Schwule fürsich begeistert - ohne eigenessexuelles Interesse. Er warmittelpunktsüchtig.Dann hat der ziellose Bohe-mien Baader die Studentenbe-wegung entdeckt?STERN: Viele sagen, Baader warvöllig unpolitisch, ein kleinerGanove. Das stimmt für dieZeit bis 1967 im Grunde auch.Dann hat er die Bühne genos-sen, die sich mit dem Protestgeboten hat - und das Vorbildwar die Kommune 1, die mo-natelang praktisch jeden Tagin der Bild-Zeitung vorkam.

„Man liebte oder hasste ihn“Der Kasseler Dokumentarfilmer Klaus Stern im Interview über den RAF-Gründer Andreas Baader

Baader und Ensslin waren 1969dabei, als im Beiserhaus inRengshausen (Schwalm-Eder-Kreis) die Jugendlichen vom„Heimterror“ befreit wurden.STERN: Baader hat bei einer Ver-sammlung, als dessen Auflö-sung gefordert wurde, unge-duldig gesagt: Das hat alleskeinen Sinn. Hier gehört ’neBombe rein und fertig. Das istnicht passiert ...Aber das machte Eindruck.STERN: Wer so entschiedenwar, war der Allergrößte. Daswar Baader. Der hat am dicks-ten aufgetragen und auch ver-bal keine Gefangenen ge-macht. Das hat die Heimkin-der extrem angezogen.Baader war selbst schon alsKind aufsässig.

STERN: Er hat sich nirgends un-tergeordnet. Er hat alles hin-terfragt. Dafür liebte oderhasste man ihn. Ob er überfor-dert oder hochbegabt war,schulisch war Baader jeden-falls ein Versager. Er ist vater-los aufgewachsen, „Zucht undOrdnung“, wie damals imSchulzeugnis formuliert wur-de, fehlten. Aber deshalb mussman natürlich nicht Terroristwerden.Wie verhielt sich Baader 1973/74 in der JVA Schwalmstadt?STERN: Eher unauffällig. Er saßin einer Einzelzelle, wo ohneUnterlass die Schreibmaschi-ne klapperte. Er empfing An-wälte ...... und hat über Kassiber dieRAF dirigiert.

STERN: Und die Ge-fängnisleitung hat-te den Verdacht,dass er mit einerAnwältin was ge-habt hat. Die er-schien nach der Be-sprechung öftersmit zerzaustenHaaren. Baaderkonnte auch in derHaft Menschen her-vorragend instru-mentalisieren.Was hat Sie selbstam Thema RAF fas-ziniert?STERN: Mich interes-siert, wenn Dingevordergründig aufder Hand liegen,man sie aber trotz-dem nicht verste-hen kann, weil eskeine einfachenDeutungsmuster

gibt. Man will immer noch diewahrste Wahrheit über dieRAF finden. Jetzt sollen die,die rauskommen, endlich re-den. So will es die publizierteÖffentlichkeit. Wie war dasmöglich, dass diese scheinba-ren Desperados für die größ-ten Polizeieinsätze der Bun-desrepublik gesorgt haben?Warum waren die so? DieseNaivität zu glauben, mit so ei-ner vermeintlichen Robin-Hood-Geschichte die Welt ver-ändern zu können! Aber auchder Staat hat sich alles andereals mit Ruhm bekleckert. EinSpielfilmregisseur könnte sichso was nicht ausdenken. Dieseunglaublichen Geschichtenwürden als unrealistisch ver-worfen.

Pariser Idylle: Gudrun Ensslin und Andreas Baader im November 1969 in einem Bistro. Das Foto entstammt demFotobuch „Hans und Grete - die RAF 1967 - 1977“ von Astrid Proll (Steidl-Verlag, Göttingen).

Samstag, 31. März 2007 Zeitgeschehen spezial 2SZ−ZG1

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schließend nicht geklärt wer-den. Fest steht, dass Proll eineBank in Berlin mit ausraubteund 1971 in Hamburg festge-nommen wurde, während sieeine weitere Bankfiliale obser-vierte. Sie kam in den so ge-nannten Toten Trakt der JVAKöln-Ossendorf, eine Zeit dertotalen Isolation, in der sie ge-sundheitlich stark abbaute.„Ich hatte schreckliche Angst,verrückt zu werden“, sagte sieeinmal im Rückblick.

Erneut untergetaucht

Ihr Gesundheitszustandverschlechtert sich so sehr,dass der Prozess gegen sie1974 unterbrochen wird. Prollkommt auf freien Fuß undnutzt die Chance, um erneutunterzutauchen: Sie ziehtnach London, wo ihr still-schweigender Abschied vonder RAF beginnt. Als SentaGretel Sauerbier baut sie sicheine neue Existenz in einerAutowerkstatt auf, lernt ihreheutige Lebenspartnerin ken-nen und heiratet zur Tarnungden Briten Robert Puttick.1978 wird die international

on gilt gemeinhin als Geburts-stunde der RAF. Sie folgte demBefreiten in ein Trainings-camp der PLO in Jordanien, wosie das Schießen lernte.

Nach Kassel kam Proll imDezember 1970 zurück. Als„Rosi“ getarnt, spähte sie zu-sammen mit Holger Meins ali-as „Ben“ möglicherweise diebeiden Filialen der KasselerSparkasse aus, die im Januar1971 von der RAF überfallenwurden. Ob Astrid Proll an derTat beteiligt war, konnte ab-

V O N T I L L S C H W A R Z E

S ie war von Anfang an da-bei. Schon 1969 in Paris,bevor sich die Entwick-

lung zur Roten Armee Frakti-on (RAF) wirklich erahnenließ. Gudrun Ensslin und An-dreas Baader waren auf derFlucht, auf dem Weg in denUntergrund, und Astrid Prollbegleitete sie. Auch mit derKamera. „Es war mir damalsnicht klar, dass ich eigentlichBilder gemacht habe, die dieRAF bei ihrer Entstehung zei-gen“, sagte sie vor zwei Jahrenin einem Interview. Bilder, diedie Stunde null der RAF undzugleich Astrid Prolls Einstiegin die Illegalität zeigen.

„Die Sache hat mich zehnJahre gekostet“, hat Proll imJahr 2000 unserer Zeitung ge-sagt. Die Sache, das warenzwei Jahre terroristische undkriminelle Aktionen in derRAF, fast vier Jahre Haft undfünf Jahre Abtauchen in denUntergrund. Ein weiter Wegder 1947 in Kassel geborenenTochter des Architekten Kon-rad Proll.

Zum Bruder nach Berlin

Im Gegensatz zu ihrem Va-ter, der mit Gebäuden wiedem AOK-Haus am Friedrichs-platz das Nachkriegsbild Kas-sels prägte, zog es TochterAstrid weg aus „der Provinz-stadt“, wie sie sagte. Ihr Bru-der Thorwald lebte in West-berlin, die Mischung aus Kom-munen, Drogen und Rebellenwirkte nach eigenen Wortenfaszinierend auf die damals20-Jährige. Sie zog zu ihm undlernte bald darauf auch Andre-as Baader kennen.

Auf Gudrun Ensslin trafProll, nachdem Ensslin zusam-men mit Baader und ihremsechs Jahre älteren BruderThorwald 1968 wegen Brand-stiftung in zwei FrankfurterKaufhäusern festgenommenworden war. Doch während esfür den Bruder der Anfangvom Ausstieg war – er wandtesich ab und stellte sich 1970der Polizei – bedeutete es fürAstrid Proll den Beginn ihrermilitanten Zeit.

Am 14. Mai 1970 half sie beider Befreiung von AndreasBaader – die bewaffnete Akti-

Die GeburtshelferinAstrid Proll aus Kassel war bei der Befreiung Baaders dabei - der Beginn der RAF

gesuchte Terroristin dochnoch von der Polizei entdecktund ein Jahr später nachDeutschland ausgeliefert.

Hier wird sie 1980 wegenUrkundenfälschung und Raubzu fünfeinhalb Jahren Haftverurteilt, die sie aber nichtmehr antreten muss. Prollbaut sich eine Existenz als Fo-tografin auf, arbeitet unter an-derem als Bildredakteurin fürdas Magazin „Tempo“ und die„Wochenpost“.

„Ein schlechtes Gewissenist unnötig, aber was einenlange verfolgt, ist das Schuld-bewusstsein, überlebt zu ha-ben“, hat sie einer Zeitung ge-sagt, nachdem sie 1998 denBildband „Hans und Grete –Die RAF 1967-1977“ veröffent-lichte. Deutliche Reue suchtman in ihren Texten und In-terviews vergeblich, ihr Ver-hältnis zur RAF bezeichnet sie„als Wechselspiel von Distanzund Nähe“. Zu einem erneu-ten Interview war Proll nichtbereit, vor sieben Jahren sagtesie aber unserer Zeitung: „Ichwar nicht das Ungeheuer, fürdas man mich gehalten hat.“

Als der Terror noch weit weg war: Diese Aufnahme aus dem Jahr 1964 zeigt Astrid Proll in einem ge-punkteten Kleid umgeben von ihren Partnern bei einem Abschlussball in Kassel. Archivfoto: Eberth

Als Fotografin interviewt:Astrid Proll 2000 Archivfoto: Fischer

Zur Fahndung ausgeschrieben:Astrid Proll 1970 Archivfoto: dpa

Als Starjournalistin bewundert, als RAF-Mitglied gejagt: Ulrike Meinhof. Im Juni1972 wird sie festgenommen (Foto), inder Haft nimmt sie sich 1976 das Leben.

Das erste RAF-Opfer: Poli-zeimeister Norbert Schmidwird am 22. Oktober1971in Hamburg bei einerFestnahmeaktion erschos-sen.

Mit modernsten Fahndungsmethoden gegen die RAF:Horst Herold, Chef des Bundeskriminalamtes.

Hungerstreik der RAF: Holger Meins geht biszum Äußersten. Für seinen Tod am 9. No-vember 1974 macht die Sympathisanten-szene den Staat verantwortlich.

Um 9.33 Uhr kamder Doppelschlag1971 raubte die RAF zwei Sparkassenfilialen aus

V O N B A S T I A N L U D W I G

W as soll das denn! -Lasst doch den Un-sinn!“, hört Wolf-

gang Vollmar Stimmen hintersich. Er steht mit dem Rückenzum Tresen, um Kontoauszü-ge für einen Kunden der Spar-kassenfiliale am Kasseler Ge-org-Stock-Platz rauszusuchen.Der 19-Jährige dreht sich um -und blickt in einen Pistolen-lauf. Einen halben Meter vorihm steht eine zierliche,schwarz gekleidete Gestalt,die ihr Gesicht hinter Kapuzeund Maske verbirgt. Es knallt.Die Kugel fliegt an seinemKopf vorbei und schlägt in derDecke ein.

Vieles von dem, was sicham 15. Januar 1971 um 9.33Uhr ereignete, hat der heute56-jährige Mitarbeiter der Kas-seler Sparkasse nie vergessen.Erst seit wenigen Tagen arbei-tete er als Auszubildender imersten Lehrjahr in der Filiale.Es gab viel zu tun an diesemFreitagmorgen. Es war ein 15.und im Schalterraum warte-ten viele Hausfrauen, die denLohn ihrer Männer abholenwollten. Die Kassen warenvoll, als es losging. Was Voll-mar zu dem Zeitpunkt nichtwusste: die Zweigstelle in derAkademiestraße wurde zeit-gleich ausgeraubt, Punkt 9.33Uhr. Ein Doppelüberfall, beidem insgesamt 114 715 DM er-beutet wurden.

„Bis der Schuss fiel, glaub-ten die Kunden an einen dum-men Jungenstreich. Die warenalle so klein. Man hat's im ers-ten Moment nicht ernst ge-nommen“, erinnert sich Voll-mar. Doch es waren keine Kin-der, sondern bewaffnete RAF-Terroristen.

Drei bis vier schwarz Ver-mummte bauten sich an derRückwand der Filiale auf. Ei-ner hielt die Tür zu, und einanderer sprang über den Kas-sentresen, der nur mit Glas ab-getrennt war, und raffte dasGeld zusammen. Alles gingganz schnell. „Nach andert-halb, vielleicht zwei Minutenwaren die wieder verschwun-den“, sagt Vollmar.

Alles schien auf die Sekun-de geplant. Einen Tag zuvor

war Hauptwachtmeister Hans-Joachim Lehmann ein Mannin einem schwarzen Mercedesvor der Filiale aufgefallen - eswar Andreas Baader, der dasZiel ausspähte. Lehmann mel-dete seine Beobachtung derKripo, die offenbar nichtschnell genug reagierte.

Der Erste, der nach demSchock die Bank verließ, warder Auszubildende. Er sollteder alarmierten Polizei signa-lisieren, dass sich die Täternicht mehr in der Bank auf-hielten. „Zwei Polizisten fuh-ren im Streifenwagen vor. Dieschienen völlig überraschtund fragten, was hier los sei“,beschreibt Vollmar das dama-lige Durcheinander.

An Vollmars altem Arbeits-platz steht auch heute ein Tre-

sen. Die Wirtin der rustikalenKneipe „Wagen-Runge“ weißvon dem RAF-Raub nichts. AlsVollmar ihr erzählt, dass dort,wo sie heute Bier zapft,Deutschlands meistgesuchteTerroristen standen, kann siees erst nicht glauben.

Dass es eine RAF-Terroristinwar, die ihre Pistole auf ihnrichtete, hat der Mann von derSparkasse allerdings erst zweiTage nach der Tat aus dieserZeitung erfahren.

Wenn der Banker heute inder Zentrale an der Wolfs-schlucht arbeitet, hat er keineAngst vor einem Überfallmehr. „Einige Jahre hat esmich schon begleitet. Trauma-tisiert bin ich aber nicht“, sagter über diesen Morgen, andem sich ein „Kinderstreich“als RAF-Überfall entpuppte.

Spurensuche damals: Die Poli-zei nahm mit Hunden die Ver-folgung der Täter auf. Foto: Archiv

36 Jahre danach: WolfgangVollmar hat den RAF-Bank-überfall am Georg-Stock-Platznicht vergessen. Foto: Ludwig

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Samstag, 31. März 2007Zeitgeschehen spezial 3SZ−ZG2

Page 4: 1977 - das deutsche Terrorjahr

Schäfer greift zu. „Der warkörperlich ausgemergelt“, er-innert sich Schäfer.

Ein anderes Polizeiaufgebotmit Karl-Heinz Fischer vomMobilen Einsatzkommandobereitet unterdessen den ent-scheidenden Schlag vor. Baa-der zeigt sich kurz vor der Ga-rage, macht Mätzchen, fuch-telt mit der Pistole umher -aber es fällt kein Schuss. Fi-scher schleicht sich an dieRückseite der Garage, nimmtzwei Glasbausteine aus derWand und zündet Tränengas.Kurz darauf öffnet sich die Flü-geltür der Garage, es qualmt,die Polizei teilt dem RAF-Duoüber Lautsprecher mit, dass al-les umstellt sei.

Im Schatten eines Panzer-wagens will Meins flüchten -die Polizei eröffnet das Dauer-feuer. „Das waren bestimmt300 Schüsse“, sagt Fischer.„Wir haben in Kauf genom-men, ihn tödlich zu treffen,das war auch so von oben ab-gesichert.“ Eine Kugel trifftMeins in die Kniekehle. SeineFlucht ist beendet.

Zehn Minuten später istauch Baader kampfunfähig.Ein Scharfschütze trifft ihn imHüftbereich. Baader schreitvor Schmerzen, sein KomplizeMeins brüllt mit Handschellenimmer wieder „Mörder“ und„Schweine“.

Einige Stunden später er-fahren Fischer und Schäfer,wen sie gefasst haben. „Es warmein gefährlichster Einsatz“,sagt Karl-Heinz Fischer heute.Und Bernd Schäfer erinnertsich: „Wir waren mit demÜberfallkommando gar nichtvorbereitet, hatten noch nichteinmal Schutzwesten an.“

V O N A X E L W E L C H

K arl-Heinz Fischer ist inden frühen Morgenstun-den des 1. Juni 1972 völ-

lig übermüdet. Vier Tage langhaben der 27-Jährige und einKollege eine Garage in Frank-furt beobachtet. Nach einemHinweis aus der Bevölkerungwissen die beiden Polizeibe-amten: Es handelt sich beidem Objekt um ein Terroris-ten-Versteck.

Gegen 4 Uhr ahnen dieMänner noch nicht, dass eswenig später um Leben undTod geht. Sie packen geradeihre Maschinenpistolen einund wollen, ganz erschöpft,ihren Dienst beenden. Daereilt sie über Funk die Nach-richt, dass es eine Bombendro-hung gibt. An der FrankfurterHauptwache soll ein Spreng-satz gezündet werden. Fischerund sein Kollege entschließensich, die Garage weiter zu be-obachten. Dann geht plötzlichalles ganz schnell.

Ein schwarzer Porsche fährtvor. Drei Männer steigen aus.Dass es die Terroristen JanCarl Raspe, Holger Meins undAndreas Baader sind, wissendie Polizisten nicht. Als sie ihrAuto verlassen, eröffnen dieRAF-Leute das Feuer. Etwa 15Schüsse fallen aus knapp 20Metern Entfernung. Wiedurch ein Wunder bleiben dieTerroristenjäger unverletzt.

Während Baader und Meinsin die Garage und damit in dieFalle flüchten, rennt Raspe ineinen nahegelegenen Park. Erwill sich dort verstecken, dochdas Frankfurter Überfallkom-mando mit dem 22-jährigenKasseler Polizeimeister Bernd

Schusswechselohne SchutzwestenZwei Kasseler Polizisten waren 1972 dabei,als Andreas Baader festgenommen wurde

Schuss in den Hüftbereich: Andreas Baader wird am 1. Juni 1972zusammen mit Holger Meins und Jan Carl Raspe in Frankfurt über-wältigt und festgenommen. Foto: dpa

Bernd Schäfer (57) arbeitetheute als Erster Hauptkommis-sar in Kassel. Fotos: Welch

Karl-Heinz Fischer (62) ging alsKriminalhauptkommissar imJuni 2004 in den Ruhestand.

D O K U M E N T A T I O N

Der umstrittene Buback-Nachruf

Auszüge aus dem Buback-Nachruf des „Göttinger Mes-calero“:

„Mir ist bei dieser Buback-Geschichte einiges aufgesto-ßen, diese Rülpser sollen zuPapier gebracht werden, viel-leicht tragen sie ein bißchenzu einer öffentlichen Kontro-verse bei (...) Meine unmittel-bare Reaktion, meine „Betrof-fenheit“ nach dem Abschußvon Buback ist schnell ge-schildert: ich konnte undwollte (und will) eine klamm-heimliche Freude nicht ver-hehlen. Ich habe diesen Typoft hetzen hören, ich weiß,daß er bei der Verfolgung,Kriminalisierung, Folterungvon Linken eine herausragen-de Rolle spielte.“

Später im Text heißt esdann: (...) Unser Zweck, eineGesellschaft ohne Terror undGewalt (wenn auch nichtohne Aggression und Mili-

tanz), eine Gesellschaft ohneZwangsarbeit (wenn auchnicht ohne Plackerei), (...) die-ser Zweck heiligt eben nichtjedes Mittel, sondern nurmanches. Unser Weg zum So-zialismus (wegen mir: Anar-chie) kann nicht mit Leichengepflastert werden.

Warum liquidieren? Lä-cherlichkeit kann auch töten(...) Um der Machtfrage willen(o Gott!), dürfen Linke keineKiller sein, keine Brutalos, kei-ne Vergewaltiger, aber sicherauch keine Heiligen, keineUnschuldslämmer. Einen Be-griff und eine Praxis zu entfal-ten von Gewalt/Militanz, diefröhlich sind und den Segender beteiligten Massen ha-ben, das ist unsere Tagesauf-gabe. Damit die Linken, die sohandeln, nicht die gleichenKillervisagen wie die Bubackskriegen (...)Ein Göttinger Mescalero“

Generalbundesanwalt gewor-den wäre. Andererseits warihm dieses Amt wichtig. Er hates mit all seiner Kraft vorbild-lich ausgefüllt, und unter denvielen Gefühlsregungen, diedas schreckliche Geschehenbei uns ausgelöst hat, ist auchStolz auf ihn und auf die Be-gleiter, die mit ihm starben.

Hat der Staat gegenüber denHinterbliebenen ausreichendUnterstützung und Solidaritätgezeigt?

BUBACK: Die Möglichkeitendes Staates sind da sehr be-grenzt. Die Angehörigen müs-sen mit der Situation letztlichdoch allein fertig werden. Dasist für die Einzelnen unter-schiedlich schwer. Ich bin inmeinem Beruf sehr ausgelas-tet und denke nicht ständig andas damalige Geschehen.

Für meine Mutter ist die Si-tuation viel härter. Sie hat seit30 Jahren eine enorme Ver-schlechterung ihrer Lebensbe-dingungen hinzunehmen,und diese wird für sie lebens-länglich andauern. Dasselbegilt für manche der anderenAngehörigen.

Die Chancen des Staates, So-lidarität zu zeigen, wurdennicht im Übermaß genutzt. Soverwundert es mich doch,dass meines Wissens keineStraße und kein Weg nachmeinem Vater benannt wur-de. Erst jetzt, nach 30 Jahren,gibt es in Karlsruhe einen kon-kreten Plan, einen Platz nachihm zu benennen, eigentlichein bisschen spät.

Wie haben Sie damals aufdie Veröffentlichung des so ge-nannten „Mescalero“ reagiert?

BUBACK: Der „Mescalero-Nachruf“ war schrecklich, vorallem traf er uns in einer Pha-se, in der wir doch sehr am Bo-den waren. Wir waren fas-sungslos, als wir von den „Kil-lervisagen wie die Bubacks“ la-

V O N H E I D I N I E M A N N

V or 30 Jahren wurde seinVater, Generalbundes-anwalt Siegfried Bu-

back, von der RAF ermordet.Wir sprachen mit seinemSohn Michael, Chemie-Profes-sor in Göttingen.

Wie haben Sie und Ihre Fa-milie die Ermordung Ihres Va-ters damals erlebt?

BUBACK: Wir waren beim Ski-fahren in der Schweiz. MeineFrau erhielt die telefonischeNachricht von ihrem Vater.Sie war an diesem Tag früherzum Hotel zurückgekehrt.Wir lebten 1977 noch in Karls-ruhe. Ich stand kurz vor demAbschluss meiner Habilitati-on.

War Ihnen bewusst gewe-sen, dass Ihr Vater zu den be-sonders gefährdeten Personenin Deutschland gehörte?

BUBACK: Das war uns be-wusst. Wenn wir uns am Hei-ligabend in der Kirche trafen,hatte er ein kleines Täschchenmit der Pistole dabei. Gegendie Brutalität, die wir dann er-lebten, war das natürlich eineeher anrührende Maßnahme.Diejenigen, die für die Pla-nung und Durchführung derSicherheitsmaßnahmen fürmeinen Vater zuständig undverantwortlich waren, wur-den von dem grausamen Vor-gehen der Terroristen über-rascht.

Welche Gefühle hat es bei Ih-nen hervorgerufen, dass dieRAF Ihren Vater nur als Reprä-sentanten des Staates, nichtaber als Individuum betrachte-te?

BUBACK: Es ist erschreckend,wenn Menschen wegen ihrerFunktion ermordet werden.Natürlich denkt man dann,wie viel besser es gewesenwäre, wenn mein Vater nicht

„Ich bin stolz auf Vater“Michael Buback über den vor 30 Jahren ermordeten Generalbundesanwalt

sen, davon, dass man nun dasGesicht meines Vaters nichtmehr in das kleine rot-schwar-ze Verbrecheralbum dermeistgesuchten und meistge-hassten Vertreter der altenWelt aufnehmen könne, dienach der Revolution zur öf-fentlichen Vernehmung vor-geführt werden sollen. Belas-tend war auch, dass nur wirals Angehörige Strafantragstellen konnten wegen derVerunglimpfung des Anden-kens Toter, und uns wurdenzahlreiche solche Vorgängevorgelegt.

Der Autor des „Nachrufs“hat mir etwa 20 Jahre später -erst seit der Zeit kenne ich sei-nen Namen – geschrieben,dass ihm die auf meinen Vatergemünzten Passagen leid tun.

Ich habe ihm geantwortet,und sein Beitrag ist damit fürmich abgeschlossen. Aller-dings akzeptiere ich es auchweiterhin nicht, wenn anderenicht die Kraft finden, sichentgegen ihrer früheren Ein-stellung von diesem „Nach-ruf“ zu distanzieren.

Vater und Sohn: Siegfried Buback, der damalige Generalsbundesanwalt, und Michael Buback, Professor aus Göttingen. Fotos: dpa

Zur Person

Prof. Michael Buback (62), gebo-ren in Nobitz bei Altenburg(Thüringen), Abitur in Karlsruhe,lehrt am Institut für Physikali-sche Chemie der Georg-August-Universität Göttingen. Bubackist seit 1971 verheiratet mit derGymnasialrätin Elisabeth Bu-back, sie haben zwei Kinder.

Gründonnerstag, 7. April 1977, Karlsruhe: General-bundesanwalt Siegfried Buback und zwei Begleiterwerden von einem RAF-Kommando erschossen.

In den Händen der Bewegung 2. Juni:CDU-Politiker Peter Lorenz. Die Bundes-regierung gibt nach, lässt fünf Terroristenausfliegen. Lorenz kommt frei.

Beim Entführungsversucherschossen: Jürgen Ponto,Vorstandschef derDresdner Bank, wird am 30.Juli in Frankfurt ermordet.

Brennende Botschaft: Am 24. April 1975 schei-tert der Versuch eines RAF-Kommandos inStockholm, inhaftierte Gefangene freizupres-sen. Bonn bleibt hart. Zwei Diplomaten sterben,zwei Terroristen ebenfalls.

Samstag, 31. März 2007 Zeitgeschehen spezial 4SZ−ZG3

Page 5: 1977 - das deutsche Terrorjahr

Scheel: Wir bittenum Vergebung

Bei der Beerdigung des er-mordeten Arbeitgeberprä-sidenten sagte Bundesprä-sident Walter Scheel:„Hanns-Martin Schleyer istgestorben. Für uns alle (...)nicht nur für uns Deutscheist die Chance erhalten ge-blieben, die Gefahr des Ter-rorismus zu bannen. Wirverneigen uns vor dem To-ten. Wir wissen, wir sind inseiner Schuld. Im Namender deutschen Bürger bitteich Sie, die Angehörigenvon Hanns-Martin Schley-er, um Vergebung.“

Tatort Köln: Bei der Entführung von Ar-beitgeberpräsident Hanns-MartinSchleyer werden am 5. September1977 seine vier Begleiter erschossen.

Tod in Aden: Flugkapitän Jür-gen Schumann wird am16. Oktober von den palästi-nensischen Entführern desLufthansa-Jets „Landshut“ er-mordet. Auch sie fordern dieFreilassung der RAF-Spitze.

Selbstmord in Stammheim: Baa-der, Ensslin und Raspe nehmensich das Leben (Foto: Beisetzungin Stuttgart), Schleyer wird im El-sass ermordet aufgefunden.

Operation Feuerzauber: DieGSG 9 stürmt am 18. Oktoberin Mogadischu (Somalia) die„Landshut“ und befreit alleGeiseln. Sie kehren noch amselben Tag zurück (Foto).

Trauerfeier in Stuttgart: Bun-deskanzler Helmut Schmidtkondoliert Waltrude Schleyer,der Frau des ermordeten Ar-beitgeberpräsidenten.

V O N W O L F G A N G B L I E F F E R T

D as letzte Kapitel desDeutschen Herbstesschrieb die RAF selbst.

„Wir haben nach 43 TagenHanns-Martin Schleyers klägli-che und korrupte Existenz be-endet“, hieß es im letztenKommuniqué des RAF-Kom-mandos Siegfried Hausner.Der Arbeitgeberpräsident warmit drei Schüssen in den Kopfgetötet worden. Damit endetedie bleierne Zeit (Filmtitel),jene dramatischen Wochenim Herbst 1977, als sich Staatund Gesellschaft einer bis da-hin nie gekannten terroristi-schen Herausforderung gegen-übersahen.

Nicht genug damit, dass dieRote Armee Fraktion mit derEntführung Schleyers die Frei-lassung der RAF-Gründer An-dreas Baader, Gudrun Ensslinund mehrerer Gesinnungsge-nossen forderte, ein palästi-nensisches Kommando erhöh-te noch den Druck auf die Re-gierung durch die Entführungdes Lufthansa-Jets „Landshut“.

Dass die RAF schließlich un-terlag, ist in der harten Hal-tung der Bundesregierung be-gründet, meinte einige Jahre

später ein Mann, deres wissen muss. DieRAF sei aber auch ander Person Schleyergescheitert, schriebPeter-Jürgen Boock,der damals zu denEntführern und Be-wachern Schleyersgehörte, in einem

Diskussionen im MorgengrauenEx-Terrorist Peter-Jürgen Boock: Die RAF scheiterte auch am entführten Hanns-Martin Schleyer

2002 veröffentlichten Buch.Im Grunde hätten die die Ver-hörversuche und Gesprächemit Schleyer das vorwegneh-mend gespiegelt, was die RAFerst 20 Jahre später in ihrerAuflösungserklärung einzuge-stehen vermochte.

Es müssen merkwürdigeGespräche zwischen Mitter-nacht und Morgengrauen ge-wesen sein, die zunächst in ei-ner Wohnung in Erfstadt-Li-blar abliefen. Eine unwirklichruhige Atmosphäre, so Boock,während draußen in Deutsch-land die Fahndung auf Hoch-touren lief und die Hysteriezunahm. Von den Diskussio-nen sei eine Faszination ausge-gangen, „der sich auch jeneunter uns kaum entziehenkonnten, für die der Gefange-ne anfangs nur die Inkarnati-on alles Bösen war“.

Boock: Schleyer zwang unsdurch seine Antworten mit je-dem Tag mehr, von unserenVorstellungen und Vorurtei-len Abschied zu nehmen.Denn Schleyer, die so genann-te Charaktermaske, der ver-meintliche Erzkapitalist, er-wies sich seinen Entführernintellektuell als haushochüberlegen.

Boock, ohne Frage ein Zeu-ge von begrenzter Glaubwür-digkeit, weil er seine Beteili-gung an Mordtaten zunächststets bestritten und auch überden Zeitpunkt seiner Lösungvon der RAF mehrfach die Un-wahrheit gesagt hatte. Abersein Buch aus dem Jahr 2002schien doch das ehrliche Be-mühen zu sein, mit der Ver-gangenheit endgültig zu bre-chen. Und er räumte auf mitder Legende von der Ermor-dung der RAF-Spitze inStammheim.

Das Drama spitzt sich zu: Am 13. Oktober 1977 entführt ein palästinensisches Kommando den Luft-hansa-Urlauberjet „Landshut“. Die Terroristen unterstützen die Forderungen des RAF-KommandosSiegfried Hausner nach einem Austausch des entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns-MartinSchleyer (Foto) gegen die inhaftierten RAF-Terroristen. Foto: dpa

1977 Entführer und BewacherHanns-Martin Schleyers, heuteBuchautor: Peter-JürgenBoock. Foto: dpa

DOKUMENTATION

„Seine korrupteExistenz beendet“

Am Mittwoch, 19. Oktober,klingelt bei der DeutschenPresseagentur in Stuttgartdas Telefon. Eine Frau sagt:„Hier RAF“ und diktiert derverblüfften Sekretärin eineBotschaft, die noch einmalden Zynismus der RAF zeigt:

„Wir haben nach 43 Ta-gen Hanns-Martin Schleyersklägliche und korrupte Exis-tenz beendet. Herr Schmidt,der in seinem Machtkalkülvon Anfang an mit SchleyersTod spekulierte, kann ihn inder Rue Charles Peguy inMuhlhouse in einem grü-nen Audi 100 mit Bad Hom-burger Kennzeichen abho-len. Für unseren Schmerzund unsere Wut über dieMassaker von Mogadischu(gemeint war die Geiselbe-freiung, die Redaktion) undStammheim (gemeint wa-ren die Selbstmorde vonBaader, Ensslin und Raspe,d.R. ) ist sein Tod bedeu-tungslos. Uns überraschtdie faschistische Dramatur-gie der Imperialisten (...)nicht.“

versucht, das Pamphlet zu ei-nem literarischen Werk zu sti-lisieren und den SchriftstellerErich Friedals eine ArtSprachgut-achter ladenzu lassen.

Die Kam-mer sah da-für jedochkeine Not-wendigkeit.Sie kam zudem Ergebnis, dass keineVolksverhetzung vorliege. DerArtikel erfülle aber den Tatbe-stand der Verunglimpfung desStaates und des AndenkensVerstorbener, weil er herab-würdigende Aussagen überden Ermordeten und eine un-gerechtfertigte Beschimpfungder Bundesrepublik Deutsch-land enthalte.

1977 hatten 48 deutsche Pro-fessoren, darunter der Sozial-psychologe Peter Brückner(Hannover), den Nachdruckveröffentlicht. Auch die Pro-fessoren wurden strafrecht-lich verfolgt, letztlich aber freigesprochen. Besonders Brück-ner hatte es schwer. Erst 1981wurden alle Disziplinarmaß-nahmen aufgehoben. 1982starb er an Herzversagen

Erst mehr als 20 Jahre nachdem Erscheinen des „Nach-rufs“ wurde die Identität des„Mescalero“ bekannt. Der heu-tige LiteraturwissenschaftlerKlaus Hülbrock gab sich selbstgegenüber Michael Buback,dem Sohn des Toten, zu erken-nen. In einem 2001 veröffent-lichten Brief erklärte er, dassihm „die damals persönlichauf Ihren Vater gemünztenWorte heute weh tun“.

PeterBrückner

Das Gericht verurteilte zweileitende Redakteure zu einerGeldstrafe von je 1800 Mark.Die zwei anderen Angeklagtenwurden frei gesprochen, weiles keine hinreichenden An-haltspunkte dafür gab, dasssie an der Veröffentlichungmitgewirkt hatten.

Mäßigender Akzent

Mit seinem Urteil setzte dasGericht mäßigende Akzentein der bis dahin erregt verlau-fenen Debatte. Und das Ge-richt sorgte zudem dafür, dassder „Mescalero“-Artikel öf-fentlich zugänglich wurde:„Alle redeten darüber, kaumeiner hatte ihn gelesen“,meint Finke. Deshalb veröf-fentlichte es das Urteil mit-samt dem kompletten Text ineiner Fachzeitschrift.

Schon im Frühsommer

nicht ermitteln können.Der Prozess wurde von Me-

dienvertretern aus ganzDeutschland verfolgt. „Es wareine unglaublich aufgeheizteStimmung damals“, erinnertsich Reiner Finke. Der heutigeVorsitzende der Schwurge-richtskammer des GöttingerLandgerichts war Berichter-statter in dem Prozess. Vordem Gerichtsgebäude standstets ein massives Polizeiauf-gebot, an allen sieben Ver-handlungstagen war der Saalbrechend voll. Sogar nieder-ländische Vertreter vonAmnesty waren als Beobach-ter nach Göttingen gekom-men. „Die waren aber schnellwieder weg“, so Finke.

Insgesamt sei der Prozessvon einer sachlichen Atmo-sphäre geprägt gewesen. Sei-tens der Verteidigung wurde

rief auch die Justiz auf denPlan. Diese ermittelte sowohlgegen den Göttinger AStA alsauch gegen andere Studenten-zeitungen, die den Artikelnachdruckten. Die Entrüstungentzündete sich vor allem aneinem Satz: „Ich konnte undwollte (und will) meineklammheimliche Freude nichtverhehlen.“ Dass sich der Au-tor in späteren Passagen vonder Gewalt distanzierte, wur-de dagegen in der Öffentlich-keit kaum wahrgenommen.

Autor nicht ermittelt

Ein Jahr nach Erscheinendes Nachrufes kam der Fallvor das Landgericht Göttin-gen. Die Staatsanwaltschafthatte vier Studentenvertreterwegen Volksverhetzung ange-klagt. Den Autor selbst hattedie Strafverfolgungsbehörde

V O N H E I D I N I E M A N N

W ohl nie hat ein Bei-trag in einer Studen-tenzeitschrift ein

solches Echo hervorgerufenwie ein Text, der am 25. April1977 - rund zwei Wochennach der Ermordung des Ge-neralbundesanwalts - in den„Göttinger Nachrichten“ er-schien. Die Zeitung, die derAllgemeine Studentenaus-schuss (AStA) herausgab, er-regte bundesweites Aufsehen.Ein namentlich nicht genann-ter Autor hatte darin unterdem Titel „Buback – Ein Nach-ruf“ die von Terroristen derRoten Armee Fraktion verübteTat kommentiert. Unterzeich-net war der Text mit „Ein Göt-tinger Mescalero“.

Der Text entfachte einenAufschrei der Empörung und

Empörung über die „klammheimliche Freude“Buback-Nachruf eines unbekannten „Göttinger Mescalero“ rief die Justiz auf den Plan - Autor gab sich 20 Jahre später zu erkennen

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Page 6: 1977 - das deutsche Terrorjahr

nicht, die schwebten in ande-ren Sphären.“ Da gab es keineReden, keine Revolution, kei-nen Klassenkampf, nichts.

Geißler vermutet, dass denvier RAF-Frauen einfach dieReibungsfläche fehlte, die er-wartete Knechtung durch denUnterdrückerstaat: „Im Frau-engefängnis ist es anders alsim Männerknast, da gibt esmehr menschliche Beziehun-gen, sogar zwischen Gefange-nen und Bediensteten.“ SeineEinschätzung: Den RAF-Frau-en wäre es wohl lieber gewe-sen, ihr Gefängnisaufenthalthätte mehr dem Klischee desFolterknasts entsprochen. EinGefängnis mit menschlichemAntlitz - das passte nicht insenge RAF-Weltbild.

Als zum bundesweiten Hun-gerstreik der RAF-Mitgliederin den Gefängnissen aufgeru-fen wurde, verweigerten auchdie Frauen in Preungesheimdie Nahrung. Seltsam nur:Auch nach wochenlangemHungern konnte der Anstalts-arzt nicht den typischen Ace-tongeruch feststellen. Geißler:„Die haben zwar ihr Essennicht angerührt, sind aberwohl von den anderen Gefan-genen versorgt worden.“

In den zwei Jahren, dieGeißler in Preungesheim war,haben sich die Frauen nachseiner Erinnerung so gut wienicht darum bemüht, denKnastalltag für sich und ihreMitgefangenen zu verändern.Geißler: „Das interessierte die

wegen. Gemeinsam mit 200anderen Gefangenen.“ Diemeiste Zeit verbrachte die Ter-rorverdächtige, die nicht weg-geschlossen blieb, vor der Zel-lentür einer ihrer Kumpanin-nen, erinnert sich Geißler.

Für die anderen Häftlingeseien die RAF-Frauen selbst-verständliche Mitglieder derGefangenengemeinschaft ge-wesen. Sie selbst grenzten sichaber von den „normalen“ Kri-minellen ab. Geißler: „Da warimmer eine unsichtbareSchranke, eine überheblicheArt und keine Solidarität mitder in ihrem Weltbild unter-drückten Unterschicht.“

Gleichwohl genossen dievier RAF-Frauen wohl die Vor-teile der Knastgemeinschaft.

nach Preungesheim gekom-men und sofort mit der Be-treuung der vier Frauen beauf-tragt worden, die hier unterdem Vorwurf, Mitglieder einerterroristischen Vereinigungzu sein, in Untersuchungshaftsaßen.

Die Namen der Frauen darfer aus Datenschutzgründennicht nennen. Alle vier gehör-ten zur bestenfalls drittenEbene der RAF.

Dass die RAF-GefangenenIsolationshaft oder gar Isolati-onsfolter ausgeliefert gewesenseien, ist nach Geißlers Ein-schätzung nur eine Legende:„Es gab die übliche Tätertren-nung, das heißt, es konntesich immer nur eine der vierFrauen frei auf der Station be-

V O N T H O M A S S T I E R

A uch mehr als 20 Jahrenach seiner Begegnungmit vier des RAF-Terrors

verdächtigter Frauen läuftCarl-Ludwig Geißler bei derErinnerung an seine Zeit imFrankfurter FrauengefängnisPreungesheim ein kalterSchauer über den Rücken:„Zwei Jahre lang kein einzigerSatz, kein Blick. Sie schautendurch mich hindurch, alswäre ich aus Glas. Ich war fürsie nur der Vertreter desSchweinestaates. “

Der heute 53-jährige Geiß-ler - von 1992 bis 1998 Chefder JVA in Kassel-Wehlheiden- war im Oktober 1984 als stell-vertretender Anstaltsleiter

„Da war eine unsichtbare Schranke“Kassels früherer Gefängnisdirektor Carl-Ludwig Geißler erinnert sich an gefangene RAF-Frauen

das prüfende Kollegium denlaut Walter Müller „Formelnan die Tafel knallenden“ Abi-turienten mit den Worten:„Hören Sie auf, da können wirnicht mehr folgen.“

Treffen in der Stadthalle

Die Oberprima des Klassen-lehrers Karl „Charly“ Balzerhielt auch nach dem Abiturnoch Kontakt zueinander. EinKlassentreffen fand etwa achtbis zehn Jahre nach der Reife-prüfung statt - im Stadthallen-restaurant, erinnert sich Mei-bert. Damals war auch Beck-urts mit von der Partie.

Auch in der Nachbarschaftlöste die Nachricht vom ge-waltsamen Tod des Managersdamals Betroffenheit und leb-hafte Erinnerungen aus. Hans-Ulrich Füllhase, dessen Fami-

muss wohl auch der Mathema-tik-Lehrer der damaligen Klas-se OIb, „Männe“ Gensch, ge-habt haben: In der mündli-chen Abiturprüfung stoppte

V O N B U R G H A R D H O L Z

S traßlach vor den TorenMünchens, eine ruhigeWohnsiedlung. Der Wa-

gen, der das Siemens-Vor-standsmitglied Karl-HeinzBeckurts am Morgen des 9. Juli1986 zur Arbeit bringen soll,kommt nur 800 Meter weit.Dann zünden die Attentätervon der RAF ihre Bombe. Beck-urts (56), für seine Mörder einVertreter der militärisch-im-perialistischen Systems, ist so-fort tot. Er hinterlässt Frauund drei Kinder.

Das Entsetzen über denMord, dem Beckurts FahrerEckart Groppler (42) ebenfallszum Opfer fällt, ist groß. Auchin Kassel und Göttingen. Denndort ist er zur Schule und aufdie Universität gegangen. Die-ter Meibert, damals Verwal-tungsleiter beim Gesundheits-amt der Stadt Kassel, zu unse-rer Zeitung: „Was, der Karl-Heinz Beckurts?“ Meibert hat-te 1949 zusammen mit Beck-urts am Realgymnasium Köl-nische Straße, der heutigenAlbert-Schweitzer-Schule, dieReifeprüfung abgelegt. Vom 1.Mai 1946 an hatte Beckurts dieKasseler Schule besucht, dieFamilie fand für mehrere Jah-re im Haus Westfalenstraße10 eine Bleibe.

Als wir die Klassenkamera-den des Ermordeten vor elfJahren befragten, waren sieimmer noch angetan von dennaturwissenschaftlichen Bega-bungen des jungen Mannes.Walter Müller, Professor ander Gesamthochschule Kassel(GhK) und früher erfolgrei-cher Fußballtrainer beim KSVHessen, saß während derSchulzeit eine Zeit lang nebenBeckurts: „Ich habe viel vonihm in Mathe und Physik pro-fitiert und gerne abgeschrie-ben. Er war ein naturwissen-schaftliches Genie.“

Den gleichen Eindruck

Das Superhirn auf der TodeslisteKarl Heinz Beckurts - in Kassel zur Schule gegangen, als Siemens-Manager von der RAF ermordet

lie zusammen mit Beckurtsmehrere Jahre im selben Hauswohnte, war die „ungewöhnli-che Begabung“ und die Lei-denschaft, mit der Beckurts injenen Jahren seinem HobbyRadiotechnik frönte, im Ge-dächtnis haften geblieben.

Als Beckurts 1946 mit sei-nen Eltern und seiner älteren

Schwester Marie-Luise im zer-störten Kassel ankam, hattedie Familie bereits einige be-wegte Jahre hinter sich. ÜberRheydt, wo Beckurts am16. Mai 1930 geboren wurde,Merseburg (Sachsen), Meinin-gen (Thüringen) ging es nachWeimar. Zunächst unberührtvon den Wirren des Krieges,wurde auch der Schüler Beck-urts ab Herbst 1944 zu ver-schiedensten Kriegsdienstengezwungen. Anfang 1945 kamBeckurts zum Gaunachrich-tenstab Thüringen - „bei die-ser interessanten Tätigkeitwurde meine Aufmerksam-keit auf technische Fragen ge-lenkt“, schrieb der Oberpri-maner Karl-Heinz Beckurts1949 bei der Bitte um Zulas-sung zur Reifeprüfung in sei-nem Lebenslauf.

Klare Konturen

Sein beruflicher Werde-gang nahm in jenen Wochenvor der Reifeprüfung klareKonturen an - Beckurts, der alsHobbys die Musik, Sport(Schwimmen) und Lesen an-gab, hatte seine Begabungenerkannt und schrieb: „... Da-her möchte ich Physik undMathematik studieren undmich als Physiker in der For-schung oder in der Industriebetätigen.“

Er fing im Wintersemester1949/50 in Göttingen an zustudieren. Schon damals be-fasste sich der später als über-zeugter Befürworter der Kern-energie bekannte Physikerschwerpunktmäßig mit Atom-physik. Von seinen wissen-schaftlichen Arbeiten profitie-ren bis heute viele Physikstu-denten. Entsprechend zerfled-dert, weil häufig gelesen, siehtdenn auch seine Dissertationaus, die er in der Zeit von 1954bis 1956 im Max-Planck-Insti-tut für Physik geschrieben hat.Das Thema: „NichtstationäreNeutronenfelder“.

Die Attentäter warteten am Straßenrand: Eine Bombe zerfetzte am 9. Juli 1986 das Auto von Sie-mens-Manager Karl Heinz Beckurts. Fotos: dpa

Ermordet: Karl-Heinz Beckurts,Manager.

Ermordet: Eckart Groppler,Fahrer.

Zur Person

Carl-Ludwig Geißler (53) stu-dierte Jura in Mainz und arbeite-te in den Justizvollzugsanstalten(JVA) Darmstadt, Butzbach undPreungesheim. 1986 kam ernach Kassel, wo er zunächst bis1992 die SozialtherapeutischeAnstalt leitete. Bis 1998 war erDirektor der gesamten JVA Kas-sel-Wehlheiden. Seit 1998 arbei-tet Geißler als Staatsanwalt inKassel.

H I N T E R G R U N D

Literatur zum

Thema RAF-Terror

Zahlreiche Autoren sind inden vergangenen Jahrendem Thema RAF auf derSpur gewesen. Dabei sindzum Teil lesenswerte undhöchst informative Beiträ-ge entstanden. Eine Aus-wahl:

•Stefan Aust: „Der BaaderMeinhof Komplex“ (Hoff-mann und Campe) gibt esjetzt als erweiterte und ak-tualisierte Ausgabe desStandardwerkes über dieRAF aus dem Jahr 1985.• Angelika Holderberg:„Nach dem bewaffnetenKampf“ (Psychosozial-Verlag) ist der Versuch ei-ner internen Aufarbeitungdes Terrorismus, den dieehemaligen RAF-Mitglie-der Karl-Heinz Dellwo,Monika Berberich, KnutFolkerts und andere nunöffentlich machen.• Wolfgang Kraushaar:„Die RAF und der linke Ter-rorismus“ (HamburgerEdition). In zwei Bändensind die Beiträge verschie-dener Autoren zum The-ma RAF versammelt.• Kurt Oesterle: „Stamm-heim. Der VollzugsbeamteHorst Bubeck und die RAF-Häftlinge“. (Heyne) Bu-beck schildert den Alltagin Stammheim und diedramatischen Ereignisseim deutschen Herbst1977.• Anne Siemens: „Für dieRAF war er das System, fürmich der Vater. Die andereGeschichte des deutschenTerrorismus“ (Piper,2007). 30 Jahre nach derErmordung von Hanns-Martin Schleyer, JürgenPonto und der Entführungder „Landshut“ kommendie Angehörigen der Opferzu Wort. Denn bislang seinur Tätergeschichte ge-schrieben worden, die Op-fer blieben weit gehendungehört. (bli)

„Wir müssen raus aus den Gräben“ - Dia-logversuch zwischen Ex-RAF-TerroristHorst Mahler (links) und InnenministerRudolf Baum (FDP), 1980.

Und es wird weiter liqui-diert: Am 10. Oktober 1986stirbt in Bonn der DiplomatGerold von Braunmühl.

Doch der Terror geht weiter: Nach der Verhaftungvon Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt 1982 at-tackiert die „dritte RAF-Generation“ 1985 unter an-derem die Frankfurter US-Airbase: Drei Tote.

Mord in Bad Homburg: Eine RAF-Bombe tötetam 30. November 1989 den Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen.

Samstag, 31. März 2007 Zeitgeschehen spezial 6SZ−ZG5

Page 7: 1977 - das deutsche Terrorjahr

V O N A N S G A R H A A S E

K ann ein früherer RAF-Terrorist, der mehr als20 Jahre eingesperrt

war, jemals wieder ein norma-les Leben führen? Der Freibur-ger Strafrechts-Experte Prof.Hans-Jörg Albrecht hat dazuanlässlich der Freilassung derRAF-Rädelsführerin Mohn-haupt Stellung genommen.

Verelendung oder Verwahr-losung - das sind oft die Folgenvon langer Haft, vor allem beiMenschen, die erst im hohenAlter freikommen. „Nach solanger Zeit der Unselbststän-digkeit können Sie nicht er-warten, dass jemand sein Le-ben in die eigenen Händenimmt“, sagt Albrecht. Nichtselten endeten die Entlasse-nen als Betreuungsfälle.

Für Ex-Terroristen scheintdas Leben nach der Haft zu-mindest auf den ersten Blicketwas einfacher zu sein. Daszeigen die Lebensläufe zahl-reicher entlassener RAF-Mit-glieder. Viele sind in die Ano-nymität abgetaucht. Inge Vi-ett, die 1981 in Paris auf einenPolizisten schoss und ihn ver-letzte, arbeitet heute als Auto-rin. Karl-Heinz Dellwo, einerder Geiselnehmer von Stock-holm, ist als Dokumentarfil-mer in Hamburg tätig.

Musterbeispiel Maier-Witt

Als Musterbeispiel für dieWiedereingliederung gilt diean der Schleyer-Entführungund an Banküberfällen betei-ligte Silke Maier-Witt. Sie stu-dierte Psychologie und arbei-tete von 2000 bis 2005 für dasvon der Bundesregierung fi-nanzierte „Forum Ziviler Frie-densdienst“ als Friedensfach-kraft im Kosovo.

Susanne Albrecht, die 1977zusammen mit Klar undMohnhaupt an der Ermor-dung von Dresdner-Bank-ChefPonto beteiligt war, soll lautMedienberichten heute unteranderem Namen in Nord-deutschland als Lehrerin ar-beiten. Sie war erst kurz nachder Wiedervereinigung ge-fasst und zu zwölf Jahren Haftverurteilt worden.

Keine Gefahr mehr

Eine Gefahr der Rückkehrzum Terrorismus sehen diemeisten Fachleute bei denEntlassenen nicht. Seitdemdie RAF nicht mehr existiere,gehe von den Ex-Mitgliedernauch keine Bedrohung mehraus, sagt Prof. Albrecht, Direk-tor des Max-Planck-Institutsfür ausländisches und interna-tionales Strafrecht.

Das gilt sogar für ehemaligeRAF-Täterinnen wie IrmgardMöller. Auch wenn die 59-Jäh-rige bis heute die These propa-giert, Baader, Ensslin und Ra-spe seien in Stammheim um-gebracht, sie selbst von staatli-cher Seite überfallen worden.(dpa)

Abgetaucht in die AnonymitätViele entlassene RAF-Mitglieder gehen heute normalen Berufen nach

In den 80er-Jahren allgegenwärtig: Die Fahndungsplakate, mit denen die Terroristen der RAF gesuchtwurden. Von denen auf diesem Plakat sitzt nur noch Christian Klar ein. Foto: dpa

Zur Person

Heinz Fromm (58), in Frieda(Werrra-Meißner-Kreis) gebo-ren, ist seit Juni 2000 Präsidentdes Bundesamtes für Verfas-sungsschutz. Zuvor war der Ju-rist Leiter der Justizvollzugsan-stalt Kassel I. Foto: dpa

V O N W O L F G A N G B L I E F F E R T

W ar die Rote ArmeeFraktion (RAF) wirk-lich eine Gefahr für

die Demokratie? Dazu befrag-ten wir Heinz Fromm, den Prä-sidenten des Bundesamtes fürVerfassungsschutz in Köln.

Die RAF hat sich selbst füraufgelöst erklärt. Gehen Sie da-von aus, dass dem tatsächlichso ist?

FROMM: An der Urheber-schaft der Roten Armee Frakti-on hinsichtlich der Auflö-sungserklärung vom März1998 bestehen keine Zweifel.Die damals erklärte Beendi-gung des „Projekts RAF“ hatsich bestätigt. Im Übrigenwürden terroristische Aktio-nen, wie sie früher von derRAF verübt wurden, wohl der-zeit im linksextremistischenSpektrum weder eine Basisnoch breite positive Resonanzfinden.

Ist die RAF wirklich eine Ge-fahr für die freiheitlich-demo-kratische Grundordnung gewe-sen?

FROMM: Die RAF hatte dasZiel, Staat und Gesellschaftdurch Morde und andere Ge-walttaten grundlegend zu ver-ändern. Sie war über Jahr-zehnte die gefährlichste terro-ristische Organisation inDeutschland. Die innere Si-cherheit und Ordnung in un-serem Land war über viele Jah-re im hohen Maß bedroht.

Welche Gruppen im Links-terrorismus müssen heute -und warum - als besonders ge-fährlich gelten?

FROMM: LinksterroristischeStrukturen, die mit der frühe-ren RAF oder den „Revolutio-nären Zellen“ vergleichbarwären, sind in Deutschlandderzeit nicht vorhanden. Esgibt jedoch einzelne Kleinst-gruppen, die vor allem An-

schläge auf Sachen ausübenund damit die Grenze zu terro-ristischem Gewalthandelnüberschreiten. Es ist dabei nieganz auszuschließen, dassauch Menschen zu Schadenkommen - auch wenn diesnicht beabsichtigt ist. Die Tä-ter versuchen offenbar, das zuvermeiden, weil sie befürch-ten, dass ihr Anliegen damitdiskreditiert und der staatli-che Verfolgungsdruck erheb-lich zunehmen würde.

Welche Organisation ist dazu nennen?

FROMM: Die bekannteste die-ser Gruppierungen ist die imGroßraum Berlin operierende„militante gruppe“, die seitdem Jahr 2001 bereits 24Brandanschläge verübt hat -allein 8 davon im Jahr 2006.Für alle diese Gruppen gilt,dass Militanz unverzichtbarer,unmittelbarer Ausdruck ihrerGegnerschaft zum „System“ist. Aktuell zeigt sich dies beiden militanten Aktionen imZusammenhang mit dem be-vorstehenden G8-Gipfel imJuni in Heiligendam.

„Ordnung in hohemMaß bedroht“Verfassungsschutzchef Heinz Fromm überdie Rote Armee Fraktion und Gefahren heute

Opfer eines RAF-Scharfschützen: DetlevKarsten Rohwedder, Chef der Treuhand,ermordet am 1. April 1991 in Düsseldorf.

2007 nach einem Viertel-jahrhundert aus der Haftentlassen: Brigitte Mohn-haupt (Fahndungsfoto), An-führerin der „zweiten Ge-neration“ der RAF.

Anschlag in Weiterstadt: Eine Bombe der RAF ver-wüstet am 27. März 1993 den vor der Vollendungstehenden Gefängnisneubau nahe Darmstadt.

Fahndungsdesaster in Bad Kleinen: Der GSG-9-Beamte Michael Newrzella und der RAF-Terro-rist Wolfgang Grams (Foto) kommen am 24. Juni1993 ums Leben.

D O K U M E N T A T I O N

Die Auflösungserklärung der RAF„Und natürlich kann geschos-sen werden“, hieß es in einerSchrift der RAF-Mitbegründe-rin Ulrike Meinhof. Fast 30Jahre später löst sich die RAFauf. In ihrer Erklärung heißt esunter anderem:„Vor fast 28 Jahren am 14.Mai 1970 entstand in einerBefreiungsaktion die RAF.Heute beenden wir diesesProjekt. Die Stadtguerilla inForm der RAF ist nun Ge-schichte. Wir, das sind alle,die bis zuletzt in der RAF or-ganisiert gewesen sind. Wirtragen diesen Schritt gemein-sam. Ab jetzt sind wir - wiealle anderen aus diesem Zu-sammenhang ehemalige Mi-litante der RAF.

Wir stehen zu unserer Ge-

schichte. Die RAF war der re-volutionäre Versuch einerMinderheit - entgegen derTendenz dieser Gesellschaft -zur Umwälzung der kapitalis-tischen Verhältnisse beizu-tragen (...)

Wir wollen heute beson-ders an alle erinnern, die sichhier dafür entschieden, imbewaffneten Kampf alles zugeben und in ihm gestorbensind. Unsere Erinnerung undunsere ganze Achtung gilt de-nen, deren Namen wir nichtnennen können, weil wir sienicht kennen, und (es folgen26 Namen). Die Revolutionsagt: Ich war, ich bin, ich wer-de sein.“

Rote Armee Fraktionim März 1998

Die Helden vonMogadischu

Für einige Wochen hatten sieHelden-Status: Ulrich Wege-ner, der Kommandeur derGrenzschutz-Einheit GSG 9,die in Mogadischu die „Lands-hut“-Geiseln befreite; Gabivon Lutzau, die tapfere Ste-wardess; Jürgen Vietor, derCopilot, der nach der Ermor-dung von Flugkapitän Schu-mann die „Landshut“ fliegenmusste. Und Staatsministerund Krisenmanger Hans-Jür-gen Wischnewski, der in Mo-gadischu mit Somalias Regie-rung und den Geiselnehmernverhandelte.

„Ben Wisch“ ist inzwischengestorben, Wegener im Ruhe-stand. Von Lutzau und Vietormeldeten sich kürzlich in ei-nem Interview-Band zu Wort.

2005 gestorben: Ex-Staatsmi-nister Wischnewski.

Mischt sich ein: Ex-CopilotJürgen Vietor.

Gabi von Lutzau und Ulrich Wegener bei einem Presseterminim Jahre 2002. Fotos: dpa

Samstag, 31. März 2007Zeitgeschehen spezial 7SZ−ZG7


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