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13 Kriminalstories

Date post: 03-Jan-2017
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In gleicher Ausstattung wie der vorliegende Band

erschienen als Heyne-Anthologien

Band l

13 KRIMINAL-STORIES (1. Folge)

Band 2

20 SCIENCE FICTION-STORIES (1. Folge)

Band 3

2x WESTERN-STORIES

Band 5

16 SCIENCE FICTION-STORIES (2. Folge)

Band 6 1 5 GRUSEL-STORIES

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13 KRIMINAL

STORIES E L L E R Y Q U E E N ' S

K R I M I N A L - A N T H O L O G I E

2. Folge

W I L H E L M H E Y N E V E R L A G

M Ü N C H E N

Frank Petermann
Schreibmaschinentext
Scanned by Manni Hesse 2007
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H E Y N E - A N T H O L O G I E N

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Aus dem Amerikanischen übertragen

von Günter Hehemarm

Copyright 1964 der deutschen Ausgabe beim Wilhelm Heyne Verlag, München Copyright © 1963 by Davis Publications, Inc., New York

Printed in Germany 1964 Umschlag: Heinrichs & Piloty

Gesamtherstellung: Ebner, Ulm/Donau

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I N H A L T

R E X S T O U T

Der Fall mit dem verdrehten Schal Seite 7

C O R N E L L W O O L R I C H

Dinnerparty mit delikatem Nachtisch Seite 88

M a c K I N L E Y K A N T O R

So ähnlich wie Thunfisch Seite 1 2 4

E L L E R Y Q U E E N

Untermieter unter sich Seite 1 4 5

H E L E N M c C L O Y

Nur ein kleiner psychischer Schock Seite 1 5 6

T H O M A S W A L S H

Cop Callahans Coup Seite 172

R O Y V I C K E R S

Der gerissenste Geizhals ganz Europas Seite 195

W I L L S C O T T

Blau in Grau Seite 2 1 1

O . H E N R Y

Nach zwanzig Jahren Seite 227

F R E D E R I C K I R V I N G A N D E R S O N

Das Haus am Ende der Straße Seite 2 3 2

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R U F U S K I N G

Die Leiche in der Rinne Seite 2 5 1

L O U I S B R O M F I E L D

Josephine Criminelle Seite 263

E D G A R W A L L A C E

Die Affäre in Chobham Seite 276

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Rex Stout

Der Fall mit dem verdrehten Schal

Das ist Rex Stouts eigentliche Stärke: Der DetektivKurzroman, in der Handlung stets raffiniert erdacht und ausgeklügelt, stets brillant geschrieben, und in der Hauptrolle stets Nero Wolfe, der Bier trin= kende Orchideen°Narr mit dem messerscharfen Verstand, und selbstverständlich Archie Goodwin, rechte Hand und ausführendes Organ des vom Polstersessel aus operierenden Zweieinhalb=Zent= ner°Kriminologen...

Meine Probleme erreichten an je= nem Tag einen neuen Gipfelpunkt. Eigentlich war mir danach zumute, einen ausgiebigen Spaziergang zu machen, aber ganz so verzweifelt war ich denn auch wieder nicht. Also schlenderte ich ins Büro hin= unter, schloß hinter mir die Tür zum Gang, ging hinüber und setzte mich, die Füße auf der Tischplatte, hinter meinen Schreibtisch, schloß die Augen und holte erst ein= oder zweimal tief Luft.

Zwei Fehler hatte ich begangen. Als Bill McNab, der gartenarchitekto» nische Sachbearbeiter der Gazette, Nero Wolfe den Vorschlag gemacht hatte, die Mitglieder des Manhat=

tan Flower Clubs an irgendeinem Nachmittag einzuladen, sich seine Orchideen anzuschauen, hätte ich mich mit Händen und Füßen da­gegen sträuben sollen. Und als das Datum festgesetzt und die Einladungen hinausgeschickt worden waren, und als Wolfe es so eingeteilt hatte, daß Fritz und Saul unten an der Haustür die Gäste in Empfang nehmen und abfertigen sollten, während ich mit ihm und Theodore oben im Gewächshaus bleiben und mich unter die Gäste mischen sollte, da hätte ich, wenn ich auch nur ein Gramm Verstand besessen hätte, mit dem Fuß auf» stampfen sollen, und zwar gehörig.

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Rex Stout

Aber das hatte ich nicht getan, und als Ergebnis dessen war ich nun gut anderthalb Stunden dort droben gewesen, hatte freundlich nach rechts und nach links gegrinst und ganz so getan, als ob ich michglück= lieh und zufrieden fühlte... »Nein, Sir, das ist keine Brasso, das ist eine Laelia.« . . . »Macht gar nichts, daß Sie da eben mit Ihrem Ärmel zu= fällig die Blüte abgestreift haben, Madam. Im nächsten Jahr wird die Orchidee ja sowieso wieder blü= hen.«

Dabei wäre all das gar nicht einmal so übel gewesen, wenn sich einem dabei wenigstens eine bescheidene Augenweide geboten hätte. Es galt allgemein als bekannt, daß der Manhattan Flower Club bezüglich der Mitglieder, die er aufnahm, höchst wählerisch war und einen hohen Maßstab anlegte, der aber von meinem eigenen Maßstab offensichtlich völlig abzuweichen schien. Die Männer waren soweit ganz in Ordnung, wie Männer nun einmal sind. Aber die Frauen! Sie harten verflixt Glück gehabt, sich darauf zu verlegen, Blumen zu lie= ben, weil Blumen ihre Liebe nicht zu erwidern brauchten. In der Tat war dort oben nur eine gewesen-eine einzige. Ich hatte sie kurz zu Gesicht bekommen, als sie am anderen Ende des gedrängt vol=

len Mittelgangs gestanden hatte, während ich durch die Tür in den Kühlraum hineingegangen war. Zumindest aus gut ein Dutzend Schritt Entfernung hatte sie recht vielversprechend ausgesehen, und als ich mich dann später dicht ge= nug an sie heranmanövriert hatte, um ihr meine Dienste betreffs irgendwelcher Fragen anzubieten, falls sie Fragen auf Lager hatte, da gab es einfach keinen Zweifel mehr - nicht den mindesten Zweifel. Der erste schnelle flüchtige Blick, mit dem sie mich streifte, besagte ganz offen, daß sie nicht imstande war, eine Orchidee von einem Krei» selkompaß zu unterscheiden, aber sie schüttelte nur leise lächelnd den Kopf und ging mit ihrer Beglei= tung, zwei älteren Damen und zwei männlichen Wesen, an mir vorbei. Später unternahm ich einen weite* ren Versuch und erhielt wiederum eine Abfuhr; und dann noch spä= ter, allzuviel später, als ich das Ge= fühl bekam, mein aufmunterndes Grinsen könnte in meinem Gesicht vielleicht für immer und ewig fest= frieren, falls ich nicht eine Ruhe= pause einlegte, beging ich Fahnen» flucht, indem ich mich zum anderen Ende des Gewächshauses hindurch* schlängelte und sang= und klanglos zur Tür hinausglitt. Auf dem ganzen Weg, die drei

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Der Fall mit dem verdrehten Schal

Treppenfluchten hinunter, kamen mir immer noch weitere Besucher entgegen, die alle hinaufwollten, obwohl es bereits vier Uhr war. So= weit ich überhaupt zurückdenken konnte, hatte Nero Wolfes rot= braunes Sandsteinhaus in der West Thirty=fifth Street noch niemals ein solches Menschengedränge erlebt, und ich kann sehr weit und sehr gründlich zurückdenken. Ein Stock» werk tiefer machte ich einen Ab­stecher in mein Schlafzimmer, um mich mit einem Päckchen Zigaret= ten zu versorgen, und noch einwei= teres Stockwerk tiefer machte ich wiederum einen kleinen Umweg, um mich zu vergewissern, daß die Tür von Wolfes Schlafzimmer ab= geschlossen war.

In der Hauptdiele unten im Par= terre blieb ich einen Moment ste= hen und beobachtete, daß Fritz Brenner an der Haustür alle Hände voll zu tun hatte, sowohl die kom= menden wie auch die gehenden Be= sucher abzufertigen, während ich Saul Panzer mit dem Hut undMan= tel von irgend jemand aus dem Vorderzimmer auftauchen sah, das als Garderobe benutzt wurde. Und dann, wie bereits gesagt, betrat ich das Büro, schloß hinter mir die Tür zum Gang, setzte mich hinter mei= nen Schreibtisch, legte die Füße dar= auf, lehnte mich zurück, schloß die

Augen und holte erst ein paarmal tief Luft. Ich hatte vielleicht acht oder zehn Minuten dort drinnen gesessen und war gerade so weit, daß ich mich ein wenig entspannt und von der Verbitterung über die zwei= malige Abfuhr erholt hatte, als sich die Tür öffnete, und sie, die Be= wußte, hereinkam. Sie war allein; ihren vierköpfigen Geleitzug hatte sie nicht dabei. In der Zeit, bis sie die Tür geschlossen und sich zu mir umgedreht hatte, war ich aus der Waagrechten in die Senkrechte em= porgeschnellt, stand da, schielte ihr freundlich und verliebt entgegen und hatte gerade zu sagen begon= nen: »Ich habe hier nur mal einwe» nig gesessen und nachgedacht...« Der Ausdruck ihres Gesichts ließ mich mitten im Satz innehalten. Nicht etwa, daß an ihrem Gesicht grundsätzlich etwas zu bemängeln gewesen wäre, aber irgendwas war da aus dem Geleise geraten. Sie kam geradewegs auf mich zu, blieb dann auf halbem Wege ruckartig stehen, ließ sich in einen der gelb= ledernen Sessel fallen und quiekte: »Kann ich etwas zu trinken haben?«

»Aber selbstverständlich«, sagte ich. Ich ging zu dem Regal mit den scharfen Sachen hinüber und goß ihr in ein handfestes Glas eine

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Rex Stout

ebenso handfeste Dosis Whisky pur. Ihre Hand zitterte, als sie das Glas hielt, doch ließ sie nichts von dessen Inhalt überschwappen, und mit zwei Schlucken hatte sie es leer und die ganze handfeste Dosis in sich hineingekippt. »Weiß Gott, den hatte ich bitter nötig!«

»Noch einen Fingerhut voll?« Sie schüttelte den Kopf. Ihre heb len braunen Augen schimmerten whisky=feucht, als sie den Kopf in den Nacken legte und mir voll ins Gesicht sah. »Sie sind Archie Goodwin«, kon= statierte sie. Ich nickte. »Und Sie sind die Köni= gin von Saba?« »Ich bin ein Pavian, weiblichen Ge= schlechts, versteht sich«, erklärte sie. »Keine Ahnung, wie es jemand jemals gelungen ist, mir überhaupt das Sprechen beizubringen.« Sie blickte sich nach etwas um, worauf sie ihr Glas abstellen konnte, und ich trat einen Schritt auf sie zu und nahm es ihr ab. »Da, sehen Sie nur, wie meine Hände zittern«, jam= merte sie. Sie streckte die Hand aus, betrach= tete sie aufmerksam, und so nahm ich ihre Hand dann in die meine und hielt sie mit sanftem, freund= lichem Druck fest, vielleicht sogar ein wenig allzu freundlich. »Mir

г о

scheint, Sie sind ein wenig auf= geregt«, gab ich zu. Sie riß mir die Hand weg. »Ich möchte sofort Nero Wolfe spre= chen. Ich möchte ihn jetzt sofort sprechen, ehe ich es mir anders über» lege.« Mit ihren feuchten braunen Augen blickte sie zu mir hinauf. »Nun gut, ich sitze also gehörig in der Klemme! Aber jetzt habe ich mich endgültig entschlossen. Ich brauche sofort Nero Wolfe, damit er mich aus dieser Klemme irgend» wie herausholt.«

Ich erklärte ihr, daß sich das nicht machen ließe, ehe nicht diese Or= chideen=Party vorbei wäre. Sie blickte sich im Zimmer um. »Kommen hier irgendwelche Leute herein?« Ich sagte, nein. »Kann ich vielleicht noch einen Schluck haben - bitte?« Ich erklärte ihr, sie solle der Dosis, die sie bereits inhaliert hatte, erst einmal Zeit geben, richtig zur Wir» kung zu kommen, und statt zuerst des langen und breiten mit mir dar» über zu argumentieren, stand sie auf und bediente sich selbst. Ich setzte mich hin, sah sie an und run» zelte die Stirn. Das, womit sie da plötzlich daherkam, schien mir für ein Mitglied des Manhattan Flower Clubs oder selbst für die Tochter eines solchen Mitglieds doch reich»

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Der Fall mit dem verdrehten Schal

lieh verschroben. Sie ging zu ihrem Sessel zurück, setzte sich hinein, und wir sahen uns gegenseitig in die Augen. Ihr in dieser Art in die Augen schauen zu dürfen, hätte an sich ein recht netter Zeitvertreib sein können, nur tauschten wir da» bei leider nur unsere Blicke, nicht aber unsere Gedanken aus. »Eigentlich könnte ich es ja auch Ihnen sagen«, meinte sie. »Das haben schon viele vor Ihnen getan«, bemerkte ich bescheiden. »Und ich werde es Ihnen auch sagen.«

»Also gut, dann schießen Sie mal los.« »Okay. Also dann - ich bin eine berufsmäßige Gaunerin.« »Sieht man Ihnen eigentlich gar nicht an«, wandte ich ein. »Was tun Sie denn-mogeln Sie beim Ca» nasta=Spielen?« »Ich habe nicht gesagt, daß ich eine Betrügerin bin.« Sie räusperte ihre völlig heisere Stimme. »Ich habe ausdrücklich gesagt, ich bin eine Gaunerin. Erinnern Sie mich ge= legentlich mal daran, Ihnen meine Lebensgeschichte zu erzählen-daß mein Mann im Krieg gefallen ist und daß ich vielleicht deshalb auf die schiefe Bahn geschliddert bin, weil mich das aus meinem seeli= sehen Gleichgewicht gebracht hat. Erscheint Ihnen das alles unteres»

sant genug, mir überhaupt noch länger zuzuhören?« »Aber durchaus. Welche Fachrich» tung haben Sie denn eigentlich ein» geschlagen-Orchideen stehlen?« »Nein, mit solchen Lappalien würde ich mich niemals abgegeben haben, doch andererseits würde ich auch niemals etwas derart Gemeines -das war's jedenfalls, was ich da» mals dachte, aber wenn man erst einmal damit anfängt, ist die Sache längst nicht mehr so einfach, wie sie zuerst ausgesehen hatte. Man kommt mit den entsprechenden Leuten in Berührung und wird immer mehr darin verwickelt. Vor zwei Jahren haben wir zu viert einer gewissen reichen Frau mit einem entsprechend reichen Mann glatt über hunderttausend Dollar abgenommen. Genaueres kann ich Ihnen darüber natürlich nicht sagen, ebensowenig kann ich Ihnen ihre Namen nennen, und ganz ab» gesehen davon würden sie gegen uns sowieso nichts unternehmen können.«

Ich nickte. »Das können Kunden von Erpressern nur äußerst selten. Was - « »Ich bin keine Erpresserin!« »Bitte entschuldigen Sie vielmals. Mr. Wolfe hat mir schon des öfte» ren gesagt, daß ich dazu neige, vor» eilige Schlüsse zu ziehen.«

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ex Stout

»Das haben Sie diesmal auch tat= sächlich getan. «Sie war immer noch höchst entrüstet über meine Unter« Stellungen. »Ein Erpresser ist kein Gauner; er ist eine widerliche, aal= glatte Schlange! Aber das spielt hier in diesem Zusammenhang wei= ter keine Rolle. Was daran faul ist, eine Gaunerin zu sein-das sind die anderen Gauner! Sie ziehen einen immer weiter in den Sumpf hinein, ob Sie es nun wollen oder nicht. Und zu einem Feigling sondergleichen machen sie einen obendrein auch noch - das ist das Allerschlimmste daran. Ich hatte einmal eine Freun= d in- soweit man als Gaunerin über= haupt jemals eine Freundin haben kann -, und ein Mann hat sie um= gebracht, hat sie erwürgt. Wenn ich erzählt hätte, was ich darüber wußte, hätte man ihn schnappen können, aber ich hatte Angst, zu den Cops zu gehen, und so läuft er heute immer noch frei herum. Und dabei war sie meine beste Freun= din! Damit ist man dann, glaube ich, so tief gesunken, daß man gar nicht mehr tiefer sinken kann. Oder etwa nicht?« »Allerdings ziemlich tief«, pflich= tete ich ihr bei und betrachtete sie aufmerksam. »Andererseits kenne ich Sie nicht allzu gut. Ich weiß nicht, wie Sie auf zwei steife Whisky pur hin reagieren. Viel*

leicht haben Sie es sich zum Hobby gemacht, Privatdetektiven auf die Nerven zu fallen.« Sie ging einfach darüber hinweg. »Schon seit langem war ich mir darüber im klaren«, fuhr sie fort, als ob es sich um eine völlig ein= seitige Konversation handelte, »daß ich einen schweren Fehler began= gen hatte. Vor ungefähr einem Jahr beschloß ich, endlich mit ihnen Schluß zu machen und jede Verbin= dung mit ihnen abzubrechen. Am vernünftigsten wäre es wohl ge= wesen, mit jemand ganz offen dar= über zu reden, geradeso, wie ich jetzt mit Ihnen rede. Aber damals besaß ich noch nicht genug Ver= stand, um das einzusehen.« Ich nickte verstehend. »Yeah, ist mir völlig klar.«

»Also schob ich die Sache immer weiter und weiter hinaus. Im De= zember gelang uns ein ziemlich er= giebiger Fischzug, und ich fuhr nach Florida, um dort Ferien zu machen. Aber dort unten lernte ich einen Mann kennen, bei dem sich für unsere Zwecke eine neue Spur zu ergeben schien, und diese Spur haben wir gerade erst vor einer Woche bis hierher nach New York verfolgen können. Das ist die Sa= che, an der ich im Augenblick ge= rade arbeite. Und das ist auch der Grund, warum ich heute hier bin.

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Dieser M a n n . . . « Mitten im Satz brach sie unvermittelt ab. »Well?« ermunterte ich sie, fortzu» fahren. Ihr Gesicht wirkte todernst, nicht ernster als zuvor, aber irgendwie anders. »Ich will ihm da keines» wegs irgend etwas anhängen«, er» klärte sie. »Ich bin ihm auch nicht irgendwie verpflichtet, stehe nicht in seiner Schuld oder habe sonst etwas mit ihm zu tun. Und was das Persönliche betrifft - ich kann ihn, weiß Gott, nicht ausstehen. Aber die bewußte Sache ist etwas, was ausschließlich mich und sonst nie» manden etwas angeht-ich wollte nur ganz einfach erklären, warum ich heute hier bin. Und, beim Hirn» mel, ich wünschte, ich wäre niemals in dieses Haus gekommen!« Es bestand keinerlei Zweifel, daß sie sich dies alles von der Seele her» unterredete, es sei denn, sie hatte es ausgiebig daheim vor dem Spie» gel geprobt.

»Zumindest hat es Ihnen diese Aussprache hier mit mir einge» bracht«, erinnerte ich sie. Es schien so, als ob sie geradewegs durch mich hindurch und noch ein ganzes Stück weiter in die Ferne blickte. »Wenn ich doch bloß niemals hierhergekommen wäre! Wenn ich ihn bloß nicht gesehen hätte!«

Sie lehnte sich zu mir herüber, um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen. »Ich bin entweder all» zu smart, oder aber ich bin bei wei» tem nicht smart genug; da liegt bei mir der Haken. Ich hätte so tun sollen, als ob ich ihn überhaupt nicht bemerkte, hätte sofort wieder von ihm fortblicken und mich schnellstens umdrehen sollen, als ich erkannte, wer er war, noch ehe er sich seinerseits umdrehte und mir direkt in die Augen sah. Aber ich war derart schockiert, daß ich ganz einfach nichts dafür konnte, daß ich nicht rechtzeitig genug re= agierte! Ich stand da und starrte ihn an und überlegte nur, daß ich ihn wohl überhaupt nicht erkannt haben würde, wenn er keinen Hut aufgehabt hätte. Und dann sah er mich an und merkte, was geschehen war. Aber da war es bereits zu spät.

Ich habe mich sonst stets so weit in der Gewalt, daß ich auch in kriti» sehen Situationen nicht den Kopf verliere und ein undurchdringliches Pokergesicht aufsetzen kann - bei» nahe jedem gegenüber, wo immer es auch sein mag. Aber dies war denn doch ein bißchen zuviel für mich. Es stand mir so deutlich ins Gesicht geschrieben, daß mich Mrs. Orwin sofort fragte, was mit mir los wäre. Und mir blieb gar nichts

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Rex Stout

anderes übrig, als zu versuchen, mich so gut es eben ging zusam= menzureißen. Und als ich dort oben Nero Wolfe stehen sah, kam mir der Gedanke, ihm das alles zu sagen, nur war das bei dem Menschengedränge dort oben im Augenblick selbstverständlich un= möglich. Dann sah ich, wie Sie hin= ausschlüpften, und sobald es mir irgend gelang, mich von den ande= ren, mit denen ich hergekommen bin, loszueisen, kam ich herunter, um nach Ihnen zu suchen.« Sie versuchte mich anzulächeln, aber es gelang ihr nicht ganz. »Jetzt fühle ich mich schon wesentlich er= leichtert«, sagte sie hoffnungsvoll. Ich nickte. »Das kann auch an dem Whisky liegen - garantiert schotti= sehe Importware. Ist es übrigens ein Geheimnis oder soll es eines bleiben, wen Sie da eigentlich wie» dererkannt haben?« »Nein, Nero Wolfe werde ich es sagen.«

»Ich dachte, Sie hätten sich ent= schlössen, es mir zu sagen.« Mit einer flüchtigen Geste winkte ich ab. »Nun gut, ganz wie Sie wün= sehen. Aber wem immer Sie es auch erzählen - was versprechen Sie sich davon?« »Nun, dann kann er mir doch nichts mehr antun.« »So - und warum nicht?«

»Weil er es dann nicht mehr wagen würde. Nero Wolfe wird ihm sagen, daß ich ihm alles über ihn erzählt habe, und wenn mir dann etwas zustoßen sollte, weiß Nero Wolfe von vornherein, daß er es gewesen ist, und er würde wissen, wer der Täter ist und wie er heißt - ich meine, Nero Wolfe würde dann sofort wissen, wie die Dinge liegen, und auch Sie würden es wissen.«

»Dann würden wir allerdings so» fort wissen, was zu tun ist, wenn wir seinen Namen und seine Adresse haben.« Ich musterte sie eingehend. »Er muß wohl schon ein ganz besonderes Exemplar sein, daß er Ihnen einen derartigen Schrek= ken einzujagen vermag. Und da wir gerade von Namen reden - wie ist eigentlich Ihr eigener Name?« Sie ließ ein paar leise glucksende Laute hören, die man nur mit reich« lieh viel Phantasie als Lachen aus­legen konnte. »Wie würde Ihnen Marjorie gefallen?« »Würde mir durchaus gefallen. Noch lieber möchte ich allerdings wissen, unter welchem wirklichen Namen Sie im Augenblick fun= gieren.«

Sie zögerte und runzelte die Stirn. »Du lieber Himmel!« brauste ich auf. »Sie befinden sich hier nicht in irgendeinem Vakuum. Unten an

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Der Fall mit dem verdrehten Schal

der Haustür sind doch sowieso die Namen notiert worden.« »Cynthia Brown«, sagte sie. »Und es ist diese Mrs. Orwin, mit der Sie zusammen hergekommen sind?« »Ja.« »Ist sie Ihre derzeitige Klientin-ich meine die Spur, die Sie da unten in Florida aufgepickt haben?« »Ja, aber das i s t . . . « Sie machte eine wegwerfende Geste. »Mit der Sache ist's aus; ich will damit nichts mehr zu tun haben.« »Ich verstehe. Jetzt aber noch das eine, was Sie mir bisher immer noch nicht gesagt haben. Wer war es denn, den Sie da wiedererkannt haben?«

Sie wandte den Kopf, um schnell einen vergewissernden Blick auf die Tür zu werfen, und dann blickte sie sogar noch hinter sich. »Kann uns irgend jemand hören?« fragte sie.

»Nein, höchstens eine Fliege, die sich vielleicht ins Zimmer verirrt hat. Die andere Tür da führt ins vordere Wohnzimmer hinüber, das heute als Garderobe dient. Ab= gesehen davon ist dieses Zimmer schalldicht abgesichert.« Noch einmal vergewisserte sie sich durch einen raschen Blick auf die Tür, die zur Diele hinausführte, wandte sich dann zu mir zurück

und senkte ihre Stimme bis zu einem Flüstern herab. »Diese Sache muß genauso gehandhabt werden, wie ich sage.« »Klar«, erwiderte ich. »Warum auch nicht?« »Ich bin Ihnen gegenüber nicht ehrlich gewesen.« »Das habe ich von einer berufs= mäßigen Gaunerin auch gar nicht anders erwartet. Also fangen Sie noch einmal ganz von vorne an.« »Ich meine . . . « Sie begann wieder mit den Zähnen an ihrer Unterlippe zu nagen. »Ich meine, ich bin nicht nur in Schrecken und Angst um mein Leben. Natürlich habe ich Angst, aber das, was ich Ihnen da eben erzählt habe, ist nicht der ein= zige Grund, warum ich Nero Wolfe sprechen will. Ich brauche ihn für einen Mordfall, aus dem er mich aber unbedingt heraushalten muß. Mit irgendwelchen Cops will ich auf keinen Fall irgendwas zu tun haben - vor allem gerade jetzt will ich das nicht. Falls er nicht darauf eingeht... glauben Sie, daß er es tun wird?«

Ich spürte ein leises Kitzeln mein Rückgrat herunterrieseln. Dieses Kitzeln verspüre ich stets nur bei besonderen Gelegenheiten, doch zweifellos handelte es sich hier um etwas ganz Besonderes. Ich warf ihr einen kühlen Blick zu und ließ

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Rex Stout

das kitzelnde Vibrieren in meiner Stimme mitschwingen. »Vielleicht tut er's für Sie, wenn Sie ihn dafür bezahlen. Was für Beweise haben Sie denn? Welche Art von Bewei= sen - überhaupt etwas?« »Ich habe ihn gesehen - ich meine, den Mörder.« »Sie meinen - heute?« »Nein, damals habe ich ihn ge= sehen. «Sie hielt ihre Hände fest zu» sammengepreßt. »Ich sagte Ihnen doch schon - ich hatte damals eine Freundin. Ich war an jenem Nach= mittag gerade in ihrer Gegend und ging schnell mal in ihr Apparte» ment hinauf. Ich war gerade im Be= griff, wieder zu gehen - Doris war hinten, im Badezimmer -, und als ich zu der Appartementtür kam, hörte ich, wie von draußen ein Schlüssel ins Schloß geschoben und herumgedreht wurde. Ich blieb na= türlich sofort stehen, und die Tür ging auf, und ein Mann kam herein. Als er mich sah, blieb auch er auf der Stelle stehen und starrte mich an. Ich war niemals mit einer von Doris privaten >Affären< zusam= mengekommen; ich wußte, das wollte sie nicht. Und da er einen Schlüssel hatte, nahm ich natürlich an, er sei ihre gegenwärtige >Affäre<, der ihr einen unerwarte= ten Besuch abstattete; also mur= melte ich irgendwas, daß Doris hin=

ten im Badezimmer sei, und ging an ihm vorbei durch die Tür hin= aus.« Sie hielt inne. Sie lockerte ihre in= einander verkrampften Hände und preßte sie dann gleich wieder fest zusammen. »Ich bin jetzt gerade dabei, sämt= liehe Brücken hinter mir abzubre= chen«, sagte sie, »aber dies hier kann ich doch nicht einfach der Vergangenheit und dem Vergessen überlassen. Nun, ich fuhr also wei» ter, traf mich zu einem Cocktail» Rendezvous, und hinterher rief ich dann Doris' Nummer an, um sie zu fragen, ob in Anbetracht des unerwarteten Auftauchens ihrer >Affäre< unsere Verabredung zum Dinner noch auf ihrem Termin» kalender stünde. Sie meldete sich jedoch nicht, und so fuhr ich zu ihrem Appartement zurück und klingelte an der Tür, aber auch dar= aufhin meldete sie sich nicht. Sie wohnte in einem Appartementhaus mit Selbstbedienungs=Lift, und es gab keinen Portier oder Fahrstuhl» führer, den ich hätte fragen kön» nen.

Am darauffolgenden Morgen fand ihr Hausmädchen dann ihre Leiche. In den Zeitungen hieß es, sie wäre am Tag zuvor ermordet worden. Jener Mann war es, der sie ermor» det hat. In den Zeitungen wurde

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kein Wort von ihm erwähnt, nie= mand hatte ihn das Haus oder das Appartement betreten oder verlas» sen sehen. Und ich-ich habe die ganze Zeit geschwiegen und nicht den Mund aufgemacht! Ich bin wirklich ein gottverdammter Feig» ling gewesen!« »Und heute steht er urplötzlich neben Ihnen, wie aus dem Erd» boden gewachsen, und schaut sich Neros Orchideen an?« »Ja.«

»Sind Sie sicher - er weiß, daß Sie ihn erkannt haben?« »Ja doch! Erst schaute er anders» wo hin, und dann starrte er mir direkt in die . . . « Sie wurde von dem Summer des Haustelefons unterbrochen. Ich ging zum Schreibtisch hinüber, hob den Hörer ab und sagte: »Ja?« Nero Wolfes Stimme, verdrieß» licherdenn je, kam über den Draht:: »Archie!« »Ja, Sir?« »Wo zum Teufel stecken Sie eigentlich? Kommen Sie sofort hier rauf!« »Sofort, nur noch ein paar Minu» ten. Ich spreche hier gerade mit einer potentiellen Klientin - « »Wir haben jetzt keine Zeit für irgendwelche Klientinnen. Korn» men Sie auf der Stelle rauf!« Damit war die Verbindung auch

bereits unterbrochen. Er hatte den Hörer auf die Gabel geknallt. Ich legte ebenfalls auf und wandte mich wieder unserer potentiellen Klientin zu. »Mr. Wolfe wünscht, daß ich sofort in den Dachgarten hinaufkomme. Wollen Sie inzwi» sehen hier unten warten?« »Ja, bitte.«

»Und falls Mrs. Orwin nach Ihnen fragt?« »Ich habe mich nicht wohl gefühlt und bin nach Hause gefahren.« »Okay. Es dürfte nicht mehr allzu lange dauern; auf den Einladungs» karten stand von zwei Uhr dreißig bis fünf. Falls Sie noch weiterer alkoholischer Stärkung bedürfen, bedienen Sie sich ruhig selbst. Übrigens - welchen Namen pflegt sich dieser Mörder zuzulegen, wenn er irgendwohin geht, um sich Or= chideen anzuschauen?« Mit völlig ausdruckslosem Gesicht blickte sie mich an. Bei mir war es inzwischen langsam so weit, daß das sprichwörtliche Fädchen reißen würde, an dem die Geduld hängt. »Also los, raus da» mit! Wie heißt der verflixte Vogel, den Sie da wiedererkannt haben?« »Ich weiß es nicht.« »Dann beschreiben Sie ihn mir!« Sie dachte ein paar Augenblicke darüber nach, blickte mich unter» dessen unverwandt an und schüt»

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Rex Stout

telte dann den Kopf. »Nicht jetzt. Erst möchte ich hören, was Nero Wolfe dazu sagt.« Sie muß irgendwas in meinen Augen gelesen haben, denn plötz= lieh stand sie von ihrem Sessel auf, kam auf mich zu und legte mir die Hand auf den Arm. »Ich meine es wirklich so«, sagte sie ernst. »Mit Ihnen hat das nichts zu tun, ich weiß, daß ich mich in jeder Hinsicht auf Sie verlassen kann. Ich könnte es ebensogut auch jetzt gleich Ihnen sagen- obwohl ich mir denken kann, daß Sie im Grunde genommen so= wieso nichts mit mir zu tun haben wollen; dies ist seit Jahren das erste Mal - seit wieviel Jahren weiß ich überhaupt schon gar nicht mehr- , daß ich mich einem Menschen ge= genüber offen ausgesprochen habe - Sie verstehen schon, wirklich von Mensch zu Mensch. Es . . . « Sie stockte und suchte nach dem richti= gen Wort, und ihre vorher bleichen Wangen begannen ein wenig Farbe anzunehmen. »Es hat mir so un= endlich gutgetan.« »Na schön. Vielleicht hat es auch mir mal ganz gutgetan. Nennen Sie mich in Zukunft ruhig Archie. Ich muß jetzt unbedingt gehen, aber erst beschreiben Sie mir den Vogel noch.«

So unendlich gut hatte es ihr aber nun auch wieder nicht getan. »Nicht

eher, als bis Nero Wolfe sagt, daß er die Sache übernehmen will«, er= klärte sie mit unerschütterlicher Stimme. Dabei mußte ich es also belassen, denn ich wußte im voraus, wenn ich mich auch nur noch drei Minu= ten länger mit der Sache aufhielte, würde Nero Wolfe mir den Kopf abreißen und ihn mir vor die Füße legen. Draußen in der großen Diele kam mir flüchtig der Gedanke, Saul und Fritz den Tip zu geben, sie soll» ten jeden der sich verabschieden-den männlichen Besucher genau unter die Lupe nehmen und sich deren Namen und die zu dem Na= men gehörende äußerliche Beschrei= bung einprägen, kam aber wieder davon ab, weil sie erstens vermut= lieh beide im Garderobenraum alle Hände voll zu tun hatten, weü zweitens der bewußte Anonymus inzwischen ja bereits gegangen sein konnte und weil ich drittens kein einziges Wort von Cynthias Geschichte geschluckt hatte, ge= schweige denn, daß ich ihr die ganze Story abnahm, die sie mir da erzählt hatte.

Oben im Gewächshaus auf dem Dach war immer noch eine ganze Schar von Besuchern übriggeblie» ben. Als ich in Wolfes Sichtbereich gelangte, spießte er mich mit einem seiner eiskalten zornigen Blicke

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Der Fall mit dem verdrehten Schal

auf, was mich veranlaßte, sofort mein schönstes und breitestes Grinsen aufzusetzen. Es war ja ohnehin bereits Viertel vor fünf, und sofern unsere Besucher nicht so begriffsstutzig waren, daß sie den Wink mit dem Zaunpfahl auf den Einladungskarten übersehen hatten, würde die Sache sowieso nicht mehr lange dauern. Sie reagierten auf den Wink mit dem Zaunpfahl zwar nicht pünkt= lieh auf die Minute, aber ich küm= merte mich nicht weiter darum, weil meine Gedanken anderweitig be= schäftigt waren. Ich war jetzt erst= mals an ihnen interessiert, oder zu= mindest interessierte ich mich für jenen einen von ihnen, falls dieser eine tatsächlich hiergewesen und noch nicht wieder fortgegangen war.

Zunächst einmal war da aber eine ganze Serie von Obliegenheiten, deren ich mich entledigen mußte. Ich fischte mir die drei Besucher heraus, mit denen Cynthia beisam= men gewesen war, ihren >Geleit= zug< - ein weibliches und zwei männliche Wesen. »Mrs. Orwin?« wandte ich mich höflich an das weibliche Exemplar unter ihnen. Sie nickte mir zu. »Ja,bitte?« fragte sie. Sie war nicht ganz von der Größe, die ich bei Frauen bevor= zuge, sondern ziemlich rund und

plump mit einem ebensolchen run= den plumpen Gesicht, das dennoch vielleicht sympathisch gewirkt hätte, wenn ihre Schweinsäugel= chen ein wenig größer geraten wä= ren. Ihrem ganzen Typ nach zu ur= teilen, stach es mir jedenfalls sofort in die Augen, daß es sich vermut= lieh lohnen dürfte, bei ihr einzu= haken, um sie später zumindest als Ausgangspunkt für eine vermut= liehe Fährte auszuwerten. »Mein Name ist Archie Goodwin«, sagte ich. »Ich bin hier im Hause tätig.« Ich hätte weitergeredet, wenn mir etwas Entsprechendes zum Einhaken eingefallen wäre, aber mir fiel eben nichts ein. Zum Glück mischte sich eines der beiden männlichen Wesen dazwi= sehen. »Ist es wegen meiner Schwe= ster?« erkundigte er sich besorgt. So, sie arbeitete bei ihren wind= schiefen Touren also mit der >Bru= der=und=Schwester=Masche<. Wenn man rein nach seinem Äußeren ging, war er durchaus kein schlech= ter Bruder. Vielleicht ein wenig älter als ich, aber nicht viel. Er war sehr groß und schlank, doch recht solide gebaut, hatte einen etwas zu herb=männlichen Mund und ein scharfgeschnittenes, kantiges Kinn; doch das Bemerkenswerteste an ihm waren eigentlich seine hell= wachen, blaßgrauen Augen. »Ist es

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wegen meiner Schwester?« wieder= holte er. »In gewisser Hinsicht. Sie sind...?« »Colonel Brown, Percy Brown.« »Yeah.« Ich schaltete wieder zu Mrs. Orwin zurück. »Miss Brown hat mich gebeten, Ihnen auszurich= ten, daß sie nach Hause gefahren ist. Ich gab ihr einen kleinen Auf= munterungsschluck, und der schien ihr auch ganz gut zu tun, aber den= noch entschloß sie sich, heimzufah= ren. Sie bat mich, ich solle sie bei Ihnen entschuldigen.« »Sie ist doch völlig gesund«, ver= sicherte der Colonel. Es klang fast ein wenig entrüstet. »Fehlt ihr denn irgendwas?« fragte Mrs. Orwin.

»Sie hätten ihr nicht einen kleinen Stärkungs=Drink, sondern drei Dreistöckige verabfolgen sollen«, schaltete sich das andere männliche Wesen ein. »Bei ihr - da hätten Sie ihr am besten gleich die ganze Fla= sehe geben sollen!« Das war eine recht fiese Ausdrucks« weise, und genauso fies war auch sein Gesicht, und überhaupt war das keine Art und Weise, vor dem Helfer in einem völlig fremden Haus so daherzureden, wobei ich mit dem Helfer natürlich mich selbst meine. Er war ein wenig jün= ger als jener Brown, aber anson= sten sah er der schweinsäugigen

Mrs. Orwin, vor allem, was die Augenpartie betraf, derart ähnlich, daß es nicht schwer zu erraten war, daß es sich bei den beiden um Mut= ter und Sohn handeln mußte. Nachdem dieser Punkt so weitklar= gestellt war,kommandierte sie ihn: »Halt du deinen Mund, Gene!« Dann wandte sie sich an den Colo= nel: »Vielleicht solltest du ihr nach= fahren und nach ihr schauen; viel= leicht fehlt ihr wirklich etwas.« Mit einem zärtlichen, besorgten, doch mannhaften Lächeln schüt= telte er den Kopf. »Das ist nicht nötig, Mimi. Wirklich nicht.« »Es fehlte ihr ja auch weiter nichts Besonderes«, versicherte ich ihnen, und während ich abschob, ging es mir durch den Kopf, daß eine ganze Menge Namen auf dieser Welt es eigentlich bitter nötig hatten, in die richtige Fasson gegossen zu wer= den. Diese schwergewichtige, schweinsäugige Perlen= und Nerz= mantel=Besitzerin Mimi zu nennen, war geradezu ein Paradoxon. Höflich und gewandt schlängelte ich zwischen den Mitgliedern der Blumen*High=Society umher. Ich war mir durchaus der Tatsache be= wüßt, daß ich nicht mit einem Gei= gerzähler ausgerüstet war, der ein Warnsignal aufblitzen lassen würde, falls ich mit einem Men= schenwürger in Kontakt geriet,

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aber immerhin war auch an der Tatsache nicht zu rütteln, daß ich für meinen guten Riecher schon beinahe sprichwörtlich bekannt bin; für derlei Typen habe ich viel» leicht nicht gerade den sechsten Sinn, aber etwas wie eine zweite Nase. Dann würde ich mir wieder einmal etwas in mein Notizheft kritzeln dürfen, auf Konto >Ha= ben<, falls es mir auf Anhieb ge= lang, unter den hier so zahlreich Versammelten den Killer von Do= ris Hatton >herauszuschnüffeln<. Den Namen Hatton hatte Cynthia Brown mir noch gar nicht genannt, sondern nur den Vornamen Doris, aber im Zusammenhang mit dem übrigen, was sie mir sonst noch er= zählt hatte, genügte das vollauf. Zu der Zeit, da sich die Sache ab= gespielt hatte - das lag jetzt über fünf Monate zurück, Anfang Ok= tober war es gewesen -, hatten die Zeitungen den Mordfall natürlich in fetten Schlagzeilen auf die Titel= seiten geknallt. Doris Hatton war mit ihrem eigenen weißen Seiden= schal erwürgt worden, auf dem die Declaration of Independence, jene historische Unabhängigkeitserklä= rung der USA, aufgedruckt ge= wesen war - in ihrem kosigen klei= nen Appartement im vierten Stock in einer der West Seventies Streets. Und dieser Schal war immer noch

um ihren Hals geknotet gewesen, den Knoten im Nacken. Die Cops waren niemals auch nur im entferntesten an die Lösung des Falles herangekommen und hatten somit niemals jemanden verhaften, anklagen oder auch nur in den engeren Verdacht ziehen können. Sergeant Purley Stebbins von der Mordabteilung hatte mir damals gesagt, daß es ihnen nicht einmal gelungen war, herauszufinden, wer eigentlich die Miete für das hüb= sehe kleine Luxus=Appartement bezahlt hatte.

Mit weit geöffneten Nasenlöchern, für den Fall, daß ich tatsächlich etwas >wittern< sollte, tummelte ich mich weiterhin im Gewächshaus zwischen den Besuchern herum. Manche davon waren ganz offen= sichtlich nur bloße Angeber und Prahlhänse, aber bei all den ande= ren unternahm ich zumindest den Versuch, mit ihnen ein paar Worte zu wechseln, so daß ich, dicht vor ihnen stehend, ihnen voll ins Ge= sieht sehen konnte. Das nahm na= türlich eine Menge Zeit in An= sprach und war meiner ständigen und im Augenblick wieder einmal besonders akuten Kampagne um Gehaltserhöhung, die ich mit Nero Wolfe ausfocht, in keiner Weise dienlich, denn es waren ja die Frauen, nicht die Männer, die ich

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Wolfe vom Halse halten sollte. Nun ja, diese Suppe hatte ich mir selber eingebrockt und mußte sie nun auch selber auslöffeln. Es stimmte, daß, falls Cynthia tat= sächlich so >dicht am Mann< ge» wesen war, wir sehr bald auch noch eine ganze Menge weiterer Einzel= heiten beisammen haben würden, und ich hatte nun einmal jenes Kit= zeln mein Rückgrat herunterkrab= beln gespürt, und in solchen Fällen pflege ich mich stets stur zu stel= len.

Wie ich bereits sagte, nahm diese Sache ihre Zeit in Anspruch, und inzwischen war es fünf Uhr vor= bei, und die Besucherschar begann sich langsam zu entfernen. Und als es dann auf fünf Uhr dreißig zu= ging, schien auch den noch Übrig= gebliebenen plötzlich zu dämmern, daß es an der Zeit sei, zu gehen, und sie begannen sich in Richtung auf den Ausgang hin in Bewegung zu setzen.

Ich befand mich gerade in dem halb=temperierten Raum, der vor dem eigentlichen Gewächshaus liegt, als dies geschah, und das erste, dessen ich gewahr wurde, war die Tatsache, daß ich dort drin* nen allein mit einem Kerl zusam= men war, der an dem Umpflanz= tisch vor der nördlichen Glaswand lehnte und aufmerksam eine Reihe

bereits umgetopfter Hyazinthen betrachtete. Er interessierte mich an sich nicht weiter, da ich ihn bereits vorher unter die Lupe genommen und als den falschen Typ für einen Würger von meiner Gedächtnis* liste der in Frage kommenden Per= sonen gestrichen hatte. Doch als ich jetzt flüchtig in seine Richtung blickte, beugte er sich plötzlich vor, um einen Topf mit einer lila blü= henden Hyazinthe aufzuheben, und während er das tat, fühlte ich, wie mein Rückgrat erstarrte. Dieses Er= starren war ein reiner Reflex, aber ich wußte genau, wodurch er aus= gelöst worden war; es war die Art, wie sich seine Finger um den Topf krallten, vor allem seine Daumen. Es spielt da keine Rolle, wie sorg= fältig oder weniger sorgfältig man= che Leute mit fremdem Eigentum umzugehen pflegen. Jedenfalls um= faßt man einen fünfzölligen Blu= mentopf, wenn man ihn anhebt, nicht gerade so, als ob man vorhat, ihm das Leben auszuquetschen. Ich ging im Bogen seitlich auf ihn zu, und als ich dann neben ihm stand, hielt er den Topf so, daß die lila Hyazinthe nur ein paar Zoll von seinen Augen entfernt war. »Eine hübsche Blume«, sagte er freundlich. Ich nickte.

Er beugte sich wiederum vor, um

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den Topf an die alte Stelle zurück* zustellen, hielt ihn jedoch immer noch mit seinen Fingern fest um= klammert. Die einzigen Leute, die in Sicht waren, befanden sich jen= seits der gläsernen Trennwand zwischen uns und dem Kühlraum - Nero Wolfe und eine kleine Gruppe von Besuchern, darunter das Orwin-Trio und Bill McNab, der gartenarchitektonische Mit* arbeiter der Gazette. Als ich mei* nen Kopf wieder zu dem Kerl da neben mir zurückwandte, war er gerade dabei, sich aufzurichten, machte auf den Hacken kehrt und marschierte ab, ohne auch nur ein Sterbenswörtchen zu verlieren. Ich folgte ihm auf die Vortreppe hinaus und die drei Treppenfluch* ten hinunter. Unten in der großen Diele oder der Vorhalle, ganz wie man es bezeichnen mag, war ich höflich genug, ihm nicht auf die Hacken zu treten, aber wenn ich auch nur mit einem einzigen länge* ren Schritt weiter ausgeholt hätte, würde ich ihn zweifelsohne erreicht haben. Die Vorhalle war nahezu leer. Eine Frau, in ihrem Karakul= Persianer zum Gehen bereit, war die einzige, die dort herumstand, und dann natürlich Saul Panzer, der sich neben die Haustür postiert und dort jetzt nichts weiter zu tun hatte.

Ich folgte dem Mann in das vor­dere Wohnzimmer hinein, das ja im Augenblick als Garderobe diente und wo Fritz Brenner gerade im Begriff war, einem Besucher in den Mantel zu helfen. Die von uns auf* gestellten Garderobeständer waren schon nahezu kahle Skelette, und mit einem einzigen Blick hatte der Mann seine Sachen erspäht und ging hinüber, um sie sich zu holen. Ich trat auf ihn zu, um ihm behilf* lieh zu sein, doch er ignorierte mich einfach, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, dankend ableh­nend mit dem Kopf zu schütteln. Ich begann langsam, auf ihn sauer zu werden und mich beleidigt zu fühlen.

Als er dann wieder in die Vorhalle hinaustrat, war ich auch sofort wie­der neben ihm, und als er fast schon die Haustür erreicht hatte, sprach ich ihn an. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich, »aber wir haken die Liste unserer Besucher ab, so­wohl wenn sie kommen, als auch wenn sie gehen. Darf ich um Ihren Namen bitten?«

»Lächerlich!« erwiderte er schroff, langte nach dem Türknauf, zog die Tür auf und schritt über die Schwelle. Saul, der genau wußte, daß ich einen bestimmten Grund haben mußte, um ihn als einzigen auf

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unserer Besucherliste >abzuhaken<, war auf Tuchfühlung neben mich getreten, und wir beide standen da und blickten auf seinen Rücken, während er die sieben Stufen der Vortreppe hinunterstieg. »Soll ich mich an ihn anhängen?« murmelte er mir zu. Ich schüttelte den Kopf und wollte gerade irgendwas zurückmurmeln, als von drinnen aus dem Haus ein Laut kam, der uns beide wie von einer Nadel gestochen herumfah= ren ließ-der kreischende Auf schrei einer Frau, nicht allzu laut, aber voll von Erschrecken und Entset= zen. Und gerade in dem Augen= blick, da wir herumfuhren, kamen Fritz und der Besucher, den er ab= gefertigt hatte, aus dem vorderen Wohnzimmer heraus, und zu viert standen wir da und sahen, wie die Frau mit dem Karakul=Persianer aus dem Büro in die Vorhalle her= ausgestürzt kam. Sie kam auf uns zugerannt, keuchte irgend etwas Unverständliches, und der Besucher, wohl durch seinen männlichen Be= Schützerinstinkt dazu veranlaßt, lief ihr entgegen, um ihr zu helfen. Ich selbst war noch ein wenig schneller, war mit ungefähr acht Sätzen an der Bürotür und mit zwei weiteren mitten drinnen. Natürlich wußte ich sofort, daß der Körper, der dort am Boden lag, nur

Cynthia sein konnte, aber das wußte ich nur deshalb, weil ich sie in jenem Kleid dort zurückgelassen hatte. Mit dem blau angelaufenen und verzerrten Gesicht und mit der heraushängenden Zunge und den vorgequollenen Augen hätte esbei= nahe jeder X=beliebige sein können. Ich kniete neben ihr nieder, ließ meine Hand vorne in den Aus= schnitt ihres Kleides hineingleiten, fühlte dort zehn Sekunden-und fühlte nichts.

Dicht hinter mir hörte ich Sauls Stimme. »Bin schon da!« Ich stand auf, ging zum Telefon auf dem Schreibtisch hinüber, und wäh= rend ich die Nummer zu wählen be= gann, sagte ich zu Saul: »Keiner verläßt das Haus - wir machen die Bude dicht. Wen wir hier drin ha= ben, haben wir. Nur Doc Vollmer lassen Sie dann gleich herein.« Nachdem es kaum zweimal durch» geläutet hatte, meldete sich die Sprechstundenhilfe, verband mich mit Vollmer, und im Telegrammstil raspelte ich herunter: »Doc? Hier Goodwin - kommen Sie im Eil= zugstempo-Frau erwürgt.. . Yeah, erwürgt.«

Ich ließ den Hörer auf die Gabel fallen, langte nach dem Haustele= fon und verband mich durch einen Knopfdruck mit dem Gewächshaus oben auf dem Dach. Nachdem ich

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ein paar Sekunden gewartet hatte, klang mir Wolfes gereiztes Bellen ins Ohr: »Ja?« »Ich bin hier drunten im Büro. Kommen Sie am besten doch gleich mal runter. Jene potentielle Klien= tin, von der ich schon zu Ihnen sprach, liegt hier erwürgt auf dem Boden. Ich glaube, sie ist bereits hinüber, aber ich habe dennoch schnellstens Vollmer auf die Beine gebracht.«

»Was haben Sie sich diesmal wie= der für einen verdrehten Gag ein= fallen lassen?« schnauzte er mich mit Donnerstimme an. »Kein Gag, Sir. Kommen Sie run= ter, sehen Sie sich die Bescherung an und fragen Sie mich dann noch einmal.«

Die Leitung erstarb. Er hatte wie= der einmal den Hörer auf die Gabel geknallt. Ich holte mir aus der Schublade weiches Durchschlag» papier, riß einen Fetzen davon ab und deckte damit sorgfältig Cyn= thias Mund und Nasenlöcher ab. Von der Vorhalle hatten Stimmen hereingeklungen. Eine davon nä= herte sich dem Büro. Sie gehörte dem Besucher, der sich mit Fritz in dem Garderobenraum aufgehalten hatte, als der Schrei erschollen war. Er war ein massiv gebauter, breit= schultriger Bursche mit stechenden, herrschsüchtigen dunklen Augen

und Armen wie die eines Gorillas. Er redete mit kräftiger Stimme da= her, während er von der Tür her auf mich zukam, hielt aber jäh inne, als er nahe genug heran war und das, was da auf dem Boden lag, genau erkennen konnte. »Mein Gott, das kann doch nicht sein!« sagte er heiser. »Leider doch, Sir«, mußte ich ihm widersprechen. »Wie ist denn das passiert?« »Keine Ahnung.« »Wer ist es denn eigentlich?« »Ebenfalls keine Ahnung.« Er riß seine Augen von der Toten los, hob den Kopf, blickte mir voll ins Gesicht und versuchte mir mit seinem herrschsüchtigen Blick in meine Augen zu stechen, wofür er ein promptes Kontra bekam. Wie wir beide so dastanden, müssen wir einen recht sehenswerten Anblick geboten haben.

»Der Mann an der Tür will uns nicht hinauslassen«, konstatierte er. »Allerdings, Sir. Sie sehen ja auch, warum.« »Ja, das sehe ich.« Unsere Blicke waren immer noch ineinander» geheftet. »Aber wir wissen von der ganzen Sache überhaupt nichts. Mein Name ist Carlisle, Homer N. Carlisle. Ich bin Vizepräsident der North American Foods Company.

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Meine Frau hat rein aus einem plötzlichen Impuls heraus gehan= delt; sie wollte einmal Nero Wolfes Büro sehen, machte die Tür auf und ging hinein. Tut ihr jetzt leid, daß sie es tat, und ebenso mir. Wir ha= ben eine Verabredung, und es liegt keinerlei Grund vor, warum wir hier noch länger festgehalten wer= den.«

»Tut mir ebenfalls leid«, erklärte ich ihm, »aber wenn Sie mit der ganzen Sache auch sonst nicht das mindeste zu tun haben mögen-schließlich war es Ihre Frau, die die Leiche entdeckte. Wir selbst, kann ich Ihnen versichern, stecken noch weit tiefer im Schlamassel - mit dieser Leiche hier in unserem Büro. Also schätze ich, d a ß . . . hallo, Doc!«

Vollmer hatte gerade das Büro be= treten und nickte mir im Vorbei= gehen flüchtig zu. Er schnaufte ganz gehörig, als er seine schwarze Tasche auf den Boden stellte und sich daneben hinkniete. Sein Haus lag nur etwas weiter drunten die Straße hinunter, und er hatte nur ungefähr zweihundert Meter her= zutrotten gehabt, aber im Laufe der Jährchen hatte er allerhand Ge= wicht angesetzt. Als er die Tasche öffnete und sein Stethoskop daraus hervorkramte, stand Homer Car= lisle schweigend daneben und be=

obachtete ihn mit fest zusammen= gepreßten Lippen. Ich glaube, ich tat genau das gleiche, bis ich dann das Surren des Fahrstuhls hörte, mit dem Wolfe heruntergefahren kam.

Ich kurvte durch die Tür in die Vor= halle hinaus und überblickte rasch das Terrain. In der Nähe der Haus= tür waren Saul und Fritz emsig be= schäftigt, die Frau mit dem Kara= kul=Persianer zu beruhigen, die für mich jetzt Mrs. Carlisle war. Nero Wolfe und Mrs. Mimi Orwin tauch= ten gerade aus dem Fahrstuhl auf, und vier andere Besucher kamen die Treppe herunter: Gene Orwin, Colonel Percy Brown, Bill McNab und ein viertes männliches Wesen in mittleren Jahren mit einem dich= ten schwarzen Haarschopf. Ich po= stierte mich vor die Tür des Büros, um dem Quartett, das von der Treppe herkam, den weiteren Vor= marsch abzuriegeln. Als Wolfe auf mich zukam, stürzte Mrs. Carlisle ihm entgegen und umklammerte seinen Arm. »Ich wollte mir doch nur mal schnell Ihr Büro ansehen! Ich möcht' doch jetzt gehen! Ich hab' doch gar nichts...« Während sie an ihm herumzerrte und ihn mit Worten übersprudelte, fiel mir etwas auf: Sie hatte ihren KarakubPersianer nicht zuge= knöpft, und die Enden eines bunt

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und fröhlich gemusterten Seiden= schab flatterten lose herum. Da zu= mindest die Hälfte all unserer Be= sucherinnen derartige bunte Sport= schals getragen hatten, erwähne ich dies lediglich, um offen und ehrlich zuzugeben, daß ich gegenüber Sei= denschals inzwischen wohl aller= gisch geworden sein mußte. Wolfe, dem an diesem Tag nach seinem Geschmack ohnehin schon viel zu viele Frauen in die Nähe ge= kommen waren, versuchte sich von ihr loszureißen, aber sie klammerte sich an ihn wie an den sprichwört= liehen Strohhalm und ließ nicht lok= ker. Sie gehörte zu dem starkkno» chigen, flachbrüstigen sportlichen Typ, und es wäre wohl zu einem recht zünftigen Handgemenge zwi= sehen den beiden gekommen-er, der gut und gerne das Doppelte wog und wenigstens viermal ihren Umfang aufzuweisen hatte, und sie mit ihrem sportlich durchtrai= nierten Körper -, wenn Saul ihn nicht gerettet hätte, indem er da= zwischenfuhr und sie buchstäblich von ihm >abpflückte<. Dadurch setzte er zwar nicht gleichzeitig auch ihre Zunge außer Gefecht, aber Wolfe ignorierte ihr krei= sehendes Geschwafel ganz einfach und kam auf mich zu. »Ist Dr. Voll« mer gekommen?« fragte er. »Ja, Sir.«

Aus dem Büro tauchte der Nah= rungsmittel = Vizepräsident auf. »Mr. Wolfe, mein Name ist Homer N. Carlisle, und ich bestehe dar» auf .. .« redete er eilig daher. »Halten Sie den Mund«, grollte Wolfe. Auf der Schwelle der Bürotür wandte er sich noch ein= mal zu dem versammelten Audito= rium zurück. »Blumenliebhaber!« schnauzte er in verbittertem Zorn. »Und Sie, Mr. McNab, versicherten mir ausdrücklich, es würde sich um eine ausgewählte Gruppe von wohl= gesitteten und hingebungsvollen Blumenfreunden handeln! Pfui!« Er schüttelte sich, daß alles an ihm wabbelte. »Saul!« »Ja, Sir.«

»Stecken Sie die da allesamt ins Speisezimmer und halten Sie sie dort unter Verschluß. Lassen Sie niemanden hier in der Nähe der Tür etwas berühren, vor allem nicht den Türknauf. Ar chie, kommen Sie!« Er drehte sich um seine Achse und betrat das Büro. Ich folgte ihm dicht auf den Fersen und benutzte eine meiner eigenen Fersen, um sachte hinter mir die Tür ins Schloß zu schieben, jedoch ohne sie zu verrie= geln. Als ich mich umwandte, stand Vollmer da und sah sich Wolfes finsterem Gesicht gegenüber. » A l s o - w a s ? « wollte Wolfe wis= sen.

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»Tot«, erklärte Vollmer. »Infolge Asphyxiation durch Erwürgen.« »Seit wie lange?« »Das weiß ich nicht, aber nicht län= ger als seit zwei Stunden. Zwei Stunden ist das Limit, wahrschein= lieh weniger.« Wolfe blickte auf das leblose Bün= del Mensch zu seinen Füßen, ohne daß sich dadurch an seiner mürrisch finsteren Miene etwas änderte, und wandte sich wieder an den Doc. »Fingerdruckspuren?« »Keine. Durch ein mit aller Kraft zusammengezogenes, abwürgendes Band - dicht unter dem zweiten Nackenwirbel. Kein steifes Band, wie etwa ein Strick, aber auch sonst nichts Schmales; irgend etwas Wei= ches wie etwa ein Streifen Stoff-sagen wir, ein Schal.« Wolfe nahm jetzt mich an die Reihe. »Haben Sie die Polizei ver= ständigt?«

»Nein, Sir.« Ich blickte schnell zu Vollmer hinüber und gleich wieder zurück. »Erst wollte ich Ihre An= Weisung abwarten.« »Gut.« Er wandte sich wieder an den Doc: »Falls Sie uns einen Augenblick allein lassen würden? Vielleicht gehen Sie solange ins vordere Wohnzimmer hinüber?« Vollmer zögerte; er schien sich in seiner Haut unbehaglich zu fühlen. »Als Arzt, der zu einem Todesfall

durch Gewaltanwendung gerufen wird, kann ich mir dadurch weiß der Teufel was einbrocken. Wenn Sie ausdrücklich darauf besteh . . . « »Dann stellen Sie sich in eine Ecke und halten Sie sich die Ohren zu.« Das tat er dann auch. Er ging zu der entferntesten Ecke hinüber, dort, wo die Wand zum Badezim= mer einen Winkel bildet, drückte sich die Handflächen gegen die Ohren, stand da und sah uns zu. Mit gedämpfter Stimme begann ich Wolfe zu berichten: »Ich war gerade hier drinnen, und plötzlich kam sie rein. Entweder hatte ihr irgendwas oder irgend je= mand einen Heidenschrecken ein= gejagt, denn sie zerfloß mir hier fast vor Angst, oder aber es war eine schauspielerische Meisterlei= stung. Offenbar war es aber doch nicht geschauspielert, und ich glaube jetzt, ich hätte Saul und Fritz lieber einen entsprechenden Tip geben sollen, sie im Auge zu behalten, aber es spielt ja keine Rolle, was ich jetzt hinterher glaube. Im vergangenen Oktober wurde eine Frau namens Doris Hat= ton ermordet, e rwürg t - in ihrem Appartement. Auf niemand, den sie überhaupt kannte, fiel auch nur die Spur eines Verdachts; auch sonst konnten die Cops nichts fin= den. Erinnern Sie sich?«

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»Ja.« »Sie sagte, diese Doris Hatton sei ihre Freundin gewesen, und sie sei an jenem Tag in deren Apparte= ment gewesen und hätte den Mann gesehen, der das Erwürgen be= sorgte, und dieser Mann sei heute nachmittag hier bei der Orchideen» Party gewesen. Sie sagte, er sei gewahr geworden, daß sie ihn wie= dererkannt hätte - das wär's, was sie derart in Angst und Schrecken versetzt hätte -, und sie wollte, Sie sollten ihr helfen, indem Sie dem Kerl sagen sollten, wir wüßten Be= scheid, und er solle lieber die Fin= ger von ihr lassen. Kein Wunder, daß ich ihr von einer derartigen Story kein einziges Wort abnahm. Ich bin mir durchaus bewußt, daß Ihnen Komplikationen höchst zu= wider sind und Sie daher von mir erwarten würden, daß ich die Sache abschob, aber gegen Ende zu er= wischte sie mich an meiner psychi= sehen Achillesferse, indem sie sagte, wie sympathisch ihr meine Gesellschaft gewesen sei, und da= her würde ich lieber vorziehen, den Cops reinen Wein einzusehen» ken.«

»Na, dann tun Sie's doch; bringen Sie die Sache vollends durchein= ander. Wirbeln Sie so viel Staub auf, daß man nicht mehr die Hand vor Augen sieht!«

Ich ging zum Telefon hinüber und begann WAtkins 9=8241 zu wäh« len. Doc Vollmer kam aus seiner Ecke heraus. Wolfe reagierte pa= thetisch. Er schob sich um seinen Schreibtisch herum und ließ sich in seine überdimensionale, dick mit Leder gepolsterte Sonderanferti= gung sinken; aber dadurch kam ihm ausgerechnet das ominöse Ob= jekt am Boden vor die Nase zu lie= gen, und so verzog er das Gesicht sogleich zu einer Grimasse und stemmte sich wieder auf die Beine, grunzte wie ein bis zur Weißglut gereizter Eber, schleppte seinen Corpus zur gegenüberliegenden Wand hinüber und inspizierte dort auf den Regalen die Titel auf den Buchrücken.

Aber selbst dieser armselige Ab= lenkungsversuch war ihm nicht vergönnt. Als ich mit meinem An= ruf fertig war und den Hörer auf= legte, drangen plötzlich von drau= ßen aus der Halle tumultartige Ge= rausche herein. Ich raste durchs Zimmer, erwischte den Türknauf, brach mir in der Hast den halben Fingernagel ab und riß die Tür auf, und da sah ich auch schon, was uns jetzt wieder beschert worden war. In der offenstehenden Tür des Speisezimmers jenseits der Vor= halle hatte sich die ganze Gruppe der von uns unter Verschluß gesetz=

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ten Orchideennarren zusammenge= drängt, und Saul Panzer kam wie ein gehetztes Nilpferd an mir vor= beigerauscht, in Richtung Aus= gang.

Dort an der Haustür war Colonel Percy Brown gerade dabei, mit dem einen steif ausgestreckten Arm Fritz Brenner von sich abzuhalten und mit der anderen Hand nach dem Türknauf zu langen. Fritz, der bei uns im Haus als Küchen= chef und Hausmeister fungiert, ist nun mal kein Catch=as=catch=can= Profi, noch wird von ihm erwartet, daß er sich als Film=Double in akrobatischen Turnübungen be= tätigt, aber dennoch erledigte er die Sache mit Bravour. Er ließ sich flach auf den Boden fallen, packte den Colonel an beiden Fußgelen= ken und riß ihm unter dem Körper die Beine weg.

Dann war aber auch ich bereits zur Stelle und ebenfalls, mit gezückter Pistole, Saul Panzer; und dann tauchte noch der Besucher mit dem wildwuchernden dunklen Haar= schöpf neben uns auf. »Sie Narr«, erklärte ich dem Co= lonel, als dieser sich ächzend auf= setzte. »Wenn Sie zur Haustür hin= ausgelangt wären, hätte Saul Ihnen ein Löchlein ins Beinchen geschos= sen.«

»Schuldbewußtsein«, erklärte der

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schwarzschöpfige Bursche mit Nachdruck. »Die seelische Bela= stung wurde für ihn unerträglich, und da ist er explodiert. Ich bin Psychiater.« »Tut Ihnen vielleicht ganz gut, und außerdem können Sie sich hier noch beruflich betätigen.« Ich faßte ihn am Ellenbogen und drehte ihn herum. »Geh'n Sie jetzt schön brav ins Speisezimmer zurück und be= obachten Sie all die anderen. Ab= gesehen davon hängt dort auch noch ein Spiegel an der Wand; in dem können Sie sich gleich mit= beobachten.«

»Das ist gesetzwidrig«, konsta= tierte Colonel Brown, der sich in= zwischen wieder auf die Beine ge= rappelt hatte. Saul scheuchte die ganze Gesell» schaft wieder nach hinten. Fritz bekam mich am Jackettärmel zu fassen und hielt mich zurück. »Archie«, sagte er, »ich muß Mr. Wolfe unbedingt noch wegen de..* Dinners fragen.«

»Quatsch«, erwiderte ich aufge= bracht, »bis es Zeit zum Dinner ist, wird hier in diesem Laden noch ein größeres Gedränge herrschen als heute nachmittag.« »Aber er muß pünktlich sein Essen haben; das wissen Sie doch.« »Zum Kuckuck«, sagte ich und tat» schelte ihm versöhnlich die Schul»

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ter. »Entschuldigen Sie für heute meine ansonsten halbwegs manier= liehen Manieren, Fritz; ich bin ein wenig durcheinander. Ich habe ge= rade eben eine junge Frau er= würgt.«

»Pfui, sowas tut man doch nicht«, sagte er ironisch verächtlich. »Beinahe hätte ich es tatsächlich getan«, erklärte ich. Die Türklingel schellte. Es war das erste apokalyptische Zeichen, daß es vor Cops hier drinnen gleich nur so wimmeln würde. Nach meiner unmaßgeblichen Mei= nung beging Inspektor Cramer gleich von Anfang an einen mäch= tigen Fehler. Es ist schön und gut und recht, daß in einem Raum, in dem ein Mord geschehen ist, die City=Laboratoriumsleute die Ar= beit übernehmen sollen, und das tun sie auch - und zwar gründlich. Nur sollte diese Prozedur, außer in ganz besonders gelagerten Fällen, nicht eine volle Woche in Anspruch nehmen. Und in unserem Fall hät= ten schon zwei Stunden überreich« lieh genug sein müssen. Das heißt, innerhalb zwei Stunden waren sie eigentlich auch damit fertig. Zu= mindest die eigentlichen Laborato= riumsleute hatten getan, was zu tun war. Aber Cramer, dieser pro= totypische Polizeitrottel, gab den Befehl, und dazu noch in Wolfes

Gegenwart, das Büro bis auf wei= tere Anweisung hin zu versiegeln. Er wußte genau, daß Wolfe zumin= dest dreihundert Abende im Jahr dort drinnen verbrachte, und das war wohl auch der Grund, warum er es überhaupt tat. Das war aber ein sehr böser Schnit= zer, den er sich da erlaubte. Falls er das nämlich nicht getan hätte, würde Wolfe ihn wahrscheinlich, sobald er ihn überhaupt selbst bemerkte, auf einen ganz bestimmten Um= stand aufmerksam gemacht haben, und Cramer würde sich eine ge= hörige Menge Ärger erspart haben. Die beiden bekamen die genauen Tatsachen gleichzeitig eingefiltert, und zwar von mir. Wir befanden uns jetzt im Speisezimmer - dies war kurz nachdem die Cop=Wis= senschaftler sich im Büro ans Werk gemacht hatten, und die Besucher waren inzwischen unter Bewachung ins vordere Wohnzimmer verfrach= tet worden -, und ich wiederholte Wort für Wort meine Unterhaltung mit Cynthia Brown. Was immer auch meine Jahre als Wolfes Assi= Stent mir Gutes getan oder aber auch mir angetan haben mochten -sie hatten mich praktisch zu einem Tonbandgerät gemacht. Und sie erfuhren von mir nicht nur wort= wörtlich alles was gesprochen wor= den war, sondern auch die ganzen

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sonstigen Begleitumstände. Als ich dann buchstäblich die letzte Gehirnwindung meines Gedächt« niszentrums ausgequetscht hatte, da hatte Cramer immer noch eine ganze Serie von Fragen auf Lager; Wolfe hingegen keine einzige. Mag sein, er hatte sich mit seinem Scharfsinn bereits ganz auf den vorerwähnten Umstand konzen« triert, aber das hatten weder Cra= mer noch ich getan, weil es da bei uns beiden mit dem Scharfblick noch ein bißchen haperte. Cramer legte in dem Maschinen« gewehrfeuer von Fragen endlich mal eine Gefechtspause ein, um die nötigen Schritte zu veranlas« sen. Colonel Brown mußte foto« grafiert und Fingerabdrücke abge« nommen bekommen, und die Ak= ten im Headquarters sollten nach ihm und Cynthia Brown durch« wühlt werden. Die Akte über den Mordfall Doris Hatton sollte ihm schnellstens herbeigeschafft wer« den. Ebenso sollten ihm möglichst noch schneller die Untersuchungs« und Auswertungsberichte der La« boratoriumsleute vorgelegt wer« den. Und Saul Panzer und Fritz Brenner sollten hereingeführt wer« den.

Und dann kamen die beiden. Mit grimmig ernstem Gesicht stand Fritz da wie ein Soldat bei der Pa=

rade. Saul mit seiner Größe von kaum ein Meter siebzig und mit den schärfsten Augen und einer der größten Nasen, die ich jemals gesehen habe, in seinem ungebü« gelten braunen Anzug und mit seiner zerknautschten Krawatte -er stellte sich neben Fritz, nicht ge= rade nonchalant, aber auch keines« wegs steif wie ein Kadett von West Point. Natürlich kannte Cramer die beiden schon von früher her. »Sie und Fritz haben sich den gan« zen Nachmittag hindurch in der Vorhalle aufgehalten?« Saul nickte. »Ja, in der Vorhalle und in dem vorderen Wohnzim« mer.«

»Und wen haben Sie das Büro be= treten oder verlassen sehen?« »So ungefähr gegen vier Uhr habe ich Archie hineingehen sehen-ich kam da gerade mit dem Hut und Mantel von irgend jemand aus dem vorderen Wohnzimmer heraus. Und dann habe ich Mrs. Carlisle von dort herausstürzen sehen, gleich nachdem sie geschrien hatte. Außer - beziehungsweise zwischen - diesen beiden habe ich dort nie« manden hineingehen oder heraus« kommen sehen. Die meiste Zeit über hatten wir beide ja auch alle Hände voll zu tun, entweder in der Vorhalle oder im vorderen Wohn« zimmer.«

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Cramer grunzte unzufrieden, weil er von dieser Zeitlücke des Nichts« Gesehen« und Nichts = Gehörtha« bens wohl nicht sonderlich erbaut war, was ich ihm auch nicht ver= denken konnte. »Und wie steht's bei Ihnen, Fritz?« »Ich habe niemanden und nichts gesehen.« Fritz sprach lauter und klarer als sonst. »Aber etwas ande« res möchte ich sagen.« »Dann legen Sie los.« »Ich glaube, das meiste von dem ganzen Rummel, der hier veran« staltet wird, ist vollkommen über« flüssig. Meine Dienste und Pflich« ten hier beschränken sich allein auf den Haushalt und haben nicht das mindeste mit beruflich=kriminellen Dingen zu tun. Aber es läßt sich nun mal nicht vermeiden, daß ich manches aufschnappe, was mir so zu Ohren kommt. Schon oft hat Mr. Wolfe die Lösung von proble« matischen Fällen gefunden, bei de« nen Sie buchstäblich auf dem trok= kenen saßen. Dieses ist nun hier in seinem eigenen Hause passiert, und daher glaube ich, man sollte diesen Fall ganz allein ihm überlassen.« Ich hüpfte innerlich vor Schaden« freude. »Fritz«, sagte ich, »daß Sie solchen Mumm haben und einen derartigen Trumpf auf den Tisch knallen, hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut!«

Cramer beäugelte ihn blinzelnd, offensichtlich nicht gerade wohl« wollend. »Er hat Ihnen wohl ein« getrichtert, mir das ins Gesicht zu sagen, eh?« »Pah«, murmelte Wolfe verächt« lieh. »Da läßt sich nun mal nichts machen, Fritz. Haben wir genü= gend Schinken und kalten Aal im Haus?« »Ja, Sir.« »Erst für später, wahrscheinlich -für die Besucher im vorderen Wohnzimmer, nicht etwa für die Polizei... Sind Sie mit den beiden fertig, Mr. Cramer?« »Nein.« Cramer wandte sich an Saul: »Wie haben Sie die Besucher beim Betreten des Hauses regi= striert?«

»Ich hatte eine Liste der Mitglieder des Manhattan Flower Clubs. Sie mußten mir ihre Mitgliedskarten vorzeigen. Auf der Mitgliederliste hakte ich dann diejenigen ab, die hereinkamen. Falls sie ihre Frauen oder ihre Männer mitbrachten oder sonst irgendwelche Gäste, habe ich mir jeweils deren Namen notiert.« »Dann haben Sie also eine voll« ständige Liste von allen, die hier im Hause waren?« »Ja.«

»Wie viele Namen sind es unge« fähr.« »Zweihundertneunzehn.«

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»So viele? Die passen in dieses Haus doch ganz unmöglich hin» ein!« Saul nickte. »Sie kamen, und sie gingen, und es war ein ständiges Hinein und Hinaus. Zur gleichen Zeit waren deshalb ja auch niemals mehr als etwa an die Hundert drin» nen.«

»Das hilft mir allerdings kaumwei» ter!« Cramers Verärgerung, die ihm vom Gesicht abzulesen war, war in sichtlichem Zunehmen be= griffen, was ich ihm beileibe nicht verdenken konnte. »Goodwin sagt, er sei dort mit Ihnen an der Haus» tür gewesen, als jene Frau krei» sehend aus dem Büro herausge» stürzt kam. Dennoch haben Sie sie das Büro nicht betreten sehen. Wie vereinbart sich das mit Ihrer Aus» sage?«

»Wir hatten der Bürotür gerade den Rücken zugedreht. Wir schau» ten ziemlich argwöhnisch hinter einem Mann her, der gerade das Haus verlassen hatte und davon» ging. Archie hatte ihn nach seinem Namen gefragt, und er hatte geant» wortet, das sei ja geradezu lächer» lieh. Falls Sie es wissen wollen -sein Name ist Malcolm Vedder.« »Allerdings will ich den wi s sen -aber woher kennen Sie ihn?« »Ich hatte ihn abgehakt, wie all die anderen auch.«

Gramer starrte ihn an. »Wollen Sie mir etwa weismachen, daß Sie derart viele Namen und derart viele Gesichter, nachdem Sie sie nur ein einziges Mal gesehen ha» ben, genau kombinieren können?« Sauls Schultern zogen sich ein we= nig in die Höhe, und dann sackten sie wieder ein wenig herab. »An Leuten ist noch mehr dran als le= diglich Gesichter. Bei ein paar mag ich mich vielleicht irren, aber dieses Vielleicht ist höchst selten.« Cramer wandte sich an einen sei» ner Dicks, der neben der Tür Po» sten bezogen hatte. »Sie haben eben diesen Namen gehört, Levy -Malcolm Vedder. Sagen Sie Steb» bins, er soll ihn sich aus jener Be= sucherliste heraussuchen und einen unserer Leute hinschicken, der mir den Mann umgehend herschafft.« Cramer wandte sich wieder zu Saul um. »Drehen wir die Sache mal so herum: Angenommen, ich setze Sie mit jener Liste hierher, und ein Mann oder eine Frau wird herein» gebracht - «

»Dann könnte ich Ihnen absolut sicher sagen, ob der oder die Betref= fende heute hiergewesen ist oder nicht, vor allem dann, wenn diese Person dieselbe Kleidung trägt oder sich sonst nicht irgendwie maskiert oder verkleidet hat. Mag sein, daß ich in ein paar ganz ver-

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einzelten Fällen danebentippe, wenn ich den Namen und das Ge= sieht miteinander kombinieren soll; ich selbst bezweifle sehr, daß ich auch nur ein einziges Mal daneben» haue.«

»Das traue ich Ihnen nie und nim­mer zu!« »Mr. Wolfe traut es mir zu«, sagte Saul versöhnlich. »Ebenso traut Archie es mir zu. Seit ich hier im Hause bin, habe ich gewisse meiner Fähigkeiten ein wenig weiterent» wickelt.«

»Das allerdings dürften sie wohl zweifellos haben. Gut dann, das ist im Augenblick alles. Halten Sie sich hier weiterhin in der Nähe zu unserer Verfügung.« Saul und Fritz gingen hinaus. Wolfe, der in einer seiner gepol= sterten Spezialanfertigungen am Kopfende des Eßzimmertisches saß, dort wo er zu dieser Stunde ge= wohnlich zu sitzen pflegte, aller» dings zu einem völlig anderen Zweck, ließ einen tiefen Seufzer hören und schloß die Augen. Ich selbst, der ich neben Cramer an je» ner Längsseite des Tisches saß, von der aus wir die Tür zur Vorhalle vor Augen hatten, wurde mir langsam immer mehr darüber klar, welch problematischem Schlamassel wir uns hier eigentlich gegenübersahen. »Goodwins Darstellung der Tat»

Sachen...«, knurrte Cramer, »...ich meine die Story, die uns jene Frau serviert hat - was halten Sie da» von?« Wolfes Augen begannen sich wie» der zu öffnen, jedoch gerade nur auf Schlitzesbreite. »Was dann nachher folgte, scheint ihre Story durchaus zu untermauern. Ich be= zweifle sehr, daß sie all das im vor» aus arrangiert haben sollte...« Mit einer flüchtigen Geste deutete er querdurch die Vorhalle in Richtung auf die Tür des Büros hinüber, ».. .um sich für ein Märchen, das sie uns jetzt auftischt, in dieser Weise eine scheinbar solide Basis zusammenzubasteln. Ich nehme ihre Aussage als Tatsache hin.« »Yeah, ich brauche Sie wohl kaum daran zu erinnern, daß ich Sie gründlich kenne und daß ich Good» win nicht weniger gründlich kenne. Daher kalkuliere ich jetzt im stil» len, wieviel Aussicht besteht, daß Sie sich ungefähr innerhalb eines Tages plötzlich daran erinnern wer» den, daß sie schon jemals hier im Haus gewesen ist oder vielleicht einer oder mehrere von den ande» ren, die heute hiergewesen sind, und daß Sie da einen Ihrer Klien» ten unter Ihren Fittichen haben, dessen Fall bereits so weit gediehen war, daß er zwangsläufig zu die» sem Ergebnis hier führen mußte.«

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»Quatsch«, erwiderte Wolfe eben» so barsch wie trocken. »Selbst wenn es sich so verhalten sollte - aber es verhält sich nicht so -, würden Sie hier bei uns lediglich Ihre Zeit ver» schwenden, da Sie uns beide ja, wie Sie vorhin selber sagten, gründ» liehst kennen.«

Einer von den Dicks kam herein, um den Telefonanruf eines Deputy Commissioners zu übermitteln. Ein zweiter folgte ihm fast unmittelbar auf den Fersen, um Cramer zu sa= gen, daß Homer Carlisle draußen an der Haustür wutschnaubend aus der Haut zu fahren oder sonstwie zu platzen drohte. Jedenfalls stellte er mit dem Theater, das er dort aufführte, die ganze Vorhalle auf den Kopf. Die ganze Zeit über saß Wolfe mit geschlossenen Augen in seiner Sonderanfertigung, aber ich konnte mir eine recht gute Vorstel» lung davon machen, was sich dort unter seiner Dickschädeldecke ab= spielte, weil ich ihn mit dem Zeige» finger auf der polierten Tischplatte ununterbrochen kleine Kreise zie» hen sah.

Cramer wandte den Kopf und blickte zu ihm hinüber. »Was wis» sen Sie über den Mord an jener Doris Hatton?« »Nicht mehr, als darüber in den Zei» tungen stand«, murmelte Wolfe. »Und dann das, was Ihr Mr. Steb=

bins gelegentlich einmal Mr. Good» win erzählt hat.« »Gelegentlich ist gut!« Cramer kramte eine Zigarre aus der Та» sehe, hob sie zum Mund und biß in

das eine Ende hinein. Er pflegte stets nur in dieser Manier seine Zi= garren mit den Zähnen zu zer» knautschen; anzünden tat er sich niemals eine. »Jene Häuser mit Selbstbedienungslift sind noch schlimmer als die mit einfachen Treppenstufen, wenn man einer derartigen Sache nachgehen will. Niemals findet man dort jemanden, der irgendwen hineingehen oder herauskommen gesehen hat. Aber selbst wenn man diesen Umstand in Rechnung stellt, hat der Mann, der die Miete für das Appartement bezahlte, darüber hinaus noch ver» dämmt viel Glück gehabt. Er mag noch so gerissen und noch so vor» sichtig gewesen sein, aber außer» dem hat er noch dieses verdammte Glück gehabt, daß niemals jemand von ihm so viel zu sehen bekom» men hat, als daß er uns von ihm auch nur eine vage Personalbe» Schreibung geben könnte.« »Immerhin möglich, daß Miss Hat» ton die Miete selber bezahlt hat.« »Klar«, g a b Cramer zu, »sie hat sie auch tatsächlich selber einbezahlt. Aber von wem erhielt sie das dafür erforderliche Diridari? Nein, es

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handelte sich zweifellos um das für derartige Fälle beinahe schon pro= totypische Arrangement. Sie hatte dort gerade erst zwei Monate ge= wohnt, und als wir dann heraus» fanden, wie sorgsam sich der Mann, der in Wirklichkeit die Miete für jenes kosige Nest bezahlte, im dun» kein zu halten verstanden hatte, kamen wir zu dem Schluß, daß er sie vielleicht lediglich zu dem Zweck dort hineingesetzt hatte, um später sein feststehendes Vorhaben ge= nau nach Plan ausführen zu kön= nen. Das war ja auch der Grund, warum wir ausgerechnet hinter ihm als dem vermutlichen Mörder wie die leibhaftigen Teufel her waren. Daß wir uns aber so die Hacken nach ihm abrannten, um ihn end» lieh ausfindig zu machen, hatte noch einen weiteren Grund; weil in den Zeitungen nämlich angedeutet wurde, wir wüßten genau, wer er sei, und er sei eben ein solch großes Tier, daß wir die Mordakte Doris Hatton in die allerunterste Ecke unserer Regale verräumt hätten.« Cramer schob seine Zigarre einen Zahn weiter nach links hinüber. »Derartige zwielichtige Andeutun» gen bringen mich stets auf die Palme, aber was nützt das alles; bei diesen Zeitungsschmierern ge= hört das ja beinahe schon zur Be= rufsethik. Nun ja, großes Tier oder

nicht, er hatte es jedenfalls nicht nötig, daß wir für ihn die Mord» akte Hatton irgendwohin in die un= auffindlichste Ecke verkramen mußten. Dafür hatte er das Ding, das er da drehte, selber schon raf» finiert genug geplant. Durch all das wird meine Annahme nur noch weiter bestätigt. Wenn wir das als Tatsache hinnehmen, was diese Cynthia Brown Goodwin erzählt hat, dann muß damals jener Mann, der Miss Hatton die Miete bezahlt hat, zweifellos auch der Täter ge= wesen sein. Ich möchte mich lieber darüber ausschweigen, was ich von der Tatsache halte, daß Goodwin drüben in Ihrem Büro gesessen hat, ihm all das von dieser Cynthia Brown erzählt wurde, daß er also - kann man in diesem Fall wohl sa= gen - an Tatort und Stelle war und nicht das mindeste unternahm, u m . . . «

»Ihr Berufseifer hat Sie da ein we= nig in Verwirrung gebracht«, sagte ich mitleidig. »Der Täter befand sich nicht an Tatort und Stelle - er hatte sich an Tatort und Stelle be= funden. Außerdem nahm ich ihr die Geschichte, die sie mir auf» tischte, nur mit einer gehörigen Dosis Mißtrauen ab. Außerdem wollte sie sich die minuziöseren Details für Mr. Wolfe aufsparen. Außerdem. . .«

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»Außerdem kenne ich Sie nur zu gründlich, wie ich bereits sagte. Wie viele von diesen zweihundert» neunzehn Leuten waren Männer?« »Ich würde sagen, ein wenig über die Hälfte »So, und nun in Anbetracht dieser Sachlage, wie gefällt die Geschichte Ihnen?« »Mir hängt sie schon im voraus zum Hals heraus.« Wolfe verharrte noch immer un= beweglich in seiner gepolsterten Sonderanfertigung. »Nach Ihrer Einstellung zu urteilen, Mr. Cra= mer«, grunzte er, »bin ich da auf einen Umstand gestoßen, auf den Sie nicht gestoßen zu sein schei» nen.«

»Selbstverständlich und durchaus möglich. Ich bin ja schließlich auch kein solches Kriminalgenie wie Sie.« Der Sarkasmus in seiner Stimme hätte Tote zum Leben er» wecken können. »Was ist es denn, auf auf Sie da gestoßen sind?« »Etwas, das aus dem hervorgeht, was Mr. Goodwin uns erzählt hat. Aber ich möchte mir die Sache lie= ber erst noch ein wenig durch den Kopf gehen lassen.« »Vielleicht könnten wir uns die Sache gemeinsam durch die Köpfe gehen lassen.«

»Nein, später. Die Leute dort im vorderen Wohnzimmer sind meine

Gäste. Und diese Gäste benötigen dringend ein wenig frische Luft. Können Sie nicht dahingehend ver» fügen, daß ihnen diese frische Luft endlich zuteil wird?« Mit einer lässigen Handbewegung winkte Cramer ab. »Einer Ihrer Gäste«, krächzte Cramer, »war für mich die reinste Augenweide.« Er wandte sich an den neben der Tür postierten Dick. »Bringen Sie mir diese Frau da herein - wie war doch gleich ihr Name, ach ja, Mrs. Car= lisle!«

Mrs. Homer N. Carlisle kam mit all ihren Habseligkeiten und ihrem sonstigen Zubehör herein: Ihrem Karakul=Persianer, ihrem Perlen» gehänge, ihrem lustig bunt ge= musterten Schal und ihrem Mann. Vielleicht sollte ich der Genauigkeit halber lieber sagen: Sie kam nicht selber, sie kam als Anhängsel ihres Mannes. Kaum hatte er mit ihr die Türschwelle passiert, da steuerte er auch bereits mit weitausgreifenden Schritten schnurstracks auf den Eß= zimmertisch zu, baute sich dort auf wie der Erzengel Gabriel und ließ zunächst einmal eine stimmgewal= tige Tirade vom Stapel, wie es bei Stapelläufen meines Wissens sonst nicht gerade üblich ist. Nach den einleitenden Worten die» ser Tirade hatte sich Cramer gerade noch soweit in der Gewalt, daß er

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ihm sagte, wie leid es ihm täte, und die beiden aufforderte, Platz zu nehmen. Mrs. Carlisle setzte sich. Mr. Carlisle setzte sich nicht. »Wir sind jetzt schon nahezu zwei Stunden zu spät dran«, konsta= tierte er - stimmgewaltig, wie ge» sagt. »Ich weiß, Sie haben hier le= diglich Ihre Pflicht zu erfüllen, aber Gott sei Dank sind uns als freien Staatsbürgern doch noch ein paar winzige Rechte übriggelassen wor» den. Unsere Anwesenheit hier ist rein zufälliger Natur. Ich möchte Sie dahingehend warnen, daß ich, falls mein Name in Verbindung mit dieser zum Himmel duftenden Affäre in den Zeitungen herum» geschmiert wird, Ihnen so viel Är= ger und Scherereien machen werde, daß Sie während der nächsten vier» zehn Tage, genauer gesagt wäh= rend der vierzehn nächsten Nächte keine Minute Zeit bekommen wer» den, auch nur ein Auge zuzutun. Warum werden ausgerechnet wir hier so lange festgehalten? Was wäre, wenn wir fünf oder zehn Mi» nuten früher gegangen wären, wie viele der anderen Besucher auch?« »Nichts gegen Ihr logisches Denk» vermögen an sich, doch in diesem Fall steht Ihre Logik leider nur auf einem Bein«, konterte Cramer. »Es spielt nicht die mindeste Rolle,

wann immer Sie das Haus verlas» sen hätten; es würde stets auf das gleiche herausgekommen sein, wenn Ihre Gattin sich nicht anders verhalten hätte. Sie war es näm» lieh, die die Leiche entdeckt hat.« »Rein zufällig!« »Darf ich einmal etwas sagen, Ho» mer«, schaltete seine Frau sich we= niger stimmgewaltig dazwischen. »Das hängt ganz davon ab, was du zu sagen hast.«

»Oh«, sagte Cramer mit jenem ge= wissen Nachdruck dahinter. »Was meinen Sie mit diesem >Oh<?« verlangte Carlisle zu wis» sen. »Ich meine damit nur, daß ich Ihre Frau, nicht hingegen Sie, hier her» eingebeten habe; daß Sie aber den» noch mit ihr zusammen hergekom» men sind, und daraus ziehe ich ge= wisse Schlüsse. Sie wollten dafür sorgen, daß sie hier drinnen nicht allzu indiskret wird.« »In welcher Hinsicht sollte sie schon indiskret werden?« »Ich weiß es nicht, aber offensicht» lieh wissen Sie es. Wenn es nichts Indiskretes gäbe, was ihr ent» schlüpfen könnte - warum setzen Sie sich dann nicht ebenfalls hin und erholen sich ein wenig von dem anstrengenden Herumste» hen?«

»Ich an Ihrer Stelle würde das tun«,

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gab auch Wolfe ihm den Rat. »Wut» schnaubend kamen Sie hier herein« gestürmt und haben sich in Ihrer eigenen Logik verheddert. Ein wut= schnaubender und sich in seiner Lo= gik verheddernder Mann macht sich meist nur lächerlich.« Das war eine recht massive Hürde, die Wolfe ihm da vor die Nase setzte, aber der Nährmittel» Vize» Präsident nahm sie - wenn auch erst nach schweren inneren Kämp= fen mit sich selbst. Cramer wandte sich wieder anCar= lisles Frau. »Sie wollten uns gerade etwas sagen, Mrs. Carlisle, nicht wahr?«

»Ich wollte lediglich sagen, wie leid mir das alles tut.« Sie hatte ihre knochigen, verkrampften Hände vor sich auf der Tischplatte liegen. »Wegen all des Ärgers und der Scherereien, die ich Ihnen ver= ursacht habe.«

»Ich möchte nicht unbedingt sagen, daß Sie hier Ärger und Scherereien verursacht haben - außer für sich selbst und für Ihren Mann.« Cra= mer war also offensichtlich bemüht, ihr auf die sanfte Tour beizukom» men. »Die Frau war tot-ob Sie nun dort hineingegangen sind oder nicht. Es ist zwar eine reine Form= sache, derentwegen ich aber doch mit Ihnen sprechen muß, da Sie es ja waren, die die Leiche entdeckt

hat. Was Sie betrifft, so ist das alles, soweit ich es bisher übersehen kann.« »Was sollte denn, soweit es meine Frau betrifft, noch anderes daran sein?« platzte Carlisle dazwischen. Cramer ignorierte ihn einfach. »Mr. Goodwin hat Sie kaum zwei Minuten - wahrscheinlich sogar noch weniger - vor dem Zeitpunkt, als Sie schreiend aus dem Büro her= ausgestürzt kamen, in der Vorhalle herumstehen sehen. Wie lange hat= ten sie sich bereits dort aufgehal= ten?«

»Wir waren gerade erst die Treppe heruntergekommen. Ich wartete dort lediglich auf meinen Mann, der sich aus der Garderobe gerade seine Sachen holte.« »Waren Sie schon vorher irgend» wann hier unten im Parterre?« »Nein-nur als wir hier ins Haus gekommen waren.« »Zu welcher Zeit sind Sie her= gekommen?« »Kurz nach drei Uhr, glaube ich.« »Sind Sie und Ihr Gatte die ganze Zeit über beisammen gewesen?« »Selbstverständlich, aber Sie wis= sen ja sicher, wie das so is t . . . Er wollte sich dieses und jenes ein we= nig länger und gründlicher an= schauen, und ich wollte . . . « »Natürlich waren wir ständig bei» sammen«, fuhr Carlisle sofort wie«

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der dazwischen. »Jetzt können Sie selber hören, warum ich vorhin jene Bemerkung machte, es hänge ganz davon ab, was sie zu sagen habe. Es liegt nun mal in ihrer Art, mit ihren Angaben ein wenig vage her= umzugeistern.«

»Ich geistere hier gar nicht vage herum«, protestierte sie. »Es ver= hält sich lediglich so, daß alles mit» einander zusammenhängt und in= einandergreift. Wer würde denn jemals daran gedacht haben, daß mein sicher doch sehr harmloser Wunsch, mir ganz kurz einmal Mr. Wolfes Büro anzuschauen, mich mit einem Verbrechen in Verbin= dung bringen würde?« »Haben Sie's gehört!« explodierte Carlisle. »In Verbindung bringen - mit einem Verbrechen!« »Warum wollten Sie sich eigentlich Nero Wolfes Büro anschauen?« er= kündigte sich Cramer. »Nun, um mir den Globus anzu= sehen.«

Ich schaute sie daraufhin wohl mit ziemlichen Stielaugen an. Ich hatte angenommen, sie würde sagen, sie hätte sich aus bloßer Neugier ein= mal im Büro eines bekannten und berühmten Detektivs umschauen wollen. Anscheinend reagierte Cra= mer in genau der gleichen Weise wie ich. »Den Globus?« fragte er verwundert.

»Ja, ich habe schon so oft in den Zeitungen gelesen, daß er einen besonders großen Globus bei sich stehen hat, und ich wollte mir an= schauen, wie er aussieht. Ich dachte mir, ein Globus von dieser Größe, von mehr als einem Meter Durch» messer, müsse sich in einem ganz gewöhnlich großen Raum doch recht phantastisch ausnehmen -Oh!«

» O h ! - W a s ? « »Den habe ich ja nun gar nicht ge= sehen!« Cramer nickte. »Statt dessen haben Sie etwas anderes gesehen. Neben» bei, ich habe Sie etwas zu fragen vergessen - haben Sie sie ge= kannt?« »Sie meinen, die - die tote Frau da?« »Wir haben sie weder gekannt noch jemals gesehen, noch jemals was von ihr gehört«, erwiderte ihr Nährmittel=Gatte sofort. »Und Sie, Mrs. Carlisle?« »Ich? Natürlich ebenfalls nicht.« »Gewiß, natürlich nicht. Sie war ja auch nicht Mitglied dieses Manhat» taner Blumen=Clubs. Sind Sie dort Mitglied?«

»Nein, ich nicht - aber mein Mann.« »Wir sind beide Mitglied«, konsta» tierte Carlisle. »Da haben Sie schon wieder eine von ihren vagen

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Angaben. Es handelt sich in unse= rem Fall um eine gekoppelte Mit= gliedschaft. Reicht es Ihnen jetzt endlich?« »Überreichlich«, gab Cramer zu. »Besten Dank, Ihnen beiden. Ich hoffe, ich werde Sie in Zukunft nicht mehr zu belästigen oder Ihre kostbare Zeit in Anspruch zu neh= men brauchen. Es sei denn, es er= weist sich aus irgendwelchen Grün= den als unumgänglich. Levy, be= gleiten Sie die beiden hinaus!« Als sich die Tür hinter ihnen ge= schlössen hatte, gaffte Cramer zu= nächst zu mir und dann zu Nero Wolfe hinüber. »Seine bessere Hälfte ist tatsächlich ein Herzchen, wie es im Buche steht«, meinte er ergrimmt. »Sagen Sie, es liegt doch immerhin im Bereich des Mög= liehen, daß dieser Carlisle derjenige ist, den wir suchen, und so, wie die Dinge im Augenblick nun mal lie= gen - warum eigentlich nicht? Also werden wir ihn ein wenig genauer unter die Lupe nehmen. Wir wer» den einmal fünf oder sechs Monate in seine Vergangenheit zurück» schnuppern, und zwar werden wir das so handhaben, daß er uns nicht sofort wieder zu brüllen anfängt oder sonstwie Ärger macht-ein derart einflußreiches hohes Tier, wie er es tatsächlich zu sein scheint. Immerhin, bewerkstelligen läßt

sich das schon - durch drei oder vier entsprechend fähige Leute', in» nerhalb zwei bis drei Wochen. Und dann - multipliziert man das mit etwas anderem: Wie viele Männer, sagten Sie doch gleich, sind heute hier im Haus gewesen?« »Ungefähr an die einhundertund» zwanzig«, erklärte ich ihm. »Aber Sie werden schon noch dahinter» kommen, daß wenigstens die Hälfte davon aus diesem oder jenem Grund von vornherein unter den Tisch fällt. Wie ich vorhin sagte, hatte ich mir oben im Dachgarten mal einen kurzen Überblick ver» schafft. Sagen wir also: ungefähr an die sechzig.«

»Nun ja«, seufzte er, »multipliziert mit sechzig. Sind Sie über die Rech» nung, die dabei herauskommt, son= der lieh erbaut?« »Kaum«, antwortete ich. »Auch ich bin es nicht, was Sie mir wohl nicht verdenken werden.« Cramer nahm die Zigarre, auf der er herumgekaut hatte, aus dem Mund. »Natürlich lag die Situation völlig anders«, sagte er sarkastisch, »als diese Cynthia mit Ihnen dort drinnen saß und Ihnen von dem Kerl erzählte. Sie wollten zweifei» los ihre sicher nicht unsympathische Gesellschaft genießen. Sonst hätten Sie nur nach dem Telefonhörer zu greifen brauchen, um uns einen

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Tip zu geben, daß Sie dort eine ge= ständige berufsmäßige Betrügerin bei sich sitzen hatten, die schnell mal mit dem Finger auf einen Mörder zeigen konnte, und Sie hätten uns lediglich herzuholen brauchen und uns alles weitere überlassen kön= nen. Aber nein! Sie wollten diesen heißen Fall natürlich lieber für Nero Wolfe aufsparen, damit er für sich ein saftiges Honorar her= ausschinden konnte!« »Werden Sie jetzt gefälligst nicht auch noch vulgär!« versuchte ich ihn mit betont ernster Miene zu» rechtzuweisen.

»Und dann mußten Sie sie auch noch dort allein lassen und in den Dachgarten hinaufgehen, um sich dort oben für ein paar Minuten umzusehen! Das war in diesem kri» tischen Moment für Sie ja wohl das Vordringlichste, nicht wahr?« Detektiv=Leutnant Rowcliff hatte von draußen die Tür geöffnet, war ins Zimmer getreten, und mit sich zusammen hatte er gleich noch eine ganze Schar von anderen Detektiv» Cops mit hereingeschleust, von de= nen mir einige an sich durchaus sympathisch waren; einige, denen ich in gewisser Hinsicht sogar ein wenig Bewunderung zollte, einige, denen ich überhaupt nichts zollte und die mir völlig gleichgültig wa= ren; und weiterhin einige, ohne die

ich liebend gerne ausgekommen und deren Nicht=Vorhandensein mir weit wünschenswerter gewesen w ä r e - u n d dann dieser eine, dem ich irgendwann einmal bei passen» der Gelegenheit schon noch die Ohren umdrehen würde. Dieser eine war Rowcliff selbst. Er war groß, kräftig, von recht stattlichem Aussehen und für mich genau das, was für einen reinrassigen mexika» nischen Kampfstier das sprichwört» liehe rote Tuch ist. »Wir sind dort drüben jetzt soweit mit allem fertig, Sir«, sagte er wich» tigtuerisch. »Wir haben dort jeden Quadratzoll abgekämmt. Nichts haben wir mitgenommen; wir ha» ben alles wieder an Ort und Stelle zurückgelegt. Auch sonst haben wir dort keinerlei Spuren unseres Wirkens hinterlassen. Ganz beson» ders vorsichtig sind wir mit dem Inhalt von Wolfes Schreibtisch» Schubladen umgegangen, und eben» so haben wir - «

»In meinen Schreibtischschubladen haben Sie herumgewühlt!« don» nerte Wolfe ihn an. »Ja, in Ihren Schreibtischschub» laden«, sagte Rowcliff sehr betont und mit zynischer Miene. Vor kaum noch zu bändigendem Zorn bekam Wolfe einen so roten Kopf wie eine überreife Tomate. »Schließlich ist sie in Ihrem Büro

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ja umgebracht worden«, murrte Cramer. Brüsk wandte er sich ab, wieder seinem Detektiv=Leutnant zu. »Haben Sie dort drinnen was gefunden - irgend etwas?« »Ich glaube kaum«, mußte Row= cliff zugeben. »Natürlich müssen wir erst einmal all die Fingerab= drücke auseinandersortieren, und inzwischen werden dann wohl auch die Berichte der Laboratoriumsleute vorliegen. Wie sollen wir es hinter» lassen - einfach offen?« »Schließen Sie es ab, versiegeln Sie es, und morgen werden wir weiter» sehen. Sie selbst bleiben hier und behalten sich einen unserer Foto» grafen da. Die anderen können zu» rückfahren. Sagen Sie Stebbins, er soll mir diese Frau da hereinschik» ken - diese Mrs. Irwin.« »Orwin, Sir.«

»Moment mal!« protestierte ich so» fort wie von der Tarantel gesto» chen. »Sie wollen das Büro versie» geln?« »Allerdings«, schnaubte Rowcliff mich an. »Das meint er doch wohl nicht im Ernst?« wandte ich mich mit Nach» druck an Cramer, gar nicht erst an diesen lausigen Leutnant. »Wir ar= beiten dort drinnen! Wir leben dort drinnen! All unsere Sachen sind dort drinnen!« »Los, machen Sie schon, Leutnant«,

befahl Cramer, und Rowcliff machte auf den Hacken kehrt und mar» schierte ab. Jetzt reichte es mir aber; mir kam die Galle hoch, und ich hatte den für solche Fälle entsprechenden Wortschatz auf Lager, aber ich wußte, daß ich von diesem Wort» schätz keinesfalls Gebrauch ma= chen durfte. Dies war mit meilen» weitem Abstand die saftigste Un= Verschämtheit, die Cramer sich in unserem Haus jemals erlaubt hatte. Jetzt lag es an Wolfe, ob er sich das so ohne weiteres bieten lassen würde. Verstohlen blickte ich zu ihm hinüber. Er war vor Wut kreidebleich im Gesicht und hatte die Lippen so fest aufeinanderge» preßt, daß von den Lippen über» haupt nichts mehr zu sehen war. »Routinesache«, sagte Cramer barsch und aggressiv. »Das ist eine glatte Lüge«, ent» gegnete Wolfe mit eisiger Stimme. »Es ist weder eine Routinesache noch bestehen für Sie diesbezüg» lieh irgendwelche Vorschriften.« »Es ist mein Routineverfahren, wie ich bei derartigen Fällen stets vor» gehe. Ihres ist nicht irgendein x=be= liebiges Büro wie hunderttausend andere. In dem Raum da drinnen sind mehr knifflige und halb» koschere Tricks ausgekocht worden als sonstwo in New York und Um»

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gebung. Wenn jetzt da drinnen eine Frau ermordet wird, kurz nach= dem sie des langen und breiten mit Mr. Goodwin verhandelt und ihm ihr Herz ausgeschüttet hat, und wenn wir als Beweis dafür nichts weiter haben als das, was er be= hauptet, dann sage und erkläre ich, es ist sogar noch mehr als eine Routinesache.«

Wolfe schob seinen Dickschädel einen Zoll weit nach vorn und sein Kinn um mindestens noch einen Zoll weiter vor. »Nein, Mr. Cra» mer, ich werde Ihnen genau sagen, was das ist. Es ist die heimtücki» sehe und zugleich lächerliche Rache eines bornierten und beschränkten Gemüts simpelster Natur, das vor heimlichem Groll oder was weiß ich sonst noch allem überquillt. Es ist der geradezu kindische Neid eines geistig Mittelbeschränkten, der sich in seiner kindlichen Beschränktheit schon allzuoft zu Unrecht belei= digt und gekränkt fühlte. Es sind die letzten hilflosen Zuckungen e ines . . .«

Die Tür wurde von draußen auf= gemacht, um Mrs. Orwin hereinzu= lassen. Mit Mrs. Carlisle war ihr Mann mitgekommen; bei Mrs. Or= win war es der Sohn. Sein Aus» sehen und sein ganzes Gehabe hat» ten sich derart verändert, daß ich ihn kaum wiedererkannte. Droben

im Dachgarten war sein Tonfall mindestens ebenso widerlich ge» wesen wie sein Gesicht. Jetzt hin» gegen klimperte er vor Ubereifer und Höflichkeit mit seinen Schweinsäugelchen und gab sich die denkbar größte Mühe, einen offenherzigen und freundlichen Eindruck zu erwecken. Er beugte sich über den Tisch hin» über und streckte Cramer die Hand entgegen. »Inspektor Cramer? Ich habe schon so oft von Ihnen ge» hört und gelesen! Mein Name ist Eugene Orwin.« Er blinzelte nach rechts herüber. »Ich habe ja bereits das Vergnügen gehabt, Mr. Wolfe und Mr. Goodwin kennenzulernen - allerdings vorher, ehe diese scheußliche Sache passiert ist. Und in der Tat, sie ist doch tatsächlich scheußlich.«

»Allerdings«, bestätigte ihm Cra» mer. »Setzen Sie sich.« »Ja, sofort, einen kleinen Moment noch, wenn ich bitten darf. Im Ste= hen fällt es mir nämlich leichter zu sprechen als im Sitzen. Im Namen meiner Mutter und für mich selbst möchte ich nämlich eine Erklärung abgeben, und ich hoffe, daß Sie es mir gestatten. Nebenbei gesagt, ich bin von Beruf Anwalt. Meine Mut» ter fühlt sich nicht gut; auf Verlan» gen Ihrer Leute ist sie in jenen Raum dort hineingegangen, um

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die Leiche von Miss Brown zu iden­tifizieren, und das hat ihr einen beträchtlichen Schock versetzt, und wir werden jetzt schon fast zwei Stunden hier festgehalten.« Das Erscheinungsbild seiner Mut­ter unterstützte seine Behauptung allerdings nur zu deutlich. Den Kopf in die Hand gestützt und mit geschlossenen Augen saß sie halb in sich zusammengesunken da; im Gegensatz zu ihrem Sohn schien es ihr völlig gleichgültig zu sein, wel­chen Eindruck sie auf den Inspek­tor machte.

»Mit einer Aussage Ihrerseits bin ich selbstverständlich einverstan­den«, erklärte ihm Cramer, »sofern sie sich auf diesen Fall hier be­zieht.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, bestätigte Gene und nickte. »Die Leute haben im allgemeinen so völ­lig falsche Vorstellungen über die polizeilichen Arbeitsmethoden! Selbstverständlich wissen Sie wohl inzwischen, daß Miss Brown heute als Gast meiner Mutter mit hier­hergekommen ist, und daher mag es der Fall sein, daß Sie zu dem Schluß gekommen sind, daß meine Mutter sie gekannt hat oder gar mit ihr befreundet gewesen ist. In Wirklichkeit trifft das jedoch durch­aus nicht zu.« »Fahren Sie fort.«

Gene blinzelte zu dem mit gezück­tem Stenogrammblock dasitzenden Detektiv hinüber. »Falls das hier als meine Aussage zu dem Fall gleich offiziell aufgenommen wird, möchte ich meine Erklärungen da­mit beginnen, wie es eigentlich zu dieser Bekanntschaft gekommen ist - selbstverständlich nur, wenn Ihnen diese scheinbare Weitschwei­figkeit recht ist.« »Durchaus - also?« »Die Tatsachen verhalten sich fol­gendermaßen: Im Januar hielt sich meine Mutter in Florida auf. In Flo­rida lernt man alle möglichen Leute kennen. Und so machte meine Mut­ter unter anderem auch die Be­kanntschaft eines Mannes, der sich Colonel Percy Brown nannte - ein britischer Reserve-Colonel, wie er von sich behauptete. Später stellte er ihr dann seine Schwester Cyn­thia vor. Meine Mutter ist mit den beiden sehr häufig zusammenge­wesen; sie hatte sich den beiden, wie man so sagt, gewissermaßen angeschlossen. Mein Vater ist ver­storben, und er hat ihr seinen ge­samten Besitz, einen nicht gerade kleinen Besitz, und ein Anwesen von beträchtlichem Wert, als Alleinerbin hinterlassen, so daß sie von sich aus völlig selbständig und allein darüber verfügen kann. Sie lieh diesem Colonel Brown da»

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mals etwas Geld, zwar nicht allzu« viel - aber das war von ihm an« scheinend nur als Auftakt ge« dacht.«

Mrs. Orwin riß ihren bis dahin resigniert in die Hand gestützten Kopf hoch. »Es handelte sich ledig« lieh um fünftausend Dollar, und ich hatte ihm sonst weiter nichts zu« gesagt oder versprochen«, sagte sie mit müder Stimme. »Schon gut, Mutter.« Gene tat« schelte ihr die Schulter. »Vor einer Woche kehrte sie nach New York zurück, und die beiden kamen mit ihr. Als ich ihn das erste Mal ken« nenlernte, hielt ich die beiden auf Anhieb für Betrüger. Sie ließen sich nicht gerade offenherzig über ihre verwandtschaftlichen Verhält« nisse aus, aber was ich dennoch von ihnen und von Mutter, vor allem allerdings von Mutter, er« fuhr, veranlaßte mich, über sie Er« kundigungen einzuziehen, und so telegrafierte ich nach London. Sams« tag traf die Antwort ein und heute morgen dann eine zweite, und diese beiden telegrafischen Antworten bestätigen meinen Verdacht voll« auf, doch sie reichten bei weitem nicht aus, um auch meine Mutter bezüglich dieses von mir gehegten Verdachtes zu überzeugen. Wenn ihr irgendwelche Leute rein äußer« lieh gefallen, ist sie recht wider«

borstig und läßt sich von ihrer vor« gefaßten Meinung einfach nicht mehr abbringen. Ich überlegte mir nun, was ich als nächsten Schritt unternehmen sollte. Inzwischen dachte ich mir, würde es wohl das beste sein, sie mit den beiden, wenn irgendmög« lieh niemals allein beisammen sein zu lassen. Das ist auch der Grund, warum ich mit ihnen heute hierher« gekommen bin. Meine Mutter ist Mitglied des Manhattaner Blumen« Clubs; ich selbst hingegen darf mich wohl kaum als das bezeich« nen, was man im allgemeinen einen Blumenliebhaber nennt...« Mit einer bezeichnenden Geste drehte er die Handflächen nach oben. »Deswegen also bin ich heute mit hierhergekommen. Meine Mut« ter hingegen kam her, um sich die Orchideen anzusehen, und sie hatte Brown und dessen Schwester nur deshalb mit dazu eingeladen, sie zu begleiten, weil sie eben von Na« tur aus zu gutherzig und allzu ver« trauensselig ist. In Wirklichkeit weiß sie jedoch so gut wie gar nichts über die beiden.« Er stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich noch ein wenig wei» ter zu Cramer herüber. »Ich möchte Ihnen gegenüber ganz offen sein, Inspektor. So wie die Dinge nun einmal liegen, vermag ich nicht ein«

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zusehen, daß es der Sache in irgendeiner Weise dienlich wäre, wenn es öffentlich bekannt würde, daß diese Frau mit meiner Mutter zusammen hierhergekommen ist. Ich möchte ausdrücklich betonen, daß wir uns nicht etwa unseren staatsbürgerlichen Pflichten ent= ziehen wollen. Aber welchen Nut-zen würde es schon haben, wenn der Name meiner Mutter in den Schlagzeilen der Zeitungen auf= taucht?«

»Ich bin nicht im mindesten daran interessiert, ob und welche Namen in den Schlagzeilen auftauchen«, erklärte ihm Cramer. »Aber schließ-lieh bin ich nicht Zeitungsverleger, und wenn irgendwelche Zeitungs-Verleger die Namen bereits spitz-gekriegt haben, kann ich sie nicht daran hindern, sie in Fettdruck oder gar als Schlagzeilen auf den Titelseiten abzudrucken. Im übri­gen danke ich Ihnen jedoch, daß Sie so offen zu mir gesprochen ha­ben. Sie selbst haben diese Miss Brown also erst vor einer Woche kennengelernt?«

Cramer hatte an die beiden noch eine ganze Reihe von Fragen in Vorrat, sowohl an die Mutter wie an den Sohn, und während er dabei war, sie zwar gelinde, aber doch gründlich auszuquetschen, schob Wolfe mir einen Zettel hin, auf den

er in seiner lässigen Art gekritzelt hatte: >Sagen Sie Fritz, er soll für Sie und mich Sandwiches und Kaffee brin­gen. Ebenso für die Leute, die noch im vorderen Wohnzimmer festge­halten werden. Aber für niemand anderen, verstanden? Das heißt, natürlich auch für Saul und Theo­doren

Ich verließ das Zimmer, fand Fritz in der Küche vor, richtete ihm Wol­fes Anweisungen aus und kehrte in das >Verhörzimmer< zurück. Gene war dort immer noch so offen und bereitwillig in der Beantwor­tung von Cramers schier endloser Fragenkette, und auch Mrs. Orwin tat ihr möglichstes, obwohl es für sie offensichtlich beträchtliche An­strengungen bedeutete. Sie sagten, sie wären die ganze Zeit über bei­sammen gewesen, doch zufällig wußte ich, daß es sich nicht so ver­hielt, da ich die beiden während des Nachmittags zumindest zweimal durchaus nicht beisammen gesehen hatte, und Cramer wußte das eben­falls, da ich es ihm ja bereits ge­sagt hatte.

Sie machten noch eine ganze Menge andere Angaben, zum Beispiel, daß sie das Gewächshaus während der Zeit, da sie hergekommen waren und bis zu dem Zeitpunkt, da sie sich von Wolfe verabschiedet hat-

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ten, niemals auch nur für einen Augenblick verlassen hätten; daß sie dann noch länger dageblieben wären, bis die meisten übrigen ge= gangen waren, weil Mrs. Orwin hatte versuchen wollen, Wolfe da= hin zu bringen, daß er ihr einige von seinen Pflanzen verkaufte; daß Colonel Brown sich ein oder zwei= mal von ihnen getrennt hatte und seine eigenen Wege gegangen war; daß sie sich wegen Cynthias Ab= Wesenheit weiter keine Gedanken gemacht hat ten , nachdem Colonel Brown und ich sie in dieser Hin= sieht beruhigt hatten, und so fort. Ehe sie dann gingen, machte Gene noch einen weiteren Versuch, in Cramer zu dringen, den Namen seiner Mutter wenn möglich aus den Zeitungen herauszuhalten, und Cramer versprach ihm, er würde diesbezüglich sein Bestes tun. Inzwischen hatte Fritz für Wolfe und mich hoch mit Sandwiches be= ladene Teller hereingebracht, und w i r beide stopften von dem, was Fritz uns aufgetischt hatte, ganz gehörige Brocken in uns hinein. Während der Schweigepause, die dem Fortgehen von Mrs. Orwin folgte, konnte man Wolfe deutlich an einem der garnierten Sand= Wiehes herumschmatzen hören. Cramer saß da und beobachtete uns mit gerunzelter Stirn. Dann

gab er das Stirnrunzeln endlich auf und wandte sich an Levy. »Levy, holen Sie mir jetzt diesen Colonel Brown herein!« »Ja, Sir. Übrigens, jener Mann, den Sie herbeigeschafft haben wollten, dieser Vedder, steht draußen in der Vorhalle.« »Dann will ich zuerst lieber den an die Reihe nehmen.«

Oben im Umpflanzraum war mir Malcolm Vedder durch die Art und Weise ins Auge gefallen, wie erden Blumentopf aufgehoben und um= klammert hatte. Als er sich jetzt an dem Eßzimmertisch Cramer und mir gegenübersetzte, hielt ich es immer noch für höchst lohnens= wert, ihn scharf unter die Lupe zu nehmen. Doch bereits nach sei= ner Antwort auf Cramers dritte Frage schwand mein voreilig gegen ihn gehegtes Mißtrauen dahin wie Eis an der Sonne, und ich wid= mete mich wieder ganz meinen Sandwiches. Er war Schauspieler und war bereits in drei Broadway« Stücken aufgetreten. Das gab der Sache natürlich ein ganz anderes Gesicht und eine andere Erklärung. Kein Schauspieler würde in ganz normaler Weise lässig und noncha= lant einen Blumentopf aufheben, so wie ich oder sonst ein gewöhn» licher Sterblicher es getan hätte. Er

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würde es immer schauspielerisch zu dramatisieren versuchen, und Ved= der hatte dieses Dramatisieren aus= gerechnet so gemacht, daß es für mich ausgesehen hatte, als würden sich seine Finger fest um eine Kehle krallen.

Auch jetzt konnte er nicht davon ablassen, die Sache zu dramatisie* ren, indem er sich höchst theatra» lisch und entrüstet gebärdete. »Typisch!« erklärte er Cramer mit blitzenden Augen und leicht heise= rer, vibrierender Stimme. »Gerade» zu typisch für die vertrottelten Po= lizeimethoden! Ausgerechnet mich in diese Sache mit hineinzuzie» hen!«

»Yeah!« bemerkte Cramer mit einer gehörigen Dosis von Zynis= mus, weil ihm dieses theatralische Gehabe anscheinend auf die Ner= ven ging. »Für einen Schauspieler würde es ja geradezu eine Kata= Strophe bedeuten, wenn sein Foto auf den Titelseiten der Zeitungen erscheint. Sind Sie Mitglied dieses Manhattaner Blumen=Clubs?« Nein, erklärte Vedder, das wäre er nicht. Er wäre zusammen mit einer guten Bekannten, einer gewissen Mrs. Beauchamp, hergekommen, und als sie ihn dann wegen einer anderweitigen Verabredung allein« gelassen hätte, da wäre er noch eine gute Weile länger dageblieben, um

sich in Ruhe all die ihn faszinie= renden Orchideen anzusehen. Etwa gegen halb drei waren sie zusam= men hergekommen, und später, als sie ihn alleingelassen hatte, hätte er sich, bis er dann schließlich ge= gangen sei, ständig in dem Um= pflanzraum aufgehalten. Cramer ging mit ihm eine ganze stereotype Liste von Fragen durch, und auf all diese Fragen erhielt er prompt die entsprechenden nega= tiven Antworten, bis er ihn plötz= lieh fragte: »Haben Sie diese Doris Hatton gekannt?« Vedder legte die Stirn in theatrali= sehe Falten. »Wen?« »Doris Hatton. Sie wurde eben= falls - «

»Aha!« rief Vedder aus. »Sie wurde ebenfalls erwürgt. Jetzt erinnereich mich!« »Allerdings.« Vedder ballte seine bisher flach auf den Tisch gestützten Hände zuFäu= sten und beugte sich vor. »Wissen Sie«, sagte er sehr erregt. »Das ist das Gemeinste, was man überhaupt tun kann - jemanden zu erwürgen, vor allem eine Frau.« »Haben Sie diese Doris Hatton nun gekannt oder nicht?« »Erinnert mich sofort an Othello«, sagte Vedder mit tiefer, klingen» der Stimme. Er hob den Kopf, blickte Cramer voll ins Gesicht, und

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gleichzeitig hob er pathetisch seine Stimme: »Nein, ich habe sie nicht gekannt; ich habe nur von ihr in den Zeitungen gelesen.« Es schüt« telte ihn durch und durch, dann plötzlich, wie von einer Nadel ge» stochen, fuhr er von seinem Stuhl hoch. »Ich bin doch nur hergekom­men, um mir Orchideen anzu» schauen!« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, machte auf den Hacken kehrt und ging stracks auf die Tür zu, die aus dem Speisezimmer hin» ausführte. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Levy zu Cramer hinüber, aber Cramer schüttelte den Kopf. Der nächste, der an die Reihe kam, war Bill McNab, der gartenarchi» tektonische Mitarbeiter der Ga= zette.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich dies alles bedauere, Mr. Wolfe«, sagte er mit klag» lieber Stimme. »Machen Sie sich erst gar nicht die Mühe«, knurrte Wolfe. »Entsetzlich, ganz einfach entsetz» lieh! Nicht im Traum hätte ich mir einfallen lassen, daß etwas Derarti» ges hätte passieren können - aus­gerechnet beim Manhattan Flower Club! Zwar war die Tote keins unserer Mitglieder, aber das macht die Sache in gewisser Hinsicht nur

noch schlimmer.« McNab wandte sich Cramer zu. »Und ich allein bin für all dies verantwortlich.« »Sind Sie das?«

»Natürlich, das Ganze war doch meine Idee. Ich bin es gewesen, der Mr. Wolfe dazu animiert hat, das alles zu arrangieren. Er überließ es mir sogar, den Text der Einladungs» karten zu formulieren und sie an die verschiedenen Mitglieder zu verschicken. Und im stillen gratu» lierte ich mir schon im voraus, was für ein großes gesellschaftliches Er» eignis das für unseren Club bedeu» ten würde! Und nun dies! Was soll ich nur tun?«

»Setzen Sie sich erst einmal eine Minute hin«, forderte Cramer ihn auf. Zumindest in einem Detail hob sich die Aussage McNabs von der Monotonie der Aussagen der übri» gen Personen ab. Er gab zu, daß er das Gewächshaus oben auf dem Dach im Verlauf des Nachmittags dreimal verlassen hatte. Das eine Mal, um einen sich verabschieden» den Gast in das Parterre hinunter» zubegleiten, und zweimal, um hin» unterzugehen und anhand der ab­gehakten Liste festzustellen, wer nun eigentlich gekommen war unc wer nicht. Ansonsten war aus ih'e nicht mehr herauszubekommen in aus den übrigen auch. Inzwischen

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begann es langsam so auszusehen, als ob es nicht nur nutzlos, sondern geradezu töricht wäre, noch irgend-welche Zeit auf die sieben oder acht Leute zu verschwenden, lediglich weil sie die letzten gewesen waren, die das Haus hatten verlassen wol» len, und so sofort zur Hand wa= ren. Ganz abgesehen davon war es vom rein kriminaltechnischen Standpunkt aus für mich etwas Neues. Noch niemals hatte ich er= lebt, daß die Aussagen von acht verschiedenen Leuten einander gli= chen wie ein Ei dem anderen. Sogar jedem Anfänger=Detektiv bei irgendeinem Polizeirevier wird zunächst einmal eingetrichtert, daß die Fragen, die man an einen Tat= verdächtigen richtet, auf eines von drei Zielen gerichtet sein müssen: Tatmotiv, Mittel, mittels derer die Tat überhaupt ausgeführt werden konnte, und ganz allgemein dieGe» legenheit dazu. In diesem Fall hier gab es nun überhaupt keine Fra= gen, weil die Antworten darauf be= reits feststanden und sich von selbst ergaben. Motiv: Der Täter war Miss Brown, nachdem er ge= wahr geworden war, daß sie ihn erkannt hatte, die Treppe hinunter efolgt, hatte sie Wolfes Büro be=

a*ten sehen und sich im stillen ge» 8 er das ausgerechnet, was sie auch 8 uklich vorgehabt hatte, nämlich

die ganze Sache Wolfe zu unter» breiten, und hatte beschlossen, dies auf die schnellste und sicherste Art zu verhindern, die ihm eingefallen war. Das Mittel, mit dem die Tat ausgeführt wurde: Irgendein Stück Tuch, vielleicht sogar sein eigenes Taschentuch, würde dazu genügt haben. Gelegenheit: Er selbst war dort - aber auch die anderen auf Sauls Liste waren dort gewesen. Also blieb, wenn man herausfinden wollte, wer Cynthia Brown erwürgt hatte, gar nichts anderes übrig, als herauszufinden, wer Doris Hatton erwürgt hatte.

Sobald Bill McNab abgefertigt und nach Hause geschickt worden war, wurde Colonel Percy Brown her= eingebracht. Brown merkte man sofort an, daß er sich in seiner Haut nicht sonderlich wohl fühlte, aber dennoch hatte er sich vollkommen in der Gewalt und wußte nur zu genau, was er sagen durfte, und ebenso, welchen für ihn heiklen Fragen er ausweichen, sie als ge= fährliche Klippen umschiffen und wie er am besten um sie herum» reden mußte, ohne sich das mindeste zu vergeben. Man würde ihn nie» mals für einen ehemaligen Straf» ling gehalten haben, nicht einmal im Traum. Rein äußerlich war seine Mundpartie selbst für einen Mann ein wenig hart und streng ge»

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schnitten, jedoch keineswegs ir= gendwie unsympathisch, und eben» sowenig ließ sich gegen sein etwas kantig und herb ausgeprägtes männliches Kinn sagen. Als er sich dann setzte, richtete er seine hell» wachen klaren grauen Augen völlig ungeniert, ja geradezu ein wenig lässig auf Cramer, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Wolfe und mich schien er überhaupt nicht zu beachten, geradeso, als ob wir nicht vorhanden wären. Er sagte, sein Name sei Colonel Percy Brown, und Cramer fragte ihn, bei welcher Armee welchen Staates er denn eigentlich Colonel sei. »Ich glaube«, erklärte Brown mit kühler, gleichgültiger, gleichmäßi» ger Stimme, »daß ich Ihnen eine Menge überflüssiger Fragen er» spare, wenn ich Ihnen von vorn= herein ganz klar meine Einstellung darlege: Ich werde Ihnen offen und freimütig jede Frage bezüglich dessen beantworten, was ich hier heute nachmittag, seit ich herge= kommen bin, gesehen, gehört oder getan habe. Alle sich auf andere Dinge beziehenden Fragen werde ich hingegen zurückstellen, bis ich mich mit meinem Anwalt beraten habe.«

Cramer nickte. »Das hatte ich auch nicht anders erwartet. Die Schwie» rigkeit liegt nur darin - dessen bin

ich mir ziemlich sicher -, daß es mich herzlich wenig kümmern wird, was Sie heute nachmittag hier gesehen oder gehört haben. Aber darauf kommen wir später noch zurück. Sie werden gleich er= leben, daß ich Ihnen allerhand vor die Nase setzen werde, was Ihnen ein wenig durch Mark und Bein fahren wird. Wie Sie sehen, bin ich nicht einmal daran interessiert zu wissen, warum Sie nahezu mit Ge= walt hier aus dem Haus ausbra= chen, noch ehe wir, die Polizei, hier eintrafen.«

»Ich wollte lediglich zu einer Te= lefonzelle, um einen dringenden A n r u f . . . « »Ihren dringenden Telefonanruf müssen Sie schon jemand anderem weismachen. Nach meinen bisheri» gen Informationen verhält sich die Sache wie folgt: Diese Frau, die sich Cynthia Brown nannte und heute hier ermordet wurde, war keines» wegs Ihre Schwester. Sie hatten sie vor sechs oder acht Wochen in Flo» rida kennengelernt. Sie taten sich mit ihr zu einem kriminell ange» hauchten Unternehmen zusammen, als dessen finanzielles Opfer Mrs. Orwin vorgesehen war, und Sie stellten sie Mrs. Orwin als Ihre Schwester vor. Vor einer Woche kamen Sie beide mit Mrs. Orwin nach New York, um Ihren Plan

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munter weiterzuverfolgen und in die Tat umzusetzen. Soweit mich das betrifft, bildet all dieses nur den Hintergrund; sonst bin ich nicht weiter daran interessiert. Meine Tätigkeit beschränkt sich auf die Aufklärung von Mord= fällen.

Für mich ist daran das Wesent= liehe«, fuhr Cramer fort, »daß Sie für eine ganze Zeitspanne mit die» ser Miss Brown verbunden ge» wesen sind und unter einer Decke gesteckt haben, weil Ihr Plan be= züglich Mrs. Orwin ja gewisser» maßen auf vollen Touren lief. Da» her müssen Sie zwangsläufig mit Miss Brown ausgiebige und in» time Gespräche geführt haben. Sie lebten ja mit ihr als Ihrer Schwe» ster zusammen, obwohl sie das gar nicht war, und jetzt ist sie ermordet worden. Allein schon wegen die» ses eingeleiteten Betrugsmanövers können wir Ihnen verflixt die Hölle heiß machen.

Aber zunächst einmal will ich Ihnen eine Chance geben«, fuhr Cramer fort. »Zwei Monate lang haben Sie mit dieser Cynthia Brown auf ver» trautestem Fuße gestanden. Ganz sicher hat sie Ihnen gegenüber im Verlauf dieser Zeit unter anderem auch erwähnt, daß sie eine Freun» din namens Doris Hatton hatte, die im vergangenen Oktober ermordet

- erwürgt - wurde. Cynthia Brown war im Besitz von Informationen über diesen Mörder, die sie jedoch für sich behielt. Hätte sie nicht in geradezu sträflicher Weise Still» schweigen darüber bewahrt, so wäre sie jetzt noch am Leben. Mit Ihnen hingegen muß sie sich doch zwangsläufig über die ganze Sache gründlich ausgesprochen haben. Und nun können Sie mir erzählen, was sie Ihnen damals alles gesagt hat. Falls Sie das tun, können wir den Mörder für das festnageln, was er hier heute angerichtet hat, und gegebenenfalls können wir bei der Sache, die Sie hier vor Gericht er» wartet, ein wenig den Weg ebnen oder vielleicht sogar ein Auge zu» drücken. Also wie ist es?« Brown biß sich vor Verlegenheit zunächst einmal ausgiebig auf die Lippen, und dann langte er mit der Hand herauf und kratzte sich die Backe. »Tut mir schrecklich leid, aber diesbezüglich kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen.« »Erwarten Sie etwa von mir, ich soll Ihnen glauben, daß sie wäh» rend all dieser Wochen in Florida niemals auch nur mit einem Ster» benswörtchen den Mord an Ihrer Freundin Doris Hatton erwähnt hat?«

»Tut mir leid; ich sagte doch be» reits, ich kann Ihnen da in keiner

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Weise behilflich sein.« Der nach= drückliche Ton, mit dem Brown dies ausdrückte, besagte, daß dies

seine letzte und endgültige Fest» Stellung war.

»Nun gut«, sagte Cramer, »gehen wir dann also zu heute nachmittag über. Können Sie sich an den Augenblick erinnern, als irgend etwas in Cynthia Browns Verhal= ten - irgendeine Bewegung, die sie machte, oder ein plötzlicher Wech= sei im Ausdruck ihres Gesichts-Mrs. Orwin veranlaßte, sie zu fra= gen, was mit ihr los sei?« Auf Browns Stirn erschien eine tiefe, nachdenkliche Falte. »Tut mir leid; ich fürchte, nicht«, konsta» tierte er.

»Sie sollten sich erst einmal gründ» lieh zu erinnern versuchen, sehr, sehr gründlich.« Schweigen. Wiederum biß Brown sich auf die Lippen, und die nach= denkliche Falte auf seiner Stirn ver= tiefte sich noch mehr. »Vielleicht bin ich gerade in diesem Augen» blick nicht in ihrer Nähe gewesen«, sagte er schließlich. »In den engen Durchgängen dort oben im Dach» garten und bei dem dort herrschen» den Gedränge wurde man ja stän= dig hin» und hergeschoben und mußte immer auf der Hut sein, nie» mand anderem auf die Zehen zu treten.«

»Können Sie sich daran erinnern, daß sie sich entschuldigte und für einen Augenblick fortgehen wollte, weil sie sich angeblich nicht wohl fühlte?« »Selbstverständlich.« »Nun, dieser gewisse Augenblick, nach dem ich Sie vorhin fragte, muß ganz kurz davor gelegen ha» ben. Sie hat mit irgendeinem dort ganz in der Nähe stehenden Mann Blicke getauscht, und ihre Reak» tion darauf war es, die Mrs. Orwin veranlaßte, sie zu fragen, was mit ihr los sei. Woran ich im besonde» ren interessiert bin, das ist das Aus» tauschen dieser Blicke.« »Ich habe nichts dergleichen be= merkt.«

Cramer knallte die geballte Faust so heftig auf die Tischplatte, daß die Kaffeetassen klirrten. »Levy! Schaffen Sie ihn hier raus und sagen Sie Stebbins, er soll ihn mit» nehmen und hinter Schloß und Rie» gel setzen. Vermutliche Mittäter» schaff. Setzen Sie noch mehr Leute auf ihn an; ganz sicher ist er irgend» wie vorbestraft, und demnach muß irgendwo auch eine Strafakte über ihn vorliegen. Schaffen Sie mir diese Strafakte her!« Als sich hinter den beiden die Tür geschlossen hatte, wandte sich Cra» mer an den mit gezücktem Steno» grammblock am Eßtisch sitzenden

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zweiten seiner Detektive. »Packen Sie Ihren Krimskrams zusammen, Murphy. Wir gehen.« Levy kam wieder ins Zimmer zu= rück, und Cramer drehte sich zu ihm um. »Wir sind hier fertig und gehen«, wiederholte er. »Sagen Sie Stebbins, es genügt, wenn wir einen Mann vor der Haustür po= stieren - halt, nein, ich sage es ihm lieber selbst . . .«

»Sir, da draußen im vorderen Wohnzimmer wartet immer noch einer. Sein Name ist Nicholson Morleigh. Er ist von Beruf Psych= iater.«

»Lassen Sie ihn laufen. Das alles hier entwickelt sich langsam zu einem Zirkus.« Cramer blickte zu Wolfe hinüber. Wolfe erwiderte den Blick kühl und ausdruckslos. »Vor einer Weile sagten Sie«, krächzte Cramer mit seiner rauhen Stimme, »Ihnen sei irgend etwas aufgefallen.« »So, habe ich das gesagt?« be= merkte Wolfe lässig und kühl. Es schien, als wollten sich die bei= den gegenseitig mit den Blicken durchbohren, bis Cramer nicht mehr länger standhielt und sich abwandte. Ich verspürte das drin= gende Bedürfnis, die beiden Dick= schädel zu packen und sie recht kräftig gegeneinanderzurammen.

Die beiden führten sich geradezu kindisch auf. Falls Wolfe wirklich etwas auf Lager hatte, und sei es auch nur ein winziger Hinweis, der Cramer entgangen war, dann hätte sich Cramer zweifellos mit Freuden dazu bequemt, das Siegel von der Bürotür wieder entfernen zu lassen. Und Cramer war sich ohne Zweifel auch bewußt, daß er sich bei einem derartigen Handel nicht das min= deste vergeben hätte. Aber die bei= den waren zu böse aufeinander und zu starrköpfig, als daß sie geson= nen waren, ihren gesunden Men= schenverstand walten zu lassen. Cramer kurvte auf dem Weg zur Tür um das untere Ende des Eß= zimmertisches herum, als Levy noch einmal ins Zimmer herein« kam. »Dieser Mann da, dieser Ni= cholson Morleigh, besteht darauf, mit Ihnen zu sprechen. Er sagt, es sei von lebenswichtiger Bedeutung.« Cramer blieb stehen und starrte Levy mürrisch an. »Was ist das für ein Kerl, einer von diesen ver= drehten Querköpfen?« »Das kann ich nicht sagen, Sir. Es mag schon sein.«

»Na schön, bringen Sie ihn her= ein.« Es war dies das erste Mal, daß ich diesen Mann in mittleren Jahren mit seinem wirren schwarzen Haar= schöpf gründlich in Augenschein

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nehmen konnte. Und seine allzu lebendig flackernden Augen waren genauso tief schwarz wie sein Haar= schöpf. Cramer nickte ihm ungeduldig zu. »Sie haben mir irgendwas zu sa= gen, Dr. Morleigh?« »Das habe ich allerdings. Und zwar etwas von entscheidender Be= deutung.« »Also dann heraus damit.« Zunächst einmal machte es sich Morleigh jedoch in einem der her= umstehenden Sessel bequem. »Also erstens - ich gehe von der Tatsache aus, daß bisher noch keine Verhaf= tung vorgenommen worden ist. Entspricht das den Tatsachen?« »Ja - sofern Sie damit eine Verhaf» tung wegen Mordanklage mei= nen.«

»Haben Sie bereits definitiv jeman= den in Verdacht, sei es nun mit oder ohne substantielle Verdachts« gründe?« »Falls Sie damit meinen, ob ich Ihnen bereits den Namen des Mör» ders nennen kann - nein. Oder Sie vielleicht?« »Ich glaube durchaus, daß ich das könnte.« Cramer schob sein kantiges Kinn vor. »Also dann - rücken Sie her= aus damit! Ich bin der Mann, der diesen ganzen Fall hier unter sich hat.«

Dr. Morleigh lächelte. »Nicht ganz so übereilig, wenn ich bitten darf. Die diesbezügliche Vermutung, die ich Ihnen zu bieten vermag, basiert lediglich auf ganz bestimmten Vor= aussetzungen.« Er tippte mit der Spitze seines rechten Zeigefingers auf die Spitze seines linken Ring= fingers. »Erstens: Daß Sie keiner» lei Ahnung haben, wer diesen Mord begangen haben könnte, und an= scheinend haben Sie keinerlei Ah» nung.« Er ging mit seiner Zeige» fingerspitze zum nächsten Finger seiner linken Hand über. »Zwei» tens: Daß es sich hier nicht um einen üblichen Mord mit einem auf üb» lichem Wege zu entdeckenden Mo» tiv handelt.« Er ging zum Mittel­finger über. »Drittens: Daß Ihnen nichts bekannt ist, was die Hypo» these diskreditiert, daß dieses Mäd» chen von demselben Mann erwürgt wurde, der seinerzeit Doris Hatton erwürgte... darf ich diese Ver» mutungen als den Tatsachen ent» sprechende Voraussetzungen zur weiteren Entwicklung meiner These betrachten?«

»Sie können es ja mal versuchen. Aber warum wollen Sie das eigent» lieh? Das alles ist doch unsere An» gelegenheit.« Morleigh schüttelte ungeduldig seinen Kopf mit dem wirren Haar» schöpf. »Nicht, daß ich es unbe»

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dingt will und mich in Ihre An= gelegenheiten mischen möchte. Dennoch möchte ich, sofern Sie ge= statten, eine ganz bestimmte Hypo= these aufstellen. Zunächst jedoch möchte ich ausdrücklich betonen, daß ich der Polizei mit ihren Ermitt= lungsmethoden innerhalb der ihr gesetzten Grenzen vollauf die allei= nige Kompetenz einräume und diese Kompetenz in jeder Hinsicht respektiere. Falls der Mann, der Doris Hatton ermordete, innerhalb dieses polizeilichen Kompetenz» bereiches fallen sollte und mit den polizeilichen technischen Unter» suchungs» und Ermittlungsmetho» den zu erfassen wäre, würde er in» zwischen wohl zweifellos bereits gefaßt worden sein. Dies trifft je» doch nicht zu. Die polizeilichen Me= thoden versagten, ja, sie mußten versagen. Und warum? Eben weil er außerhalb des polizei» liehen Kompetenzbereiches liegt. Weil Ihre Ermittlungsmethoden, die zwangsläufig auf der Suche nach dem Motiv basieren, in diesem Sonderfall nicht anwendbar sind.« Morleighs schwarze Augen glitzer» ten vor Eifer. »Sie sind Laie, und daher werde ich nicht die an sich zutreffenden Fachausdrücke ver» wenden. Die stärksten Motive, die es auf Erden überhaupt gibt, liegen stets innerhalb der seelischen Struk»

tur des jeweiligen Täters und sind mit rein polizeilichen Methoden daher nicht zu ermitteln. Wenn diese psychische Struktur verwor» ren ist, wie zum Beispiel bei einem Psychotiker, dann sind also zwangs» läufig auch die Motive verworren. Als Psychiater war ich in höchstem Maße daran interessiert, was an Be= richten über den Mord an jener Doris Hatton in den Zeitungen veröffentlicht wurde - vor allem an dem Detail, daß sie mit ihrem eigenen Schal erwürgt worden war. Als all Ihre Bemühungen, den Schuldigen ausfindig zu machen, vollends im Sande verliefen, wäre ich nur allzugern schon damals mit meiner These an Sie herangetre» ten, aber leider war ich damals in dieser Hinsicht genauso hilflos wie Sie.«

»Kommen Sie jetzt endlich zu kon» kreten Tatsachen«, murmelte Cra» mer. »Gewiß, selbstverständlich.« Мог» leigh stützte die Ellenbogen auf den Eßzimmertisch, und jede Fin» gerspitze der rechten Hand be= rührte jetzt den entsprechenden Finger der anderen. »Gehen wir also zu dem über, was sich heute hier ereignet hat. Auf der Basis der Voraussetzungen, die ich anfangs ausführte, erscheint es als durchaus haltbare Theorie, die zumindest

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eine genaue Uberprüfung lohnen dürfte, daß der damalige Mörder und der Mann, der heute diesen Mord hier begangen hat, mitein» ander identisch sind. Sofern dieses zutrifft, handelt es sich nicht mehr um die Frage, ihn unter Tausenden oder gar vielleicht Millionen her= auszufinden; der in Frage kom= mende Kreis, innerhalb dessen der Täter zu suchen ist, beschränkt sich also nur auf etwa hundert Personen oder ein wenig mehr. Und ich bin gerne gewillt, Ihnen beim Heraus» finden des Täters unter diesen Hun= dert meine Dienste anzubieten.« Seine Augen glitzerten wie schwarze Glasmurmeln. »Ich gebe freimütig zu, daß dieses für einen Psychiater eine höchst seltene und günstige Gelegenheit darstellt. Nichts könnte ja wohl in dramati» scher Hinsicht zu überbieten sein, als eine Psychose auf Grund eines Mordes zu diagnostizieren. Sie brauchen gar nichts weiter zu tun, als daß Sie mir jeweils einzeln, ver= steht sich, in meine Praxis . . . « »Moment mal«, fuhr Cramer ihm dazwischen. »Wollen Sie mir etwa vorschlagen, ich soll jeden, der heute nachmittag hier im Hause war, zu Ihnen in Ihre Praxis schaf= fen, damit Sie ihn dort unter Ihr psychiatrisches Mikroskop nehmen oder sonstwie bearbeiten?«

»Nein, nicht jeden, nur die Männer. Wenn ich die der Reihe nach mit» tels der mir zur Verfügung stehen» den Testmethoden untersucht habe, werde ich Ihnen vielleicht nichts bieten können, was Sie vor Gericht als Beweismittel verwenden kön» nen, aber es besteht eine durchaus aussichtsreiche Chance, daß ich Ihnen dann sagen kann, wer der Würger . . .«

»Entschuldigen Sie mich jetzt«, sagte Cramer. Er war aufgestanden und war bereits auf halbem Wege zur Tür. »Tut mir leid, Doktor, daß ich mir die weitere Entwicklung Ihrer Theorie nicht mehr anhören kann, aber ich muß jetzt wieder zu meiner Dienststelle zurück. Ich fürchte, Ihr Vorschlag würde uns wohl kaum weiterbringen. Ge» gebenenf alls werde ich Ihnen jedoch entsprechenden Bescheid zukom» men lassen.«

Mit diesen Worten war er auch be= reits zur Tür hinaus verschwunden, und mit ihm Levy und Murphy. Dr. Morleigh legte den Kopf, wäh» rend er den dreien nachsah, wie ein gekränktes Huhn schief auf die Seite, beließ ihn dort eine Weile und stand dann ebenfalls auf, um, in seiner Berufsehre beleidigt, wortlos das Zimmer zu verlassen. »Zwanzig Minuten vor zehn«, ver» kündete ich.

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»Gehen Sie mal zu der Bürotür hin» über und sehen Sie dort nach«, murmelte Wolfe. »Das habe ich bereits getan, als ich eben Morleigh hinausließ. Das Sie» gel hängt immer noch dran. Male» fiz! Aber eigentlich ist dieses Zim» mer hier auch nicht gerade so un= gemütlich, als daß man sich nicht bequemer hinsetzen könnte«, sagte ich recht munter gelaunt. »Schämen Sie sich! Aber ich will Sie jetzt einmal etwas fragen.« »Schießen Sie los.« »Ich möchte dazu Ihre Meinung hören. Angenommen, wir nehmen die Geschichte, die Miss Brown Ihnen aufgetischt hat, mit gewissen Einschränkungen einmal als Tat» sache hin. Weiterhin angenom» men, daß der Mann, den sie oben im Gewächshaus wiedererkannte, auch wirklich gewahr wurde, daß er von ihr wiedererkannt worden war; daß er ihr die Treppen hin» unterfolgte und sie das Büro betre» ten sah; daß er sich im stillen aus» rechnete, sie hätte vorgehabt, mich zu konsultieren; daß er zunächst einmal davon Abstand nahm, ihr bis in das Büro zu folgen, entweder weil er wußte, daß Sie sich dort drinnen aufhielten, oder aus ir= gendeinem sonstigen Grund; daß er Sie dann herauskommen und die Treppe hinaufgehen sah; daß er die

Gelegenheit ausnutzte, unbeobach» tet das Büro zu betreten, unerwar» tetüber sie herzufallen, sie zu töten, und daß er dann, ebenfalls unbe» obachtet, wieder aus dem Büro ent» wischen und über die Treppe zu» rück zum Gewächshaus gelangen konnte.«

»Das könnte ich Ihnen bei meinem bescheidenen Verstand durchaus mit gutem Gewissen abnehmen.« »Also gut. Dann haben wir bereits sehr bezeichnende Hinweise auf seinen Charakter. Denken Sie ein» mal genau nach. Er hat sie umge» bracht, ist dann wieder hinaufge­gangen und hat genau gewußt, daß Sie sich mit ihr im Büro eine ganze Zeitlang unterhalten haben. Er würde dann doch unbedingt wis» sen wollen, was sie Ihnen erzählt hat, und wieviel. Hatte sie Ihnen gesagt oder beschrieben, in welcher Aufmachung er hier auftrat? So» lange er das nicht herausgefunden hatte-würde ein Mann dieses Cha» rakters, so wie ich ihn eben be= schrieben habe, würde er tatsäch» lieh das Haus verlassen haben? Oder würde er nicht lieber das Ri» siko, und mag es auch noch so groß sein, auf sich genommen haben, ab» zuwarten, bis die Leiche gefunden wurde, um zu sehen, was Sie dann machen würden? Und vor allem natürlich auch, nachdem Sie ja mit

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mir gesprochen haben, was ich dann machen und was die Polizei unter= nehmen würde?« »Yeah.« Ich nagte an meiner Lippe herum, und wir schwiegen beide, fast eine Minute lang. »So, auf die-ser Basis haben Sie sich die Sache also ausgetüftelt. Ich könnte Ihnen da sogar mit einer recht brauch-baren Vermutung aushelfen.« »Berechnungen sind mir lieber als Vermutungen. Und für Berechnun-gen braucht man einige Ausgangs-faktoren - die haben wir. Die Grundsituation haben wir soeben festgelegt, und wir wissen auch einiges über seinen Charakter.« »Okay«, gab ich nach, »dann ver­suchen wir also zu rechnen statt zu vermuten. Die Lösung, die für mich dabei herauskommt, würde lauten, daß er sich auf jeden Fall hier in der Nähe halten würde, bis die Leiche gefunden worden ist, und wenn er das getan hat, dann muß es einer von denen sein, die Cramer bereits verhört hat. So, das also war es, auf was Sie da gestoßen sind, eh?« »Nein, keineswegs. Das bezieht sich auf etwas ganz anderes. Die­ses hier ist lediglich eine versuchs­weise Berechnung, um einen Aus­gangspunkt zu haben. Und wenn diese Rechnung aufgeht-ob Sie's nun glauben oder nicht -, dann weiß ich, wer der Mörder ist.«

Ich schielte ihn ein wenig zweideu­tig aus den Augenwinkeln an. Mit­unter bin ich imstande zu sagen, ob er lediglich mit seiner krimina­listischen Genialität gehörig dick aufzutragen versucht, manchmal kann ich das aber auch nicht sagen. So wie die Dinge in diesem Falle lagen, entschied ich mich, ihm die Sache abzunehmen und mich auf seine kriminalistischen Berechnun­gen einzulassen.

»Höchst interessant«, sagte ich be­wundernd. »Falls Sie wünschen, daß ich ihn anrufe, muß ich aller­dings den Nebenanschluß in der Küche benutzen.« »Ich möchte zunächst erst einmal testen, ob meine Berechnung stimmt.«

»Nun ja, an Ihrer Stelle würde ich das auch tun.« »Die Sache bringt aber gewisse Schwierigkeiten mit sich. Den Test, den ich da vor Augen habe, und zwar der einzige, der mich wirklich befriedigen würde - die­sen Test können nur Sie machen. Wenn Sie sich ihm unterziehen, dann ist das mit erheblichen Risi­ken für Sie verbunden.« »Du lieber Himmel!« sagte ich. »Das kommt für mich allerdings ziemlich überraschend, nachdem ich bisher für Sie eigentlich nichts wei­ter tun durfte, als immer nur den

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Handlanger und Laufburschen zu spielen! Haben Sie mich jemals mit der Wimper zucken sehen, wenn es darum ging, daß ich mich irgend-einer persönlichen Gefahr ausset-zen sollte?« »Bei dieser Gefahr, der Sie sich aussetzen müssen, würde es aber nahezu um Kopf und Kragen gehen.« »Lassen Sie mal hören, was Sie sich als Test ausgetüftelt haben.« »Nun gut.« Er deutete mit seiner fleischigen Hand in die Richtung, in der mein Zimmer lag. »Die alte Schreibmaschine, die Sie da oben bei sich stehen haben-funktioniert das Ding noch?« »So leidlich.«

»Dann bringen Sie sie hier her-unter und bringen Sie auch ein wei­ßes Blatt Papier mit, irgendeines. Und alles, was ich dann noch brau­che, ist ein neutraler Umschlag.« »Davon habe ich oben einige bei mir liegen.«

»Gut. Bringen Sie einen mit, und dann holen Sie mir aus meinem Zimmer das Telefonbuch von Man­hattan.« Ich ging hinauf in mein Zimmer, und als ich mit der Schreibmaschine zurückkam und sie auf den Tisch stellte, sagte Wolfe: »Stellen Sie sie hierher. Ich will selbst darauf schreiben.«

Ich verbiß mir ein Grinsen und zog die Augenbrauen hoch. »Für eine einzige Seite würden Sie ja länger als eine Stunde brauchen.« »Es wird keine ganze Seite. Los, machen Sie schon. Spannen Sie ein Blatt Papier ein.«

Das tat ich, richtete ihm den Bogen zurecht, hob die Maschine auf und stellte sie vor ihn hin. Mit gerun­zelter Stirn starrte er länger als eine Minute auf den eingespannten Bogen und begann dann plötzlich auf den Tasten der Schreibmaschine herumzuhacken. Ich drehte ihm den Rücken zu, damit mir ja nicht irgendeine zynische Bemerkung über seine Zweifingertechnik ent­schlüpfte, und während ich ihn klap­pern hörte, versuchte ich mich da­durch abzulenken, daß ich im stil­len überschlug, auf welche An-schlagzahl er es brachte. Pro Se­kunde ein Anschlag, kam bei mei­nen Berechnungen heraus. Aber dann plötzlich schien er es doch ge­schafft zu haben und zog den Bo­gen heraus.

»Ich glaube, das dürfte genügen«, sagte er. Ich nahm das Blatt und las, was er getippt hatte: >Sie hat mir heute nachmittag ge­nug gesagt, so daß ich weiß, an wen ich dies zu schicken habe, und auch noch einiges mehr. Ich habe das alles bisher für mich behalten,

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weil ich mir noch nicht darüber schlüssig geworden bin, was ich nun am besten tun sollte. Zunächst würde ich mich gern einmal mit Ihnen unterhalten, und wenn Sie mich morgen, Dienstag, zwischen neun Uhr früh und mittag an» rufen, könnten wir einen Treff= punkt ausmachen. Schieben Sie die Sache aber nicht zu lange hinaus, denn sonst muß ich die Entschei= dung selbst treffen. < Ich las es mir volle drei Male durch. Dann schaute ich zu Wolfe hin= über. Er hatte einen der neutralen Umschläge in die Schreibmaschine gespannt und suchte im Telefon» buch von Manhattan herum. Und dann begann er wieder mit seinen speckigen Fingern meine Schreib» maschine zu bearbeiten, um den Umschlag zu adressieren. Ich war» tete, bis er damit fertig war und den Umschlag aus der Walze zog. »Ganz einfach so?« fragte ich. »Kein Name und auch nicht irgend» welche Initialen?« »Nichts.«

»Nach meinem Dafürhalten ist es doch ein ziemlicher Schuß ins Blaue«, meinte ich. »Vergessen wir doch mal die Berechnungen, die Sie angestellt haben, und schicken wir einen gleichlautenden Brief an je= den der Kerle, die auf der Be= sucherliste abgehakt waren und

warten erst mal ab, wer dann an» ruft.« »Mir ist es lieber, wir schicken dieses nur an den einen - den einen, der auf Grund der Unterhai» tung, die Sie mit dieser Miss Brown geführt haben, nach meinen Be= rechnungen als einziger in Frage kommt. Nur dadurch können wir testen, ob meine Rechnung auch wirklich aufgeht.« »Und außerdem sparen wir dabei auch noch 'ne Menge Porto.« Ich schielte noch einmal zu dem be= schriebenen Bogen hinüber. »Das höchst gefährliche Risiko, dem ich mich aussetze, ist wohl, daß ich da» bei erwürgt werde?« »Es liegt mir fern, Archie, das Ri= siko, das Sie übernehmen wollen, in irgendeiner Weise zu verklei» nern. Nehmen Sie die Sache ja nicht auf die leichte Schulter!« »Das tue ich auch nicht. Ich werde mir Sauls Pistole ausborgen müs» sen - unsere liegen ja in dem poli» zeilich versiegelten Büro. . . kann ich jetzt den Umschlag haben? Ich will dann gleich zum Times Square fahren, um ihn dort einzuwerfen.« »Ja, aber bevor Sie das tun, tippen Sie die paar Zeilen noch einmal ab. Sorgen Sie dafür, daß Saul morgen vormittag hier im Haus bleibt. Falls der Anruf kommt, dann werden Sie allerdings Ihre Hirnwindungen ein

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wenig strapazieren müssen, um die» ses Zusammentreffen in der richti» gen Form zu arrangieren.« »Wird erledigt. Und nun den Um= schlag, bitte.« Und er reichte ihn mir herüber.

Am folgenden Dienstag vormittag wurde ich von 8 Uhr morgens an vom Telefon und von der Tür» glocke ständig in Trab gehalten. Nach neun Uhr kam dann Saul, um mir zu helfen, aber nicht bezüglich des Telefons, weil Wolfe ausdrück= lieh angeordnet hatte, daß ich alle Anrufe entgegennehmen sollte. Meistens kamen sie von irgendwel» chen Zeitungsleuten, aber zwei ka= men auch von der Mordabteilung, und dann noch ein paar vereinzelte, die nichts weiter zu besagen hatten und die ich am Rande miterledigte. All diese Anrufe nahm ich von dem Nebenapparat in der Küche ent= gegen.

Jedesmal, wenn ich den Hörer ab= hob und in die Sprechmuschel sprach: »Hier bei Nero W o l f e -Archie Goodwin am Apparat«, ging mein Pulsschlag um zwei Dut= zend in die Höhe, um sich dann, wenn ich den Hörer wieder auf= legte, auf den Normalstand zu be= ruhigen. Bei einem dieser Telefon» gespräche mußte ich eine hitzige Diskussion mit irgendeinem Trot»

tel von der Staatsanwaltschaft aus= fechten, der sich die merkwürdige Idee in den Kopf gesetzt hatte, er könnte mich einfach für Punkt elf Uhr zur schriftlichen Zeugenaus» sage in sein Büro vorladen. Und diese Diskussion endete dann schließlich damit, daß ich mich mit ihm einigte, später noch einmal an» zurufen, um einen anderen Termin festzulegen.

Es war ganz kurz vor elf Uhr, und ich war gerade zusammen mit Saul in der Küche, wo ich mich nach Wolfes Anweisungen aufzuhalten hatte, als erneut das Telefon klin» gelte.

»Hier bei Nero Wolfe - Archie Goodwin am Apparat.« »Mr. Goodwin?« »Allerdings.«

»Sie haben mir da eine Nachricht zukommen lassen.« Unwillkürlich wollte meine Hand den Hörer so fest umklammern, wie Vedder den Blumentopf um» klammert hatte, aber ich konnte mich gerade noch beherrschen. »So? Eine Nachricht - worüber?« »Sie haben mir darin den Vorschlag gemacht, daß wir einen Treffpunkt ausmachen sollten. Können Sie sprechen, ohne daß jemand mit» hört?«

»Klar. Ich bin hier allein, am Ne= benanschluß, und der Hauptappa»

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rat steht in dem von der Polizei versiegelten Büro. Wer spricht dort eigentlich?« »Ich habe zwei verschiedene Stim= men. Dies ist meine andere Stimme. Haben Sie schon irgendeine Ent= scheidung getroffen?« »Nein. Ich habe gewartet, bis ich von Ihnen hören würde.« »Damit haben Sie sehr klug gehan= delt, glaube ich. Ich bin gern bereit, die bewußte Angelegenheit mit Ihnen zu erörtern. Haben Sie heute abend frei?«

»Irgendwie werde ich mich schon frei machen können.« »Haben Sie einen Wagen zur Ver= fügung?« »Yeah, einen Wagen habe ich auch.« »Dann fahren Sie zu dem Lunch» room an der Nordostecke der Ein= undfünfzigsten Straße, Ecke Elfte Avenue. Richten Sie es so ein, daß Sie um acht Uhr dort sind. Parken Sie Ihren Wagen in der Einund= fünfzigsten Straße, aber nicht un= mittelbar an der Ecke. Sie werden natürlich allein kommen, versteht sich. Gehen Sie in den Lunchroom hinein und bestellen Sie sich irgend etwas zu essen. Ich selbst werde nicht dort sein, aber Sie werden dort weitere Nachricht erhalten. Können Sie pünktlich um acht Uhr dort sein?«

»Gewiß. Ihre Stimme kann ich aber immer noch nicht erkennen. Daher glaube ich auch gar nicht, daß Sie es sind, dem ich die Nachricht ge= schickt habe.« »Sie dürfen beruhigt sein, ich bin es. Das genügt Ihnen doch wohl, nicht wahr?« Klick, machte es in der Leitung und damit war die Verbindung unter= brochen. Ich legte den Hörer auf und sagte Fritz, von jetzt an könne er alle weiteren Anrufe entgegen» nehmen, und dann flitzte ich zu der Treppe und jagte, drei Stufen auf einmal nehmend, die drei Treppen» fluchten hinauf.

Wolfe befand sich dort oben ge= rade in dem Kühlraum. Als ich ihm von dem Telefonanruf berichtete, nickte er lediglich mit dem Kopf. »Dieser Anruf«, sagte er, »unter» mauert unsere Annahmen und be= stätigt, daß unsere Rechnung bis hierher stimmt. Ist jemand gekom» men, um das Siegel von der Büro» tür wegzunehmen?« Nein, erklärte ich ihm. »Ich habe deswegen bereits Stebbins ange» rufen, und er hat mir gesagt, er müßte Cramer fragen.« »Rufen Sie nicht noch einmal an und bitten und betteln Sie dort nicht«, schnauzte er mich an. »Wir setzen uns drunten einfach in mein Privatzimmer.«

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Falls der Würger an jenem Tag ganz bis zum Schluß in Wolfes Haus geblieben war, müßte Wolfe eigentlich so etwas wie Stolz dar» über empfunden haben - oder zu» mindest hätte das eigentlich der Fall sein müssen. Aber die ganze Zeit von vier bis sechs Uhr, wäh= rend er sich in dem Umpflanzraum aufhielt, waren seine Gedanken ausschließlich mit meiner allerdings reichlich riskanten Verabredung be= schäftigt, was ich allein schon dar= aus entnehmen konnte, daß er dann später, als er in die Küche hinunterkam, vor Ideen und Über= legungen bezüglich meiner Ver= abredung nur so übersprudelte. Auch mit meinen eigenen Gedan= ken war ich den ganzen Tag hin= durch fast ununterbrochen bei die» sem bevorstehenden Zusammen» treffen, außer einer kurzen Fahrt hinüber zur Leonard Street, um einem Hilfsstaatsanwalt eine volle Stunde lang banale und ihn keinen Schritt weiter bringende Fragen zu beantworten. Der meines Erachtens immerhin noch nützlichste Auftrag, mit dem Wolfe mich aus dem Haus schickte - zu der Zeit allerdings er» schien er mir als eine reine Zeit= und Geldverschwendung -, war noch der, daß ich zu Doc Vollmer fuhr, von ihm auf Wolfes Anwei= sung hin ein Rezept abholte und

das Zeug in einem Drugstore be= sorgte. Als ich von dem Büro des Staats» anwalts zurückkam, setzte ich mich mit Saul in die Limousine, und wir brausten ab, um zunächst einmal das Gelände zu erkunden. Vor» sichtshalber hielten wir nicht etwa an der Einundfünfzigsten Straße Ecke Elfte Avenue an, sondern fuh= ren lediglich viermal dort vorbei. Der Hauptzweck dabei war, eine geeignete Stelle für Saul ausfindig zu machen. Sowohl er als auch Wolfe bestanden darauf, daß er bei dem Zusammentreffen in unmittel» barer Nähe sein müßte. Wir einigten uns schließlich auf eine Tankstelle, die dem Lunch» room auf der anderen Straßenseite direkt gegenüberlag. Saul würde dort Punkt acht Uhr mit einem Taxi vorfahren und hinten im Fond des Taxis sitzen und dort warten, wäh» rend der Taxifahrer angeblich ver» suchen würde, daß man ihm seinen Vergaser in Ordnung brachte. Und dann gab es noch unzählige Klei» nigkeiten, über die wir uns einigen mußten, und wenn es jemand an» ders als Saul gewesen wäre, würde ich niemals erwartet haben, daß er auch nur die Hälfte davon im Kopf behielt. Eine dieser Kleinigkeiten zum Beispiel war, daß Saul nicht hinter mir herfahren mußte, wenn

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ich aus demLunchroom herauskam, in meinen Wagen stieg und davon» fuhr, es sei denn, daß ich das Fen= ster herunterdrehte. Sich all diese vorsorglichen Kleinig» keiten auszudenken und festzu» legen war an sich ganz schön und gut, aber in Wirklichkeit würde ich mich doch wohl ausschließlich auf meine Improvisation verlassen müssen, da es ja der andere Kerl war, der die Regeln und Bestim» mungen für dieses Zusammentref» fen festlegte. Und wenn es dieser andere Kerl war, nach dessen An»

Weisungen ich mich zu richten hatte,

würden mir alle von Nero Wolfe vorsorglich getroffenen Maßnah» men nicht viel helfen. Saul verließ das Haus schon vor mir, um einen Taxifahrer ausfindig zu machen, dessen Nase ihm paßte. Als ich in die Vorhalle hinausging, um mir meinen Hut und meinen Regenmantel zu holen, kam Wolfe hinzu.

»Gefällt mir ganz und gar nicht«, beharrte er, »daß Sie sich das Ding da so einfach in die Tasche gesteckt haben. Stecken Sie es lieber unten in den Rand Ihrer Socken.« »Hat keinen Zweck«, erwiderte ich, während ich in den Regenman» tel schlüpfte. »Dort unten stört es mich höchstens, und wenn ich ge= filzt werde, dann ist es dort unten

ebenso leicht zu fühlen wie in mei» ner Jackettasche.« »Haben Sie sich auch vergewissert, daß die Pistole geladen ist?« »Warum sind Sie so besorgt um mich? Nächstens werden Sie mir noch sagen, ich soll nicht vergessen, mir meine Gummiüberschuhe an» zuziehen, damit ich mir keine nas» sen Füße hole.«

Ich war baff, daß er mir höchstper» sönlich die Haustür öffnete. Es war kein richtiger Regen, der draußen niederging, sondern nur ein leichtes Nieseln; dennoch langte ich, nachdem ich ein paar Häuserblocks weit gefahren war, zum Armaturenbrett hinüber und schaltete die Scheibenwischer ein. Als ich an der Zehnten Avenue in Richtung Stadtmitte einbog, zeigte die Uhr am Armaturenbrett sieben Uhr siebenundvierzig, und als ich dann in die Einundfünfzigste Straße einbog, waren die Zeiger erst auf sieben Uhr einundfünfzig vorgerückt. Zu dieser Abendstunde gab es in jener Gegend genügend Platz zum Parken, und ich fuhr die Limousine an den Bordstein heran und hielt ungefähr zwanzig Meter vor der Straßenecke, schaltete den Motor ab und drehte das Fenster herunter, damit ich die Tankstelle auf der anderen Straßenseite genau beobachten konnte. Noch stand

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kein Taxi dort, aber Punkt sieben Uhr neunundfünfzig fuhr eines vor und hielt vor den Tanksäulen, und der Taxifahrer stieg aus, klappte die Motorhaube hoch und begann darunter herumzusuchen. Ich kurbelte mein Wagenfenster wieder hoch, stieg aus, schloß die Wagentüren ab und ging in den Lunchroom hinein. Niemand war dort weiter drinnen als ein verkalkter kahlköpfiger Kellner hinter der Theke und fünf Gäste vor der Theke, die vereinzelt auf den Stühlen herumsaßen. Ich suchte mir einen Stuhl aus, der mir genügend Bewegungsfreiheit für meinen linken Ellenbogen ließ, setzte mich hin und bestellte Eis» krem und Kaffee. Der glatzköpfige Kellner riß sich zwar nicht gerade die Beine aus, servierte mir aber doch innerhalb von wenigen Minu= ten das, was ich bestellt hatte, und auch ich ließ mir Zeit. Um acht Uhr zwölf war allerdings von meiner Eiskrem nichts mehr übrig, und auch meine Kaffeetasse war leer, und so bestellte ich mir eine zweite. Auch diese mußte ich erst noch bis fast auf den letzten Tropfen aus» trinken, ehe von draußen jemand den Lunchroom betrat, kurz einmal in die Runde schaute, dann stracks auf mich zukam und mich fragte, wie ich hieße. Ich sagte ihm meinen

Namen, und er gab mir einen zu= sammengefalteten Zettel, drehte sich um und ging wieder hinaus. Es war ein Halbwüchsiger, gerade alt genug, um noch auf die HighSchool zu gehen, und so machte ich gar nicht erst den Versuch, ihn zurück» zuhalten und auszufragen, da ich mir an den Fingern abzählen konnte, daß der Vogel, mit dem ich das Zusammentreffen haben würde, wahrscheinlich kein kompletter Narr war. Ich faltete den Zettel aus» einander und las, was mit Bleistift in sauberen Druckbuchstaben dort aufgeschrieben stand: >Gehen Sie zurück zu Ihrem Wa= gen. Sie werden dort unter dem Scheibenwischer einen weiteren Zettel vorfinden. Setzen Sie sich in den Wagen und lesen Sie ihn durch. <

Ich bezahlte dem kahlköpfigen Kellner, was ich ihm schuldig war, ging hinaus zu meinem Wagen, zog den Zettel, den ich dort vorfand, unter dem Scheibenwischer hervor und setzte mich, nachdem ich den Wagen aufgeschlossen hatte, genau wie ich angewiesen worden war, hinter das Lenkrad, schaltete die Innenbeleuchtung ein und las auf diesem zweiten Zettel in genau der gleichen Schrift:

>Machen Sie sich durch keinerlei Zeichen irgendwie bemerkbar. Be=

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folgen Sie genauestens die nächste» henden Anweisungen. Biegen Sie an der Elften Avenue rechts ein und fahren Sie in langsamem Tempo bis zur Sechsundfünfzigsten vor. Bie» gen Sie in die Sechsundfünfzigste ein und fahren Sie weiter bis zur Neunten Avenue, biegen Sie dort rechts ein. Fahren Sie weiter bis zur Fünfundvierzigsten, dann links in die Elfte Avenue hinein, dann wie» derum links in die Achtunddreißig» ste. Von dort rechts hinein in die Siebente Avenue, rechts hinein in die Siebenundzwanzigste, St. Park, und auf der Siebenundzwanzigsten weiter bis zwischen die Neunte und Zehnte Avenue. Halten Sie dort vor Nr. 814 und klopfen Sie fünf» mal an die Tür. Geben Sie dem Mann, der Ihnen die Tür öffnet, diesen Zettel und auch den ande» ren, den Sie im Lunchroom erhal» ten haben. Der Mann wird Ihnen dann sagen, wohin Sie weiterzu» fahren haben. <

Diese reichlich komplizierte Anwei» sung paßte mir ganz und gar nicht, aber ich mußte zugeben, daß es ein äußerst raffiniertes Arrangement war, um Vorsorge dagegen zu tref» fen, daß ich zu dem anberaumten Zusammentreffen mit irgendeinem Anhängsel erschien. Inzwischen hatte sich der Himmel doch entschlossen, seine Schleusen

zu öffnen. Während ich den Motor startete, konnte ich durch die be= schlagene Seitenscheibe ver» schwömmen erkennen, daß Sauls Taxifahrer immer noch dabei war, an seinem Vergaser herumzufum» mein. Aber natürlich blieb mir nichts anderes übrig, als dem un= willkürlichen Drang zu widerste» hen, etwa das Fenster herunterzu» drehen und ihm Good Bye zuzu» winken. Ich hielt mich genau an die Instruktionen auf dem Zettel, den ich in der linken Hand behielt, ließ den Wagen bis zur Ecke vorrollen, wartete dort, bis das Licht der Am» pel wechselte und bog dann rechts in die Elfte Avenue ein. Da mir nicht verboten war, die Augen offenzuhalten, behielt ich sie auch schön weit offen. Und als ich an der Zweiundfünfzigsten an» halten mußte, weil das Licht der Ampel auf Rot stand, bemerkte ich, wie sich eine schwarze oder dunkel» blaue Limousine hinter mir vom Bordstein löste und hinter mir her» zukriechen begann. Mir war auf Anhieb klar, daß dies von nun an mein >Schutzengel< sein würde. Der Kerl in der Limousine war, wie ich bald herausfand, nicht etwa je» ner Würger. In der Siebenund» zwanzigsten Straße war gerade für mich passend vor Nummer 814 eine ausreichende Parklücke freige»

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lassen worden, und deshalb sah ich auch keinen Hinderungsgrund, warum ich mich mit meiner Kiste dort nicht hineinschieben sollte. Sie war sogar so breit, daß auch die Limousine, die mir gefolgt war, noch Platz hatte, unmittelbar hin= ter mir an den Bordstein heranzu» fahren und dort zu parken. Ich stieg aus, schloß meinen Wagen ab und blieb ein paar Augenblicke auf dem Gehsteig stehen, aber mein Schutzengel blieb eisern hinter sei= nem Lenkrad sitzen, und so hielt ich mich an die Instruktionen auf dem Zettel, stieg die Stufen zu dem ziemlich heruntergekommenen alten Sandsteinhaus hinauf, trat unter das Vordach und klopfte fünfmal an die Tür. Durch die Mattglasscheibe, die in die obere Hälfte der Haustür eingelassen war, hatte ich den Eindruck, daß die da= hinterliegende Vorhalle leer war. Während ich noch dabei war, durch diese Mattglasscheibe hindurchzu= peilen, hörte ich hinter mir Schritte und wandte mich um. Es war mein Schutzengel.

»Nun, bis hierher hätten wir es also geschafft«, sagte ich unbekümmert und griente. »Beinahe hätten Sie mich an einer der Verkehrsampeln abgehängt«, erwiderte er. »Geben Sie mir die beiden Zettel.«

Ich händigte sie ihm aus - mein ganzes Beweismaterial, das ich hatte. Während er sie auseinander» faltete, um sich kurz zu überzeu» gen, daß es auch die richtigen wa= ren, nahm ich ihn ein wenig ge= nauer aufs Korn. Er war ungefähr ebenso alt und ebenso groß wie ich, hager, aber dennoch recht musku= lös, hatte abstehende Ohren und an der rechten Kinnlade ein purpur= rotes Muttermal.

»Seh'n so aus, als ob's die richtigen sind«, sagte er und stopfte sich die beiden Zettel in die Tasche. Aus einer anderen kramte er einen Schlüssel hervor, schloß die Tür auf und drückte mit dem Fuß dagegen, bis sie nach innen aufging. »Kom= men Sie mit.«

Während wir zwei Treppenfluchten hinaufstiegen, war er mir jeweils zwei oder drei Stufen voraus, und ich hätte an ihm natürlich liebend gern den Trick versucht, ihm seine Kanone aus der hinteren Hosen» tasche zu stibitzen, nur war dort leider keine solche Kanone vor» handen. Vielleicht zog er es vor, genau wie ich auch, sein Schieß­eisen im Schulterhalfter zu tragen. Die Stufen waren völlig kahl und nackt, aus abgetretenem Holz, und die Wände bedurften dringend eines neuen Anstriches - minde» stens schon seit der Zeit, da die Ge=

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schichte mit Pearl Harbour passiert war, und in diesem ganzen Ge= mäuerhing eine Mischung zwischen Duft und Mief, die ich einfach nicht analysieren konnte. Wir gelangten zum zweiten Treppenabsatz und gingen dort den Gang entlang bis zur letzten Tür vor. Dann gab er mir durch einen Wink zu verstehen, ich sollte hineingehen. Da war noch ein anderer Mann drin, aber er war keineswegs von meinem Typ - hoffe ich zumindest. Es würde zweifellos eine Übertrei= bung gewesen sein zu behaupten, daß der Raum möbliert war, aber was recht ist, ist recht, und so muß ich immerhin zugeben, daß ein Tisch, ein Bett und drei Stühle darin standen - einer von den Stühlen sogar gepolstert. Der Mann, der lang ausgestreckt auf dem Bett lag, räkelte sich, als wir das Zimmer be= traten, in die Senkrechte und drehte sich herum, bis seine nackten Füße den Fußboden berührten. Er hatte Schultern und eine Figur wie ein Schwergewichtsringer und so kläg= lieh dünne Beine wie ein unter= ernährter Jockey. Im Licht der nack= ten Glühbirne blinzelte er mit sei= nen vorgequollenen Froschaugen, als ob er gerade fest geschlafen hätte.

»Hast du ihn?« fragte er. Der Hagere bestätigte es.

Der Ringer=Jockey - da ich prak= tisch veranlagt bin, nannte ich ihn aus Rationalisierungsgründen im stillen R=J, R für Ringer und J für Jockey - räkelte sich vollends in die Höhe, blinzelte sich den letzten Schlaf aus den Augen, ging zum Tisch hinüber und holte sich von dort ein massives Knäuel hand= fester Schnur. »Nimm deinen Hut ab, zieh deinen Mantel aus und setz dich dorthin.« Er deutete auf einen der steifen, ungepolsterten Stühle. »Moment mal«, bremste der Ha= gere ihn in befehlendem Ton. »Ich habe ihm bisher überhaupt noch nicht gesagt, wie die Sache weiter= geht.« Er wandte sich zu mir her= um. »Allerdings ist die Sache recht einfach. Der Mann, der herkommen wird, möchte mit Ihnen keinerlei Schwierigkeiten haben. Er möchte sich ganz einfach nur mit Ihnen unterhalten. Deshalb binden wir Sie jetzt auf diesem Stuhl hier fest und lassen Sie sitzen, und dann kommt er her und hat mit Ihnen die vereinbarte kleine Aussprache. Wenn er wieder gegangen ist, kom= men wir zurück, binden Sie los, und Sie können heimmarschieren. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Ich beehrte ihn mit einem breiten Grinsen. »Allerdings, Kumpel, nur allzu deutlich. Aber was wird, wenn ich mich nun nicht hinsetzen will?«

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»Dann kommt er nicht her, und Sie können mit ihm auch nicht die ver= einbarte kleine Unterredung füh= ren.«

»Und was wird, wenn ich jetzt gleich wieder gehe?« »Dann gehen Sie nur zu. Wir wer= den so oder so dafür bezahlt. Wenn Sie mit diesem Mann sprechen wol= len, gibt es nur die eine Möglich» keit: Wir binden Sie hier auf dem Stuhl fest.«

»Wir bekommen doch mehr, wenn wir ihn festbinden«, protestierte R=J. »Laß mal, ich werd' ihn schon rumkriegen.« »Hör auf damit«, kommandierte der Hagere. »Ich will aber auch keinen Ärger und keine Schwierigkeiten haben«, konstatierte ich. »Wie wär's, wenn wir's so machen? Ich setze mich dort auf den Stuhl, und ihr beide wik= kelt die Kordel so um midi herum, daß es gerade richtig aussieht, daß ich mich aber dennoch frei be= wegen kann, falls hier im Haus plötzlich Feuer ausbrechen sollte. Dort in der Brieftasche in meinem Mantel steckt ein Hunderter. Ehe ihr dann von hier verschwindet, dürft ihr ihn euch getrost heraus» nehmen.«

» Ein lausiger Hunderter ? « s chnaub te R-J . »Halt die Klappe und setz dich hin.

Er kann sich ganz nach Belieben entscheiden«, sagte der Hagere in leicht vorwurfsvollem Ton. Und das tat ich auch tatsächlich. An sich war dies ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie wenig Wert es hat, in solchen Fällen die minuziö» sesten Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Bei all unserem Hin= und Hergerede während des ganzen Ta= ges war von uns keiner auf den Ge= danken gekommen, was wohl zu tun sei, wenn zwei Gangstertypen mir das Angebot machten und mich damit vor die Wahl stellten, auf einem Stuhl festgebunden zu wer= den oder nach Hause zu gehen und mich ins Bett zu legen. Soweit ich die Dinge im Augenblick übersehen konnte und mir die beiden an= schaute, war daran nun jedenfalls nichts mehr zu ändern. Und um nach Hause zu fahren und mich ins Bett zu legen, war es noch zu früh.

»Okay«, erklärte ich den beiden. »Aber übertreibt nicht gleich. Ich kenn' mich hier in Manhattan recht gut aus, vor allem in dessen unter= irdischen Bezirken, und wenn ich es darauf anlege und vielleicht ein wenig Benzin verfahre, finde ich euch schon wieder - worauf ihr euch verlassen könnt.« Sie wickelten die Schnur von dem Knäuel herunter, schnitten Stücke

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davon ab und machten sich an die Arbeit. R=J vertäute mein linkes Fußgelenk an dem linken Bein des Stuhles, während der Hagere das gleiche auf der rechten Seite tat. Dasselbe wollten sie auch mit mei= nen Handgelenken tun, indem ich mich vornüber beugen sollte und sie sie mir ebenfalls an den oberen Enden der Stuhlbeine festschnüren wollten, aber ich behauptete, nicht ganz zu unrecht, ich würde Krämpfe bekommen, wenn ich längere Zeit in dieser Stellung aushalten müßte. Es würde doch durchaus genügen, wenn sie mir die Handgelenke ein-fach so zusammenschnürten. Sie diskutierten eine Weile hin und her, aber schließlich gelang es mir doch, meinen Kopf durchzusetzen. Der Hagere nahm dann eine ab= schließende Inspektion sämtlicher geknüpfter Knoten vor und tat dann das, worauf ich ohnehin schon gefaßt war - er filzte mich. Er zog mir die Pistole aus dem Schulter-halfter, warf sie aufs Bett hinüber, vergewisserte sich, daß ich nicht etwa noch eine zweite bei mir trug und verließ das Zimmer. R-J hob die Pistole auf, und mit mürrischem Gesicht blickte er sie an. »Diese Dinger da«, murmelte er, »die machen stets den meisten Ärger.« Er ging zum Tisch und legte die Pistole dort hinüber. Dann

kurvte er wieder zu dem Bett zu= rück und streckte sich der Länge nach darauf aus. »Wie lange werden wir hier zu warten haben?« fragte ich. »Nicht allzu lange. Ich will eben nur ein Nickerchen machen. Ich bin die ganze letzte Nacht nicht ins Bett gekommen«, und er schloß die Augen.

Er kam aber nicht zu seinem Nik= kerchen. Sein Brustkorb, massig und breit wie ein Faß, dürfte sich wohl kaum mehr als ein dutzend-mal gehoben und wieder gesenkt haben, als die Tür wieder aufging und der Hagere eintrat. Mit ihm kam ein Mann in einem Anzug mit grauem Nadelstreifen und einer dunkelgrauen Melone, dazu einen grauen Übermantel, den er zusam= mengefaltet über dem Arm trug. R=J räkelte sich sofort wieder von dem Bett hoch und stellte sich auf seine Zahnstocherbeine. Der Ha-gere war neben der offenen Tür stehengeblieben. In aller Ruhe und recht sorgfältig legte der >Gentle= man< seinen Hut und Mantel auf das Bett, trat dicht an mich heran, um sich zunächst einmal meine Ver= schnürung anzusehen, und wandte sich dann zu dem Hageren um: »So ist's genau richtig; wenn ich so weit bin, weiß ich, wo ich Sie beide zu finden habe.« Die beiden Gangster-

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typen verdufteten und schlössen hinter sich die Tür. Der Mann stellte sich direkt vor mich hin und blickte mir ins Gesicht. Er lächelte. »Würden Sie mich wie= dererkannt haben?« »Ich würde Sie selbst dann nicht wiedererkannt haben, wenn Sie mein eigener nicht existierender Schwiegervater wären«, sagte ich, weil ich ihn erstens in möglichst gute Laune versetzen wollte und zweitens, weil es der Wahrheit entsprach.

Ich wollte nicht etwa übertreiben und herauszustellen versuchen, was ich für ein Kerl sei. Es lag ganz ein= fach daran, daß ich zu wenig Furcht empfand, daß ich von der Tatsache, daß ich fest verschnürt dasaß und mir der mich freundlich anlächelnde Würger gegenüberstand, überhaupt nicht beeindruckt war; ich war selbst ein wenig darüber verwun= dert. Es war eine verblüffende Mas= kierung, die er sich zugelegt hatte. Die beiden hauptsächlichsten Ver= änderungen hatte er an den Augen= brauen und den Augenwimpern vorgenommen, diese hier waren buschige, breite Brauen und dichte, lange Wimpern, während er ge= stern als einer unserer Besucher keines von beiden gehabt hatte. Die eigentliche Veränderung an ihm kam jedoch gewissermaßen

von innen heraus. In dem Gesicht unseres gestrigen Besuchers hatte ich nicht die Spur eines Lächelns wahrgenommen, und selbst wenn er gelächelt hätte, dann ganz sicher nicht auf diese Art. Natürlich machte bei dieser Veränderung auch die Frisur etwas aus, die er sich zugelegt hatte; er hatte sich auf der einen Seite einen tiefliegenden Scheitel gezogen und das Haar völ= lig glatt auf die andere Seite her= übergekämmt.

Er zog sich einen der Stühle heran und setzte sich. Ich konnte nicht umhin, die Art zu bewundern, in der er sich bewegte. Aber ab= gesehen von allem anderen würde ich ihn allein schon an seinen Ge= sten und Bewegungen und an sei* nem ganzen Gehabe wieder» erkannt haben, doch auch das hatte er bis aufs i=Tüpfelchen abge= stimmt und völlig geändert. »So, sie hat Ihnen also von mir er= zählt?« sagte er. Es war die gleiche Stimme, mit der er am Telefon ge= sprochen hatte. Es war nicht eigent= lieh eine zweite Stimme, wie er be= hauptet hatte, sondern er sprach lediglich eine gute halbe Oktave tiefer, und wie bei seinem Gesicht und bei seinen Bewegungen kam die eigentliche Veränderung irgend» wie von innen her. Die Stimme klang gedehnt und verkrampft, und

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die Innenflächen seiner behand= schuhten Hände hielt er mit aus= gestreckten Fingern fest auf die Knie gepreßt. »Ja«, sagte ich in lässigem Konver= sationston. »Als Sie sie in das Büro hineingehen sahen - warum sind Sie ihr da nicht gleich gefolgt?« »Ich hatte Sie aus dem Gewächs= haus herausschlüpfen sehen und vermutete, daß Sie im Büro waren.« »Warum hat sie eigentlich nicht ge= schrien oder sich sonstwie zur Wehr gesetzt?«

»Ich habe zunächst einmal besänfti= gend auf sie eingeredet, und dann hatte ich sie schließlich auch so weit, daß sie sich völlig beruhigt fühlte.« Scharf warf er den Kopf herum, gerade so, als ob ihn eine Fliege ärgerte und seine Hände ge= rade zu beschäftigt wären, um diese Fliege zu verscheuchen. »Also -was hat sie Ihnen erzählt?« »Sie hatte von jenem Tag bei Do= ris Hatton, was sie in deren Appar= tement beobachtet hatte, geplaudert - w i e Sie hereingekommen waren und sie hinausgegangen war. Und dann natürlich, daß sie Sie gestern wiedererkannt hatte.« »Sie ist tot. Es gibt keine Zeugen, und es existiert auch sonst keiner= lei Beweismaterial. Weder Sie noch sonst jemand kann mir also irgend etwas nachweisen.«

Ich hatte dafür nur ein Grinsen übrig. »Wenn dem tatsächlich so ist, verschwenden Sie aber nutzlos eine Menge Zeit, und die ganze Mühe, die Sie sich mit der besten Verkleidung gegeben haben, die ich jemals gesehen habe, ist für die Katz. Warum haben Sie dann nicht einfach meinen Zettel in den Pa= pierkorb geworfen? Halt, lassen Sie mich Ihnen die Antwort darauf geben: Sie haben es einfach nicht gewagt. Wenn es um Beweismate= rial geht, macht es einen gewaltigen Unterschied, wenn man weiß, wie und wo man danach zu suchen hat. Da liegt der Hase im Pfeffer, und das wissen Sie genausogut wie ich.«

»Und Sie haben der Polizei bisher noch nichts mitgeteilt?« »Nein.« »Auch Nero Wolfe nicht?« »Nein.« »Warum nicht?« Ich zuckte mit den Achseln. »Viel= leicht gelingt es mir nicht, die An= gelegenheit vollendet zu formulie= ren«, erwiderte ich, »weil es das erstemal ist, daß ich mit gefesselten Händen und Füßen sprechen muß, und das verkrampft meine stilisti= sehe Ausdrucksweise. Um jedoch zur Sache zu kommen, ich habe das Detektivgeschäft bis oben hin satt und möchte daraus aussteigen. Ich

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habe da nun was in Händen, was Ihnen eine ganz schöne Stange Geld wert sein dürfte - sagen wir fünf= zigtausend Dollar. Es läßt sich durchaus arrangieren, daß Sie für das, was Sie mir da zahlen, auch den entsprechenden Gegenwert, oder sagen wir, die entsprechende Gegenleistung erhalten. Dies ist allerdings das äußerste Limit, bis zu dem ich heruntergehen kann, und zudem muß dieses Geschäft schnellstens unter Dach und Fach gebracht werden. Falls Sie sich nicht geneigt zeigen sollten zu zah= len, werde ich allerdings eine Menge Ärger haben, um denen, die Sie vor= her erwähnten, glaubhaft zu erklä= ren, warum ich mich nicht schon früher daran erinnert habe, was mir die liebe kleine, jetzt aber leider tote Miss Brown erzählt hat. Wie gesagt, vierundzwanzig Stunden, von jetzt ab gerechnet, wären für mich das absolute Limit.« »Es läßt sich überhaupt nicht so arrangieren, daß ich für das, was ich Ihnen da zahlen würde, den vollen und vor allem sicheren Ge= genwert erhalte.«

»Natürlich läßt sich das machen. Falls Sie befürchten, ich würde Ihnen Ihr ganzes Leben lang mit eventuellen weiteren Forderungen wie ein Blutegel im Nacken sitzen, dann täuschen Sie sich gewaltig.

Glauben Sie mir, auch ich bin froh, wenn ich in Zukunft nichts mehr mit Ihnen zu tun habe und gar nicht mehr mit Ihnen in Berührung komme.«

»Ich schätze, Sie meinen das wirk= lieh, und daher wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben, als zu zah= len.« Plötzlich kam ganz tief aus seiner Kehle ein Geräusch, als ob es ihm gerade noch gelungen war, ein hei= seres Glucksen oder Stöhnen zu unterdrücken. Er stand auf. »Sie arbeiten dauernd daran herum, Ihre Hände freizubekommen«, sagte er heiser und trat auf mich zu.

An den verschiedensten Anzeichen - an seiner belegten, heiseren Stimme; an dem Blut, das ihm deutlich sichtbar in die Wangen und in den Kopf stieg; an seinen plötzlich wie erstarrten und glasi= gen Augen, die geradeso wie die eines Blinden wirkten-konnte man erkennen, daß er gleich mit der Ab= sieht hierhergekommen war, mich ins bessere Jenseits zu befördern und sich jetzt in diesem Augenblick endgültig zu diesem Entschluß durchgerungen hatte. »Halt, Moment mal!« fuhr ich ihn an, um ihn zunächst mal zumindest für diesen kritischen Augenblick aus dem seelischen Gleichgewicht

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zu br ingen und dadurch Zeit zu ge= Winnen.

Und tatsächlich gelang mir das auch; er erstarrte. »Sie würgen immer noch herum, um Ihre Hände freizubekommen«, murmelte er, merklich unsicher geworden. Er= neut kam er auf mich zu, trat dies= mal jedoch hinter mich und stellte sich hinter den Stuhl, auf dem ich gefesselt saß.

Ich riß meinen Körper und dadurch auch den Stuhl mit einem Ruck, so= weit es mir in meinem gefesselten Zustand überhaupt möglich war, so weit herum, daß ich ihn wieder un= mittelbar vor mir stehen hatte. »Nützt Ihnen alles nichts!« erklärte ich ihm. »Ich habe die beiden hin= untergehen hören; sie sind nur eine Treppe weit hinuntergestiegen. Also würden sie Sie auf jeden Fall hören, wenn Sie jetzt hier mit Ihrem Schießeisen herumballern. Ganz abgesehen davon habe ich noch eine weitere schriftliche Nachricht für Sie bei mir, und zwar von Nero Wolfe, hier in meiner Brusttasche. Nur los, ziehen Sie sie heraus und lesen Sie sie, aber bleiben Sie währenddes= sen hier vor mir stehen.« Er stand nur zwei Schritte von mir entfernt, aber er benötigte dafür vier kleine, allerdings sehr vorsich= tige und langsame. Seine behand= schuhte Hand fuhr in den Aus=

schnitt meines Jacketts hinein, und als er sie wieder herauszog, hielt er darin einen zusammengefalteten gelben Zettel. Nach dem glasigen Ausdruck seiner Augen zu urteilen, zweifelte ich, daß es ihm überhaupt möglich sein würde zu lesen, was darauf geschrieben stand; aber an= scheinend war er dazu doch im= stände. Und während er die Worte in Wolfes minuziöser Handschrift las, beobachtete ich aufmerksam sein Gesicht:

>Falls Mr. Goodwin nicht bis Mit= ternacht wieder zu Hause ist, wer= den die Informationen, die er von Cynthia Brown erhalten hat, an die Polizei weitergeleitet, und ich werde persönlich dafür sorgen, daß sie sofort handelt und eingreift. NERO WOLFE.<

Er blickte mich starr an. Und lang= sam, aber deutlich wechselte der Ausdruck seiner Augen. Sie wirk= ten nicht mehr länger so glasig wie die eines Blinden; jetzt hatten sie tückisch zu glitzern begonnen. Vor= her hatte er einfach die Absicht ge= habt, mich auf die für ihn be= quemste Weise, ohne sich dabei ir= gendwie emotionell zu echauffieren, in jenes angeblich bessere Jenseits zu befördern. Jetzt hingegen loderte in seinen Augen tödlicher, tücki= scher Haß.

»Sie sehen also«, schaltete ich mich

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blitzschnell ein, »daß das, was Sie da eben vorhatten, nicht den min= desten Zweck hat. Wolfe hat das Ganze in dieser Weise arrangiert, weil Sie, wenn Sie gewußt hätten, daß ich ihm bereits alles erzählt habe, mucksmäuschenstill gesessen, sich auch sonst nicht gerührt und sich dann auch quasi nicht selbst als der Mörder identifiziert hätten. Er rechnete sich aus, Sie würden wahr= scheinlich glauben, allein mit mir fertig zu werden, und ich muß zu= geben, Sie haben in dieser Hinsicht Ihr möglichstes getan. Er will von Ihnen bis morgen, sechs Uhr abends, keine Minute später als Punkt sechs, fünfzigtausend Dollar in bar. Sie sagten vorhin, es ließe sich nicht arrangieren, daß Sie für das, was Sie da zahlen, auch den wirklichen Gegenwert erhalten. Nun, alles was wir dazu zu sagen haben-die Entscheidung liegt ganz allein bei Ihnen. Sie vermuten-lassen wir es dahingestellt ob zu Recht oder zu Unrecht -, daß wir keinerlei Beweismittel in Händen haben; aber wir können uns diese Beweismittel beschaffen, glauben Sie nicht auch? Was mich betrifft, so möchte ich Ihnen den wohlge= meinten Rat geben, mir kein einzi= ges Haar zu krümmen. Ich ver= sichere Ihnen, das würde ihn stink= sauer auf Sie machen; bisher ist ei

noch nicht stinksauer - er will le= diglich fünfzigtausend Piepen ha= ben.« Am ganzen Körper zitternd starrte er mich an, und er war sich auch durchaus bewußt, daß er da schlot= ternd vor mir stand und bemühte sich vergeblich, dieses Schlottern zu unterdrücken.

»Vielleicht sind Sie innerhalb die= ser kurzen Frist nicht in der Lage«, gestand ich ihm zu, »einen derarti= gen Betrag flüssig zu machen. In diesem Falle ist Wolfe geneigt, sich fürs erste damit zufriedenzugeben, daß Sie ihm einen Schuldschein aus= stellen; Sie können ihn gleich hier auf die Rückseite eines der beiden Zettel schreiben, die Sie mir ge= schickt haben. Mein Kugelschreiber steckt gleich links oben in meiner Westentasche. Sie sehen, Wolfe hat die Sache gründlich durchdacht und eine für beide Teile durchaus be= friedigende Lösung gefunden.« »Ich bin kein solcher Narr!« herrschte er mich an. »Hat etwa jemand behauptet, Sie seien ein Narr?« Mit scharfer und eindringlicher Stimme redete ich jetzt auf ihn ein und hoffte, daß ich ihn wenigstens zunächst mal aus dem Konzept gebracht hatte. »Sie brauchen es sich nur einmal gründ= lieh durch den Kopf gehen zu las= sen, das ist alles. Entweder ist es

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uns jetzt gelungen, Sie in die Enge zu treiben oder nicht. Ist uns dies nicht gelungen - was haben Sie dann hier in diesem Haus noch wei= ter verloren, was wollen Sie hier dann noch? Ist es uns hingegen ge= lungen, dann würden die paar Zei= len, unter die Sie lediglich Ihren Namen zu setzen brauchen, Ihre gegenwärtige Situation in keiner Weise verschlechtern. Ich bin kei= neswegs darauf aus, Sie allzusehr unter Druck zu setzen. Aber wie ich schon sagte, gleich links oben in meiner Westentasche steckt mein Kugelschreiber.«

Ich glaube immer noch, ich hatte ihn jetzt so weit, daß ich ihn von seiner Mordabsicht abgebracht hatte. Es war an dem Ausdruck seiner Augen und an der Art, wie er mit leicht herabgesackter Schulter vor mir stand, zu er= kennen. Wenn ich die Hände frei= gehabt hätte, so hätte ich selbst meinen Kugelschreiber herauszie= hen und ihm in die Hand drücken können, und dann hätte ich ihn vollends herumgehabt. Ich hatte ihn tatsächlich ganz dicht vor dem entscheidenden Punkt, daß er mir den Schuldschein schrieb und un= terzeichnete. Aber ich hatte ihn eben noch nicht über den Punkt hinweggebracht, daß er von sich aus den Kugelschreiber aus meiner

Westentasche zog. Und falls ich tatsächlich beide Hände freigehabt hätte, dann hätte ich sowieso weder den Kugelschreiber noch irgend= einen von ihm unterzeichneten Schuldschein gebraucht. So aber gelang es ihm, mir buch= Stäb lieh im letzten Augenblick nodi zu entwischen. Er schüttelte den Kopf und straffte die Schultern. Der Haß, der bisher nur in seinen Augen gelodert hatte, war jetzt auch aus dem Tonfall seiner Stimme herauszuspüren. »Inner» halb vierundzwanzig Stunden, ha= ben Sie gesagt? Dann bleibt mir also bis morgen Zeit. Ich muß mich erst noch entscheiden; sagen Sie Nero Wolfe, daß ich mich bis dahin entscheiden werde.« Quer durch den Raum ging er zur Tür und zog sie auf. Er ging hin= aus, ließ sie hinter sich zufallen, und ich hörte ihn die Treppe hin= untergehen; aber er hatte weder seinen Hut noch seinen Mantel mitgenommen, und ich zermarterte mir das Hirn, was das nun wie= der bedeuten mochte. Allzulang brauchte ich es mir allerdings nicht zu zermartern, denn gleich darauf kamen Schritte die Treppe herauf, und zwar Schritte von allen dreien. »Wie spät ist es genau auf Ihrer Uhr?« wandte sich mein Gastgeber an den Hageren.

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Der blickte auf sein Handgelenk. »Neun Uhr zweiunddreißig.« »Binden Sie ihm um halb elf die linke Hand los. Lassen Sie ihn dann hier so zurück und gehen Sie. Er wird wenigstens fünf Minuten brauchen, um auch seine andere Hand und seine Füße freizubekom= men. Haben Sie beide irgendwel= che Einwände dagegen?« »Nein, von uns will er ja gar nichts und kann uns auch nichts an= haben.«

Der Würger zog ein Bündel Bank= noten aus der Tasche und hatte mit seinen Handschuhen einige Schwie= rigkeiten, zwei Zwanziger von die= sem Bündel herunterzupellen. Dann ging er mit den beiden Scheinen zu dem Tisch hinüber und rieb sie auf beiden Seiten mit seinem Taschen= tuch gründlich von irgendwelchen Fingerabdrücken sauber. Er hielt die Scheine dem Hageren hin. »Wie Sie wissen, habe ich Ihnen die vereinbarte Summe ja bereits bezahlt. Dieses Extra ist da= für gedacht, daß Sie nicht die Ge= duld verlieren und das Haus nicht vor halb elf verlassen.« »Nehmen Sie's nicht an!« rief ich scharf dazwischen. Der Hagere, der die Scheine inzwischen bereits in der Hand hielt, wandte sich zu mir um. »Was ist - sind an diesen grü= nen Lappen etwa Bazillen dran?«

»Nein, aber das ist doch nur ein Taschengeld, mit dem er euch da abspeisen will, ihr Dösköpfe! Für euch ist der Kerl doch gut und gerne seine Zehntausend wert! Oder etwa nicht?« »Unsinn«, sagte mein würgefreu= diger Gastgeber und begann auf das Bett zuzugehen, um sich seinen Hut und seinen Mantel zu holen. »Los, gib mir schon meine Zwan= zig«, verlangte R=J, der Ringer= Jockey.

Der Hagere war hingegen reglos stehengebheben, hatte den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und sah mich an. Er schien an dem, was ich gesagt hatte, nur mäßig interes= siert, dafür aber um so skeptischer zu sein, und mir war klar, daß es mehr als bloßer Worte bedurfte, um ihn zu überzeugen. Als mein Gastgeber gerade seinen Hut und Mantel aufgehoben hatte und im Begriff war, sich umzudrehen, riß ich meinen Körper mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft herum und kopfüber ging es mit mir da= hin, mitsamt dem Stuhl. Ich habe keine blasse Ahnung, wie ich es überhaupt fertigbrachte, bis zu der Tür, die auf den Gang hinausführte, zu gelangen. Wegen des Stuhles, der an mich und an dem ich fest= gebunden war, konnte ich mich ja nicht einmal auf dem Boden rollen;

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ebensowenig konnte ich mit den Händen vorankraulen; und es mit einem Hechtsprung zu versuchen, kam mir in Anbetracht meiner Lage gar nicht erst in den Sinn. Aber ir= gendwie schaffte ich es dennoch, und zwar nicht etwa im Zeitlupen= tempo, und jetzt lag ich dort mit der rechten Schulter auf dem Bo= den - der Stuhl vor der Tür und ich an dem Stuhl festgebunden - noch ehe einem von den beiden Zeit ge= blieben war, zuzupacken und mich zurückzuhalten.

»Glaubt ihr etwa«, schnauzte ich den Hageren an, »dies ist für euch weiter nichts als ein miserabel be= zahlter Routinejob? Von mir aus laßt ihn laufen, und dann werdet ihr selber noch dahinterkommen! Und falls ihr seinen Namen wissen wollt. Mrs. Carlisle - Mrs. Homer N. Carlisle. Soll ich euch auch noch die Adresse geben?« Der >Würger<, der in diesem Augenblick gerade auf mich zutrat, hielt jählings inne und erstarrte zur Salzsäule. Er - oder an sich sollte ich sagen: sie - stand mit ihren langwimprigen Augen, die sie starr auf mich gerichtet hielt, vor Uber= raschung steif wie ein Besenstiel. »Eine Missus?« Ungläubig gaffte der Hagere mich an. »Haben Sie eben >Mrs.< gesagt?« »Ja, verflixt noch mal. Sie ist eine

Frau. Mich habt ihr hier fachgerecht an den Stuhl geschnürt, so daß ich hilflos daliege und nichts weiter tun kann. Aber ihr, ihr könnt sie euch schnappen. Und außerdem könnt ihr mich an den zehn Tausendern, die in der Sache drinstecken, pro= zentual ein wenig beteiligen.« Die >Würgerin< tat einen hastigen Schritt zur Seite, worauf ich natür= lieh prompt reagierte: »Laßt sie euch ja nicht durch die Lappen gehen, wenn ihr etwas von den zehn Tausenddollarscheinchen se= hen wollt!«

R=J, der Ringer=Jockey, der in die= sem Augenblick trotz seiner Streich* holzbeine wie ein Nilpferd auf mich zugetrampelt kam, blieb wie ange= wurzelt stehen, drehte sich zu ihr um und glotzte sie an wie ein Schaf. Ich selbst hatte mir bei dem An= prall gegen die Tür gehörig den Kopf angeschlagen, und es summte darin wie in einem Bienenstock. Der Hagere trat auf die besagte Mrs. zu, riß die beiden Seiten ihres Zweireihers auseinander und trat einen Schritt zurück. »Es könnte tatsächlich 'ne Frau sein«, gab er zu.

»Das können wir im Handumdre» hen herauskriegen«, grunzte R=J. »So dumm ich auch sein mag - so= was krieg' ich dennoch im Hand» umdrehen heraus.«

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»Nur los«, drängte ich. »Dann könnt ihr gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und euch überzeu» gen, wie ihr mit ihr und wie ihr mit mir dran seid. Also los, macht schon, worauf wartet ihr noch?« R=J begann wie ein schaukelndes Nilpferd auf sie zuzutrampeln und streckte die Hand nach ihr aus. Wie von der Tarantel gestochen, schrak sie zurück. »RührenSie mich nicht an!« kreischte sie. »Ich werd' dir gleich mal - «, setzte R=J in seinem kauderwelschenden Rotwelsch an, wurde jedoch von dem Hageren unterbrochen. »Was soll dieser Gag«, verlangte der Hagere zu wissen, »dieser Gag mit den zehn Tausendern?« »Das ist eine ziemlich langwierige Story«, erklärte ich ihm, »aber die zehn großen Piepen stecken da tat» sächlich drin, falls ihr scharf darauf seid. Sofern ihr mich mit einem Drittel daran beteiligt, ist die Sa= che hiermit geritzt. Wenn euch je= doch diese Mrs. von hier entwischt und heil nach Hause gelangt, könnt ihr ihr nichts mehr anhaben und die zehn Grand sind im Eimer. Alles, was wir zu tun brauchen, um ihr diesen Ausweg zu vermasseln, ist, sie hier auf der Stelle als Mrs. Homer N. Carlisle zu entlarven, was sie in aller Unschuld auch wie= der sein würde, wenn sie es schafft,

ungeschoren in ihr trautes Heim zurückzugelangen. Falls wir ihr hier aber auf der Stelle die Maske her» unterreißen, dann haben wir sie am Kanthaken. Und so wie sie jetzt hier vor euch steht, ist sie für uns drei die besagten zehn großen grü» nen Scheinchen wert. Schafft sie es hingegen, nach Hause zu kommen, so ist sie dort so sicher, daß wir sie nicht einmal mehr mit dem kleinen Finger anrühren können, und außerdem für uns keinen lausigen Cent mehr wert.«

»Schön - was tun wir also?« fragte der Hagere. »Meine Kamera habe ich leider nicht dabei.« »Da habe ich was besseres auf La= ger. Also macht schon - bindet mich endlich los, und ich werde es euch zeigen.«

Dem Hageren schien die Sache, die ich da vorgeschlagen hatte, ganz und gar nicht koscher. Mißtrauisch beäugte er mich ein paar Sekunden lang, und dann wandte er sich um und beäugte die anderen. Mrs. Car= lisle war bis zum Bett zurückge» wichen, und R=J hatte sich, die Fäuste in die Hüften gestützt, vor ihr aufgebaut und war dabei, sie von ihrem scharf gezogenen Schei= tel bis zur Schuhsohle abzutaxie= ren. Der Hagere wandte sich wieder an mich. »Also gut, wir werden uns

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auf den fragwürdigen Kuhhandel, den Sie uns da vorschlagen, einlas» sen - vielleicht. Also los - was ist das für ein Trick, den Sie auf Lager haben?« Kaltschnäuzig gab ich zu= rück: »Zumindest könnt ihr mich hier mal von meiner rechten Seite aufheben. Eure Kordeln nagen mir langsam die Handgelenke durch.« Er kam zu mir herüber, faßte mit der einen Hand die Lehne des Stuhls und mit der anderen meinen Arm, und ich stemmte die Füße, so» weit ich dazu in der Lage war, fest auf den Boden, damit wir beide bei dieser Operation nicht das Gleich» gewicht verloren. Er erwies sich als stärker und kräftiger, als ich ihn eingeschätzt hatte. Als ich dann wieder auf dem Stuhl saß, blok» kierte ich mit diesem Stuhl immer noch die Tür und damit den einzi» gen Ausgang aus dem Zimmer. »Holen Sie die Flasche raus, die in meiner rechten Tasche steckt«, er» klärte ich ihm. »Nein, nicht dort aus dem Regenmantel - gleich hier aus meiner Jackettasche. Ich hoffe nur, das Ding ist durch meinen Salto nicht in die Brüche gegan» gen.« Er fischte sie heraus. Sie war noch intakt. Er hielt sie ge= gen das Licht und versuchte zu ent» Ziffern, was auf dem Etikett ge= schrieben stand. »Was ist da drin?« »Silbernitrat. Es hinterläßt fast

überall, auch auf der menschlichen Haut, schwarze, unauslöschliche und nicht mehr wegzubringende Flecken. Krempelt ihr eines von ihren Hosenbeinen hoch und schmiert sie mit dem Zeug so ein, daß sie dadurch deutlich gekenn» zeichnet ist.« »Und dann - was?« »Dann laßt sie laufen. Dann haben wir sie an der Angel. Wir drei als Zeugen, die ein bißchen plaudern können, wie und wann sie derart markiert worden ist - damit ist sie glatt unten durch.« »Wie kommt's, daß Sie das Zeug eigentlich bei sich haben?« »Ich hoffte auf eine Gelegenheit, daß es mir selber gelingen würde, sie damit zu markieren.« »Wird's ihr sehr weh tun?« »Nicht im mindesten. Von mir aus reibt auch mich damit ein, wenn ihr wollt und wo immer es euch paßt, nur seid so freundlich - wenn mög» lieh nicht gerade im Gesicht.« Er war immer noch dabei, das Fla» schenetikett zu entziffern. Auf» merksam beobachtete ich sein Ge­sicht und hatte nur die eine Hoff» nung, er würde mich nicht danach fragen, wie lange diese Markierun» gen mit Silbernitrat andauern, weil ich nicht wußte, welche Antwort ihm am besten in den Kram passen würde, und wenn ich ihn nun mal

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herumkriegen wollte, mußte ich ihm so weit wie möglich nach dem Mund reden und durfte ihn ja nicht etwa argwöhnisch machen, »'ne Frau«, murmelte er vor sich hin, »'ne Frau!« »Yeah«, sagte ich und ging sofort auf das ein, was ihm im Kopf her= umschwirrte. »Die hat euch beide allerdings gehörig auf die Schippe genommen.« Er blinzelte ein paarmal und wandte dann den Kopf. »He!« rief er zu dem Ringer-Jockey hinüber. R=J drehte sich prompt zu ihm um. »Schnür sie zusammen!« befahl ihm der Hagere. »Aber nicht so, daß es sie sehr schmerzt.« R=J streckte die Hand nach ihr aus. Aber während er das tat, war sie auf einmal weder ein Mann noch eine Frau, sondern ein Hurrikan. Wäh= rend er zugreifen wollte, sprang sie blitzartig zur Seite, und bis es in seinen Gehirnwindungen gedäm= mert hatte, daß es ihm gar nicht ge­lungen war, sie zu packen, war sie auch bereits - der Teufel weiß wie - z u m Tisch hinübergelangt und hatte die Pistole in der Hand. Den­noch versuchte er, sie sich erneut zu schnappen. Sie zog den Abzug durch, und abwärts ging's mit ihm; taumelnd kippte er vornüber und landete unmittelbar rechts vor ihren Füßen. In der Zwischenzeit

war aber auch der Hagere nicht un­tätig geblieben. Fast hatte er sie sich schon geschnappt, da wirbelte sie erneut herum und schlüpfte ihm unter den ausgestreckten Hän­den durch. Es krachte zum zweiten­mal, und nach der Heftigkeit des Schlages zu urteilen, der meine linke Schulter traf, hätte ich mir glatt auskalkuliert - sofern mir in diesem Augenblick danach zumute gewesen wäre -, daß die Kugel nicht vorher schon durch den Ha­geren hindurchgegangen war, noch ehe sie mich getroffen hatte. Sie zog den Abzug noch ein drittes Mal durch, aber bis dahin hatte der Ha­gere ihr Handgelenk erwischt und war drauf und dran, ihr den Arm zu brechen.

»Sie hat mir eins verpaßt!« jaulte R-J entrüstet. »Das Weibsstück hat mir doch glatt eine ins Bein ver­paßt!«

Der Hagere drehte ihr so weit das Handgelenk herum, bis sie schließ­lich in die Knie sackte. »Los, kom­men Sie und schneiden Sie mich los«, rief ich ihm zu. »Und dann schauen Sie sich mal um, wo sich hier im Haus oder außerhalb das nächste Telefon befindet.« Abgesehen von meinen abge­schnürten Hand- und Fußgelenken, von meinem wie ein Bienenstock brummenden Schädel und meiner

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höllisch schmerzenden Schulter fühlte ich mich blendend.

»Na, nun sind Sie wohl mal wieder sehr mit sich zufrieden«, sagte In» spektor Cramer mit säuerlichem Gesicht. »Ihr wertes Konterfei und das von Goodwin werden wieder einmal auf die Titelseiten der Zei= tungen geklatscht. Zwar heimsen Sie diesmal kein fettes Honorar ein, statt dessen aber eine Wag= gonladung Gratis=Publicity. Und ich kriege mal wieder von oben her eine Zigarre verpaßt.« Wolfe grunzte behaglich. Die Dicks der ganzen Mordabtei» lung waren herumgeflitzt wie die Wiesel und hatten sich die Hacken abrennen müssen: R=J im Kranken» haus aufzusuchen; um mit Mr. und Mrs. Carlisle im Büro des Staats» anwalts ausgiebigen Plauderstünd» chen beizuwohnen; um sich auf die Suche zu machen, Indizienbeweise herbeizuschaffen, aus denen ein» deutig hervorging, daß es Mr. Car» lisle gewesen war, der das nötige Diridari für Doris Hattons Miete geliefert hatte, und daß Mrs. Car» lisle davon gewußt hatte; um dem Hageren gehörig die Daumen» schrauben anzusetzen; und noch einige andere Kleinigkeiten. Mit Freuden hatte ich bezeugt, daß der Hagere, der mit bürgerlichem

Unterweltsnamen Herbert Marvel hieß, hundertprozentig auf Draht gewesen war, als die Lage kritisch wurde. »Ich bin eigentlich hergekommen«, fuhr Cramer fort, »um Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß ich mir darüber im klaren bin, daß mir Ihnen gegenüber wieder einmal die Hände gebunden sind. Ich weiß, diese Cynthia Brown hatte Good» win die saubere Mrs. Carlisle be= schrieben und ihm wahrscheinlich auch deren Namen gesagt, und Goodwin hat es dann Ihnen erzählt. Sie haben natürlich wieder einmal Ihren fetten Daumen draufge» drückt, um nichts durchsickern zu lassen. Wahrscheinlich glaubten Sie, irgend jemand würden Sie schon finden, dem Sie ein gesalzenes Ho» norar aus der Nase ziehen könnten. Somit steht also fest, daß Sie beide wissentlich Beweismaterial unter» schlagen haben.« Mit einer resi» gnierten, vagen Geste fuhr seine Hand durch die Luft. »Okay, ich kann es Ihnen nicht nachweisen. Aber ich weiß es, und ich möchte, daß Sie wissen, daß ich es weiß. Und glauben Sie ja nicht, daß ich das jemals vergesse.« »Das Mißliche daran ist«, mur» melte Wolfe, »daß, wenn Sie nicht beweisen können, daß Sie recht haben - und selbstverständlich

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können Sie das nicht -, auch ich Ihnen nicht nachweisen kann, daß Sie sich auf dem Holzweg befin» den.« »Oh, das können Sie sehr wohl. Nur haben Sie nicht die mindeste Absicht, das zu tun!« »Ich würde es nur zu gern ver= suchen. Fragt sich nur - wie?« Eifrig beugte sich Cramer vor. »Zum Beispiel in diesem Punkt: Wenn sie Ihnen von Goodwin nicht beschrieben worden ist, wie war es Ihnen dann möglich, aus all den Besuchern gerade sie herauszupik= ken und ihr jenen Erpresserbrief zu schicken?«

Wolfe zuckte die Achseln. »Ich habe nur ein wenig gerechnet und zwei und zwei zusammenaddiert, wie ich Ihnen bereits sagte. So wie ich folgerte, mußte der Täter unter denen zu suchen sein, die geblieben waren, bis die Leiche entdeckt wurde. Es erschien mir durchaus lohnend, diese Schlußfolgerung einmal zu testen. Wäre auf den Brief hin keine telefonische Ant= wort erfolgt, so hätte ich diese Schlußfolgerung fallenlassen und würde . . . «

»Ja, schon, aber warum verfielen Sie ausgerechnet auf diese Car= lisle?« »Unter denen, die bis zum Schluß blieben, befanden sich nur zwei

Frauen. Ganz offensichtlich konnte es nicht Mrs. Orwin gewesen sein; allein schon auf Grund ihrer Figur wäre es ihr niemals auch nur im entferntesten möglich gewesen, sich als Mann zu verkleiden und als sol= eher aufzutreten. Abgesehen davon ist sie verwitwet, und die Ver= mutung lag nicht allzufern, daß Do= ris Hatton von einer eifersüchtigen Ehefrau umgebracht worden war, d i e . . . «

»Aber warum ausgerechnet eine Frau? Warum nicht ein Mann?« »Ach so, das meinen Sie.« Wolfe setzte sein Glas Bier an die Lippen und süffelte es in einem Zuge noch genießerischer und langsamer aus als sonst. Er schien sich in seiner Haut jetzt gerade wieder einmal recht behaglich zu fühlen. »Ich sagte Ihnen drüben im Eßzim= mer - « Er deutete mit dem Finger vage in die betreffende Richtung » - daß mir da etwas aufgefallen war und daß ich mir die Sache erst noch ein wenig durch den Kopf gehen lassen wollte. Später würde ich es Ihnen nur zu gern erzählt haben, wenn Sie nicht in so unver= antwortlicher und boshafter Weise darauf bestanden hätten, mein Büro versiegeln zu lassen. Diese Ihre Handlungsweise ließ mich daran zweifeln, ob Sie tatsächlich fähig wären, meiner Anregung in

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der erforderlichen Art nachzu» gehen, und so kam ich dann zu dem Schluß, die Dinge lieber selbst in die Hand zu nehmen. Was mir aufgefallen war, war ganz einfach, daß Miss Brown Mr. Goodwin erzählt hatte, sie würde >ihn< nicht wiedererkannt haben, wenn er keinen Hut aufgehabt hätte! Selbstverständlich ge= brauchte sie während der ganzen Unterhaltung immer nur das mann» liehe Fürwort, weil es scheinbar ein Mann gewesen war, der an jenem Oktobertag Doris Hatton in ihrem Appartement besucht hatte, und so hatte sich der Täter in ihrem Ge= dächtnis als Mann fixiert. Aber es war ja in meinem Gewächshaus ge= wesen, wo sie ihn an jenem Nach» mittag wiedererkannt hatte - und kein einziger Mann hatte dort oben einen Hut getragen! Die Männer hatten ihre Hüte unten in der Gar= derobe gelassen. Außerdem war ich ja selber oben und habe es gesehen. Die Frauen hingegen hatten nahezu alle Hüte auf.« Wolfe drehte die Handflächen nach oben. »Also konnte es nur eine Frau gewesen sein.«

»Das glaube ich Ihnen einfach nicht«, platzte Cramer heraus. »Nun, Sie haben doch Mr. Good» wins Bericht und die Unterhaltung im Eßzimmer von einem Ihrer

Leute mitstenografieren lassen?« »Ich kann es noch nicht glauben.« »Und dann fielen mir noch ein paar andere kleine Details ein.« Gut» gelaunt und im Spaß drohte Wolfe ihm mit dem Finger. »Zum Beispiel: Wer Doris Hatton erwürgte, war im Besitz eines Schlüssels zu ihrem Appartement. Aber ihr Betreuer und Geldlieferant, der sich so über» aus sorgfältig im dunkeln zu halten verstanden hatte, würde niemals das Risiko eingegangen sein, einem Fremden zu begegnen, indem er zu unerwarteter Stunde einfach dort eindrang. Und wem würde sich wohl je eine so günstige Gelegen» heit geboten haben, sich ein Dupli» kat dieses Schlüssels anfertigen zu lassen, wie der eifersüchtigen Ehe» frau des seelischen und finanziellen Betreuers dieser Doris Hatton?« »Reden Sie nur - reden Sie von mir aus den ganzen Tag lang! Auch dann werde ich Ihnen immer noch kein Wort davon abnehmen!« Well, dachte ich im stillen, während ich Wolfes breites Grinsen be­obachtete und ausnahmsweise ein» mal nicht das mindeste dagegen einzuwenden hatte, Cramer, dieser tüchtige Büroversiegler, kann sich ja immer noch überlegen, ob er ihm die Sache glauben will oder nicht. Was mich betraf, so bedurfte es keiner weiteren Überlegungen.

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Cornell Woolrich

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Cornell Woolrich in Höchstform: Eine Thriller=Novelle über eines der verblüffendsten Verbrechen, das je begangen wurde - in der beklemmenden Enge eines Fahrstuhls - und die nochverblüffendere Abendparty, die nur deshalb in Szene gesetzt wurde, um aus dem schuldigen Gewissen des bisher noch unbekannten Mörders ein Geständnis herauszuhämmern...

MacKenzie stieg dem Fahrstuhl im dreizehnten Stockwerk zu. Er war Handelsvertreter für Wasserfilter und hatte, ehe er für diesen Tag nach Hause fuhr, das Verkaufsbüro seiner Firma aufgesucht, um die Abrechnungen zu erledigen. Später an jenem Abend erzählte er dann lächelnd seiner Frau, es müßte wohl daran gelegen haben, daß aus= gerechnet ihm dies alles passiert wäre, weil er eben im dreizehnten Stock zugestiegen sei. In vielen Wolkenkratzern wird dieses Stock= werk einfach ausgelassen. Der rote Knopf glimmte auf, und der Lift hielt an. Es war ein Expreß» Fahrstuhl, der beim Hinauf- und Hinunterfahren durch alle Stock»

werke vom zehnten abwärts ohne anzuhalten hindurchfuhr. Als Mac» Kenzie zustieg, befanden sich außer dem Fahrstuhlführer bereits zwei andere Männer darin. Es war spät am Nachmittag, und die mei= sten Büros hatten sich bereits ge= leert. Einer der beiden Mitfahrer war ein Mann, der mit seiner rand» losen Brille wie ein Gelehrter wirkte, groß und leicht nach vorn übergeneigt. Später kam dann der Zeitpunkt, da MacKenzie all ihre Namen erfuhr. Dieser hier hieß Kenshaw. Der andere war unter» setzt, mit einem engelsgleichen Mondgesicht - einer der beiden Teilhaber in einem um seine Exi» Stenz ringenden Miniatur=Konzern,

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der Füllfederhalter mit einer win= zigen, in die Kappe eingebauten Glühbirne ohne viel Erfolg auf den Markt zu bringen versuchte. Wäh» rend der Abwärtsfahrt fingerte er mit stolzer Besitzermiene an einem seiner eigenen Muster herum, in= dem er immer wieder die winzige eingebaute Lampe aufblitzen ließ. Lambert war sein Name, wie sich später ergab.

Der Fahrstuhl selbst wirkte mit seinen ganz in Chrom und Bronze gehaltenen Verzierungen sehr ele= gant und zuverlässig und glitt nahezu geräuschlos abwärts. Im nächsttieferen Stockwerk, dem zwölften, kam er sanft zum Stehen, und ein säuerlich dreinschauendes Individuum mit buschigen Augen= brauen trat herein - Pendergast. Dann leuchtete auf dem Schaltbrett des Fahrstuhlführers die Nummer ix auf, und so hielt der Fahrstuhl dort ebenfalls an. Ein Mann unge= fähr in MacKenzies Alter und ein älterer Mann mit einem sauber ge= trimmten weißen Schnurrbart standen dort Seite an Seite, als die Fahrstuhltüren auseinanderglitten. Jedoch nur der jüngere der beiden Männer schickte sich an, zuzustei= ger; der ältere faßte ihn zur Ver= abschiedung lediglich kurz am Arm. »Richte Elinor aus, daß ich mich nach ihr erkundigt habe und

an sie denke«, bemerkte er laut, ehe er zurücktrat und sich abwandte. »Bye, Daddy«, gab ihm der jüngere zur Antwort und trat ein. Har= decker war sein Name. Im gleichen Augenblick leuchtete Rufzeichen xo auf. Der Neuzugang vom elften Stock= werk hatte sich mit dem Gesicht zur Tür gewandt, so wie es von jedem Fahrstuhlbenutzer zu seiner eige= nen Sicherheit erwartet wird. Rein zufällig waren sie so zu stehen ge= kommen, daß MacKenzie über die Schulter des Griesgrämigen mit den buschigen Augenbrauen hinweg, wie fasziniert davon angezogen, auf den Hinterkopf Hardeckers starren konnte; in der Tat hatte er noch niemals im Leben einen sol= chen geradezu mit einhundert Watt blitzenden Kahlkopf zu sehen be= kommen-es sei denn auf der Kino» leinwand, in einem Film mit Yul Brynner. Die Gesichtszüge dieses Mannes - das mußte man zugeben -glichen diese Kahlheit jedoch in sympathischster Weise aus; in sei» nem Gesamteindruck besaß er da= durch gegenüber anderen Männern sogar noch einen Vorsprung. MacKenzie erinnerte sich dieses Gesichts, wie er später überlegte, eigentlich nur deshalb so genau, weil der Neuankömmling, als er sich zur Tür gewandt hatte, dem

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Griesgrämigen versehentlich auf die Zehenspitzen getreten war. Ein kleines alltägliches Zwischenspiel am Rande, weiter nichts. MacKen= zie war sich überhaupt nicht be= wüßt, daß ihn dieses kleine Zwi= schenspiel veranlaßt hatte, die Si= tuation so gründlich zu analysieren; ansonsten waren ihm nämlich noch allerlei andere lose zusammenhän= gende Gedanken durch den Kopf gegangen.

Auf 10 stieg ein weiterer einzelner Fahrgast zu; nach dem Bündel von grünen, rosa und kanariengelben Zetteln zu urteilen, die er mit dem Daumen durchschuffelte, ein In» kasso=Agent. Seinem mürrischen Gesicht nach hatte er an diesem Tag wenig Glück gehabt; oder vielleicht taten ihm auch ganz einfach nur die Füße weh. Dieser hier hieß Me= gaffin.

Sieben Personen befanden sich jetzt einschließlich dem Fahrstuhlführer im Lift, standen in einer zusam» mengedrängten kleinen Gruppe beieinander, die Gesichter zur Tür gewandt, und der Fahrstuhl würde ohne Zwischenstop erst wieder im Parterre halten. Keine sehr große Zahl von Personen also; zweifellos war der Fahrstuhl für eine weit stärkere Personenbelastung gebaut worden. Das kleine gerahmte Me= tallschild, das unmittelbar vor

MacKenzies Augen an der Fahr» stuhlwand befestigt warA besagte, daß er gerade erst vor zehn Tagen auf seine Sicherheit überprüft wor= den war. Er kam jedoch im Parterre keines» wegs zum Stehen. Am Spätabend jenes Tages ver= suchte MacKenzie für seine Frau die Reihenfolge und den Ablauf der Ereignisse zu rekonstruieren und sagte, der Fahrstuhlführer schien den Lift, nachdem sie das zehnte Stockwerk hinter sich gelas= sen hatten, mit erhöhter Geschwin» digkeit abwärts gefahren zu haben. Schließlich war es ja ein Expreß» Lift gewesen, und so hatte er sich nichts weiter dabei gedacht. An die» ser Stelle erinnerte er sich, am Hals des Fahrstuhlführers dicht über dem Kragen seiner Uniform ein Furunkel bemerkt zu haben, das von einem Malteserkreuz aus Heft» pflaster verdeckt gewesen war. Wie es vielen Menschen ergeht, bekam MacKenzie bei dem allzu jähen Ab» wärtsgleiten in der Magengrube jenes seltsame Gefühl des Versin» kens zu spüren. Der kahlköpfige junge Mann von Stockwerk 1 1 , der jetzt dicht neben ihm stand, warf ihm einen halb amüsierten, halb schmerzlichen Blick zu, und so wußte MacKenzie, daß jener das gleiche Gefühl empfand wie er. Je»

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mand weiter hinten pfiff leise zwi» sehen den Zähnen hindurch, um sei= nem leichten Unbehagen Ausdruck zu geben. Es war ein vollständig geschlosse= ner Fahrstuhl, ganz aus Metall, und so konnte man nicht etwa die Eisenstreben des Fahrstuhlschach» tes vorbeigleiten sehen. Doch muß» ten sie in rasender Fahrt abwärts» gleiten. MacKenzie bekam ein merkwürdiges Klingen in den Ohren zu spüren, geradeso, als ob man mit derU=Bahn unter demEast River hindurchfährt, und seine Kniegelenke schienen plötzlich aus Schaumgummi zu bestehen und ihn jeden Augenblick zusammensak» ken zu lassen.

Was ihn aber zum erstenmal - und ebenso all die anderen - wirklich bewußt werden ließ, daß etwas schiefgegangen war und es sich hier nicht um eine normale Ab» währtsfahrt handelte, das war die plötzliche, vergebliche, ruckartige Art und Weise, in der der Fahr» Stuhlführer den Kontrollhebel auf» und abzerrte. Dieser Hebel hatte dabei nur einen relativ kleinen Во» gen zu durchlaufen, aber der Fahr»

stuhl weigerte sich einfach, darauf zu reagieren. Für aller Augen deut» lieh sichtbar, rammte ihn der Fahr» Stuhlführer in die mit der Aufschrift NOTbremsung bezeichnete Kerbe

ein, aber nichts geschah. Inzwischen waren nur Sekunden, nicht Minu» ten, verstrichen. Mit gepreßter Stimme hörten sie ihn rufen: »Aufpassen! Gleich krachen wir auf!« Das war alles, wozu ihm gerade noch Zeit blieb. Die ganze Sache war eine Ange» legenheit von Sekundenbruchtei» len, wie das Klicken eines Kamera» verschlusses. Die Geschwindigkeit des Fallens wurde geradezu schmerzhaft. MacKenzie fühlte sich, als ob er in die Luft gehoben würde. Dann folgte ein gewaltiges Krachen wie ein Kanonenschuß, eine Explo» sion ins Dunkel hinein, und ein Regen von Glühlampen=Glassplit= tern prasselte auf sie herab. In dem plötzlichen rabenschwarzen Dunkel wurden sie wie ein Haufen Kegel umgeworfen und überein» ander und umher geschleudert. MacKenzie, der sich an die Rück» wand des Fahrstuhls gepreßt hatte, kam von allen noch am glimpflich» sten davon. Unter seinen Füßen spürte er nicht mehr den Hart» gummiboden des Fahrstuhls, son» dern nur noch sich windende menschliche Körper. Seine Schulter und seine Hüfte hatten jedoch durch den Aufprall schmerzhafte Prellun» gen abbekommen, und sein einer Fuß fühlte sich völlig taub an, so daß er durch die Schuhsohle hin»

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durch überhaupt nichts spürte, weil es ihn allzu hart gegen die Bronze» wand der Fahrstuhlkabine ge= schleudert hatte. Keiner bekam Gelegenheit, sich aus dem Gewirr zu lösen und wieder auf die Beine zu kommen. Sie wur» den wieder nach oben geschleudert, durch einen Stoßdämpfer auf dem Boden des Fahrstuhlschachts oder sonst irgend etwas. Auch dieses plötzliche Wieder=Angehoben= Werden war ein wenig schmerzhaft, aber natürlich längst nicht so schmerzhaft wie der Fall und der Aufprall. Das Angehoben=Werden ließ nach, verwandelte sich in ein erneutes leichtes Fallen, und dann krachten sie ein zweites Mal auf, je» doch längst nicht mit der gleichen Wucht wie beim erstenmal. Es war mehr ein gedämpftes, aber dennoch hartes Aufsetzen, das sie noch mehr durcheinanderwürfelte, als sie es ohnehin schon waren. Eine Schuh» spitze kratzte an MacKenzies Schädel vorbei. Sehen konnte er nichts, aber es gelang ihm, den Schuh mit den Händen abzufangen, ehe er ihn ein zweites Mal voll am Kopf treffen konnte. »Aufhören! Hört um Gottes willen damit auf!« schrie dicht neben ihm eine halb hysterische Stimme, als ob jemand gegen dieses Auf» und Ab=Geschleudert=Werden etwas

hätte unternehmen können. Nun, so weit hatte MacKenzie noch nicht den Kopf verloren, obwohl auch er eine Heidenangst ausstand und böse herumgeschleudert worden war.

Nach dem zweiten sanfteren Auf» prall und einem dritten, kaum noch spürbaren Aufsetzen kam der Fahr» stuhl endlich zur Ruhe. Was übrig» blieb, war rabenschwarzes Dunkel, ein Gefühl des Erstickens, die sich am Boden windenden Körper, das Stöhnen der Schwerverletzten und ein oder zwei leise letzte Seufzer derer, die bereits über das Stöhnen hinaus waren.

Jemand, unmittelbar unter Mac» Kenzie, rührte sich überhaupt nicht mehr. MacKenzie streckte die Hand nach ihm aus, tastete sich aufwärts, fühlte einen steifen Uni» formkragen und dicht darüber eine kleine Schwellung, die kreuzweise mit Heftpflaster überklebt war. Der Fahrstuhlführer war tot. Es war die restlose Schlaffheit des Körpers, an der MacKenzie das erkannte, und j die Hartgummimatte neben dem Kopf des Fahrstuhlführers, die vol» ler Blut klebte.

Mühsam tastete MacKenzie sich mit den Handballen an der Wand nach oben, wie eine Fliege, die eine Fensterscheibe hinaufzukrabbeln versucht, bis er endlich den Teil der

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Fahrstuhlkabine erreichte, wo die bronzenen Verkleidungen und Ver= zierungen begannen. Daran zog er sich vollends hoch und lehnte sich erschöpft gegen die kühle metal= lene Wand. Wieder keifte die Stimme auf, die bei jeder Katastrophe oder Panik unweigerlich vorhanden zu sein scheint. »Schafft mich hier raus! Um Gottes willen, schafft mich raus! Ich hab' daheim meine Frau und die Kinder!« bettelte die Stimme in kindlich weinerlichem Ton.

MacKenzie hatte den Eindruck, es müßte der Griesgrämige mit den buschigen Augenbrauen sein. Nach seinen Erfahrungen verbarg sich hinter einem äußerlich derart zur Schau getragenen Gehabe von Grobheit und ungeschlachter Vita= lität meist nur ein hohles Inneres; nichts weiter als eine Maske inne= rer Schwäche.

»Halten Sie den Mund«, sagte er. »Ich habe auch eine Frau zu Hause. Was hat das hiermit zu tun?« Das Wichtigste, erkannte er, war nicht das undurchdringliche Dun= kel, noch war es der Umstand, daß sie hier in einem nach allen Seiten hin vermauerten Kellerschacht ein= gepfercht waren, ja, noch nicht ein» mal die mehr oder weniger schwe= ren Verletzungen, die einige von

ihnen davongetragen haben moch= ten. Im Augenblick gab es etwas noch weit Gefährlicheres. Es war die Stickigkeit der Luft in dieser Fahrstuhlenge, die Gefahr des Er= stickens. Irgend etwas mußte so» fort unternommen werden. Der Fahrstuhlführer hatte die beiden Türhälften in jedem Stockwerk durch einen einfachen Knopfdruck auseinandergleiten lassen. Es lag kein Grund vor, warum das nicht auch hier unten gehen sollte, ob= wohl dann vor der geöffneten Tür kein Ausgang, sondern nur die kahle Wand des Fahrstuhlschachtes liegen würde. Aber zwischen dieser Wand und dem eingeklemmten Fahrstuhl würde sich zumindest ein, wenn auch noch so schmaler Spalt befinden, der genügend fri= sehe Luft hereinströmen ließ, so daß sie atmen konnten, bis Hilfe her= beikam.

Mit weit ausgestreckten Armen tastete MacKenzie sich durch das Gewirr in Richtung auf den Platz des Fahrstuhlführers vor und fühlte an der Metallwand nach die= sem bewußten Druckknopf, der die Türen öffnen würde. »Streichhöl= zer!« befahl er. »Hat jemand Streichhölzer dabei? Ich will ver= suchen, dies Ding hier aufzukrie» gen. Wir sind hier quasi luftdicht abgeschlossen.«

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Die sofortige und durchaus zu er= wartende Reaktion darauf war ein neuerliches heulendes Gejammer des vordem so forsch und hartge= sotten auftretenden Kerls mit den buschigen Augenbrauen, das wie das Maunzen eines um Hilfe fle= henden Welpen klang. Dann schaltete sich eine andere, beherrschtere Stimme ein. »Mo* ment mal«, sagte diese Stimme. Aber nichts geschah. »Hier bin ich, hier - reichen Sie sie mir herüber!« sagte MacKenzie und streckte seine offene Hand su= chend in das samtschwarze Dun= kel vor.

»Sie wollen nicht anbrennen, sie sind ganz naß. Ich muß mich ir= gendwo an Glas geschnitten ha= ben.« Und dann klang diese Stimme plötzlich ganz und gar nicht mehr so beherrscht. »Mein ganzes Hemd ist voll Blut!«

»Sachte, sachte«, versuchte Mac= Kenzie die alarmierte Stimme zu beruhigen. »Vielleicht ist das gar nicht Ihr eigenes Blut. Tasten Sie sich erst mal ab. Wenn Sie was fin* den, pressen Sie Ihr Taschentuch darauf. Die Glassplitter von den Glühbirnen sind viel zu dünn, um tief einzuschneiden.« Und ver= ärgert rief er dann aus: »Verflixt und zugenäht! Sechs ausgewach= sene Männer! Hat denn kein einzi=

ger von Ihnen ein Streichholz, das er mir geben kann?« Eigentlich war das unfair, wenn man in Betracht zog, daß auch ihm selbst die Streich* hölzer ausgegangen waren, wäh= rend er in seinem Büro die Abrech= nungen erledigt hatte, und daß er vorgehabt hatte, sich an dem Zi= garrenstand ein neues Streichholz* heftchen geben zu lassen, sobald er aus dem Fahrstuhl gestiegen war. »He, Sie, der Bursche da, der beim Abwärtsfahren mit seinem leuch= tenden Patent=Füllhalter herumge* fummelt h a t - w o haben Sie Ihr Ding da?«

Eine neue, unerschrockene, aber völlig geknickte Stimme antwor= tete: » E s - e s ist zerbrochen.« Und dann verriet die gleiche Stimme, als sie in unendlich traurigem Ton= fall fortfuhr, daß sich für deren Be= sitzer eine noch weit größere Kata= Strophe ereignet hatte, als diese hier im Fahrstuhl. »Unsere ganze Werbekampagne war darauf ab= gestimmt, daß das Lämpchen un= zerbrechlich ist; daß man den Füll* halter nicht nur getrost fallen lassen darf, sondern ihn sogar gegen die Wand werfen kann.« Und verzagt und kaum noch verständlich mur* melte die Stimme weiter: »Tau» sendfünfhundert Dollar, unser ge= samter Werbeetat - glatt in die Binsen! Wenn Bellman erfährt, was

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wir uns mit dieser Patent=Neuheit eingebrockt haben, zieht er mir und sich selbst das Fell über die Ohren.« Nun, das klang unter diesen Um= ständen weit humorvoller, als es wohl beabsichtigt gewesen war. Zumindest ist der Kerl, wer immer er sein mag, keine solche Memme wie der mit den buschigen Augen= brauen, dachte MacKenzie. »Lassen Sie nur!« rief er plötzlich aus. »Ich hab's schon!« Seine Fingerspitzen hatten ganz in der anderen Ecke der Fahrstuhlkabine, dicht unter dem Schaltbrett mit den roten Ruf» lämpchen und dem Stockwerk» anzeiger, den gesuchten Knopf ge= funden. Er hatte sich dabei über den toten Fahrstuhlführer beugen müssen. Kein einziges dieser roten Lämpchen glimmte, auch der Stock» werkanzeiger leuchtete nicht. Ob der Mechanismus, der die Türen öffnete, überhaupt funktionierte. Er drückte den Knopf, es ging ganz leicht, er schien nirgendwo ver» klemmt - aber nichts rührte sich. Hastig drückte er ein zweites Mal, und diesmal begannen die beiden Türhälften auseinanderzugleiten, jedoch nur etwa einen Fußbreit. Trotz mehrmaligem weiterem Drücken auf den Knopf streikten sie, sich weiter auseinanderzuschie» ben. Nun, fürs erste reichte das; die Gefahr, daß sie allesamt in der

Fahrstuhlkabine ersticken würden, war zunächst einmal gebannt. Allerdings lag zwischen der jetzt kaum zu einem Viertel geöffneten Fahrstuhltür und der entgegengäh­nenden Mauer aus rohen Ziegeln nur ein Abstand von vielleicht zwei bis drei Finger Breite, ein so schma» ler Spalt also, daß sich keine noch so ausgehungerte und unterneh» mungslustige Katze hätte hindurch» zwängen können. Aber das alles spielte weiter keine Rolle; die Hauptsache war, daß sie nicht an Sauerstoffmangel zugrunde gehen würden, und wenn es noch so lange dauern sollte, bis man sie aus ihrer Notlage befreien und den Fahrstuhl heben konnte.

»Hat geklappt, Leute«, rief Mac» Kenzie den hinter ihm Stehenden beruhigend zu. »Ich habe die Tür so weit offen, daß wir hier jetzt endlich etwas frische Luft herein» bekommen.«

Wenn weiter droben im Fahrstuhl» schacht irgendwo Licht brannte, reichte es jedenfalls nicht bis hier herunter. Die rohe Ziegelwand, die MacKenzie mit den Händen er» tastet hatte, war genauso dunkel und schwarz, wie es im Fahrstuhl selber war.

»Sie haben uns dort droben ge= hört«, sagte er. »Sie wissen also, was passiert ist. Daher ist es völlig

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sinnlos, daß wir uns, wie ihr es jetzt tut, die Lungen aus dem Hals schreien; dadurch fallen wir nur uns gegenseitig auf die Nerven. Sie werden dort droben schnellstens eine Rettungsmannschaft ans Werk setzen. Wir selbst brauchen hier nur zu sitzen und zu warten; das ist alles.«

Das an den Nerven zerrende Hilfe= gebrüll - wahrscheinlidi stammte es wieder einmal von dem >Hart= gesottenen< mit den buschigen Augenbrauen - verstummte ver» schämt. Nur von Zeit zu Zeit kam von jemand anderem ein dumpfes, schmerzgequältes Stöhnen. »Mein Arm, о Gott, mein A rm-w i e der schmerzt!« Das leisere, aber noch schmerzvollere Stöhnen eines ande= ren Verletzten, hatte inzwischen unheilverheißend völlig aufgehört. Entweder war der Mann ohnmäch= tig geworden, oder aber auch er war tot.

Ganz nüchtern und sachlich, aber keineswegs etwa grob, langte Mac» Kenzie nach dem auf dem Boden ausgestreckt liegenden Fahrstuhl» führer hinunter, hob den Leich» nam an und zerrte ihn in eine der Fahrstuhlecken, in deren Winkel er ihn in halb sitzender Stellung ge= gen die Wand lehnte. Dann hockte er sich selber auf den dadurch frei

gewordenen Platz auf dem Fahr» stuhlboden, zog die Knie an und schlang die Arme darum. Er würde sich selber niemals als besonders tapfer bezeichnet haben; er war ganz einfach nur Realist. Plötzlich herrschte auch von all den anderen her tiefste Stille, eine jener unvermittelten Pausen des Schwei» gens. Dann aber, weil über ihnen im Fahrstuhlschacht kein noch so leiser Laut zu hören war, begann den >Hartgesottenen< erneut die Panik zu kitzeln. »Wollen die uns die ganze Nacht hier unten lassen?« wimmerte er. »Warum sitzt ihr Kerle hier einfach so herum? Wollt ihr denn nicht auch aus diesem Grab hier heraus?« »Du meine Güte, findet sich denn niemand, der dem Großmaul da endlich eins auf die Klappe haut?« schnauzte MacKenzie barsch. Gequält zog jemand zwischen den Zähnen leise den Atem ein. »Mein Arm! Oh, mein Arm!« »Muß wohl gebrochen sein«, meinte MacKenzie mitfühlend. »Ver= suchen Sie, stramm und straff Ihr Hemd um ihn zu wickeln.« Die Zeit schien stillzustehen; zö= gernd schien jede einzelne Sekunde dahinzutropfen. Nur dann und wann das leise Geräusch eines ruhe» losen Körpers, ein leises Stöhnen, ein Atemholen der Ungeduld und

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gelegentlich ein Aufschrei der >hartgesottenen< Memme in ihrer Mitte, den MacKenzie jedesmal noch um einige Grade bissiger an= fuhr, weil er auch ihm langsam auf die Nerven ging.

Das Warten, das Gefühl des hilf= los Eingeschlossenseins, begann sich noch weit, weit schmerzlicher auf sie auszuwirken, als es durch den Unfall selbst geschehen war. »Vielleicht glauben die da droben, wir seien alle tot und lassen sich daher ruhig Zeit«, sagte jemand. »In Fällen wie diesem tun sie das nie«, gab MacKenzie ihm knapp zur Antwort. »Sie tun, was sie nur irgend können, und zwar so schnell wie möglich. Gebt denen da oben etwas Zeit.«

Eine neue Stimme, die er bisher noch nicht gehört hatte, sagte: »Ich bin nur froh, daß mein Vater nicht in diesen Fahrstuhl mit zu-gestiegen ist.« »Und ich wünschte«, schaltete sich jemand anderer ein, »ich hätte we= gen des verdammten Telefonanrufs nicht noch mal kehrt gemacht. Es war sowieso nur jemand, der sich in der Nummer geirrt hatte, und sonst hätte ich den Fahrstuhl noch bei der vorletzten Fahrt, bei der Fahrt vor dieser hier, erwischt.« »Herrje«, schnaubte MacKenzie, »ihr redet gerade so gescheit daher

wie ein paar rotznasige Schuljun-gen! Es ist nun mal passiert, und dagegen hilft alles Wünschen und Grübeln nichts.« Die Armbanduhr an seinem Hand= gelenk hatte ein Leuchtzifferblatt. Er wünschte, sie hätte keines, oder sie hätte nach dem Absturz ebenso versagt wie der Patent-Füllhalter des Mannes mit dem cherubini= sehen Mondgesicht und wäre ste= hengeblieben. Es war geradezu wie verhext; immer wieder wurde sein Blick wie magnetisch von diesem Leuchtzifferblatt angezogen, und das war eine zusätzliche Nerven» belastung. Jedesmal, wenn er hin-schaute und dachte, inzwischen wäre mindestens eine halbe Stunde vergangen, waren kaum ein paar Minuten verstrichen. Wohlweislich hatte er den anderen nichts von die-sem Leuchtzifferblatt gesagt und tat es auch jetzt nicht; sonst hätten sie ihn wahrscheinlich alle paar Se= künden gefragt, wieviel Zeit inzwi= sehen vergangen sei, bis er schließ-lieh selber ganz durchgedreht ge­wesen wäre.

Als sie, seit er zum erstenmal auf die Uhr geblickt hatte, zweiund-

.zwanzig und eine halbe Minute dort drunten gesteckt hatten und am Rande einer nervlichen Be­lastung entlang balanciert waren, die bei jedem von ihnen, auch bei

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I I ihm selbst, in etwas noch Schlim» meres umzuschlagen gedroht hatte, erfolgte plötzlich unmittelbar über ihren Köpfen ein völlig unerwarte» ter dumpfer Schlag, als ob irgend etwas Schweres auf dem Dach des Fahrstuhls gelandet wäre. Diesmal war es MacKenzie, der aufsprang, die Wange flach gegen die rohe Ziegelmauer außerhalb der fußbreit offenstehenden Tür preßte und durch den dreifinger= breiten Spalt nach oben schrie: »Hallo! Hallo, da oben!« »Yeah«, kam eine Stimme von dort herunter, »wir kommen schon, um euch da rauszuholen! Nur ruhig Blut bewahren!«

Es rumpelte eine kurze Weile, als ob jemand über ihren Köpfen auf dem Fahrstuhldach herumtram» pelte. Dann folgte ein plötzlicher metallischer Lärm, als ob in einer Druckkesselfabrik auf Hochtouren gearbeitet würde, und die ganze Fahrstuhlkabine begann zu vibrie= ren. In der Enge des Fahrstuhl» Schachtes hörte sich dieser Lärm durch den Widerhall der kahlen Wände wie eine Serie unablässiger Donnerschläge an, in denen alle übrigen Geräusche untergingen. An eine gegenseitige Verständigung war überhaupt nicht mehr zu den» ken. MacKenzie konnte diesen Lärm schließlich nicht mehr länger

ertragen und preßte fest beide Handflächen gegen die Ohren. Von oben her schoß durch den schmalen Spalt zwischen dem Fahrstuhl und der Mauer ein bläulicher elektri» scher Funke nach unten. Ihm folgte ein weiterer und dann ein dritter. Sie blitzten alle nur viel zu kurz auf, um irgendwie Licht in das In» nere des Fahrstuhls zu werfen. Acetylen=Schweißbrenner! Die Ret» tungsmannschaft dort oben mußte offenbar ein Loch aus dem Fahr» stuhldach herausschweißen, um an sie heranzukommen. Wenn der Fahrstuhlschacht in Höhe des Kel» lers einen Ausstieg hatte - und zweifellos hatte er einen -, dann mußte der Fahrstuhlschacht noch durch den Keller hindurch weiter nach unten reichen, noch tiefer in den Boden hinein, und ganz am Grund dieser senkrechten Sack» gasse mußten sie feststecken. Da» her gab es für die Rettungsmann» schaft offenbar keinen anderen Weg.

Ein Funke blitzte wie von Geister» hand durch das Fahrstuhldach hin» durch. Dann ein zweiter, dann ein ganzer halbkreisförmiger Funken» bogen. Ein Feuerschein fiel bis auf halbe Höhe auf die Eingeschlosse» nen herab und ließ sie eine Minute lang gespenstisch fahl gegenseitig ihre Gesichter erkennen.

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Das donnernde Getöse oben brach so unvermittelt ab, daß der Kon= trast der plötzlich einsetzenden Stille fast noch unerträglicher er» schien. »Heda!« schrie eine Stimme von oben herunter. »Paßt auf die herabregnenden Funken auf, ihr da unten! Wir kommen jetzt gleich durch! Haltet die Augen geschlos» sen und stellt euch ganz zurück an die Fahrstuhlwände!« Wiederum setzte das donnernde Getöse ein, näher noch, noch lauter als zuvor. Von dem ununterbroche» nen Vibrieren begannen MacKen» zie die Zähne zu klirren, obwohl er sie fest aufeinander biß. Gerettet werden war noch schlimmer, als dort unten festzusitzen. Er über» legte, wie wohl die anderen es durchstehen mochten, vor allem jener arme Kerl mit dem gebroche» nen Arm. Zweimal glaubte er eine Stimme »Elinor! Elinor!« schreien zu hören, aber bei diesem inferna» lisohen Lärm war er sich dessen nicht sicher. In dem jetzt noch lau» teren Getöse ging einfach alles unter.

Die glühenden Metallfunken ka= men jetzt wie ein Wasserfall herab» geregnet. Indem er die Hand schür» zend über die Augen hielt, die er zusammengekniffen hatte und jetzt einen winzigen Spaltbreit öffnete, riskierte MacKenzie einen vorsieh»

tigen Blick. Er glaubte, einen Fun» ken horizontal entlangschießen zu sehen, statt daß dieser Funke wie all die anderen senkrecht von oben nach unten schoß; außerdem hatte dieser Funke eine andere Farbe, rötlich'orange. Doch glaubte er, es müßte sich wohl um eine optische Täuschung handeln, die durch den allzu langen Aufenthalt im Dun» kein hervorgerufen wurde, dem sie vorher ausgesetzt gewesen waren. Entweder war es das oder aber ein massiver Metallsplitter, der sich von der Decke gelöst hatte, war von der Wand im Fahrstuhl ab» geprallt. Um sicherzugehen, kniff er die Augen wieder ganz fest zu» sammen.

Und gleich darauf war eigentlich alles so gut wie vorbei. Das Getöse und das Funkengestöber brachen plötzlich ab. Mit Brecheisen stemmte die Rettungsmannschaft auf dem Fahrstuhldach die von ihr heraus» geschweißte kreisförmige Metall» platte in die Höhe, um zu verhin» dern, daß sie in den Fahrstuhl hin» ein und jemanden auf den Kopf fiel. Die grellen Lichtkegel von Stablampen geisterten suchend in der Fahrstuhlkabine umher, ein Сор sprang durch das ausge» schweißte Loch mitten unter sie, und hinter ihm wurde ein schlan» gengleich wirkendes Seil herabge»

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lassen. »Also los«, sagte der Сор mit forscher, sachlicher Stimme, »wer kommt als erster dran?« Im Licht seiner Stablampe waren drei Gestalten zu erkennen, die auf dem engen Raum regungslos zu Füßen der anderen verkrümmt am Boden lagen. Der Fahrstuhlführer, den MacKenzie halb aufrecht in eine Ecke gelehnt hatte; der Ge= lehrten=Typ mit der randlosen Brille, der bewußtlos auf der Seite lag- je tz t allerdings ohne Brille, und der tief e Einschnitt unter einem Auge erklärte, was aus der Brille geworden war; und der junge Glatzköpfige, der im elften Stock-werk zugestiegen und mit dem Ge= sieht nach unten halbschräg über ihn gefallen war.

»Der Fahrstuhlführer ist tot«, sagte MacKenzie und übernahm damit die Rolle des Sprechers für die übrigen, »und die beiden da dürften im Augenblick wohl kaum irgendwelche Schmerzen ausstehen. Wir haben hier aber jemanden mit einem gebrochenen Arm. Nehmen Sie den zuerst dran.« Geschwind und geschickt schlang der Сор dem aschfahlen Inkasso-Agenten das Seil unter den Ach­seln durch, während sich dieser mit schweißüberströmtem Gesicht beim Licht der Stablampe abmühte, mit der einen Hand den Ärmel seines

anderen Arms fest gegen den Kör­per zu pressen. »Zieht an!« schrie der Сор nach oben zu dem Loch in der Decke hinauf. »Aber schön langsam und vorsichtig! Der Mann ist verletzt.« Leise stöhnend schwebte der In­kasso-Agent in die Höhe, wurde durch das Loch gezogen, und bei diesem ganzen Vorgang hielt er die Beine so fest angezogen wie ein geschlachtetes, zum Versand fertig zusammengeknicktes Huhn. Als nächster kam der Gelehrten-Typ an die Reihe, dem in seiner Be­wußtlosigkeit der Kopf nach unten baumelte. Als dann wiederum das Seil mit der leeren Schlinge herab­gelassen wurde, bückte sich der Сор, um es dem jungen Glatzköp­figen unter die Achseln zu knüp­fen.

MacKenzie beobachtete, wie der Сор sich plötzlich anders besann, ihm das eine Augenlid hochzog und dann das Seil statt dessen um die >hartgesottene< Memme schlang, die sich als ein solcher Schreier ent­puppt hatte und als Reaktion auf den ausgestandenen Schrecken auch jetzt noch am ganzen Körper zitterte.

»Was ist mit dem da los?« schaltete sich MacKenzie ein und zeigte auf den am Boden Liegenden. »Der ist tot«, gab ihm der Сор

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knapp zur Antwort. »Also kann er warten. Zuerst kommen die Leben» den dran.« »Tot! A b e r - i c h hörte ihn doch ganz deutlich sagen, wie froh er wäre, daß sein Vater nicht mit zu= gestiegen ist - lange, nachdem wir unten aufgekracht waren.« »Schert mich nicht das mindeste, was Sie ihn da angeblich sagen ge= hört haben«, antwortete der Сор. »Er kann es nämlich gar nicht ge= sagt haben, weil er tot war! Ver= rückt sowas! Wollen Sie mir hier Dienstvorschriften machen? Ich weiß selber, was ich zu tun habe. Für jemand, der gerade ein so schreckliches Erlebnis hinter sich hat, reden Sie eigentlich schon wie= der recht frisch, froh und kalt= schnäuzig daher. Sie sollten sich schämen!«

»Lassen wir das«, sagte MacKen= zie beschwichtigend. Er überlegte, daß es sowieso nicht seine Ange= legenheit war, wenn der Bursche zuerst durchaus lebendig und un= versehrt erschienen und jetzt tot war. Nun, vielleicht hatte er ein schwaches Herz gehabt. Er und der entmutigte Füllhalter-Produzent schienen die einzigen zu sein, die völlig unverletzt geblieben waren. Dem letzteren hatte es je= doch das Herz gebrochen, daß sein Patent=Füllhalter der Belastungs=

probe nicht standgehalten hatte, so daß es ihm jetzt völlig gleich zu sein schien, ob er hochgezogen wurde oder unten im Fahrstuhl blieb oder was sonst aus ihm wurde. Selbst während er an dem Seil hoch= gehievt wurde, probierte er immer noch an seiner Patent=Neuheit her= um und trug dabei ein Gesicht zur Schau, als ob er gerade in eine be= sonders saure Zitrone gebissen hätte.

MacKenzie war der letzte, der außer den beiden tödlich Ver= unglückten an die Reihe kam. Er wurde durch das Loch in der Decke bis zu dem Fahrstuhlausstieg im Keller hochgezogen, aus dem buch» stäblich die Schiebetüren herausge= rissen worden waren. Der Ausstieg lag kaum einen Meter über der Fahrstuhldecke; mit anderen Wor= ten: der Fahrstuhlschacht ragte nur noch wenig mehr als die Höhe des Fahrstuhls durch den Keller in den Boden hinein. MacKenzie konnte sich nicht erklären, warum er in dieser Art gebaut worden war und nicht bereits in Höhe des Kellers endete; in diesem Fall wäre ihnen allen das lange Eingepferchtsein er= spart geblieben. Später wurde ihm dann von dem Hausverwalter aus= einandergesetzt, daß dies notwen= dig wäre, um dem Fahrstuhl nach unten mehr Auslauf zu geben, oder

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man wäre sonst das Risiko einge» gangen, daß der Fahrstuhl jedes» mal aufbumste, wenn man mit ihm bis in den Keller hinabfuhr. Im Durchgang des Kellers waren Tragbahren aufgestellt, und dem Inkasso=Agenten und dem Gelehr» ten=Typ wurde von zwei Ärzten Erste Hilfe geleistet. Der >Hartge= sottene< hatte eine Flasche Whisky in die Hand gedrückt bekommen, doch weil ihm immer noch die Zähne klapperten, hatte er Mühe, daraus ein paar Schlucke zu trin» ken. Auch MacKenzie ließ sich von einem der Ärzte auf dessen Drän» gen hin untersuchen; ihm wurde das gesagt, was er ohnehin schon wußte, nämlich daß er unverletzt geblieben war. Er gab dem Polizei» leutnant, der die Rettungsarbeiten leitete, seinen Namen und seine Adresse an und stieg dann die Treppe vom Keller zum Parterre hinauf, wobei er im stillen dachte: Der altmodische Weg ist schließ» lieh und letzten Endes immer noch der beste.

Im Parterre, in der Halle des Büro» hauses, fand er ein ganzes Men» schengewimmel vor und mußte erst einmal ein paar von den bei Kata» Strophenfällen unweigerlich auf»

tauchenden Winkeladvokaten ab» wehren, die ihm einzureden ver» suchten, welch schweren seelischen

Schock er davongetragen hatte. »Da steckt 'ne Masse Versicherungsgel» der drin, Kumpel, seien Sie kein solcher Narr!« Von der nächsten Telefonzelle aus rief er seine Frau an, damit sie um ihn nicht länger Ängste auszustehen brauchte, und verließ dann die Unglücksszene und fuhr nach Hause. Der letzte flüchtige Eindruck, den er von dieser Szene mitnahm, war der eines einsam und verloren in der Halle herumstehenden Mannes mit einem sauber getrimmten wei» ßen Schnurrbart; den Vater des unten tot im Keller liegenden glatz« köpfigen jungen Mannes, der jeden herumstehenden Сор immer wie» der und wieder bedrängte und fragte: »Wo bleibt mein Sohn? Warum hat man meinen Sohn noch nicht heraufgebracht?« Und da er von keinem der Cops darauf eine Antwort erhielt, war dieses an sich schon eine ausreichende Antwort, die für sich selber sprach. MacKen­zie schob sich indessen durch die Tür auf die Straße hinaus.

Freitag - das war vier Tage danach - klingelte bei ihm gleich nach dem Abendessen die Türglocke, und er hatte einen Besucher vor sich ste» hen. »Mr. MacKenzie? Sie waren doch Montag abend mit in jenem Fahrstuhl, Sir, nicht wahr?«

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»Allerdings«, lächelte MacKenzie, denn dort war er weiß Gott ge= wesen. »Ich komme vom Police Head» quarters. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir ein paar Fragen zu beantworten? Bei allen anderen bin ich bereits gewesen und habe dort Erkundigungen eingezogen.« »Kommen Sie doch herein und set» zen Sie sich«, sagte MacKenzie in= teressiert. Seine erste Vermutung war, daß die Cops einem Arbeits» sabotage=Akt auf der Spur oder hinter einem Verstoß gegen die Baugesetze her waren. »War da ir= gend etwas faul bei der Sache?« »Nicht in dem Sinne, wie Sie es wohl meinen«, sagte der Detektiv mit säuerlichem Gesicht; offenbar war seine Erkundungsrunde bei den anderen Überlebenden ergeb» nislos verlaufen; MacKenzie war sozusagen das letzte Bein, auf dem er zu stehen schien, seine letzte Hoffnung, und sicher wollte er vor seinen Vorgesetzten nicht mit völ» lig leeren Händen dastehen. »Bei dem jungen Mann, der tot auf dem Boden des Fahrstuhls gelegen hat -ich meine nicht den Fahrstuhlfüh» rer, sondern den jungen Wesley Hardecker - wurde von dem Lei» chenbeschauer festgestellt, daß in seinem Herz eine Kugel steckte.« MacKenzie sprang hoch und stieß

einen langgezogenen Pfiff aus, der seinen kleinen Scotchy veranlaßte, die Schnauze fragend zum Türspalt hereinzustecken. »Oh! Sie meinen, jemand hat ihn erschossen, wäh» rend wir dort unten auf den kaum drei bis vier Quadratmetern zusam» mengepfercht standen?« Der Detektiv gab unmißverständ» lieh, aber durchaus höflich zu ver» stehen, daß er gekommen war, um Fragen zu stellen; nicht, um Fragen zu beantworten. »Haben Sie ihn überhaupt gekannt?« »Ich hatte ihn, bis er an jenem Abend in den Fahrstuhl stieg, nie zuvor im Leben gesehen. Inzwi» sehen weiß ich seinen Namen, weil ich den am nächsten Tag in der Zei» tung gelesen habe; aber damals wußte ich ihn noch nicht.« Sein Besucher nickte, geradeso als ob er auch von all den anderen die gleiche Antwort erhalten hatte. »Und-haben Sie irgendwas wie einen Schuß gehört, während Sie dort drunten feststeckten?« »Nein, jedenfalls nicht, bevor die Rettungsmannschaft oben mit ihren Schneidbrennern zu arbeiten be= gann. Und hinterher hätte man so» wieso nichts mehr hören können. Das heißt, ich habe mir eine Zeit» lang sogar mit den Handballen die Ohren zugehalten. Ich habe aber etwas aufblitzen sehen«, fuhr er

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eifrig fort. »Oder zumindest ent= sinne ich mich, daß einer der glü= henden Funken waagrecht statt senkrecht von oben nach unten schoß und eine andere, mehr ins Rötliche gehende Farbe hatte.« Wiederum nickte der Detektiv. »Yeah, zwei andere haben das auch gesehen. Das wird's dann wohl ge= wesen se in-der Augenblick, in dem es geschah. Wurde durch die= sen querschießenden Funken das Gesicht von jemand beleuchtet, der dicht neben Hardecker s tand- is t Ihnen in dieser Hinsicht etwas auf= gefallen?«

»Nein«, mußte MacKenzie zu= geben. »Meine Pupillen waren auch sicher nur stecknadelgroß offen, nachdem wir zunächst immer nur ins Dunkel gestarrt hatten und uns dann ganz im Gegensatz dazu von der Decke her das gleißende Licht der Schweißbrenner in die Augen stach; außerdem waren wir eine Minute zuvor sowieso aufge= fordert worden, die Augen ge= schlössen zu halten.« Nachdenklich hielt er einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Das alles scheint doch überhaupt nicht zusammen* zupassen, oder? Warum sollte sich jemand ausgerechnet einen solchen Zeitpunkt und einen solchen Ort aussuchen, um einen...« »Es paßt durchaus alles wunderbar

zusammen«, widersprach der De= tektiv. »Es ist der Alte, der Vater des jungen Hardecker, der den gan= zen Staub aufwirbelt und an der Sache irgend etwas Faules zu sehen versucht. Zweifellos handelt es sich um Selbstmord in momentaner Un= zurechnungsfähigkeit, verursacht durch die überstarke Nervenbe= lastung; so wird auch das endgül= tige Urteil des Leichenbeschauers lauten. Wir haben unser möglich* stes getan und nicht das mindeste herausgefunden, was daran ir= gendeinen Zweifel läßt. Der alte Hardecker selbst war nicht im= stände, auch nur einen einzigen unter Ihnen zu identifizieren, der vor sechs Uhr an jenem Montag» abend seinen Sohn-oder ihn selbst - gekannt oder jemals gesehen hat. Die Pistole gehörte dem jungen Hardecker selbst, war seine eigene, und er hatte dafür einen Waffen* schein. Er hatte sie bei sich, als er in den Fahrstuhl stieg. Sie lag un= ter seiner Leiche, als er aufgehoben wurde. Die einzigen Fingerab* drücke, die wir daran finden konn= ten, waren seine eigenen. Der Lei= chenbeschauer hat festgestellt, daß die Einschußstelle schwerste Pul= ververbrennungen aufweist; also muß die Pistole beim Abfeuern di= rekt auf seine Brust gedrückt wor= den sein - eben von ihm selbst.«

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»Vielleicht war der Schuß in dem Gedränge aber auch nur aus aller» nächster Nähe abgefeuert worden; das kommt dann auf das gleiche heraus«, versuchte MacKenzie ein» zuwenden.

Der Detektiv winkte ab. »Der Ni= trattest hat gezeigt, daß es seine eigenen Finger waren, die den Schuß abfeuerten. Es stimmt, daß wir ver» säumt haben, damals noch die Fin» ger von allen anderen dem Nitrat» test zu unterziehen. Aber da aus der Pistole nur ein einziger Schuß abgefeuert und keine weitere Pi= stole gefunden wurde, spielt das weiter keine Rolle. Die Kugel stammte natürlich aus dieser und keiner anderen Pistole, wie das bal» listische Labor festgestellt hat. Der Bursche war ein hochgradig ner= vöser, hypersensibler Typ. Als sie dort unten aufkrachten und er das an den Nerven zerrende Warten im Dunkeln nicht mehr länger ertra» gen konnte, drehte er durch und er» löste sich auf seine Weise von der für ihn allzu starken Nervenbela» stung. Und eben gegen all dieses rennt der Alte jetzt Sturm, rennt mit dem Kopf gegen die Wand und behauptet, sein Sohn sei seelisch durchaus stabil und glücklich und zufrieden gewesen, habe eine ent» zückende Frau gehabt, die gerade ein Baby erwartete, und alles, was

er sich im Leben nur wünschen konnte.« »Nun, schön und recht«, wandte MacKenzie behutsam ein, »aber warum sollte er es dann gerade zu dem Zeitpunkt getan haben, als be= reits das Fahrstuhldach durchge» schweißt wurde und es nur noch eine Angelegenheit von Minuten war, bis man uns herausholen konnte? Warum nicht schon vor» her? Das entbehrt doch jeder Lo= gik. Und im Gegenteil, seine Stimme klang vorher, als wir noch völlig im Ungewissen schwebten und warteten, völlig ruhig und ge= faßt.«

Der Detektiv stand auf, als ob die Diskussion darüber beendet wäre, ließ sich aber herab, MacKenzie, als dieser ihn zur Tür begleitete, noch zu belehren: »Menschen bre» chen nun eben mal nicht auf die Minute genau zusammen; erst als er zwanzig Minuten, also fast eine halbe Stunde, dort drunten gesteckt hatte, packte es ihn. Als Sie seine zuversichtliche Stimme hörten, tat er wahrscheinlich nichts weiter, als daß er sich selber Mut zu machen versuchte; wie tapfer er s e i - n a , und so weiter. Jeder Psychiater kann Ihnen sagen, wie ein solches von den Schweißbrennern ver» ursachtes Getöse sich auf einen nervlich bereits Überbelasteten aus»

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wirken und ihm den letzten Rest geben kann. Das war wahrschein* lieh der Grund, warum er es erst dann tat. Und was den Umstand betrifft, daß er eine Frau hatte, die ein Kind erwartete, so würde das nur noch mehr dazu beigetragen haben, ihn den Kopf verlieren zu lassen. Ein Mensch ohne familiäre Bindungen und Verpflichtungen hat sich in Katastrophenfällen stets und in jedem Fall immer noch als der kaltblütigere und besonnenere erwiesen.«

»Für mich ist das was Neues, aber vielleicht mögen Sie recht haben. Ich selbst kenne mich nur mit Was-serfiltern aus.« »Es ist mein Beruf, mich in derlei Dingen besser auszukennen als Sie. Gute Nacht.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung sagte: »Mr. MacKenzie? Sind Sie der Mr. Stephen MacKen-zie, der vor fast einem Jahr, im August, bei einem Fahrstuhlunfall dabei war? In den Zeitungen stand damals auch I h r . . . « »Ja, das war ich.« »Nun, ich möchte gerne, daß Sie kommenden Samstag abend zum Dinner zu mir in mein Haus kom-men - Punkt sieben Uhr.« MacKenzie betrachtete im Spiegel seine gerunzelten Augenbrauen.

»Würden Sie mir nicht lieber erst einmal sagen, wer Sie eigentlich sind?« »Verzeihung«, erwiderte die Stim­me fast ein wenig gereizt. »Ich dachte, das hätte ich bereits getan. Was ich hier tue, tue ich nämlich schon seit über einer Stunde, und langsam beginnt es mich ein wenig mitzunehmen. Hier spricht Harold Hardecker; ich bin der Inhaber der Hardecker Import & Export Com­pany.«

»Well, Mr. Hardecker, ich weiß Sie immer noch nicht recht unterzu­bringen«, sagte MacKenzie gelas­sen. »Sind Sie einer von den Män­nern, die damals mit uns in dem Fahrstuhl waren?« »Nein, nicht ich, sondern mein Sohn war darin. Er ist damals ums Leben gekommen.«

»Oh«, sagte MacKenzie. Jetzt er­innerte er sich wieder. Ein Mann mit einem sauber getrimmten wei­ßen Schnurrbart, der einsam und verloren in der wimmelnden Men­schenmenge herumgestanden und jeden vorbeieilenden Сор aufzu­halten versucht hatte... »Darf ich Sie dann kommenden Samstag abend um sieben erwar­ten, Mr. MacKenzie? Ich wohne in der - Park Avenue.« »Offen gestanden«, erwiderte Mac­Kenzie, der eine bescheidene Seele

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war, sich durch die hoch vornehme Adresse nicht im mindesten beein-drucken ließ und dem das schein-heilige gesellschaftliche Getue der High-Society höchst zuwider war, »sehe ich nicht ganz ein, was das für einen Sinn haben soll. Ich glaube nicht, daß wir schon jemals zuvor auch nur miteinander ge­sprochen haben. Warum sind Sie ausgerechnet auf mich verfallen?« Hardecker erklärte es ihm gedul­dig, und dazu sogar noch in sehr freundlichem Ton. »Ich bin nicht ausgerechnet auf Sie verfallen, Mr. MacKenzie. Ich habe mich bereits auch mit all den anderen in Ver­bindung gesetzt, die sich an jenem Abend zusammen mit meinem Sohn im Fahrstuhl befanden, und alle haben sich bereit erklärt, mei­ner Einladung zu folgen. Ich möchte nicht schon im voraus verraten, was mir da vorschwebt und zu welchem Zweck ich diese Dinnerparty gebe. Erwähnen möchte ich jedoch, daß mein Sohn ohne Hinterlassung eines Testaments gestorben und seine arme Frau in den frühen Mor­genstunden des darauffolgenden Tages zusammen mit dem erwar­teten Baby bei der Geburt verschie­den ist. Sein Erbe fällt also an mich zurück, und ich bin ein einsamer alter Mann, ohne Freunde und Ver­wandte und mit bereits mehr Geld,

als daß ich wüßte, was ich damit anfangen sollte. Jedenfalls kam ich auf den Gedanken, die fünf ein­ander fremden Männer zusammen­zuholen, die mit meinem Sohn ge­meinsam das Erlebnis eines schwe­ren Unfalls ausstanden und in den letzten Augenblicken seines Lebens bei ihm waren.« Die Stimme ver­stummte für ein paar Augenblicke, um das gerade Gesagte tiefer nach­wirken zu lassen. Dann fuhr sie fort: »Wenn Sie am Samstag um sieben zum Dinner bei mir zu Hause sein werden, werde ich eine Erklärung von nicht unbeträcht­licher Bedeutung abzugeben haben. Es liegt also nur in Ihrem eigenen Interesse, daß Sie dabei anwesend sind.«

MacKenzie überflog mit seinem geistigen Auge blitzschnell die Liste seiner Provisionsgehälter als Wasserfilter-Vertreter und fand sie höchst unzufriedenstellend, wie er dieses schon früher oft genug ge­funden hatte. »Also gut«, stimmte er nach einem kurzen Augenblick des Uberlegens zu . . . Am Samstag um sechs Uhr war er immer noch am Überlegen. »Das kann mir doch keiner weismachen«, sagte er zu seiner Frau. »Der Kerl muß nicht alle Tassen im Schrank haben, um auf einen derart absur­den Gedanken zu verfallen. Fünf

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Männer, die ihm genauso fremd sind wie ein Zulu=Häuptling und von denen keiner den anderen kennt. Vielleicht soll das Ganze auch nur ein allerdings ziemlich mieser Witz sein, überlege ich ge= rade.«

»Nun, wenn du meinst, daß es sich so verhält - warum sagst du ihm dann nicht ganz einfach ab?« meinte seine Frau, während sie ihm seinen dunkelblauen Mantel aus= bürstete.

»Ich möchte herauskriegen, was eigentlich dahintersteckt, aus pu= rer Neugier. Ich möchte wissen, wo da der Witz hegen soll.« Neugier ist einer der stärksten menschlichen Triebe. Man kann ihm nur selten widerstehen. Und selbst die nur vage Hoffnung, etwas zu bekom= men - für nichts, ist ein nicht we= niger starker menschlicher Trieb. MacKenzie war ein gutmütiger Mensch, aber er war eben ein gut= mutiger Durchschnittsmensch, mit all seinen kleinen Stärken und Schwächen.

Als er sich von seiner Frau ver» abschiedete, riet sie ihm mit ver= späteten Angstgefühlen: »Steve, ich weiß, du bist Manns genug, auf dich selber aufzupassen, durchaus. Aber wenn dir die Sache irgendwie nicht geheuer erscheint, ich meine, falls keiner von den anderen dort

auftauchen sollte - bleib mit dem Kerl lieber nicht allein.« Er lachte nur. Er hatte sich in» zwischen endgültig zu einem Ent» schluß durchgerungen und war sich nicht bewußt, daß seine vagen Hoffnungen bereits längst mit ihm durchgegangen waren. »Du stellst die Sache geradeso dramatisch hin wie in einem jener uralten Stumm» filme, wo man auch immer zu einer ominösen Party mit angeblich vie= len Gästen geladen wurde und wo sich dann hinterher herausstellte, daß man in Wirklichkeit der ein» zige Gast war, mit dem finsteren Schurken allein, zu einem Souper zu zweit. Keine Sorge, Tootsy. Falls ich dort niemand von den anderen vorfinde, mache ich auf der Stelle kehrt und komm sofort zurück.«

Das Haus hatte eine Park Avenue Adresse, lag aber in Wirklichkeit in einer noch exklusiveren kleinen Seitenstraße. Ein kleines ultra=mo= dernes Wohnhaus mit nur je einem Appartement in jeder Etage. »Mr. Harold Hardecker?« fragte Mac» Kenzie den Empfangsportier unten in der Halle. »Mein Name ist Ste» phen MacKenzie.« Er beobachtete, wie der livrierte Portier eine kleine maschinenge» schriebene Liste hervorzog, auf der nur fünf Namen standen, von de»

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nen er vier bereits mit Bleistift durchgestrichen hatte; jetzt strich er auch den letzten durch. »Fahren Sie nur gleich hinauf, Mr. MacKenzie. Dritter Stock.« Oben im dritten Stock öffnete ihm ein Butler die einzige Tür in dem Fahrstuhl=Foyer, begrüßte ihn mit Namen und nahm ihm den Hut ab. Ein Blick in die Runde und ein kur= zes Überlegen, welche Unsummen Geldes in der Ausstattung dieses Appartements stecken mochten, würden jedermanns Bedenken vor= behaltlos zerstreut haben. Leute, die auf derart großem Fuße lebten, konnten es sich ohne weiteres lei= sten, fünf völlig Fremde zum Din= ner einzuladen, unter ihnen das Erbteil ihres Sohnes aufzuteilen und das Ganze mit einem Achsel» zucken als eine Art abendliche Un= terhaltung abzutun. Uber einer be= stimmten jährlichen Einkommens» grenze verschieben sich irgendwie die konventionellen Gebräuche und Anschauungen.

Er konnte sich an Hardecker deut» lieh genug erinnern, als er ihn den breiten gemäldegalerieartigen Flur entlang, der beinahe so lang und groß wie eine Kegelbahn war, auf sich zukommen sah. Sie brauchten volle dreieinhalb Minuten, bis sie sich gegenüberstanden. Hardecker schien, seit MacKenzie von ihm den

visuellen Schnappschuß an der Un= fallszene eingefangen hatte, um mehrere Jahre gealtert zu sein. Leicht vornüber geneigt stand er da, sehr schmal in den Hüften, und wirkte, als ob er ein schweres kör» perliches Leiden zu erdulden hätte. Aber der weiße schmale Schnurr» bart war genauso haarscharf sau» ber getrimmt wie damals, und unter seinem Dinnerjackett trug er eines jener neumodischen Hemden mit weichem Umlegekragen, was ihm trotz seines schneeweißen Haares, das er kurz geschnitten trug wie ein West=Point=Kadett, ein seltsam jungenhaftes Aussehen verlieh.

Hardecker streckte ihm die Hand hin und sagte mit gerade der rieh» tigen Mischung von Würde und Herzlichkeit: »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. MacKenzie. Kommen Sie doch herein und ma= chen Sie die Bekanntschaft der anderen, auf die ich >verfallen< bin.« Im Wohnzimmer waren keine Frauen anwesend, nur die vier Männer, die gelassen um den Tisch herumsaßen. Es war ihnen keiner» lei Verkrampftheit und Steifheit anzumerken; ein Nachteil, der sich sonst bei zusammengewürfelten Gästen einer Stegreif=Party meist unangenehm bemerkbar macht.

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Kenshaw, derGelehrten=Typ, hatte immer noch deutlich sichtbar eine weiße Narbe unter dem linken Auge, dort, wo damals seine Brille zerbrochen war. Der engelsgesich= tige Lambert war aus seinem Leucht=Füllhaltergeschäft ausge= stiegen, wie er MacKenzie eiligst und unaufgefordert anvertraute, und hatte sich auf Büstenhalter um= gestellt. Mit technischen Neuheiten wollte er nichts mehr zu tun haben, oder, wie er sich ausdrückte, was man ihm auch nur schlecht wider= legen konnte: »Solche Dinger müs= sen die Mädchen nun mal haben. Aber wer braucht heutzutage schon noch einen Füllhalter?« Der >Hart= gesottene< mit den buschigen Augenbrauen wurde ihm als Pen= dergast vorgestellt - ohne Angabe seines Berufes. Megaffin, der In= kasso=Agent, war nicht mehr län= ger Inkasso=Agent. »Ich habe jetzt meine eigene Inkasso=Firma und lasse meine Angestellten sich die Füße platt rennen«, erklärte er läs­sig, während er einen funkelnden synthetischen Diamantring um sei= nen rosig=fleischigen Finger drehte. MacKenzie entschied sich für einen Scotch=Soda, und als er die anderen diesbezüglich eingeholt und den letzten Schluck ausgetrunken hatte, trat auf die Sekunde genau der Butler an die Tür, geradeso, als ob

er ihn durch ein Guckloch in der Wand beobachtet hätte. Doch er schaute nur kurz herein und zog sich dann sofort wieder zurück. »Machen wir uns dann also an unser Dinner, Gentlemen, wenn es Ihnen recht ist, nicht wahr?« lä= chelte Hardecker. Er besitzt die glückliche Fähigkeit, dachte Mac= Kenzie im stillen, fremde Menschen sich sofort wie zu Hause fühlen zu lassen, ohne es zu übertreiben, ohne dabei irgendwie aufdringlich zu wirken. Eigentlich gar keine so steife und ungemütliche Party, wie er befürchtet hatte, wahrscheinlich eine weit glattere Angelegenheit, als er sich vorgestellt hatte. Weder Blumen, Kerzen noch son= stige Dekorationen standen auf dem für sechs Personen gedeckten Tisch; nur ein gutes, herzhaftes Mahl, wie es sich für Männer ge= hört. »Bitte nehmen Sie Platz, wo es Ihnen beliebt«, sagte Hardecker. »Nur den Platz an der oberen Schmalseite lassen Sie bitte mir vorbehalten.« Lambert und Ken= shaw nahmen an der einen Längs= seite, Pendergast und Megaffin an der gegenüberliegenden Platz. Mac» Kenzie setzte sich an das Fußende der Tafel. Es schien offenbar, daß ihr Gastgeber die Erklärung, die er ihnen abgeben wollte, an das Ende des Dinners zu verlegen gedachte,

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wie es ja auch wohl am zweck» mäßigsten war. Nachdem sie Platz genommen hat» ten, schob der Butler von draußen die beiden Schiebetüren zusammen und betrat das Zimmer nicht mehr. Das Bedienen bei Tisch wurde von einem anderen Mann übernommen. Es war ein typisches Herren=Din= ner, das ihnen da serviert wurde -einfach und doch äußerst schmack­haft und raffiniert zubereitet, ohne überflüssige oder gar störende Bei» gaben, wie etwa nur zur Zierde an» gemachte Salate und dergleichen. Zu jedem einzelnen Gang wurde der dazu passende Wein serviert; und als Nachtisch gab es nicht etwa ir= gendwelche Süßigkeiten, sondern Roquefort=Käse, Kaffee, und über jedem der Weingläser flackerte die blaue Flamme eines angezündeten Courvoisier; alles in allem eben ein ausgesprochenes Luxus=Dinner. Und jeder von ihnen versank, als es vorüber war, in seinem Sessel zu» rückgelehnt, in den leichten Rausch eines goldenen Wachtraumes. Sie alle erwarteten schon im Geiste, zu Geld zu kommen, Geld, für das sie überhaupt nicht zu arbeiten brauch» ten, mehr Geld vielleicht, als sie je zuvor besessen hatten. Also war dies eigentlich doch keine gar so üble Welt, in der man lebte. Nur eines fiel MacKenzie als ir=

gendwie merkwürdig auf, aber da er noch niemals in seinem Leben in einem Privathaus von einem Die» ner beim Essen bedient worden war, sondern immer nur in Restau» rants, konnte er nicht entscheiden, ob das so üblich oder ob daran etwas ungewöhnlich war. Entlang der einen Wand des Speise» zimmers stand ein langes, kost» bares Mahagonibüfett, doch der als Kellner fungierende Diener hatte darauf nicht die Speisen aufgestellt oder dort das Fleisch zerteilt, son» dern hatte jeden Teller und jede Portion extra, für jeden einzeln, hereingetragen, sogar den Rostbra» ten. Der Kaffee und die Weine wa= ren ebenfalls hinter der Szenerie in die Tassen und Gläser eingegossen und diese bereits gefüllt von drau» ßen hereingebracht und serviert worden. Dieses hatte dem Diener doch nur unnötige Mühe verursacht und auch das Dinner ein wenig in die Länge gezogen. Aber da es so in Hardeckers Haus Sitte zu sein schien, war es eben auch jetzt so gehandhabt worden. Als sie bereits dabei waren, genie» ßerisch an ihren Zigarren und Zi= garetten zu saugen, und der Tisch bereits von allem außer den Kaf­feetassen abgeräumt worden war, wurde eine zusätzliche Speise auf» getischt. Es war ein silberner Kelch,

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eine Art auf Füßen stehende Schale, die eine dicke gelbliche Masse ent= hielt, die wie Mayonnaise aussah. Der Diener stellte sie genau auf die geometrische Mitte des Tisches, maß sogar noch mit den Augen ihre Entfernung von den be iden Längs-Seiten und vom Kopf = bis zum Fuß= ende des Tisches ab und rückte sie noch eine ganze Winzigkeit ge= nauer an die richtige Stelle. Dann hob er den Deckel ab und Heß sie offenstehen. Träge kräuselten feine Dampffäden aus ihr empor. Inter= essiert waren die Augen aller auf diesen Kelch gerichtet. »Ist es gut durchgemixt?« hörten sie Hardecker fragen. »Ja, Sir«, sagte der Diener. »Das ist dann alles; kommen Sie jetzt nicht mehr herein.« Der Diener verließ das Eßzimmer durch die Vorratskammertür, die er auch bisher benutzt hatte, und es klickte leise, nachdem er sie hinter sich geschlossen hatte. Jemand - Megaffin - fragte genie» ßerisch: »Was ist denn das darin?« Offenbar war sein Appetit auf De= likatessen immer noch nicht gestillt. »Oh, eine ganze Zahl von Dingen«, gab Hardecker nachlässig zur Ant= wort, »Eiweiß und Mostrich sowie noch andere Zutaten, ein wenig schaumig geschlagen und dadurch, wie gesagt, gut durchgemixt.«

Um einen Witz zu reißen, meinte MacKenzie: »Hört sich geradezu wie ein Gegengiftmittel an.« »Es ist ein Gegengiftmittel«, sagte Hardecker und blickte vor sich auf den Tisch und den Kelch. Er mußte unter der Tischplatte einen Klingel» knöpf oder etwas Ähnliches ge= drückt haben. Der Butler öffnete die Schiebetüren und blieb zwischen ihnen stehen, ohne hereinzukom» men.

Hardecker bewegte nicht den Kopf, blickte nicht auf. »Sie haben die Pi= stole, die ich Ihnen gegeben habe? Stellen Sie sich bitte draußen vor die Türen und achten Sie darauf, daß niemand hier herauskommt. Falls jemand es dennoch versuchen sollte, wissen Sie, was Sie zu tun haben.«

Die Schiebetüren, denen MacKenzie gegenübersaß, schoben sich wieder zusammen, jedoch nicht, ehe er, als er hinüberblickte, etwas Metalli= sches in der Hand des Butlers hatte aufblitzen sehen.

Nur langsam, ganz langsam, be= gann sich die Spannung zu stei= gern, denn der plötzliche Wechsel der Situation kam allzu unvorbe= reitet; sie hatten ja gerade eben noch im behaglichen Gefühl des Sattseins allzu tief in ihren Zu= kunftsvisionen von immensen Reichtümern geschwelgt und da=

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hingedämmert. Außerdem waren sie nicht alle im gleichen Maße be= weglich und umstellungsfähig -vor allem nicht Megaffin, der sich bereits den ganzen Abend weit in einer vierten Dimension von un= erreichbarer Ferne befunden hatte, in der er nicht mehr Bedrohung von Gastfreundschaft unterscheiden konnte, selbst wenn von einer Pi= stole gesprochen wurde. Der jähe Wechsel der Situation offenbarte sich zuerst in Hardeckers eigenem Gesicht — es erbleichte, er= grimmte und nahm einen stahlhar= ten, unerbittlichen Ausdruck an. Von dort sprang dieser Wechsel der Situation zu Lambert und MacKen= zie über, erfaßte auch sie und ließ ihre Gesichter ebenfalls mehr und mehr erbleichen. Dann schließlich ergriff er nacheinander auch die übrigen, bis endlich in der ganzen Tischrunde tödliches Schweigen herrschte.

Wiederum war es Hardecker, der sprach; nicht laut, nicht gereizt, nicht einmal verärgert, aber mit einer gnadenlosen eiskalten Stim= me. »Gentlemen, mitten unter uns

- befindet sich ein Mörder.« Von fünf Seiten zugleich war das Zischen zwischen den Zähnen ein= gezogenen Atems zu hören; ein widerlicher Laut der Entgeisterung und des Entsetzens, nicht einmal so

sehr wegen der Feststellung oder Behauptung selbst, sondern weit mehr wegen der Andeutung der drohenden Vergeltung, die hinter dieser Feststellung lauerte. Und noch weiter dahinter lauerte der Schatten des Verdachts, daß diese Vergeltung jetzt hier irgendwie vollzogen werden sollte. Kein einziger sprach ein Wort. Die stahlharten, eiskalt=erbar= mungslosen Pupillen in Hardeckers Augen schössen nacheinander von Gesicht zu Gesicht. Währenddes« sen rauchte er eine lange dünne Zi= garre, fast zigarettendünn. Er streckte sie gerade vor sich aus, zeigte mit ihr, kaum daß er sie ein wenig bewegte, auf jeden einzelnen von ihnen, wie mit einem verlän= gerten Finger der Rache, des dro= henden Unheils. »Gentlemen, einer von Ihnen hat meinen Sohn ge= tötet.« Stille. »Am dreißigsten August letzten Jahres.« Stille. »Und dafür hat er bisher noch nicht gesühnt.«

Wie bei einem Stein, der in tiefes, klares Wasser fällt - so breiteten sich die Wellen der Furcht nach allen Seiten hin aus, und MacKen= zie sagte ganz langsam: »Wollen Sie sich selbst über die dafür zu= ständigen Behörden stellen? Nach dem Untersuchungsergebnis des Leichenbeschauers handelte es sich

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um Selbstmord infolge momenta= ner geistiger Umnachtung. Warum halten Sie die eigens dafür zustän= digen und erfahrenen Leute für derart inkompetent, daß s i e . . . « Wie mit einem Peitschenschlag schnitt Hardecker ihm das Wort ab. »Es handelt sich hier nicht um eine Diskussion. Dies hier ist - « eine lange Pause, dann sehr leise, aber ganz klar vernehmbar » - eine Hin= richtung.«

Es folgte ein erneutes, würgendes, fast erdrückendes Schweigen. Jeder von ihnen nahm es je nach seinem Temperament in der ihm besonde» ren, eigenen Weise auf. MacKen= zie fuhr ganz einfach fort, Har= decker verblüfft und besorgt anzu= starren, jedoch keineswegs etwa ängstlich, ebensowenig von Angst gepackt, wie er es damals an jenem Abend im Fahrstuhl gewesen war. Kenshaw, der Gelehrten=Typ, hatte eine abweisende Miene aufgesetzt, wie ein Lehrer, der tadelnd einen besonders unartigen Schüler an= sieht, und die weiße Narbe unter seinem linken Auge schien sich noch deutlicher von seinem leicht geröteten Gesicht abzuheben. Me= gaffins Augen glitten unstet hin und her wie die eines Wiesels, das sich in die Enge getrieben fühlt und nach einem Ausweg sucht. Der >Hartgesottene< mit den buschigen

Augenbrauen machte mit seinen bebenden Lippen den Eindruck, als ob er jeden Augenblick in sich zu= sammenklappen und am liebsten in den Boden sinken würde. Lam= bert kniff sich einen Augenblick lang in die Nasenwurzel, ließ dann den Kopf sinken und murmelte etwas, was sich anhörte wie: »Uih! Ich werde noch meinen Kegelklub aufgeben, wenn ich öfter hierher-kommen darf!«

Hardecker fuhr fort, als ob er eben nichts Ungewöhnliches gesagt hätte. »Ich weiß, wer es ist. Ich weiß, wer von Ihnen dieser Mann ist. Fast ein volles Jahr habe ich ge= braucht, um das herauszufinden. Aber jetzt weiß ich es ohne den mindesten Schatten eines Zwei= fels.« Er blickte jetzt auf seine dünne Zigarre hinunter und be= obachtete, wie die Asche durch ihr eigenes Gewicht auf den Untertel= ler der Kaffeetasse fiel. »Die Poli= zei hatte auf mich nicht hören wol= len; sie beharrte darauf, es habe sich um Selbstmord gehandelt. Die Beweismittel waren nicht ausrei= \ chend genug, um sie gleich damals eines Besseren zu belehren, und so= viel ich weiß, hat sich daran nichts geändert.« Er hob den Kopf. »Aber ich - ich verlange und fordere Sühne dafür, daß meinem Sohn das Leben genommen wurde.« Er zog

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eine wertvolle, besonders flache achteckige Uhr aus der Tasche und legte sie mit dem Zifferblatt nach oben vor sich auf den Tisch. »Gent= lernen, es ist jetzt genau neun Uhr. In - allerhöchstem - einer halben Stunde, wird einer von Ihnen tot sein. Haben Sie bemerkt, daß ge= rade eben beim Dinner jedem von Ihnen separat serviert wurde? Eine der Speisen-nur eine einzige-enthielt ein tödliches Gift. Wäh= rend wir hier sitzen, tut dieses Gift langsam, aber absolut sicher seine Wirkung.« Er deutete auf den sil= bernen Kelch, der genau gleich weit entfernt von jedem einzelnen von ihnen auf der Mitte des Tisches stand. »Dort ist die Antwort. Dort drinnen ist das Gegengift. Ich habe nicht den Wunsch, mich als Scharf= richter über das Gesetz hinwegzu= setzen. Lassen wir den Mörder selbst entscheiden. Lassen wir ihn die Hand ausstrecken und sich sein Leben retten und als überführt vor Ihnen allen dastehen. Oder wir überlassen es ihm, zu schweigen und, ohne ein Geständnis abgelegt zu haben, in den Tod zu gehen-indem er sich selber für jene Tat hinrichtet, die ihm öffentlich vor Gericht nicht nachzuweisen ist. In fünfundzwanzig Minuten wird er ohne jedes vorhergehende Warn= zeichen tot zusammenbrechen.

Dann wird es für ihn keinerlei Ret= tung mehr geben - endgültig zu spät.« Es war Lambert, der die Frage aus= sprach, die in diesem Augenblick jeden quälend bewegte. »Aber sind Sie auch wirklich absolut sicher, daß Sie den richtigen - « »Ich habe sorgfältig darauf geach= tet, keinen Fehler zu begehen; der Diener, der Ihnen serviert hat, war genauestens instruiert worden. Keinem von Ihnen wird auch nur das mindeste geschehen - bis auf den Mörder.«

Lambert schien aus dieser Erklä= rung keinen großen Trost zu schöp= fen. »Ausgerechnet jetzt sagt er uns das! Eine feine Art, muß ich sa= gen, Gäste ihr Dinner verdauen zu lassen«, brütete er laut vor sich hin. »Warum haben Sie nicht dem Mör= der gleich als erstem servieren las= sen, so daß wenigstens wir übrigen in Ruhe und Frieden essen und die= ses Essen jetzt auch verdauen kön= nen?«

»Halten Sie doch den Mund!« wurde er von jemand erschreckt angefahren. »Noch zwanzig Minuten«, sagte Hardecker mit einer so tonlos nüch= ternen Stimme wie die Uhrzeit= ansage einer Rundfunkstation. »Hören Sie«, sagte MacKenzie, ohne sich dabei irgendwie aufgeregt

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Cornell Woolrich

zu zeigen, »Sie müssen nicht mehr ganz bei Trost und Verstand sein, um ein derartiges Ding zu drehen.« »Haben Sie jemals einen Sohn ge= habt?« war die Antwort. In Megaffin schien irgend etwas überzuschnappen. Polternd stieß er den Stuhl zurück. »Ich mach', daß ich hier schleunigst herauskomme«, sagte er heiser.

Lautlos schoben sich die beiden Schiebetüren zwei Zoll breit aus= einander, und ein schwarz=metalle= nes Rohr schob sich durch diesen Spalt hindurch. »Jenen Mann da - «, befahl Hardecker, » - schie= ßen Sie ihn dort, wo er steht, zu= sammen, falls er sich nicht sofort wieder hinsetzt.«

Wie ein geprügelter Hund ließ Me= gaffin sich wieder auf seinen Stuhl zurücksinken und versuchte hinter Pendergasts Schulter Deckung zu finden. Bis auf einen haardünnen Spalt glitten die beiden Schiebe-türen wieder lautlos zusammen. »Ich könnte mich hier gar nicht wohler fühlen«, seufzte der engels= gesichtige Lambert, »als in der Gas= kammer von San Quentin.« »Achtzehn Minuten noch«, lautete darauf der Kommentar vom Kopf= ende der Tafel her. Pendergast begann plötzlich wilde Grimassen zu schneiden, legte die Unterarme auf den Tisch und bet=

tete völlig erschöpft seinen Kopf darauf. Laut schnüffelte und schluchzte er vor sich hin. »Ich kann das einfach nicht mehr aushalten! Laßt mich hier 'raus! Ich habe es doch nicht getan!« Eine Welle des Umschwungs, nahe= zu einer Revolte, breitete sich um den Tisch herum aus. Es war nicht etwa so, daß auch er bereits, so wie Pendergast eben, am Zusammen-brechen war, überlegte MacKenzie im stillen, warum er diesen Um= schwung auslöste und sich auf= lehnte, sondern weil er einfach nicht willens war, sich das noch länger bieten zu lassen. An sich hätte es ja Lambert mit seinen kaltschnäu= zigen Redensarten sein können, wenn überhaupt jemand. Aber der hatte inzwischen andere Sorgen. »Junge, Junge«, sagte er, indem er sich die Hand auf die Brust preßte. »Ich habe vielleicht Herzstiche, an denen alles dran ist!« Und so sagte MacKenzie denn: »Hören Sie, dies ist überhaupt keine Art und Weise, uns alle so zu behandeln. Wenn Sie gegen den Betreffenden überhaupt so etwas wie Beweise haben, dann machen Sie es gefälligst mit ihm alleine aus. Ziehen Sie nicht uns Unschuldige in so etwas . . . «

»Dieses ist nun einmal meine Art und Weise«, war Hardeckers kräch=

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zende Antwort. »Wenn Sie un= schuldig sind, braucht es Sie ja nicht im mindesten zu berühren. Und was jenen >Betreffenden< an= geht, so habe ich ihn ja vor die freie Wahl gestellt. Er braucht es ja gar nicht bis zum letzten kommen zu lassen. Ich habe ihm völlig freie Hand gelassen. Noch vierzehn Mi= nuten. Darf ich den Betreffenden darauf aufmerksam machen, daß das Gegengift, je länger man sein Einnehmen hinauszögert, in seiner Gegenwirkung laufend nachläßt. Zögert man sein Einnehmen gar bis zu den allerletzten Minuten hinaus, so vermag es vielleicht überhaupt nicht mehr zu wirken.«

MacKenzie empfand ein ganz eigenartiges Schweregefühl, das wie ein Zementblock in seinem Ma= gen zu lasten schien, und er spürte einen quälenden Drang, sich davon zu befreien. Es gab so etwas wie nervöse Verdauungsstörungen, wußte er, aber. . . Jedenfalls wur= den seine Augen von dem silbernen Kelch in der Tischmitte immer wieder wie magnetisch angezogen. Aber so erging es auch allen ande= ren fast unablässig. Pendergast hatte jetzt wieder den Kopf ge= hoben, aber sein Gesicht war eine jammervolle Maske kindlicher Ver= zagtheit geblieben. Megaffin war

ganz grün im Gesicht und beleckte sich immer wieder die Lippen. Ken= shaw war es, der von allen noch die gefaßteste Haltung bewahrte. Er hatte die Arme verschränkt und saß da, als ob er darauf wartete zu sehen, wer von den anderen wohl nach dem rettenden Silberkelch greifen würde.

MacKenzie konnte jetzt ein dump= fes Pulsieren in der Brust fühlen, und er befand sich in einem der« artigen Zustand innerlicher Ver= krampfung, daß er geradezu kör= perliche Schmerzen litt. Allein der Gedanke daran, wie sich diese Si= tuation noch weiter zuspitzen mochte, ließ ihm den Schweiß auf die Stirn treten.

Lambert streckte plötzlich die Hand vor, und alle hielten für eine Mi= nute den Atem an. Aber seine Hand langte an dem Kelch vorbei und griff statt dessen in eine auf dem Tisch stehengebliebene Dose mit Salzstangen, von denen er sich eine herauslangte. »Auf Ihr ganz per= sönliches Wohl«, sagte er ironisch zu Hardecker.

Jemand stieß wegen dieses falschen Alarms, den sie gezwungener» maßen miterlebten, ein verkrampf= tes Lachen aus. Kenshaw nahm seine Brille ab und polierte miß= mutig deren Gläser, als ob er ent= täuscht wäre, daß sich nun immer

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noch nicht die >dramatische De= maskierung des Mörders< ergeben hatte. »Sie verscherzen sich dadurch, daß Sie uns psychisch derart durch die Mangel drehen«, sagte MacKenzie, »jegliches Gefühl von Mitleid, das Ihnen an sich durchaus gebührt.« »Ich verlange und will kein Mit= leid«, war Hardeckers messer= scharfe, eiskalte Antwort. »Sühne ist es, was ich verlange. Drei Men= sehen sind mir genommen worden: mein eigener Sohn, meine Schwie= gertochter und ihr vorzeitig gebo= renes Kind. Und dafür fordere ich, daß der Betreffende es mir büßt.« Lambert sprach laut vor sich hin. »Wenn ich dies alles hier Jennie erzähle, wird sie mir kein Wort davon abnehmen.« Pendergast griff sich plötzlich krampfhaft an die Kehle und wim= merte: »Ich bekomme keine Luft mehr! Ich, ich bin's, den er völlig fertiggemacht hat - so helft mir doch!«

MacKenzie, auch er jetzt Har= decker gegenüber feindlich einge= stellt, versuchte Pendergast Rück= halt zu geben und ihn zu beruhi= gen, rein grundsätzlich aus Prinzip heraus. »Vielleicht nur eine kleine Herzschwäche. Regen Sie sich des= wegen nicht weiter auf.« »Ein Herzinfarkt - und ich soll

mich deshalb nicht weiter auf= regen!« war die undankbare, wim= mernde Antwort, die er dafür er= hielt. »Und wenn ich nun hier auf der Stelle tot zusammensacke -sind Sie dann etwa imstande, mich wieder zum Leben zu erwecken?« »Eigentlich sollte man ihn für das, was er hier mit uns anstellt, ver= haften lassen«, sagte Kenshaw, wo= durch auch er zum erstenmal eine Spur innerer Erregung erkennen ließ. Vor Schweiß hatten sich die Gläser seiner Brille beschlagen, was ihm ein ganz merkwürdiges blin= des Aussehen verlieh. »Nur lediglich verhaften?« fuhr Lambert auf. Er wiegte den Kopf verneinend von einer Seite zur an= deren. »Er wird dafür durch meinen Rechtsanwalt verklagt werden, wie noch niemals jemand zuvor ver= klagt worden ist. Die Sache wird ein gerichtliches Nachspiel haben, und dann wird er für immer hinter Schloß und Riegel landen.« Hardecker warf ihm lediglich einen verächtlichen Blick zu. »Noch un= gefähr zehn Minuten«, sagte er. »Er scheint den buchstäblich tod= sicheren, weniger umständlichen Weg bevorzugen zu wollen. Zudem starrköpfig, eh? Lieber geht er glatt in den Tod, als daß er sein Gewis= sen erleichtert und sich zu einem Geständnis bequemt.«

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MacKenzie krallte seine Finger ne= ben sich um die Stuhllehne. Wenn die Wut, die jetzt in mir kocht, nicht nachläßt, dachte er, schlage ich ihm, ehe ich von hier fortgehe, mit dem Stuhl den Schädel ein. Ich werde es ihm heimzahlen, unschuldige Leute zu vergiften!

Megaffin hatte in einer Art Sing= sang begonnen, ihren Peiniger mit weinerlichen, kehlig herunterge= haspelten Flüchen zu überschütten. »Geben Sie's ihm«, sekundierte ihm Lambert. »Ihr Atem, den Sie da vergeuden, aber haargenau meine eigenen Gedanken.« »Fünf Minuten noch. Das Gegen= gift wird fast sicher seine Wirkung verfehlen, wenn es nicht innerhalb der nächsten dreißig Sekunden eingenommen wird.« Hardecker steckte die Uhr in die Tasche zu= rück, als ob es sich erübrigte, noch weiter die Zeit zu verfolgen. MacKenzie würgte es im Hals, als ob er am Ersticken wäre. Er zerrte seine Krawatte locker und riß sich den obersten Hemdknopf auf. Von Pendergasts Augen war nur noch das Weiße zu sehen, so sehr hatte er bereits die Augäpfel ver= dreht. Entweder befand er sich in einem kataleptischen Krampfzu= stand, oder aber er konnte jede Se= künde ohnmächtig zu Boden sin= ken. Selbst der bisher noch recht

gelassene Lambert hatte aufgehört, an seiner Zigarre zu saugen, als ob deren Geschmack ihn plötzlich ekelte. Kenshaw nahm innerhalb von fünf Minuten zum drittenmal seine Brille ab, um die beschlage= nen Gläser trocken zu wischen. Und dann schössen plötzlich zwei Arme vor, packten den Silberkelch, rissen ihn heran. Jemand von ihnen stülpte ihn sich förmlich über das Gesicht, und ein hohles metalli= sches Krächzen, unbeschreiblich grauenvoll, klang stöhnend dar= unter hervor. All das geschah so blitzschnell, daß sich MacKenzie eine Ewigkeit von Sekunden nicht sicher sein konnte, wer es war, ob= wohl er doch nun solange mit ihnen zusammen an dieser Dinnertafel des Grauens gesessen hatte. Er konnte es nur feststellen, indem er innerhalb von kaum einer Sekunde rasch die übriggebliebenen Gesich= ter abzählte. Der Mann, der neben Lambert gesessen hatte, mußte es sein: Kenshaw, der Gelehrten=Typ, der Mann, der von ihnen am aller= wenigsten zu sagen gehabt hatte, seit diese Feuerprobe von Har= decker in Szene gesetzt worden war!Mit gierigen Schlucken stürzte er den Inhalt des Kelches hinunter, im Schatten dessen unteren Randes sein auf= und abhüpfender Adams= apf el gerade noch zu erkennen war.

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Dann plötzlich schleuderte er den Kelch beiseite, sein jetzt verzerrtes Gesicht wurde wieder für jeder= mann sichtbar, hohlklingend prallte der geleerte Kelch gegen die Wand, gegen die er ihn geworfen hatte, und fiel polternd zu Boden. Für ein oder zwei Minuten war er nicht im= stände zu sprechen, auch keiner der übrigen - außer vielleicht Har= decker; und der sagte kein Wort, sondern saß einfach da und starrte mit mitleidlosen Augen auf den Mörder seines Sohnes, der sich selbst überführt hatte. Dann schließlich keuchte Kenshaw mit zuckenden Wangen: »Wird es - wird es mich noch retten?« Hardecker hatte die Arme ver= schränkt und wandte sich an die übrigen, ohne jedoch auch nur für einen Sekundenbruchteil den Blick von Kenshaw zu wenden: »So, nun wissen Sie es also. Nun wissen Sie also, ob ich recht hatte oder nicht.« Kenshaw hielt die Hände fest ge= gen die beiden Seiten seines Kop= fes gepreßt. Eine ganze Flut von Worten entströmte ihm plötzlich, als ob dies für ihn, nachdem er so= lange unter nahezu unerträglicher Spannung gestanden hatte, endlich die Erlösung bedeutete. »Natür= lieh hatten Sie recht, und ich würde es noch einmal, würde es wieder tun! Ich bin froh, daß er weg ist.

Der Sohn des reichen Mannes, der alles hatte, was er sich nur wün= sehen konnte. Aber das allein ge= nügte ihm noch nicht, о nein! Er mußte es zur Schau tragen, mußte damit auch noch protzen, wie gut er es hatte-jeden Luxus, jedes noch so snobistische Vergnügen der in alle Ewigkeit zu verdammenden High Society und ein Kanu, mit dem er von Reichtümern zu im= mer neuen Reichtümern paddeln konnte! Er hatte es nicht nötig, einen Job bei Ihrer eigenen Firma anzunehmen, oder? Nein, die Leute hätten dann vielleicht sagen können, den Posten habe er lediglich Ihnen zu verdanken. Er mußte ausgerech= net dort hinkommen, wo ich meinen Posten hatte und sich dort bewer= ben. Nicht etwa anonym. Nein, er mußte natürlich erwähnen, wessen Sohn er war und den gewichtigen Namen seines Vaters mit auf die Waagschale werfen, damit sie sich zu seinen Gunsten neigte! Sie hat= ten dort Angst, sie könnten Sie da= durch beleidigen, und vielleicht dachten sie auch daran, daß sie durch ihn mit Ihnen ins Geschäft kommen würden oder zumindest wichtige Verbindungen bekämen. Daß ich selber mich dort während der besten Jahre meines Lebens ab= gerackert hatte, daß auch ich je= mand zu Hause und zu versorgen

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hatte, genau wie er, daß ich aber nicht einfach irgendwo anders hin» gehen und nur den gewichtigen Na= men eines einflußreichen Vaters er= wähnen brauchte, daran dachten sie überhaupt nicht! Und so setzten sie mich dann einfach auf die Straße.«

Seine schrille Stimme überschlug sich nahezu. »Wissen Sie, was dann aus mir geworden ist? Wissen Sie oder kümmert es Sie, wie ich im Regen verzweifelt die Straßen ent= langgehastet bin, nur um in mei= nem Alter noch Arbeit zu finden? Wissen Sie, daß meine Frau auf den Knien herumrutschen mußte, um den Dreck von irgendwelchen Büro= böden herunterzukratzen? Wissen Sie, daß ich gezwungen war, auf Parkbänken zu schlafen und als Tellerwäscher zu arbeiten, nur weil Ihr vornehmer Sohn es durch seine gerissenen Machenschaften dahin hatte kommen lassen? Ja, ich zer= marterte mir das Gehirn, warum das so war und sein durfte, und sicher wäre es Ihnen genauso er= gangen, oder nicht? Ich nehme an, Sie haben die Drohbriefe gefunden, die ich ihm geschrieben habe. Da= her wußten Sie es und sind mir auf die Spur gekommen.« Hardecker schüttelte lediglich leicht verneinend den Kopf. »Und dann an jenem Tag stieg er

in den Fahrstuhl; er sah mich nicht und würde mich wahrscheinlich auch gar nicht erkannt haben, selbst wenn er mich gesehen hätte. Aber ich sah ihn! Ich kannte ihn! Und dann stürzten wir ab - und ich hoffte, er würde tot sein, endlich und ein für allemal tot! Aber das war er eben nicht. Und während wir dann dort unten im Dunkeln kauerten, begann dieser Gedanke immer mehr Besitz von mir zu er= greifen. Die Schweißbrenner setz= ten mit ihrem Getöse ein, und ich packte ihn und wollte ihn erwür= gen. Aber es gelang ihm, sich aus meinem Griff herauszuwinden, und er zog seine Pistole hervor, um sich gegen einen vor Angst wahnsinnig Gewordenen, wie er wohl geglaubt haben dürfte, zu verteidigen. Ich war nicht vor Angst wahnsinnig geworden; aus Rachsucht war ich halb vom Wahnsinn besessen, aber ich wußte genau, was ich tat! Ich packte seine Hand; nicht die Pi= stole, sondern die Hand, in der er die Pistole hielt. Ich drehte sie her= um, so daß die Pistole auf sein eige= nes Herz gerichtet war. Er sagte: >Elinor, Elinor !< Aber das rettete ihn nicht, keineswegs; das war nämlich der falsche Name, der Name seiner Frau, nicht der der meinen. Ich drückte mit meinem Finger seinen eigenen zurück, den

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Comell Woolrich

er ja am Abzugshahn liegen hatte, und so feuerte er selber seine eigene Waffe ab. Also hatte die Polizei recht; in gewisser Hinsicht war es Selbstmord.

Schlaff lehnte sich sein Körper ge= gen mich; wir standen dort ja viel zu eng zusammengedrängt, als daß er überhaupt so einfach umfallen konnte. Ich selbst warf mich als erster auf den Boden, was schwie= rig genug war, und zog ihn dann zu mir herab, so daß er über mich zu liegen kam; so sollte man uns vorfinden. Es lief von ihm ein we= nig Blut auf mich herab, aber das hörte dann auf. Und als der Poli= zist herunterkam, um uns heraus= zuholen, täuschte ich vor, ich wäre ohnmächtig geworden.« »Mörder«, sagte Hardecker. »Mör= der!« Wie Tropfen von Eiswasser fielen die Worte herab. »Er wußte ja überhaupt nicht, daß er Ihnen all das angetan hatte. Oh, warum haben Sie ihm nicht wenigstens endlich eine Chance dazu gegeben, warum haben Sie sich nicht als Mann erwiesen? Mörder! Sie Mör= der!«

Kenshaw bückte sich und langte auf den Boden hinunter, dorthin, wo er sein Glas hatte fallen lassen, als er nach dem Gegengift gegriffen hatte. Sein Gesicht befand sich in Höhe der, Tischplatte. Zänkisch

keifte er: »Es spielt überhaupt keine Rolle, was Sie mich hier eben ge= rade sagen hörten. Niemand wird imstande sein, auch Sie nicht, Har= decker, jemals die Beweise zu er= bringen, daß ich es getan habe. Niemand hat mich dabei gesehen. Es war stockfinster, nichts als raben= schwarze Finsternis.« Ein Flüstern klang auf. »Und dort werden Sie jetzt auch hingehen. Direkt in die Finsternis.« Kenshaws Kopf war plötzlich unter dem Tisch verschwunden. Der leere Stuhl, auf dem er gesessen hatte, kippte zur Seite und fiel polternd auf den Boden.

Alle sprangen auf und beugten sich über Kenshaw; alle - außer Har= decker. MacKenzie richtete sich von den Knien auf. »Er ist tot«, sagte er. »Das Gegengift hat nicht mehr rechtzeitig gewirkt.« Starr sah Hardecker ihn an. »Das war nicht das Gegengift«, erklärte er, »das war das Gift selbst. Er hatte gar kein Gift bekommen, hatte gar keines in seinem Körper, bis er dann selber nach dem Kelch griff und ihn gierig austrank. Mit ein und derselben Handlung hat er sich gleichzeitig verurteilt und das Ur= teil selber an sich vollstreckt. Bis dahin hatte ich nämlich gar nicht gewußt, wer unter Ihnen hier der Mörder war. Ich wußte lediglich,

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Dinnerparty mit delikatem Nachtisch

dal? mein Sohn es nicht von sich aus getan haben konnte. Denn, sehen Sie, das donnernde Getöse jener Schweißbrenner konnte ihm kaum etwas ausgemacht haben; er war nämlich von Geburt an nahezu taub.« Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich habe Sie nicht unter einem falschen Vorwand hierher* gelockt, Gentlemen. Das Erbteil

meines Sohnes wird unter Sie vier, die Sie übriggeblieben sind, zu glei= chen Teilen aufgeteilt werden. Und jetzt bin ich bereit, meine eigene Medizin zu nehmen. Rufen Sie die Polizei und lassen sie diese und ihre Staatsanwälte und die Straf= gerichte entscheiden, ob ich ihn ge= tötet habe oder ob ihn sein eigenes schuldiges Gewissen gerichtet hat!«

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MacKinley Kantor

So ähnlich wie Thunfisch

MacKinley Kantor hat man es wahrhaftig nicht leicht gemacht; man ließ ihn die literarische Leiter ganz von unten her erklimmen. Da= mals, als er auf der untersten Sprosse stand, zahlte man ihm einen lumpigen Cent pro Wort. Heute, da er als einer der raffiniertesten Kurzgeschichtenschreiber auf der obersten Sprosse dieser Leiter steht, zählt man ihm gern einen Dollar pro Wort - auf Wunsch als harten Gold=Dollar. Und deshalb kann man heute jedes der von ihm geschriebenen Worte buchstäblich auf die Goldwaage legen...

Wild um sich schießend kamen sie aus der Bank herausgerast. Sie hat= ten fünfundsechzigtausend Dollar in bar und in umsetzbaren Wert= papieren erbeutet, und das betrach= teten sie als eine Summe, für die es sich zu schießen lohnte. Dennoch hätte an sich alles völlig glatt abgehen können, wenn der alte Bradley, der Kassierer am Kas= senschalter vier, nicht versucht hätte, die Polizei zu alarmieren. Bradley war schon sehr lange An= gestellter der Millfield Trust Com= pany, und in dieser langen Zeit hatte er ein starkes Pflichtgefühl entwickelt; allzu stark, als daß es

ihm zu seinem eigenen Guten ge= reichte. Er taumelte zurück, lehnte sich rücklings gegen einen der dort ste= henden Schreibtische und klappte die Hände über seinem rundlichen Bauch zusammen. Dann knickte er in den Knien ein, und abwärts ging es mit ihm, zu Boden. »Die verdammten Läuse!« kreischte Ireton, einer der anderen Kassierer, der die Hände hoch in die Luft ge= streckt hatte. Nur so zur Sicherheit jagten sie zwei Kugeln in Iretons Richtung, die hinter ihm klirrend die Fenster= Scheibe durchschlugen. An der

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So ähnlich wie Thunfisch

Tankstelle jenseits der Straße zischte eine dieser Kugeln haar= scharf über den Kopf eines Tank= warts hinweg. Dieser Tankwart hatte beim Zweiundzwanzigsten Scharfschützen=Bataülon gedient, und wenn etwas derart über seinen Kopf hinwegsirrte, wußte er nur zu genau, was das war. Er ging hinter einer der Tanksäulen in volle Dek= kung und begann zu dem Polizisten Wean hinüberzuschreien, der am nächsten Häuserblock vor einem Drugstore stand. Wean kam lang= sam und ein wenig verwirrt drein= schauend die Straße herauf, und dann hörte er die weiteren Schüsse. Er riß seine Dienstpistole aus dem Halfter und begann zu rennen. Inzwischen hatten zwei der Ban= diten taumelnd die braune Limou= sine erreicht, die mit ihrem Fahrer vor dem Eingang der Bank ge= parkt stand, und waren hineinge= krochen, und der vierte Mann deckte ihren Rückzug mit einer recht ge= räuschvollen Thompson=Maschi= nenpistole. Hoch oben auf dem efeuumrankten Giebel der Bank begann jammernd eine Sirene auf= zuheulen; Miss Luella Conway von der Spareinlagen=Abteilung hatte den ersten Schock überwunden und auf den verborgenen Alarmknopf gedrückt.

Wean stellte sich hinter einen Stra=

ßenlampenpfosten vor der Tank= stelle und fing an zu feuern. Er war ein gerissener Fuchs, ein alt= erfahrener Сор, und er zielte nicht etwa auf den Thompson=Schützen auf dem Gehsteig, sondern auf den Fluchtwagen. Dieser bot ihm ein größeres Ziel, und wenn es ihm ge= lang, mit einer Kugel den Benzin= tank zu durchlöchern - aber es ge= lang ihm lediglich, das Rückfenster zu zertrümmern und eine weitere Kugel irgendwo in die Karosserie zu placieren, ehe ihm die Maschi= nenpistole die rechte Körperhälfte aufriß. Dennoch schoß er seine Dienstpistole bis zur letzten Kugel leer, während er bereits keuchend und verblutend am Boden lag, und dann starb er.

Inzwischen hatte der Fluchtwagen den Thompson=Schützen aufge= nommen, war bereits den halben Häuserblock hinaufgerast, und die Menschen waren nur allzu bereit, ihm schleunigst Platz zu machen-sehr viel Platz. Glatt jagte er bei Rotlicht über die Route 20 hinweg und bog dann in haarsträubend scharf genommener Kurve nach Osten ein, in Richtung auf Plain= field. Der ganze Vorfall hatte nicht län= ger als vier Minuten gedauert. Dann waren die Bankräuber ver= schwunden, der alte Bradley lag tot

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MacKinley Kantor

in der Bank, und der Polizist Joe Wean lag tot vor der Tankstelle. Ganz Millfield schüttelte sich inner= lieh, versuchte sich von dem Schock zu erholen - und versuchte nachzu= denken... Gus Annas, stellte sich heraus, war der einzige Zeuge, der gesehen hatte, wie die Bankräuber die Bank betreten hatten und wie sie dann später herausgestürzt waren. Die ganze Zeit über hatte er hinter der Schaufensterscheibe seines Schnell» restaurants Handy Lunch Counter gestanden, gleich gegenüber an der Ecke der Main Street, hatte in der einen Hand eine Schöpfkelle und in der anderen Hand eine Gabel ge= halten, während hinter ihm ein Schnitzel naturelle sich zu Tode ge= braten hatte und der Gestank des angebrannten Fleisches sein ganzes Schnellrestaurant verräuchert hatte. Nur ein einziger Gast hatte sich zu dieser Zeit in seinem Handy Lunch Counter befunden, und der hatte die Bankräuber zwar herausstürzen sehen, nicht aber gesehen, wie sie die Bank betreten hatten. Gus ging bis zu der offenstehenden Tür seines Schnellrestaurants vor, als es jetzt in der Main Street vor sensationslüsternen Zuschauern nur so zu wimmeln begann, aber er ging keinen einzigen Schritt wei= ter. Vielleicht glaubte er, es könn=

ten sich noch weitere Banditen in der Nähe herumtreiben, die nur darauf warteten, ihm seine Laden» kasse auszuräumen, und auf dieses Risiko wollte er es nicht ankommen lassen. Er kratzte sich seinen häß= liehen kurzgeschorenen Kopf und zog nachdenklich seine schwarzen Augenbrauen zusammen. Dies war eine böse, eine sehr böse Sache, dachte Gus Annas im stillen. Seit zwölf Jahren hatte er sein Schnell» restaurant nun schon an dieser Stelle, aber noch nie zuvor hatte er mitangesehen, daß die Bank aus= geraubt wurde. Und eine Menge Leute mußten dabei getötet wor= den sein.. . ja, wirklich eine sehr, sehr böse Sache.

Er schielte mit säuerlichem Gesicht auf die wimmelnde Menschen» menge, auf die hin und hereilenden Polizisten, auf die mit dröhnendem Auspuff davonjagenden Verfolger» wagen und auf die völlig vergeb» lieh und hoffnungslos von Wean zu Bradley und wieder zurück hasten» den Ärzte. Dort stand er immer noch und machte sich über die Sache so wilde und wütende Ge= danken,, daß die Hirnwindungen unter seinem Skalp förmlich zu vibrierei'. schienen, als Sergeant Cormaney zu ihm herüberkam, um ihn zu befragen.

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So ähnlich wie Thunfisch

Sergeant Т. A. Cormaney war der einzige Detektiv=Beamte in Zivil, dessen sich die kleine Streitmacht der Polizei von Millfield rühmen

konnte. Er war ein breitschultriger, muskulöser Mann mit blaßgrauen Augen, einem dichten braunen Schnurrbart und einem makellos sauberen schwarzen Filzhut, der für seinen Kopf jedoch zwei Nummern zu klein war.

»Well«, sagte er seufzend, »Wean haben sie also erledigt.« Gus nickte und blinzelte. »Sie ha= ben ihn erledigt - tot?« »Yeah. Der ist tot, und zwar gründ= lieh. Vier Kinder hat er zu Hause -zum Glück sind sie alle beinahe schon erwachsen. Und dann noch den alten Bradley, drinnen in der Bank.« Gus Annas schnalzte mit der Zunge. »Sind das alle?« »Das sind zwei«, grunzte Corma= ney, »und nach meiner Meinung sind das gerade genug. Was ich von Ihnen wissen will - haben Sie sich die Kerle genau anschauen können?« »Klar«, sagte Gus. »Na, dann rücken Sie schon endlich raus damit, was Sie gesehen haben. Die Leute von der Bank sagen, sie hätten sich Taschentücher vor die Gesichter gebunden. Stimmt das?« »Hm, hm. Sie hatten Taschen»

tücher vors Gesicht gebunden, als sie aus dem Wagen stiegen und hineinrannten.« »Well, warum zum Teufel haben Sie dann nicht sofort die Polizei an» gerufen?« explodierte Cormaney. Mr. Annas machte mit der Hand eine vage,, müde Geste. Er wäre viel zu verblüfft gewesen und alles wäre viel zu schnell gegangen, erklärte er mit knappen Worten; er hätte in seinem ganzen Leben noch niemals Bankräuber in Aktion gesehen. Er wäre ganz einfach vollkommen durcheinander gewesen. Erst hatte er gedacht, es müßte sich wahr» scheinlich um einen Witz handeln, aber dann war er zu dem Schluß gekommen, daß es doch kein Witz war. Und bis es so weit gekommen war, hatte drinnen schon die ganze Schießerei begonnen, und die Ban» diten waren wieder aus der Bank herausgerannt.

Der Detektiv=Sergeant schnaubte mißmutig und setzte sich auf den Stuhl, der dem Zigarettenverkaufs» stand innerhalb des Schnellrestau» rants am nächsten stand. Gus stand da und blickte drein wie ein Schaf - zudem ein wenig verschämt. »Gus«, sagte Cormaney, »'ne große Hilfe sind Sie mir bisher gerade nicht gewesen. Beschreiben Sie mir die Kerle. Also los.« Der eine war groß und dünn ge=

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MacKinley Kantor

wesen. Er hatte - was hatte er doch angehabt? - einen schwarzen An= zug, und eine Art Schirmmütze. Ein weiterer war ebenfalls groß, aber nicht so dünn, und der hatte einen grauen Mantel getragen. Der Fahrer des Fluchtwagens - well, auf den hatte er eigentlich gar nicht weiter geachtet. Aber der vierte Mann, der Kerl mit dem blauen Anzug und dem grauen Hut mit schwarzem Band-den kannte Gus; den kannte er vom Sehen. Der hatte rote Haare.

»Yeah, ein Rotfuchs. Das stimmt genau mit dem überein, was man mir auch schon drüben gesagt hat. Aber Sie haben eben gesagt, Sie würden ihn kennen?« Gus zuckte die Achseln. »Er ist hier zu mir reingekommen, hat hier ge= gessen.«

Wann? «

»Jeden Tag. Vielleicht 'ne ganze Woche lang. Jeden Tag er kam zu mir rein und hat gegessen. Ich hab' eben mal rübergesehen, und dann ich hab' ihn entdeckt und hab' mir gesagt, klar, das ist der Bursche, der die ganze Woche hierher zum Essen kommt.« Cormaney nickte. »Well - weiter?« Der Bandit in dem blauen Anzug, erklärte Mr. Annas mit Nachdruck, hätte nicht nur rote Haare, sondern auch grüne Augen. Und ein paar

Sommersprossen. Er wäre nicht aus Millfield, sondern ein Fremder, und vor ungefähr einer Woche hatte Mr. Annas ihm zum erstenmal sein Essen vorgesetzt. Ein= oder zwei= mal war er ihm auf der Straße be= gegnet, und jeden Tag war der Mann ins Handy Lunch gekommen, um hier zu essen.

»Ein Fremder«, wiederholte der De= tektiv=Sergeant. »Verstehe. Das war der Kerl, der für die anderen den Job ausbaldowert und die Lage erkundet hat. Also muß die ganze Bande von Gott=weiß=wo, ganz sicher nicht aus der Gegend von Millfield, stammen. Diesen einen haben sie als Kundschafter herge= schickt, und der hat sich die ganze Sache hier genau angesehen, und dann haben sie alle miteinander das Ding gedreht. Denken Sie noch ein bißchen weiter nach, Gus.« Gus dachte nach, aber es kam nicht das mindeste dabei heraus. »Ich werd' mal zum Millfield Hotel rüberfahren«, entschied sich Cor= maney schließlich. »Das ist das ein= zige Gasthaus, das Durchreisende aufnimmt.«

Zwanzig Minuten später war er wieder zurück. »Yeah, Gus, er hat tatsächlich dort gewohnt, die ganze Woche üfyer. Hat sich unter dem Namen John R. Small, Boston, Massachusetts, eingetragen. Viel»

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So ähnlich wie Thunfisch

leicht kommen wir ihm dadurch auf die Spur. Hat er Ihnen gegen= über irgendwann mal seinen Na= men genannt?« »Nein«, sagte Mr. Annas und kam dann zu der scharfsinnigen Schluß» folgerung, daß der Fremde sich möglicherweise einer falschen Na= menseintragung schuldig gemacht haben könnte - kurzum, vielleicht hatte er gar nicht seinen richtigen Namen und seine richtige Adresse angegeben.

»Gus«, seufzte Sergeant Corma» ney, »manchmal erwecken Sie in mir das dringende Verlangen, mich lang auf den Boden zu legen und auf der Stelle einzuschlafen.« Gus runzelte seine dunklen, buschi= gen Augenbrauen und schaute trau= rig drein. »Ich glaube«, sagte er ge= dehnt, »sein Name war so ähnlich wie Thunfisch.«

Cormaney schnaubte verächtlich. »Hat man schon jemals von jemand gehört, der >Thunfisch< heißt?« »Vielleicht es war auch - Seelachs«, machte Gus den schüchternen Vor= schlag. »Oder Hering.« Der Detektiv=Sergeant stöhnte nur laut auf und machte sich auf den Weg zur Polizeistation. Dort sprach er mit dem Mann am Empfangs» tisch, der gerade einen Telefonanruf aufgenommen hatte. Auf Grund dieses Anrufs ging Cormaney zu

dem völlig harmlos aussehenden, jedoch mit einem X2o=PS=Motor ausgerüsteten Polizei=Coupe hin» aus, das vor der Polizeistation am Bordstein geparkt stand. Mit hoher Fahrt jagte er die Route 29 hinauf, bog bei der Mountain Forge Road von ihr ab und hielt dann auf die Watchung Hills zu. Ein paar Minuten später hielt er den Wagen an, stieg aus und mischte sich unter die Schar von Millfielder Polizisten und State» Troopers, die um eine verlassene braune Limousine herumstanden. Dicht neben dem Ersatzreifen wies der Wagen ein Einschußloch auf, und über einer Speiche des Lenkrads hing ein schmutziges Taschentuch. »Wissen Sie, was da vorher dran war?« sagte einer der Polizisten mit autoritärer Stimme und deutete auf das Lenkrad mit dem Taschentuch. »Fingerabdrücke! Alle abgewischt, darauf können Sie Gift nehmen. Sehen Sie - selbst die Tür da ist verschmiert, wo sie die Abdrücke weggewischt haben. Ich wette mit Ihnen um mein volles Monatsge» halt, daß Sie an diesem Wagen kei» nen einzigen Fingerabdruck fin» den.«

Wie sich dann herausstellte, fan» den sie auch keinen. »Gestohlener Wagen«, entschied einer der State=Troopers.

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MacKinley Kantor

»Das werden wir erst wissen, wenn Polson zurück ist. Der ist zurück» gefahren, um die neueste Fahn= dungsliste zu holen.« »Sieht ganz danach aus«, fügte Sergeant Cormaney hinzu, »als ob sie noch einen fünften Mann ge= habt hätten, der hier mit einem anderen Wagen auf sie gewartet hat.«

Dieser Erwägung stimmten samt» liehe Anwesenden zu. »Yeah«, sagte einer der Polizisten, »und diese Straße ist so verdammt ein» sam und abgelegen, daß bestimmt niemand beobachtet hat, wie sie von einem Wagen in den anderen um» gestiegen sind.« »Nun, jedenfalls ticken bereits die Fernschreiber...« State=Trooper Polson kam auf sei» nem Motorrad um die Kurve her» umgeschossen. Er brachte es zum Stehen, hob es auf seinen Ständer und kam auf die herumstehenden Polizisten zu. »Da haben wir's schon. Dieselbe Zulassungsnum» mer. Gestern spät abends oder heute früh in Trenton gestohlen. Zugelassen auf einen gewissen George MacCracken, von Beruf Fri» seur.«

»Wir werden sofort Trenton mobil» machen«, sagte ein Polizei=Captain. Aus seiner Stimme war jedoch her» auszuhören, daß er damit nicht die

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leiseste Hoffnung verknüpfte. Der aus Trenton stammende Wagen konnte ebensogut von einer New Yorker Bande wie von einer Bande aus Chicago oder Baltimore gestoh» len und vor die Bank von Millfield gefahren worden sein. Trenton würde ihnen keinen einzigen Schritt weiterhelfen. Sergeant Т. A. Cormaney zupfte an seinem Schnurrbart und überlegte,

daß es in Anbetracht dieser Sach» läge wohl immer noch das Geschei» teste wäre, nach Millfield zurückzu» fahren und sich noch ein wenig länger mit Gus Annas zu unterhal» ten.

Gus hatte doch gesagt: »...ein Name so ähnlich wie >Thunfisch<.«

»Gus«, sagte Cormaney kläglich, während er sich auf seinen Lieb» lingsstuhl setzte, »wir sind oben in dem Zimmer des Hotels gewesen, das der Kerl 'ne Woche lang be= wohnt hat, und wir haben ver» dämmt keinen einzigen Fingerab» druck finden können. Nicht, daß uns das vielleicht irgendwie weiter» helfen könnte, aber es sagt uns we= nigstens eines: Der Kerl ist vorbe» straft und hat schon mal gesessen.« Es war gerade drei Uhr nachmit» tags, im Handy Lunch gewisser» maßen die Saure=Gurken=Zeit, und kein einziger Gast war zugegen.

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Mr. Annas stand gerade auf einem Hocker und war dabei, den triefen» den heißen Kaffeebeutel aus der chromblitzenden automatischen Kaffeemaschine zu heben. Er drehte sich um und blickte auf Sergeant Cormaney herunter. »Wie kommen Sie darauf, eh?«

»Weil er sich, wenn er kein ehe» maliger Sträfling wäre, niemals die Mühe gemacht hätte, sämtliche Fin» gerabdrücke wegzuwischen. Zu» mindest hat er ein Strafregister, ist zumindest nach dem Bertillon» System oder sonstwie karteimäßig erfaßt worden, sofern er nicht re= gelrecht >gesessen< hat. . . Ungefähr achtundzwanzig Jahre alt, sagen die Leute drüben in der Bank.« Gus zuckte die Achseln. »Was weiß ich. Vielleicht war er auch dreißig, vielleicht war er fünfundzwanzig. Und jetzt, wo ich mir hinterher so lang den Kopf zerbrochen hab' - « Er gestikulierte höchst eindrucke» voll mit dem triefenden Kaffee=Ein= satzbeutel » - ich bin wirklich ganz sicher, daß er heißt so ähnlich wie Thunfisch!«

»Woher wollen Sie das eigentlich so genau wissen, eh?« »Das weiß ich, w e i l . . . « Zwei Gäste kamen hereingepoltert und wollten heiße Würstchen ha» ben. Der Sergeant blickte noch ein» mal zu Mr. Annas hinüber, schüt»

telte nur den Kopf und räkelte sich von seinem Lieblingsstuhl hoch. »Bis später dann, Gus. Und Sie sind sich Ihrer Sache auch wirklich ganz sicher?« »Klar. Weiß ich doch genau. Und - « schrie Gus hinter ihm her, » - und er stammt irgendwo aus dem Westen! Was ich weiß, das weiß ich!« Cormaney blickte auf die in an» gestrengt nachdenkliche Falten ge» legte Stirn von Gus Annas und kam zu dem Schluß, daß Gus es tatsäch» lieh wußte. »Ich komme später noch mal wieder«, sagte er und ging hinaus. Drüben in der Polizei» Station sprachen alle mit zusam» mengekniffenen Lippen und einsil» bigen Worten über den toten Wean. Sergeant Cormaney machte es sich auf einem steifen Holzstuhl so be» quem wie möglich, fingerte trüb» selig mit einem Streichholz herum, das einfach nicht anbrennen wollte, und wann immer sich jemand mit einer Bemerkung an ihn wandte, nickte oder schüttelte er nur den Kopf. »Jungs«, sagte der Chief, nachdem er seine heisere Kehle sprechfähig geräuspert hatte, »ich verlange von euch, daß ihr euch bei dieser Sache die Beine aus» reißt. Wir müssen diese Kerle .. .« Die drei Polizisten, die im Augen» blick eigentlich dienstfrei hatten,

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und die anderen drei, die Ursprung» lieh für den Innendienst eingeteilt waren, scharrten unruhig mit den Schuhen. »Los«, schnauzte er, »rük= ken Sie schon endlich raus damit, was Sie ausgegraben haben. Sie ha= ben da irgendwas unter Ihrem Be= gräbnishut, und nicht umsonst kenne ich Sie schon seit neun Jah= ren, Cormaney!«

»Well.« Mit einem leisen Klicken ließ der Sergeant sein Taschenmes= ser zuschnappen. »Wir alle sind der Ansicht, daß der Kerl ein ehe= maliger Sträfling sein dürfte. Und das gleiche dürfte wohl auch für die übrigen zutreffen. Wir wissen, daß die Sache nicht von irgendwelchen Amateuren gedreht wurde, son= dem von Professionals. Und dar= über hinaus hat mir Gus Annas ge= sagt, daß der Kerl irgendwo aus dem Westen stammen muß.« Unwillkürlich verzog sich der Mund des Chiefs zu einem ironischen Grinsen. »Annas! Was, zum Teu= fei, weiß denn schon dieser vertrot= telte Grieche, der nicht einmal rich= tig Englisch spricht, von der Sache?« »Ein Erznarr, wie er im Buche steht!« schnaubte der Polizist Bor= den verächtlich. »Hat die ganze Zeit hinter seiner Schaufenster= scheibe gestanden, hat beobachtet, wie sie, und zwar mit Taschen= tüchern maskiert, in die Bank hin=

einrannten, und doch ist es ihm nicht in seinen allerdings be= schränkten Sinn gekommen, nach dem Telefon zu greifen. Gus ist eine gute alte Haut, aber seinen Verstand hat er anscheinend in Griechenland zurückgelassen, als er hier in die Staaten eingewandert ist.«

Cormaney seufzte. »Nun, wir wer= den ja sehen. Während ich mich mit ihm unterhielt, kamen gerade irgendwelche Gäste herein und ha= ben uns unterbrochen. Ich fahre jetzt gleich wieder zu ihm hin.« »Schnappen Sie ihn sich und schaf= fen Sie ihn hierher«, sagte der Chief.

Dem Gesicht des Sergeants war zu entnehmen, daß er sich gleich eines leichten Verstoßes gegen die Sub= Ordination schuldig machen würde. »Also gut, Sir, werde ich tun -wenn Sie unbedingt wünschen, daß Sie später, wenn Sie gelegentlich mal zu Gus in sein Handy Lunch gehen, ein angebranntes Steak mit versalzenen Kartoffeln serviert be= kommen. Wenn wir mit Gus so verfahren, als ob wir ihn irgendwie beargwöhnen oder gar verdächti= gen, würde er uns das erstens nie= mals verzeihen, und zweitens wür= den wir aus ihm kein Sterbens* wörtchen herausbekommen. Wir alle gehen zu ihm zum Essen, und

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wir bekommen dort stets etwas Ge= scheites in den Magen und werden von ihm zuvorkommend und be= vorzugt bedient. Nein, Sir, an Gus kommen wir nur auf die sanfte Tour heran.« »Na schön«, murrte der Chief. »Die Chancen stehen eine Million zu eins, daß er einen feuchten Staub von der ganzen Sache weiß.« Dann lachte er herzhaft und ausgiebig über seinen müden Gag, den er zu= dem noch für besonders gelungen hielt. Seine Untergebenen saßen rund um ihn herum und grinsten pflichtschuldig. Cormaney hin= gegen schlenderte hinaus und machte sich wieder auf den Weg zum Handy Lunch. Dieses Mal war Gus wiederum allein, aber er war emsig beschäf= tigt, die Vorbereitungen für den allabendlichen Ansturm zu treffen. Er hatte eine große Platte zartroter Filets vor sich stehen und war ge= rade dabei, sie auf die richtige Größe zurechtzuschneiden und sie mit Maismehl zu panieren. Er wirkte irgendwie steif, den Blick in die Ferne gerichtet, und Cormaney bemerkte auch, daß er für diese Art von Tätigkeit nicht an seinem ge= wohnten Platz stand, sondern weit näher an der Theke, zwischen dem Glaskasten mit den zur Schau ge= stellten belegten Brötchen und der

automatischen Kaffeemaschine. Mitten zwischen diesen beiden wurde die Wand hinter der Theke von einer bunten Landkarte der Vereinigten Staaten geziert, die Gus von einem Versicherungsver* treter verehrt worden war. »Gus«, begann der Sergeant, »ich möchte, daß Sie mir erzählen .. .« Annas schnalzte warnend mit den Fingern, und Cormaney verhielt sich daraufhin mucksmäuschenstill. Der griechische Schnellrestaurants= besitzer war dabei, intensiv auf die große Landkarte zu starren und währenddessen murmelte er gerade eben noch verständlich eine merk= würdige Litanei vor sich hin. »Mis= souri«, flüsterte Mr. Annas. »Nee= braska . . . Eihowe . . . Kanzas . . .« Er fuhr herum, und mit glitzernden Augen fixierte er Sergeant Corma= ney. »Sie müssen schnell handeln. Weil ich habe nachgedacht, den ganzen Tag, ganz fest. Ich nachden= ken und zurückdenken und nach= denken, bis mein ganzer K o p f -ooh! Well, was Sie tun, sofor t -Sie müssen 'ne Menge Geld aus= geben für Telegramme.« »Telegramme?«

»'ne Menge Telegramme, viele, für vielleicht neunzig Cent das Stück! Sie schicken Telegramme an all die Wärter in den Gefängnissen in den Städten - « Er deutete auf die Karte

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» - alle Städte und die Staaten, was Sie Nee=braska und Kanzas nen= nen. Ganz schnell!« Der Sergeant nickte amüsiert. »Nehmen wir mal an, wir beginnen vom Mississippi River an west= wärts, eh? Und dann arbeiten wir uns durch die ganzen Staaten hin= durch. Nehmen wir mal an, ich schicke ein Telegramm an den Di= rektor jedes staatlichen Zuchthau= ses dort, eh!«

»Klar!« Von Gus Annas war das in diesem Augenblick nicht etwa als Witz gemeint, sondern im Gegen= teil, für ihn war es tödlicher Ernst, von Witz nicht die mindeste Spur. Er hatte das Filet, das er gerade in der Hand gehalten hatte, fallen las= sen, lehnte sich über die schmale Theke hinweg und verdrehte seine schwarz=marmorfarbenen Augen. »Weil ich den ganzen Tag nachden» ken, und ich denken fest, ganz fest! Und vielleicht Sie müssen auch schicken ein paar Telegramme von dem Osten von dem Old Man Ri= ver. Aber nicht so weit wie Mill» field. Nein. Nicht Nu Jersey oder Nu York.«

Cormaney lief es plötzlich fröstelnd über den Rücken - warum, wußte er selber nicht. Gus meinte es wirk» lieh ernst; und das war auch keine plötzliche Verschrobenheit von ihm; daran gab es keinerlei Zweifel.

»Und was wollen Sie, daß wir in die Telegramme hineinschreiben, Gus?« »Schreiben Sie . . . « Er preßte seine schmierige Hand gegen die Stirn und schüttelte sich, als ob er so stark konzentriertem Nachdenken auch irgendwie körperlich Ausdruck verleihen müßte. »Schreiben Sie so: Wer ist der rothaarige Kerl, der hat einen Namen so ähnlich wie ein Fisch - vielleicht Thunfisch -, und daß er in ihrem Gefängnis war und seine Nummer dort mit sechs und mit fünf beginnt, und dann weiter weiß ich nicht. Und dann finden Sie raus, ob er mal von Nu Jersey her» gekommen ist oder warum er hier ist. Ja, so schreiben Sie. Und die Nummer ist sechs fünf. So fängt sie an. Und dann-dann weiß ich nicht, was sonst. Aber er stammt aus die» sen Staaten, ganz weit weg von Nu Jersey und von dort.« Cormaney biß sich auf die Lippen. »Sie scheinen mir wirklich aller» hand zu wissen, Gus. Aber erst einmal kommen Sie mit mir und erzählen das alles dem Chief, damit der zu Ihrer Idee mit den Tele» grammen sein Okay gibt. Erzählen Sie ihm, wie Ihnen der Gedanke ge= kommen ist, daß der Kerl - « »Nein!« kreischte Mr. Annas. Mit steifem Zeigefinger deutete er auf die große Uhr, die über der Glas»

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vitrine mit den belegten Brötchen hing. »Soll ich vielleicht nicht hier sein, wenn all die Burschen von der Farbenfabrik kommen und von dem Kunststoffwerk, damit sie hier zu Abend essen können? Sie schie» ben und sie drängen sich, um einen freien Platz zu ergattern - und ich soll nicht hier sein, ich soll deshalb all das viele Geld verlieren? Nein! Morgen ich komme, bestimmt. Sie schicken jetzt die Telegramme. Ganz schnell!«

Mit düsterer Miene verließ Ser» geant Cormaney das Schnellrestau= rant und machte sich mit zögern» den Schritten auf den Weg zur Po= lizeistation. Auf halber Höhe des Häuserblocks blieb er unvermit» telt stehen, schob die Hand in die Tasche und brachte ein mageres Bündel Geldscheine zum Vorschein. »Weiß Gott«, sagte er leise vor sich hin, »ich muß wegen diesem Grie» chen da doch wenigstens irgendwas unternehmen. Und ich muß es von mir aus unternehmen und auf meine Kappe nehmen und umHim» mels willen zu niemand etwas sa= gen, damit ich nachher nicht etwa von oben her eins auf den Deckel kriege. Und mich soll der Affe lau» sen, wenn an alldem, was mir die» ser radebrechende Grieche da ver» zapft hat, nicht doch irgendwas dran ist.«

Er machte kehrt und ging zu dem Telegrafenbüro hinüber, wo er ein kurzes und jeweils gleichlautendes Telegramm an neun verschiedene staatliche Zuchthäuser aufgab. Für noch weitere Telegramme reichte leider nicht das Geld, das er in der Tasche hatte. Und er hielt sich da» bei genau an Gus Annas' Anwei» sungen, auch wenn er die Tele» gramme natürlich nicht in dessen griechischem Kauderwelsch auf» setzte, also nicht etwa Wort für Wort. Gesucht wird ein rothaariger Mann, Ende Zwanzig, Name ahn* lieh wie Thunfisch, vor kurzem ent= lassen oder entwichen stop-Zucht* hausnummer beginnend mit sechs und fünf stop sofortige telegra* fische Rückantwort erbeten falls auf Grund dieser Angaben identifizier­bar.

Am nächsten Morgen wurde Ser» geant Cormaney ein Brief zuge» stellt, der mit der Nachtpost aus Lincoln, Nebraska, gekommen war. Er las ihn dreimal durch und hängte sich dann sofort ans Telefon, um ein Ferngespräch anzumelden. Erst als er bereits den Hörer in der Hand hatte, fiel ihm ein, daß der Zucht» hausdirektor in Anbetracht des Zeitunterschieds zwischen Millfield und Nebraska zu dieser Stunde noch gar nicht in seinem Büro zu erreichen sein würde. Also be=

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gnügte er sich damit, ein weiteres Telegramm auf die Reise zu schik= ken. Bereits wenige Stunden später traf die telegrafische Antwort ein.

Hat hier als nächste Angehörige seine Schwester Mrs. Alice Figgis Wyandote Street eins vier eins neun Newark New Jersey angegeben.

»Well«, murmelte Thomas Aqui= nas Cormaney, während er seinen Dienstrevolver herauszog, um ihn auf möglicherweise vorhandene Defekte zu überprüfen, weil er ihn schon ewig lange nicht mehr ge= braucht hatte. »Schätze, daß da ein blindes Huhn drauf und dran ist, ein dickes, fettes Korn zu finden. Langsam scheint mir das so auszu= sehen, als ob dieser Gus Annas ein spiritistisches Medium oder so etwas Ähnliches ist.« Er ging in das Dienstzimmer des Chiefs, erzählte ihm eine vage Ge= schichte von einer Spur, die nach Newark führe, und erhielt die Er= laubnis, das Coupe zu benutzen. Fünfundzwanzig Minuten später diskutierte er bereits eifrig mit zwei Detektiven im Police Headquarters in Newark.

»Yeah«, sagte ein NewarkerDetek= tiv=Veteran und hielt sich eine mit Schreibmaschine ausgefüllte Kar=

teikarte dicht vor die Augen, »da haben wir schon diese Figgis. Er selbst hat drei Jahre in Pennsylva= nia abgerissen; wurde 1958 entlas= sen. Seitdem ist er noch mehrmals in irgendwelche Mordgeschichten verwickelt gewesen, ohne daß wir ihm etwas Konkretes nachweisen konnten. Übrigens ein ziemlich mieser Schauspieler, der uns nicht den mindesten blauen Dunst vor= machen kann. Wir behalten ihn ständig im Auge. Seine Schwester, diese Mrs. Alice Figgis, ist in Chi= cago und Scranton vorbestraft, aber hier in Newark haben wir ihr nie etwas anhängen können.« »Ich würde gern mal hinfahren und sie mir ein wenig näher ansehen«, sagte Cormaney leise. »Sehen Sie woanders hin, mein Junge, sehen Sie irgendwo anders hin. Aber wenn Sie schon unbe= dingt dort die Lage peilen wollen, werde ich Ihnen Teed und Olson mitschicken. Viel Glück, übrigens. Wahrscheinlich wird an der ganzen Sache sowieso nichts dran sein, aber.. .« Er machte mit der Hand eine vage Geste, die alles oder auch nichts andeuten sollte. »Im vorn= herein kann man das niemals so genau wissen, mein Junge.« Es war noch in der Mittagsstunde, als die drei Männer zur Wyandote Street kamen. Vor den Eingängen

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der schäbigen kleinen Fabriken lun= gerten ein paar Arbeiter herum, und jenseits der Straße standen sie vor den diversen Bars und Lunch» Rooms in kleinen Gruppen bei= einander und redeten sich über ir= gend etwas die Köpfe heiß. Num= mer eins vier eins neun erwies sich als ein dürftiges und in starkem Maße reparaturbedürftiges kleine» res Fachwerkhaus, dessen zerbro= chene hölzerne Läden traurig ne» ben den Fenstern herabhingen; seit einer Ewigkeit war es in einer Dunstwolke von Ruß und Kohlen» staub gebadet worden. In der schmutzigen, ungepflaster» ten Einfahrt neben dem Haus stand ein schon beinahe schrottreifer grüner Oldsmobile geparkt. Cormaneys Augenbrauen zogen sich zusammen, als er den Wagen dort entdeckte. »Er hat einen eige» nen Wagen?«

»Ja«, gaben ihm Teed und Olson zur Antwort. Sie fuhren zu einem Dreiviertel um den Häuserblock herum und park» ten dann ihren eigenen Wagen in der Nähe einer Seitenstraße, wo er durch ein dazwischenliegendes Bau» geschäft der Sicht von Wyandote Street 1 4 1 9 entzogen war. »Was dagegen, wenn ich... die Sache in die Hand nehme?« fragte Cormaney.

»Sie sind's, der uns hier die Anwei» sungen gibt; Sie brauchen uns nur zu sagen, was wir zu tun haben«, erklärte Olson rundheraus. »Mir kommt jedesmal die Galle hoch, wenn ich dann am nächsten Tag in der Zeitung lese, daß man einen altgedienten Сор wie Sie, der kurz vor der Pensionierung steht, ganz einfach beiseite geschoben hat, nur weil er eben nicht zu jener Elite drü»

ben im Headquarters gehört, jenen hohen Tieren dort. Falls dies wirk» lieh die Kerle sind, hinter denen Sie her sind - wir halten uns ganz in Ihrer Nähe.«

»Wahrscheinlich kommt bei der Sache sowieso nichts raus«, murrte Teed. »Aber sagen Sie uns, was wir eigentlich tun sollen.« An Stelle einer Antwort fingerte Cormaney in seiner Jackettasche herum und brachte ein großes ver» nickeltes Abzeichen zum Vorschein, das in dicken Buchstaben die Auf» schritt FEUER=INSPEKTOR trug. Er steckte es sorgfältig vorne an sein Jackett. »Natürlich bin ich in meinem ganzen Leben noch nie» mals Feuer=Inspektor gewesen«, schmunzelte er. »Das Ding da habe ich irgendwann einmal einem Kerl abgenommen, den ich eingelocht habe. Aber es hat mir schon ein» oder zweimal recht nützliche Dien» ste geleistet. Also - ich gehe jetzt

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direkt auf die Haustür zu, klopfe und gehe hinein. Sie - « wandte er sich an Olson, »stellen sich dort ir= gendwo in den Eingang zu dem Bauholzgeschäft und behalten die vordere Haustür im Auge. Sie - wie war doch gleich Ihr Name? Ach so, Teed. Sie postieren sich dort hinter der rückwärtigen Garage und be= obachten, ob sich an der hinteren Tür etwas rührt. Möglich, daß ich Ihnen beiden von der Haustür oder von der rückwärtigen Tür aus ein Zeichen gebe, falls die Lage da drin= nen kritisch werden sollte. Und wenn Sie Schüsse hören, wissen Sie dann ja sowieso, was Sie . . . « Die Haustür bestand aus massi» vem, ungestrichenem, rohem Holz, und an ihrem unteren Rand wies sie unzählige Kratzer und schmie= rige Spuren von schmutzigen Schu= hen auf. Da sie in ihrer oberen Hälfte keinen Glaseinsatz hatte, konnte Т. A. Cormaney von drin» nen nicht gesehen werden, und er drückte sich so dicht gegen die Wand, daß er auch durch die ruß« beschlagenen ha lbbl inden Fenster» Scheiben nicht beobachtet werden konnte.

Er mußte zweimal klopfen, ehe sich drinnen etwas rührte und jemand zur Tür kam. Es schien ihm, als ob auf sein erstes Klopfen hin die lei» sen, aber dennoch deutlich ver»

nehmbaren Geräusche innerhalb des Hauses plötzlich erloschen wa= ren, ganz so, als ob ein komplizier» ter Organismus urplötzlich zu funktionieren aufgehört hatte und in einer Art Totenstarre verharrte. Dann klopfte er zum zweitenmal. »Wer ist da?« keifte eine schrille weibliche Stimme. »Feuersicherheitsinspektor, Lady«, erwiderte der Sergeant in beruhi» gendem Tonfall.

Die Frau hinter der Tür schien ir= gend etwas zu murmeln, ob nur zu sich selbst oder zu jemand anderem konnte er nicht unterscheiden. Dann war von drinnen das Klirren einer Sicherheitskette zu hören, die zu» rückgezogen wurde. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, jedoch nicht breiter als zwei oder drei Zoll. Und in diesem Spalt erschien das häßliche, feiste Gesicht einer schlampigen Frau. »Eh? Was wol» len Sie denn überhaupt?« »Lady«, sagte Cormaney und legte grüßend zwei Finger an die Hut» krempe. »Ich bin vom Büro der Feuersicherheitsinspektion. Wir ha» ben die Anweisung bekommen, sämtliche Häuser hier in der Fa= brikgegend zu inspizieren.« Er we» delte mit einem ledereingebunde» nen Notizbuch; es war ein an sich typisches Notizbuch, wie es die mei» sten Polizisten verwenden, aber es

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schien ausgeschlossen, daß die Frau das auf den ersten Blick hin sofort erkennen würde. Es wirkte völlig harmlos und unschuldig. Er deutete auf das Abzeichen mit der deutlich lesbaren Aufschrift >FEUER=INSPEKTOR<, das an sei* ner Brust prangte. »Dauert hoch* stens ein paar Minuten. Würden Sie bitte - «

Sie krächzte etwas Unverstand* liches, aus dem jedoch zu entneh* men war, daß sie keinerlei Arg* wohn mehr schöpfte. Nur das Mür* rische und Trotzige in ihrer Stirn* me war immer noch geblieben. »Tut mir leid, aber es paßt uns ganz und gar nicht, daß Sie ausgerechnet heute kommen.«

»Oh, seien Sie unbesorgt. Die ganze Sache ist in ein oder zwei Minuten erledigt.« Er machte An= stalten, sich auf der zerschlissenen Fußmatte, die neben der Tür lag, die Schuhe abzustreifen. »Ich mache Ihnen hier auch weiter gar kein Durcheinander. Ich will mich nur ganz kurz einmal - « »Nein! Im Augenblick kann ich Sie ganz unmöglich hereinlassen. Meine - meine Tochter ist nämlich gerade beim Baden - « Und dann, von diesem Augenblick an, wußte Sergeant Cormaney, der im Police* Headquarters erfahren hatte, daß die Figgissche Familie lediglich aus

Mr. und Mrs. bestand, daß die Fährte, auf der er sich befand, war* mer und wärmer zu werden be= gann. »Lady«, gluckste er freundlich, »ich brauche mir ja gar nicht Ihr Bade* zimmer -« Und in demselben Augenblick, da er >Badezimmer< sagte, versuchte sie ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Es gelang ihr zwar, seinem Fuß, den er in den Türspalt geklemmt hatte, einen Tritt zu versetzen, aber hinter die* sem Tritt steckte längst nicht ge* nügend Kraft, um Cormaneys Fuß aus dem Türspalt herauszudrük* ken.

»Tut mir leid.« Er befand sich be= reits drinnen in dem muffigen kah* len Gang, während hinter ihm die Tür offengeblieben war. »Sie wer* den dadurch eine Menge Schere* reien bekommen«, warnte er sie. »Dies sind ausdrückliche Anwei* sungen der Feuersicherheits=In= spektion, und wir haben ganz ein* fach . . .«

Und dann tauchte plötzlich ein Mann auf, der ganz hinten am Ende des Ganges eine Tür geöffnet hatte. Es war Figgis; im Police* Headquarters hatte man Cormaney sein Bild gezeigt. »Was, zum Teu* fei, geht hier eigentlich vor?« »Schmeiß den Kerl hier raus!« kreischte sie, und Figgis traf be*

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reits Anstalten, seine Hand in den Ausschnitt seines Jacketts gleiten zu lassen, wo er offenbar seine Waffe im Schulterhalfter stecken hatte. »Feuer=Inspektor, Mister. Wir sol= len lediglich mal - « »Alice, du bist wohl von allen gu= ten Geistern verlassen«, schnauzte er sie an. Verächtlich und herablas= send blickte er auf sie herunter, ließ die bereits zu seinem Jackettaus= schnitt gehobene Hand wieder sin= ken, wandte sich zu Cormaney um und grinste ihm freundlich und mit den Augen zwinkernd ins Gesicht. »Wir haben uns da hinten gerade zu einem netten kleinen Spielchen zusammengesetzt. Hoffe, Sie haben wohl nichts weiter dagegen.« »Aber wo werd ich denn«, lachte der Sergeant leichthin. »Schließ» lieh bin ich doch kein Сор, der gleich hinter jedem her ist, der mal ein Spielchen riskiert. Wenn ich mit den Cops überhaupt etwas gemein» sam habe, dann ist es höchstens, daß ich mir hin und wieder mal 'nen freien Drink anbieten lasse. So, und jetzt lassen Sie mich ganz einfach mal Ihren Ofen und Ihr Rohr - «

»Gleich hier vorn in der Ecke.« Fig» gis trat zur Seite und gab Corma= ney durch einen Wink zu verstehen, daß er ins Zimmer treten sollte. Er hatte ihm zu diesem Zweck die Tür

aber gerade nur so weit geöffnet, daß er hindurchtreten konnte. Er ließ ihn dann auch keinen Schritt weitergehen, als daß er einen Blick auf den gleich links in der Ecke ste» henden Ofen werfen konnte, wäh» rend ihm die Tür die Sicht in das ganze übrige Zimmer verwehrte. Die Tür hing jedoch derart breit in den Angeln, daß er durch den Spalt, der beim öffnen zwischen der Tür und der Türfüllung entstanden war, mit einem schnellen Seiten» blick sofort erfassen konnte, was sich sonst noch alles im Zimmer tat. Männer standen dort, andere saßen irgendwo auf Stühlen herum, und er fing das matt metallisch=blaue Aufblitzen eines Pistolenlaufes ein. Er packte Figgis beim Handgelenk und wirbelte ihn mit einem Jiu» Jitsu=Griff so durch die Luft, daß er ihn dadurch mit dem Rücken gegen seine eigene Brust gepreßt vor sich stehen hatte. Gleichzeitig hatte er auch bereits seinen Dienst» revolver in der Hand und schob ihn unter Figgis Achselhöhle hin» durch, ehe dieser überhaupt dazu kam, auch nur nach Luft zu schnap» pen, und vor Überraschung nichts weiter tat, als den Mund aufzurei» ßen.

»Los, Jungs, kommt schon heraus, immer schön einer nach dem ande» ren«, sagte er mit völlig ruhiger

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So ähnlich wie Thunfisch

Stimme. »Wir haben draußen noch mehr von unseren Leuten stehen, und euren eigenen Mann habe ich hier direkt vor mir - « Peng! donnerte ein Schuß los, daß die Wände zitterten. »Den Teufel werden wir!« kreischte eine hyste= rische Männerstimme, und Corma» ney spürte den Ruck, als die Kugel in den Körper des Mannes schlug, der gleichzeitig sein Gefangener und sein Schutzschild war. Er feuerte zweimal durch den Spalt der kaum halbbreit geöffneten Tür. Jemand stieß einen wilden Schmer= zensschrei aus - polternd schlug ein massiver metallischer Gegen» stand auf dem hölzernen Fußboden auf. Aha, das ist die Thompson» MP, dachte Cormaney. Da habe ich ja gleich den Richtigen erwischt. Er gab einen weiteren Schuß ab, mit» ten ins Zimmer hinein. Irgend etwas schien ihn ins Ohrläppchen zu bei» ßen, und dann hatte er plötzlich das Gefühl, als hätte ihm jemand mit einer dicken Holzlatte über den linken Arm geschlagen. Er ließ den taumelnden Figgis zu Boden sacken und stürzte dicht neben dem Trep» penaufgang nach hinten. Kreischend und vor Angst fast von Sinnen und deshalb gefährlich, je» doch ohne jede Waffe, war die Frau zur Haustür auf die Straße hinaus» gerast. Olson, dem sie auf den Stu»

fen der Vortreppe nahezu in die Arme lief, war geistesgegenwärtig genug, ihr ein Bein zu stellen, so daß sie unbeschadet auf dem Ra= sen neben der Haustür landete, ehe er ins Haus hineinstürzte. Teed rammte mit seiner massiven Schul» ter, hinter der das Gewicht von gut zweihundert Pfund steckte, die dünne Küchentür ein. Jemand grölte: »Okay!« Und durch den stinkenden Dunst hindurch konn» ten sie zwei Männer erkennen, die die Hände hoch in die Luft ge= streckt hielten. Die anderen beiden lagen auf dem Boden. Der eine da» von war tot, von Cormaneys erstem Schuß niedergestreckt. Und der andere war ein junger Rothaariger mit grünen Augen und einem haß» liehen, wulstigen Mund, und er lag dort der Länge nach ausgestreckt und rang keuchend nach Atem. Der tote Figgis lag quer über der Tür» schwelle, und von Cormaneys Un= terarm - Cormaney hatte sich in» zwischen bereits wieder halb auf» richten können - tropfte das Blut auf seinen toten Körper herab. »Du lieber Himmel!« schnaufte Cormaney und verzog den Mund zu einem schmerzverzerrten Lä= cheln. »Ihr Cops hier in Newark, ihr - seid vielleicht - flink auf den Beinen. Und was ich euch noch ganz zu sagen vergessen habe: Wir

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MacKinley Kantor

werden uns eine Belohnung von tausend Dollar teilen dürfen - we= gen der Kerle da. Wir u n d - u n d noch ein anderer Bursche.«

Abends gegen neun Uhr des glei= chen Tages schmerzte ihn sein Un= terarm zwar immer noch ganz er= heblich, aber er war sauber ge= schient und dick in Watte und Gaze verpackt worden, und Cormaney dachte, daß ihm ein kleiner Spa= ziergang eigentlich ganz guttun würde. Er fand Gus Annas im Handy Lunch Counter vor, wie er sich mit seinen dicht behaarten Ar= men auf die Theke gestützt hatte und ihn mit einem breiten, weisen Grinsen empfing.

»Well«, sagte Cormaney, »ich schätze, Sie sind über die neuesten Nachrichten längst informiert.« Annas nickte. »Was ist mit Arm, eh? Tut sehr weh?« »Den werde ich 'ne ganze Woche lang nicht gebrauchen können«, fluchte Cormaney, machte dabei aber keineswegs ein unglückliches Gesicht. »Was Sie bisher aber doch noch nicht wissen dürften, Gus -die Kerle hatten den ganzen Geld= sack gleich nebenan in der Küche stehen. Nur die Frau hatte bisher ein paar lumpige Zwanzig=Dollar= Scheine davon abbekommen und sie sich vorne ins Kleid gesteckt,

aber die gesamte Beute hatten sie überhaupt noch nicht untereinander aufgeteilt.« Und abwesend fügte er hinzu: »Ich habe gerade mit dem Chief telefoniert. Der Rothaarige ist vor einer Stunde im Kranken» haus gestorben. Noch mit seinem letzten Atemzug hat er New Jer= sey verflucht.«

Gus Annas zündete sich seelen= ruhig eine Zigarette an. »Well«, drängte ihn der Sergeant, »nun rücken Sie schon endlich raus damit! Woher wußten Sie, daß der Kerl ein ehemaliger Sträfling war, dessen Zuchthausnummer mit sechs fünf begann, und all das übrige?« »Sie wissen, hier viele Männer zum Abendessen, ganzer Haufen, ganz große Menge, eh? Ich aber nur vier» zehn Stühle. Die Leute, denen schmeckt, was ich koche, alle kom= men her, großer Haufen. Deshalb ich gebe Nummern aus, wie diese hier.« Er präsentierte Cormaney mehrere abgegriffene quadratische kleine Karten aus rotem Karton. »Wie bei einem Friseur - wenn überfüllt, Sie verstehen? Ein Mann steht auf von seinem Stuhl. Ich rufe Nummer eins, und Nummer eins setzt sich hin, und ich bringe ihm sein Essen, und er ißt. Ein anderer Mann steht auf. Nummer zwei . . .«

Wieder einmal legte er seine Stirn

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So ähnlich wie Thunfisch

in nachdenkliche dicke Falten. »So, einen Abend, letzte Woche, der Rothaarige ist hier. Er steht unter den Leuten, die an der Wand war= ten müssen. Wir haben Restau= rants hier in der Stadt - ganz schrecklich, eh? Außer meinem! Und ich denke, er ist an der Reihe, und ich sage ganz schnell: >Was ist Ihre Nummer ?< Hatte sich dort an der Wand auf einen Hocker gesetzt, und er steht auf, ganz schnell und ganz steif und starrt mich an und sagt: >Sechs fünf - < und dann noch mehr Nummern. Ich denke, das aber komisch! Und dann ich ver= gesse das. Aber er lacht und sagt: >Oh, ich wußte gar nicht, was Sie da eben meinten. Ich habe Num= mer acht.<

Aber ich mich erinnere daran, als Sie sagen, ein Gefangener von einem Gefängnis. Ich weiß von den Nummern. Cousin von mir mußte leider auch sitzen; hat heim= lieh Schnaps gebrannt - aber sehr guten Schnaps. Schade, jetzt er sich nicht mehr richtig traut. Habe sel= ber getrunken davon. Prima!« Cormaney seufzte und strich sich mit den Fingern leicht über seinen bandagierten Arm. »An Hand die= ser Nummer und der Beschreibung haben sie ihn drüben in Lincoln so= fort identifiziert. Er ist denen dort vor einem Monat durchgebrannt.

Und als ich dann anfragte, ob sie irgendeinen Anhaltspunkt bezüg= lieh New Jersey hätten, telegrafier» ten sie mir sofort die Adresse in Newark. Da bin ich dann einfach hingefahren und .. .« »Und kommt aus dem Westen«, fuhr Gus dazwischen und strahlte über sein ganzes fettes, nicht ge= rade als hübsch zu bezeichnendes Gesicht. »Nee=braska. Einmal ich hatte ein Restaurant in Omaha. Ich arbeite auch in Des Moines und Saint Jo und Topeka, wenn ich zu= erst hierherkomme aus alter Hei= mat. Und dort drüben immer Chili, Chili, Chili - die ganze Zeit immer nur Chili.«

Sergeant Cormaney schüttelte fra= gend den Kopf. »Was meinen Sie damit? Chili=Sauce, diese Sauce mit dem pfeffrigen Zeug?« »Nein. Das mexikanische Zeug -chili con carne. Alle dort essen das. Jeder! Mancher Lunch=Room hat nichts weiter als Chili. Aber hier? Nein. Kein Mensch hier ißt Chili - nur ganz wenig. Kein Re= staurant irgendwelchen Chili. Und so, einmal, als er zum erstenmal herkommt, hier zu mir, er sagt: >Geben Sie mir Chili<. So ganz selbstverständlich. >Eine Platte Chili, geben Sie mir die.< Also ich weiß, er ist von weit weg, aus dem Westen. Ist nicht von Nu Jersey.«

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MacKinley Kantor

Cormaney ließ sich von seinem Barhocker heruntergleiten. »Gus, Sie haben ganz einfach verdammt viele Hirnwindungen. Jedenfalls sind die mehr als die zweihundert» fünfzig Dollar wert, die für jeden von uns bei der Sache abfallen -zumindest nach dem, was die Bank zunächst einmal als Belohnung aus= gesetzt hat. Vielleicht kommen noch ein paar Hunderter für Sie dazu! Jetzt aber kommen wir zu dem traurigsten Kapitel der ganzen Angelegenheit. Sie sollen mir näm» lieh endlich verraten«, sagte Tho» mas Aquinas Cormaney, »wie Sie sich an den Namen dieses irischen Rotkopfs erinnert haben. So ähn= lieh wie Thunfisch, haben Sie immer behauptet. Und dabei heißt er in Wirklichkeit Lawrence E. Zardyn.« Gus nickte sachlich und drückte seine Zigarette aus. »Ich kann mich immer so schlecht erinnern, sehen Sie? Ich denke, vielleicht an dem Tag

wir hatten gerade Thunfisch und Kartoffelsalat-dann ich denke, wir hatten vielleicht doch Heringsfilets mit Tomaten. Oder vielleicht, ich weiß nicht, wir hatten Seelachs mit pommes frites. Und alle paar Mi» nuten rufe ich dann die Bestellun» gen in die Küche zurück: Kalbs» Schnitzel! Schinkenomelette! Und für Sardinen mit Eiern und auf Semmeln, alles, was ich dann immer rufe, ist Sardin'n! Also ich rufe Sar= din'nl-und da springt der Kerl von seinem Stuhl auf, als ich seinen Namen rufe; er schaut mich a n -er schaut auf die Speisekarte -, und dann setzt er sich wieder hin, sehen Sie? Und dann ich weiß sofort, das ist sein Name - ist so ähnlich wie Thunfisch!«

»Sardin'nl« Cormaney schnappte nach Luft. »Zardyn...!« Und da Wäre er zum erstenmal beinahe in Ohnmacht gefallen.

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Ellery Queen

Untermieter unter sich

Untermieter sind bisweilen ein Problem, Untermieter unter sich sind ein noch größeres Problem. Und wenn sie dann gar noch einen so >reizenden< Hauswirt haben wie in diesem Poll, dann kann sich aus all diesen Problemen tatsächlich ein >Pall< entwickeln - sogar ein recht massiver, raffinierter Mordfall...

Als sie in die Wohnung eindran= gen, waren sie eigentlich hinter je= mand anderem her. Aber in einem der Zimmer, die von der Diele ab= führten, fanden sie einen Mann, dem es den halben Kopf weggeris= sen hatte, und über ihn gebeugt eine hübsche Blondine, einen billi= gen neuen Trauring an der Hand, in der sie die Waffe hielt. Sergeant Velie faßte die Pistole be= hutsam am Lauf und nahm sie ihr aus den Fingern. Inspektor Queen betrachtete den Trauring und sagte zu ihr: »Sie sind M r s . . . . ? « »Graham«, sagte das Mädchen. »June Graham.«

Ellery fing June Graham auf, als sie zu Boden sank. . . Vierundzwanzig Stunden vorher

saß Brock auf seinem zerwühlten Bett und grübelte über einem Toto= tip für das vierte Rennen des näch= sten Tages, als sein Vermieter ihm einen Besuch abstattete. Brock ging hinaus und öffnete die Wohnungstür. Er hatte eine ein= geschlagene Nase und war in Rosa und Braun gekleidet. »Wenn das nicht Mr. Finger ist?« sagte Brock ironisch. »Sie kommen wohl, um meine Küchenschaben persönlich zu inspizieren?« Mr. Finger hüllte sich in unheildro» hendes Schweigen und trat ein. Brock drängte ihn hastig in das schmutzige Schlafzimmer und schloß die Tür.

»Was darf es denn diesmal wieder sein?« fragte er.

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Ellery Queen

»Miete.« Mr. Finger war klein und fett und trug an der rechten Hand einen hochkarätigen Rubin. Er be= saß acht Wohnblocks an der Upper West Side. »Die Miete von denen da, Mr. Brock.«

Brock folgte der Richtung, in die der dicke Daumen des Hausbesit= zers zeigte; das war also der leidige Haken. »Jerky hat Ihnen das also hinterbracht«, meinte Brock. »Wenn Sie meinen Hausverwalter meinen, ja«, sagte Mr. Finger eisig. »Sehen Sie, Brock, Sie haben hinter meinem Rücken drei Ihrer fünf Zimmer vermietet. Verstößt gegen das Gesetz.«

»Das glauben Sie doch wohl selber nicht«, sagte Brock. Mr. Finger zählte an den Fingern die unsichtbaren Untermieter ab. »Mrs. Wodjeska, kein Mann, zwei Kinder. Schrubbt nachts Büros -eine Mietpartei! Ein Tunichtgut, der sich Smith nennt, eh? Ein Ex=Sol» dier mit seiner Frau, heißt Graham, gerade erst aus der Army entlas» sen. Brock, diese sechs haben mit mir, Harvey Finger, keinen Miet= vertrag abgeschlossen.« »Wir wollen die Sache doch lieber in Ruhe besprechen«, schlug Brock vor und zeigte grinsend die Gold= kappen seiner Zähne. »So, besprechen, was?« sagte der Hausbesitzer. »Fünfundzwanzig

Dollar pro Woche für jeden Raum. Das entspricht für Sie einer monat= liehen Mieteinnahme von dreihun= dertfünfundzwanzig. Meinem Hausverwalter drücken Sie dafür ein Schmiergeld von vierzig im Monat in die Hand. Mir bezahlen Sie die dreckige Miete von fünf= undachtzig. Ich habe noch nicht mal Volksschulbildung, Mr. Brock, aber sogar ich kann Ihnen sagen, daß Ihr Reinverdienst an meiner Wohnung zweihundert Piepen im Monat beträgt. So, und jetzt nen= nen Sie mir auch nur einen einzi= gen Grund, warum ich Sie nicht bei der Preisüberwachungsbehörde an= zeigen sollte.«

»Gott, lassen Sie doch vernünftig mit sich reden«, sagte Brock. »Wenn Sie mich hier 'raussetzen, kriegen Sie von einem neuen Mie= ter ganze bare zwölf fünfundsieb= zig mehr im Monat. Dafür müssen Sie dann auch noch neu tapezieren, Wasserhähne und die elektrischen Leitungen und weiß der Himmel was sonst noch reparieren lassen. Also wieviel Prozent, Mr. Finger?« »Fifty=fifty«, sagte Mr. Finger ganz gelassen.

Brock hatte begriffen. »Sie Räuber!« »Was können Schimpfworte mir schon tun?« Der Hausbesitzer zuckte die Schultern. »Mir bedeu= tet das entweder hundert im Mo=

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Untermieter unter sich

nat von Ihnen extra oder Sie flie= gen, und zwar auf der Stelle.« »Fünfzig, nicht einen Nickel mehr!« »Hundert.« »Fünfundsiebzig - « »Ich habe feste Preise«, sagte Mr. Finger mit einem leisen Lächeln. »Wollen Sie nun zahlen oder 'raus= fliegen, Mr. Brock!« Brock versetzte dem Sessel einen Fußtritt. Da er Brodk gehörte, ließ dies Mr. Finger ungerührt. »Mir schenkt auch niemand was«, grollte Brock. »Ich muß Zeit haben, damit ich's zusammenkratze.« »Dann kratzen Sie rasch«, lächelte Mr. Finger. An der Tür wandte er sich um. »Bis morgen abend, acht Uhr.« »Prima Geschäft«, sagte Brock bit= ter. Er wartete, bis der fette kleine Mann gegangen war, stolzierte über den Gang und schob die Tür von Mrs. Wodjeska auf. Mrs. Wod= jeska lag im Bett. Ein kleines Mäd= chen fütterte sie mit Suppe, ein anderes kleines Mädchen machte seiner Mutter kalte Umschläge auf die Stirn. Als die beiden kleinen Mädchen sahen, wer da hereinkam, unterbrachen sie ihre Tätigkeit und versteckten sich hinter dem durch= gesessenen Sofa.

»Können Sie denn nie anklopfen«, sagte die Frau heiser.

Brock runzelte die Stirn. »Immer noch krank?« »Virusgrippe.« Mrs. Wodjeska zog die Decke bis zum Kinn hinauf. »Was wollen Sie?« »Meine Miete.« »Ich zahle nächste Woche.« »Hören Sie, mich haben schon andere Untermietsexperten 'reinge= legt. Also, wie stehen bei Ihnen die Chancen?«

»Für morgen hat man mir Arbeit versprochen. Würden Sie jetzt bitte gehen. Sie sehen, Sie erschrecken meine Kinder.«

»Jetzt erschrecke ich schon kleine Kinder«, sagte Brock beleidigt. »Hören Sie, Mrs. Anstandsdame, ich brauche die Miete, verstehen Sie? Entweder Sie zahlen bis mor= gen abend, oder Sie schlafen mit Ihren Kindern auf der Straße. Dies hier ist nicht die Heilsarmee.« Brock war gerade dabei, nach ande» ren Geldmöglichkeiten zu suchen, als Hank Graham, der schlaksige Ex=Soldier, hereinstürzte. »Los, Brock«, sagte Graham, »wo ist es?«

Graham war zwanzig Pfund leich= ter als Brock, aber sein Gesichts» ausdruck veranlaßte Brock den= noch, schutzsuchend hinter den Sessel zu treten. »Wo ist was?« fragte Brock un= sicher.

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Ellery Queen

»Mein Geld!« erwiderte Graham. »Stellen Sie sich bloß nicht düm= mer als Sie sind, Kumpel. Ich will die dreitausend Dollar, die Sie aus meinem Zimmer geklaut haben-und zwar sofort.« »Moment, Moment mal«, mur» melte Brock. »Was, Sie haben drei Mille?«

»Ja, meine Ersparnisse. Ich habe sie aus Deutschland mitgebracht und meine ganze Zukunft darauf auf= gebaut. Kein Mensch wußte von dem Geld, Brock, nicht mal meine Frau. Ich habe es für eine Anzah= lung auf ein Haus in Jersey aufge= hoben, als Überraschung für Juney. Auf einmal ist es aus seinem Ver= steck im Zimmer verschwunden, und Sie sind der einzige, der einen Nachschlüssel hat.« »Davon höre ich jetzt zum ersten» mal etwas«, sagte Brock. Der junge Graham ging auf den Sessel zu .»Geben Sie's 'raus, Sie krummer Hund, oder ich hole die Polizei.«

»Immer schön auf dem Teppich bleiben, Herr General«, sagte Brock. »Ich habe Ihre drei Mille nicht, aber ich hätte schon eine Ah= nung, wer sie haben könnte.« »Und wer sollte das sein?« »Müssen wir erst mal herauskrie= gen, Namen kommen später«, er= widerte Brock. »Schauen Sie, Gra=

ham, wenn Sie alles zusammen* schreien, werden Sie keinen Cent davon wiedersehen. Lassen Sie mir Zeit, ich glaube, ich kann es Ihnen vielleicht wiederbeschaffen.« Hank Graham musterte ihn von oben bis unten. »Morgen abend«, sagte er wütend, »habe ich ent= weder mein Geld wieder, oder Sie werden es dann vor der Polizei ge= nauer erklären müssen.« Durch einen Riß in seiner Tür be= obachtete Brock den Ex=Soldier,wie dieser in sein Zimmer zurück» stürmte. In der Tür wartete die hübsche June Graham. Sie trug ein enges Neglige, und Brock regi» strierte automatisch ihre sanften weiblichen Rundungen. Er sah, wie sie ihren Mann beunruhigt etwas fragte, ebenso sah er Grahams er» zwungenes Lächeln. Dann gingen die beiden hinein und verriegelten die Tür. Brock wartete.

Er schlich über den Gang und kratzte an der letzten Tür. »Mach auf, Smith«, sagte er leise. »Ich bin's, Brock.« Er grinste, als er die Kette rasseln hörte. Die Sicher» heitskette war Smiths eigene Idee gewesen.

Smith blickte rasch den Gang auf und ab. Dann winkte er Brock ins Zimmer herein und versperrte wie» der die Tür. Er war ein dunkler,

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magerer Mann mit tiefen Höhlen statt der Augen, war man versucht zu sagen. »Was willst du?« fragte er mit sei= ner widerwärtigen Stimme. »Grahams drei Mille.« »Was willst du - was?« fragte Smith aufgeregt.

Brock beugte sich vor und zog Smith fest die Krawatte zusam= men.

»Daß ich es nicht habe, weiß ich, und auch die Wodjeskas waren es nicht. Wer kratzt schon um seiner lieben Brötchen willen Fußböden sauber? Also bleibst nur du übrig, Smitty. Selbst ein Dreißig=Dollar= Schloß würde dir Grahams Zimmer nicht versperren.« »Da bist du aber gehörig auf dem Holzwege«, höhnte Smith und ver= suchte zurückzuweichen. »Von ir= gendwelchen drei Mille habe ich nicht die leiseste Ahnung.« Mit beiden Händen zog Brock ihm die Krawatte stramm. Smith quol= len die Augen aus dem Kopf, er wurde blau im Gesicht, die Knie sackten ihm ein.

»Du mieser kleiner Wurm«, grinste Brock, »was glaubst du, wie lange ich gebraucht habe, um das rauszu= kriegen? Ein Bursche, der seine Nase nie vor die Tür steckt, höch= stens nachts mal für ein paar Mi= nuten. Du bist Ratsy Johnson,

Frank Pompos rechte Hand. Inspek* tor Queen sucht nach dir, schon seit Anfang Sommer. Er will endlich einen Zeugen gegen Pompo auf= treiben, für seine Anzeige beim Staatsanwalt. Darum sorgt Pompo auch dafür, daß du verschwunden bleibst. Willst du Grahams drei Mille nun 'rausgeben oder soll ich Queen und Pompo sagen, wo du dich verkrochen hast?« Johnson deutete wild auf seine Kehle. Brock ließ ein wenig nach. »Ich mache dir einen Vorschlag«, krächzte der Flüchtige. »Und was für einen?« »Ein - ahm - Arrangement! Ohne Witz, Brock, selbst den Staats» anwalt nehme ich in Kauf. Ich bin einfach absolut fertig. Nimm du es auf deine Kappe. Ich - stelle mich den Cops und sage, daß du mich bei dir untergebracht hast. Verstehst du?«

Brock überlegte einen Moment, dann gab er nach. »Okay, ich bringe den Knaben so weit, daß er sich mit tausend zu= friedengibt, und dir lasse ich fünf= hundert.« Ratsy Johnson fingerte an seinem Hals. »Wieso nicht fifty=fifty?« »Bist du ein hartes Bürschchen«, fauchte Brock, »also, wo stecken die Piepen?«

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Ellery Queen

Johnson brachte ein billiges Zi= garettenetui zum Vorschein. Er nahm eine fleckige King=Size=Zi= garette heraus und schälte das Pa= pier ab. An einem Ende war ein Büschel Tabak, am anderen ein Fil= ter, dazwischen ein grünes Papier» röllchen. Er rollte es auf. Drei Tau= send=Dollar=Noten kamen zum Vorschein. Brock schnappte sie sich und sah dann auf seine Finger. Die ölige Schmiere, die er auf dem Zi= garettenpapier bemerkt hatte, fand sich auch auf dem äußeren Tau» send=Dollar=Schein wieder. »Was rauchst du eigentlich, Heiz* öl?«

Brock wickelte die Scheine in ein seidenes Taschentuch und steckte alles zusammen sorgfältig weg. Johnson krallte sich an ihm fest. »Gib mir meinen Anteil, du Be= trüger!«

Brocks massige Pranke fuhr durch die Luft. Johnson sackte zusammen wie ein toter Fisch. »Wozu der Lärm, Ratsy. Du bekommst deinen Teil ab, wenn ich das mit Graham eingefädelt habe. Vielleicht läßt er sich gar nicht darauf ein.« »Okay, okay«, winselte Johnson am Boden liegend. »Aber ich weiß, du willst mich 'reinlegen, Brock, so hilf mir doch - « Brock grinste nur und ging. Das war am Dienstag abend.

Am Mittwoch hatte einer von Ser= geant Velies Spitzeln durchblicken lassen, daß Ratsy Johnson sich in Appartement 4 A eines Wohnhau» ses auf der West Side versteckt hielt. Velie hatte das Haus seitMitt» woch nachmittag umstellen lassen. Er wartete jetzt, daß Johnson nun endlich auftauchen würde. Man wußte nicht, ob er bewaffnet war, jedenfalls galt er als gefährlich. Es schien sicherer, ihn auf der Straße abzufassen. Überall, auf dem Dach, im vierten Stock und im Hausflur waren Detektive postiert. Diese folgenschwere Verhaftung hatte selbst Inspektor Queen auf den Schauplatz gerufen, und Ellery hatte sich angeschlossen. Um acht Uhr dreißig abends be= schloß der Inspektor, nicht länger zu warten. Sie drangen in Appar= tement 4 A ein und fanden nicht nur Ratsy Johnson, sondern auch den Leichnam von Charly Brock, dem Betrüger, vor. Brock war aus geringer Entfernung mit einer 45er Automatic erschossen worden. Der Mörder hatte eines seiner Kissen als Schalldämpfer benützt. Brocks Körper war noch warm. Gleich in den ersten Minuten er= fuhren sie alles über Brocks ver= botene Untervermietungen und die Ereignisse des vergangenen Abends. Ebenso war Brocks Drohung, Mrs.

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Untermieter unter sich

Wodjeska mitsamt ihren Kindern wegen der ausstehenden Miete auf die Straße zu setzen, sofort heraus» gekommen, und ebenso wurde der Diebstahl von Hank Grahams drei» tausend Dollar von dem erbosten Soldier gleich zu Protokoll gegeben. Sogar Hausbesitzer Fingers Ulti» matum vom Abend zuvor stand be= reits in Velies Notizbuch. Mr. Fin» ger sah ein, daß es für ihn besser sei, den kleinen Mietwucher einzu» gestehen, als in einen Mordfall verwickelt zu werden. Und Ratsy Johnson, den man zu» sammengekauert in seinem Zim» mer fand, hatte bescheiden und eigenhändig die Kette von seiner Tür gelöst und war so offensichtlich tief beeindruckt von seiner trauri» gen Lage - geschnappt von der Po» lizei, gejagt von seinem Gangster» boß Frank Pompo und außerdem noch bis an seinen schmutzigen Hals in einen Mord verwickelt-, daß er den Diebstahl an Grahams Geld sofort zugab und alles über den Kuhandel vom Dienstag abend erzählte.

Es war alles klar - bis auf das, was sich am Mittwoch abend zwischen acht Uhr und acht Uhr dreißig im schmutzigen Schlafzimmer von Charly Brock, dem schmierigen Be= trüger, abgespielt hatte. Hausbesitzer Harvey Finger war

wegen der fälligen Zahlung ah» nungslos ein paar Minuten vor acht ins Haus gekommen. Man hatte ihn in Appartement 4 A ein» gelassen, aber als er kurz darauf herauskam, wurde er von den De» tektiven festgehalten. Als sie um acht Uhr dreißig die Wohnung be= traten, um Johnson zu verhaften und dabei Brocks Leiche fanden, beharrte der kleine fette Mann darauf, daß Brock bei seinem Weg» gang noch gelebt hätte. Hank Graham gab zu Protokoll, er hätte Brock nach Fingers Weggehen noch besucht und etwa fünf Minu» ten mit ihm gesprochen. Auch er behauptete steif und fest, Brock sei, als er dann selber fortgegangen war, noch am Leben gewesen. Ratsy Johnson sagte aus, er habe Brock am Mittwoch abend über» haupt nicht gesehen, und Mrs. Wod» jeska sagte dasselbe. Er hatte kein Alibi aufzuweisen, und ebensowe» nig konnten Mrs. Wodjeskas kleine Mädchen die Aussage ihrer Mutter bestätigen, weil sie den ganzen Abend in der Gasse hinter dem Haus mit anderen Kindern >Him= mel und Hölle< gespielt hatten. So fiel also der ganze Verdacht wie» der auf das blonde Mädchen zu» rück, das man vorgefunden hatte, als sie sich mit der Pistole in der Hand über die Leiche gebeugt hatte.

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Ellery Queen

Ellery und ihr aufgeregter Mann hatten sie wieder zu sich gebracht. Jetzt saß sie blaß und zitternd in einem von Brocks schäbigen Ses= sein. »Warum haben Sie diesen Mann umgebracht?« sagte Inspektor Queen zu ihr. »Sie war es nicht!« schrie Hank Graham. »Decken Sie den Kerl da doch um Gottes willen endlich zu.« Sergeant Velie tat es - mit der Abendzeitung.

»Ich habe ihn doch gar nicht ge= tötet«, antwortete June Graham und blickte zur Seite. »Ich kam hier herein, um mit ihm zu sprechen. Statt dessen fand ich dann.. . das hier. . . vor.« »Und die Pistole?« fragte Ellery sanft. »Sie lag auf dem Boden. Ich hob sie auf.« »Warum?« Sie gab keine Antwort. »Unschuldige Leute, die Leichen auffinden und sofort die Pistole aufheben, gibt es im allgemeinen nur im Film oder im Fernsehen«, sagte Ellery. »Im wirklichen Leben würden sie eher eine Klapper» schlänge anfassen. Warum also haben Sie die Pistole aufgehoben, Mrs. Graham?«

Die junge Frau rang die Hände. »Ich - ich weiß es nicht. Vermutlich

habe ich mir gar nichts dabei ge= dacht.« »Haben Sie die Pistole schon frü= her einmal gesehen?« fragte In» spektor Queen. »Nein.« So ging es eine ganze Weile fort. »Wie ich es sehe«, sagte Inspektor Queen zu Hank Grahams junger Frau, »war es so, daß Ihr Mann in Brocks Zimmer kam, um seine drei» tausend Dollar zu verlangen, die Brock ihm zurückzugeben verspro» chen hatte. Statt dessen bot Brock ihm jedoch nur tausend an. Ihr Mann verlor die Beherrschung, lehnte entrüstet ab und rannte auf» gebracht in Ihr Zimmer, um die Polizei zu rufen. Dabei erzählte er Ihnen, daß er sich die dreitausend Dollar, die man ihm jetzt gestoh» len hatte, von seinem Sold abge» spart hatte. Da erfuhren Sie zum erstenmal von der ganzen Ge= schichte.«

June Graham nickte steif. »Warum rieten Sie Ihrem Mann davon ab, die Polizei zu verständi» gen?« »Ich fürchtete, Hank würde zusam» mengeschlagen werden-oder sonst etwas, vielleicht noch Schlimmeres, würde ihm geschehen. Ich wollte dieses Zimmer schon von Anfang an niemals mieten. Brock gefiel mir ganz und gar nicht.«

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Auch Sergeant Velie hatte die attraktiven Rundungen des Mäd= chens inzwischen eingehend stu= diert. »Hat Brock Sie niemals ir= gendwie belästigt?« fragte er. »Nein! Ich meine, j a -e inmal , als Hank gerade fort war. Ich versetzte ihm eine Ohrfeige. Er lachte nur und verschwand. Aber er hat es dann niemals mehr versucht.« »Davon hast du mir ja noch nie was erzählt«, sagte Hank Graham gedehnt.

Inspektor Queen und sein Sohn tauschten verstohlene Blicke aus. »Nun, also dann wieder zurück zu der Sache mit der Pistole, Mrs. Gra= ham«, begann Ellery erneut. »Aber das habe ich Ihnen doch schon gesagt!«

»Sie redeten Ihrem Mann aus, die Polizei anzurufen, und gingen in Brocks Zimmer hinüber, um zu sehen, was Sie von sich aus tun konnten«, sagte der Inspektor. »Fangen Sie von dort an, weiterzu= erzählen.« »Aber all das habe ich Ihnen doch schon mehrmals erzählt!« »Dann erzählen Sie es noch ein= mal.« »Ich klopfte an«, sagte June Gra= ham resigniert. »Er meldete sich nicht. Ich probierte, ob das Zimmer abgeschlossen war. Die Tür ging auf. Ich trat ein. Er lag auf dem

Boden, ganz - ganz besudelt. Ne= ben seiner Leiche lag eine Pistole. Ich hob sie auf, und dann kamen Sie alle herein.« »Warum hoben Sie die Pistole auf, Mrs. Graham?« »Ich weiß es einfach nicht; das ist es doch, was ich immer wieder und wieder sage.« »Dann werde ich Ihnen sagen, war= um Sie die Pistole aufhoben«, er= klärte Ellery. »Sie hoben sie auf, weil Sie sie kannten.« »Nein!« Es klang wie ein Auf= schrei. »Statt daß Sie meine arme Juney fertigmachen, sollten Sie lieber nach meinem Geld suchen!« fauchte Hank Graham.

»Das haben wir bereits gefunden, Graham. Hier in Brocks Zimmer, unten zwischen dem Absatz und der Sohle eines Krokodilleder= schuhs. Der Schuh steckte übrigens an Brocks Fuß.« Inspektor Queen lächelte. »Aber wir wollen nicht vom Thema abschweifen, Graham. Ihre Frau lügt, zumindest was die Pistole betrifft.«

»Nein«, beteuerte die junge Frau verzweifelt. »Ich habe sie nie zu= vor gesehen.« »Gut ausgedacht, Mrs. Graham«, sagte Ellery, »aber nicht gut genug. Tatsache ist, daß die Pistole Ihrem Mann gehört - eine 45iger Armee*

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Ellery Queen

pistole. Als Sie sie neben Brocks Leiche fanden, nachdem sich Ihr Mann gerade mit ihm gestritten hatte, dachten Sie natürlich, Hank hätte ihn erschossen, nicht wahr?« »Nein, Hank! Sag's nicht!« »Keinen Zweck, Schatz«, erwiderte Graham und schüttelte den Kopf. »Okay, Mr. Queen, es ist meine Pistole. Aber ich habe Brock nicht erschossen. Er lebte und war un= verletzt, als ich von ihm fortging.« »Das behaupten Sie«, sagte Inspek= tor Queen. Er besaß ein unverbes= serlich weiches Herz für junge Lie= bespaare. Trotzdem gab er Velie einen Wink.

»Hank!« June Graham flog ihrem Mann an den Hals, umklammerte ihn und schluchzte herzzerreißend. »In der Geschichte, wie Sie sie uns erzählt haben, klafft noch eine Lücke«, sagte Ellery und betrach= tete June Graham zärtlich und nach» denklich. »Sie haben uns etwas zu sagen vergessen, Graham.« Hank Graham strich seiner Frau über das Haar. Er blickte nicht ein= mal auf. »So, wirklich?« »Ja, etwas, Sie Dummkopf, was Sie sofort von jedem Verdacht befreit und den wirklichen Mörder der Tat überführt.«

Und dann ließ Ellery Brocks Mör= der hereinführen.

»Sie bleiben dabei, daß das Geld genau von dem Fleck in Ihrem Zim= mer gestohlen wurde, wo Sie es versteckt hatten, Graham, und Johnson hat zugegeben, der Dieb zu sein. Was Sie aber zu sagen ver= gaßen, das war, wo Sie das Geld in Ihrem Zimmer verborgen hat= ten.«

Er nahm das amtliche Kuvert zur Hand, das das Beweismaterial ent= hielt, und holte Grahams Geld her= aus. »Diese drei Tausend=Dollar= Noten waren fest zusammengerollt. Der oberste Schein weist Ölflecken auf«, sagte Ellery. »Also müssen Sie Ihr Geld in einem engen, röh= renförmigen Gegenstand aufbe» wahrt haben, dessen Innenseite ölig war. Hank, warum haben Sie uns nicht gesagt, daß Sie die Scheine zusammengerollt und in dem Lauf Ihrer Pistole versteckt hatten?«

»Heiliger Himmel!« seufzte Hank. »Es war gar nicht etwa Geld, nach dem Ratsy Johnson damals Ihr Zimmer durchstöberte. Er besaß im Moment nur gerade keine Waffe und hatte auch kein Geld, sich eine zu kaufen, und er rechnete sich aus, ein eben entlassener Soldier würde sicher eine besitzen. Erst als er den 45iger dann später untersuchte, fand er in dessen Lauf die drei Tausend=Dollar=Scheine.

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Untermieter unter sich

So ist es also durch das Geld ans Licht gekommen, daß du es warst, der die Pistole benützt hat, Ratsy«, sagte Ellery zu Johnson, der sich plötzlich im Gesicht grünlich ver= färbte. »Du schlichst dich heute abend in Brocks Zimmer. Graham war gerade fortgegangen. Du schos= sest Brock nieder, suchtest nach dem Geld, das du Graham gestoh= len und das Brock dir dann später mit Gewalt abgenommen hatte, konntest es nirgendwo finden, ver= lorst die Nerven und schlüpftest in

dein Zimmer zurück. Beinahe hätte dich June Graham noch davon= schleichen gesehen oder gar am Tatort erwischt, als sie in Brocks Zimmer ging und dort seine Leiche fand.« Ellery wandte sich an das junge Ehepaar. »Noch irgendwelche Fra= gen?« »Ja«, sagte Hank Graham, der sei= ner Frau die Tränen abtrocknete. »Weiß jemand für mich einen an= ständigen Wohnungsvermittler?«

Als Band l in der Reihe H E Y N E - A N T H O L O G I E N

erschien

13 K R I M I N A L - S T O R I E S (i. Folge)

Ellery Queen's berühmte Kriminal*Anthologie, ein Bestseller in Amerika, hier erstmals in deutscher Sprache. Die besten Kriminalgeschichten von der Elite internationaler Kriminalautoren, mit Rex Stout, Hugh Pentecost, John Dickson Carr, George Harmon Coxe, Leslie Charteris, Thomas Walsh, Jack London, MacKinley Kantor, Rufus King, John D. MacDonald, Anthony Boucher, Charlotte Armstrong und Ellery Queen.

504 Seiten, DM 4.80

Die Reihe wird fortgesetzt.

Oberall im Buchhandel und Bahnhofsbuchhandel erhältlich. Bitte fordern Sie unser ausführliches Gesamtverzeichnis an.

Wilhelm Heyne Verlag, 8 München 2, Nymphenburger Straße 47

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Helen McCloy

Nur ein kleiner psychischer Schock

Dies war die kompetente Ansicht des Cerichtspsychologen und Psychiaters Dr. Basil Willing: >Niemand hat das Unterbewußte eines Menschen jemals gesehen. Es ist nicht wie das Bewußtsein im menschlichen Gehirn lokalisierbar, sondern wie das Leben selbst über den ganzen Körper verteilt. Wenn also ein Verbrecher infolge eines Schnitzers, eines Fehlers, seinem eigenen oder dem seines Opfers, in die Talle gerät, dann wird er meist durch das Zeugnis dieses unsichtbar Gegenwärtigen überführte

Dr. Basil Willing wohnte noch gar nicht lange in Eastport, als er die Bekanntschaft des Ehepaars Dick und Clara Blount machte. Sie wa« ren heitere, unkomplizierte und ge= sellige Leute, und Willing hätte nicht im Traum daran gedacht, ihnen jemals seine beruflichen Er= fahrungen zur Verfügung stellen zu müssen. An einem lieblichen Maimorgen rief Dick ihn jedoch in höchster Aufregung an. »Gerade habe ich erfahren, daß Sie in New York eine enorme Kapazi= tat sind, Dr. Willing. Sie sind doch psychiatrischer Gutachter bei der Staatsanwaltschaft, nicht wahr?

Stimmt es, daß Sie auch mit der Polizei zusammenarbeiten? Sicher sind Sie sehr beschäftigt und be= ruflich in Anspruch genommen, aber ich möchte Sie noch heute un= bedingt sprechen. Allerdings würde Clara sich allzusehr aufregen, wenn ich Sie zu uns ins Haus bäte, aber vielleicht könnten Sie um sechs Uhr in die Old Mill Tavern kommen? . . . Ausgezeichnet, Dr. Willing, im voraus besten Dank.« Mit nachdenklichem Gesicht legte Willing den Hörer auf. Die Blounts waren seit vierzehn Jahren verhei= ratet und nach seiner Ansicht das glücklichste und reizendste Ehepaar

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in der ganzen Stadt. Im Geiste sah er sie vor sich: Clara zart und ele= gant mit leuchtend kastanienroten Haaren und haselnußbraunen Augen. Dick hingegen war stäm= mig und hochgewachsen mit was= serblauen Augen und blaßblondem Haar. Sie hatten sich bei ihrer Ar= beit beim Rundfunk kennengelernt, und Dick war inzwischen ein erfolg« reicher Fernsehautor geworden. Als Dr. Willing um sechs Uhr die Old Mill Tavern betrat, fiel sein Blick sofort auf Blount, wie dieser an der Bar saß, einen zweistöckigen Whisky trank und die Augen da= bei nicht von der Uhr wandte. »Dem Himmel sei Dank, daß Sie gekommen sind, Dr. Willing! Was würden Sie wohl sagen, wenn Sie morgens unter Ihrer Post ein sol= ches Ding wie dieses hier fänden?« Blount holte ein blau=liniiertes Stück Papier hervor, das offenbar aus einem Schulheft herausgerissen worden war. Mit Bleistift hatte je= mand daraufgeschrieben: >Dein Bruder Tod kam rief: suchst du mich?< Was, zum Teufel, glauben Sie, soll das wohl heißen?« Lächelnd setzte Dr. Willing die Zeilen dieses Gedichtes fort: »>Schlaf, du süßes Schlummer* äugiges Kind, soll an deine Seite ich schmiegen mich lindb ... Na= türlich von Shelley.«

»>Wenn du hinüber geschlummert bist, kommt der Tod, bald schon... so bald...<« Mit gerunzelter Stirn starrte Blount in die sinkende Däm= merung. »Zu dumm, hier reißt bei mir der Faden ab. Aber schließlich Hegt meine Schulzeit auch schon...« »War der Umschlag, in dem dieser Fetzen kam, mit derselben Hand= schrift adressiert?« unterbrach ihn Dr. Willing.

»Mit genau derselben Hand= schrift«, gab Dick finster zur Ant= wort, »allerdings nicht an mich.« Er warf einen abgegriffenen Brief= Umschlag auf die Theke. Beim Auf= reißen war dessen Poststempel be= schädigt worden, so daß man nur noch das Wort >Eastport< lesen konnte. Die Anschrift aber war klar und deutlich zu erkennen und lau= tete:

Mrs. Clara Blount, Fox Den Road, Eastport...

»Rein zufällig habe ich heute früh schon etwas eher als Clara gefrüh= stückt und dabei versehentlich das Kuvert geöffnet. Daraufhin konnte ich ihr den Brief natürlich nicht mehr zeigen. Sie ist so schrecklich empfindsam; sicher wäre sie voll­kommen außer sich geraten. Wis» sen Sie, Dr. Willing, ich möchte nicht, daß man mich auf der Polizei

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auslacht; deshalb wollte ich den Brief zunächst einmal Ihnen zeigen. Ein Psychiater, noch dazu, wenn er sich wie Sie auf Kriminalistik spe= zialisiert hat, könnte doch vielleicht aus dem Inhalt oder der Handschrift irgendwelche Rückschlüsse ziehen.« »Nun, es ist eine weibliche Hand= schrift, vermutlich die einer recht jungen Frau«, sagte Dr. Willing. »Shelley ist ein Dichter, von dem sich vor allem jüngere Leute be= eindrucken lassen. Außerdem scheint die Schreiberin irgendwie deprimiert zu sein. Sehen Sie, wie die Zeilen am Ende absinken -trotz der Lirdierung? Kennen Sie zufällig jemand in Ihrem Bekann= tenkreis, auf den diese Umstände zutreffen könnten?« Dick zog nachdenklich die Augen= brauen hoch. »Bis vor einer Woche war ein Mädchen vom Land in unserem Haushalt beschäftigt, eine gewisse Janey Emmett. Eines Tages verschwand eine Brillantbrosche von Clara, und das Mädchen war die einzige, die zu dieser Zeit außer uns im Hause war. Wir konnten ihr zwar nichts Direktes nachwei= sen, aber wir haben sie daraufhin sofort entlassen.«

»Könnte ich vielleicht von diesem Mädchen einmal eine Handschrif» tenprobe sehen?« »In meinem Schreibtisch liegen

noch ein paar Schecks, die von ihr auf der Rückseite quittiert worden sind. Zwar wird das Haus, in dem ich mein Büro habe, jetzt wohl ab= geschlossen sein. Aber zum Glück habe ich einen eigenen Hausschlüs= sei.«

»Ich wußte gar nicht, daß Sie in Eastport ein eigenes Büro haben«, sagte Dr. Willing. »Ja, sehen Sie«, entgegnete Blount, »wir wohnen in einem regelrechten Landhaus im Kolonialstil. Wenn da Staubsauger, Waschmaschine und Fernsehapparat alle gleichzeitig in Betrieb sind, kann wirklich nie= mand mehr in Ruhe nachdenken, geschweige denn schreiben. Des= halb habe ich mir ein Büro auf der Main Street gemietet.« »Am besten, Sie fahren mit Ihrem Wagen voraus, und ich fahre hinter Ihnen her«, schlug Dr. Willing vor. Kurz darauf drängten sich die bei= den Wagen durch das allabendliche Verkehrsgewühl der Hauptstraße von Eastport. Vor einem vierstök= kigen Gebäude brachte Dick seinen Wagen am Straßenrand zum Ste= hen; Dr. Willing parkte unmittel= bar hinter ihm, und als er ihn an der Haustür einholte, hatte Dick bereits den Schlüssel in der Hand. Er schloß auf und schaltete die Treppenbeleuchtung ein. »Einen Lift haben wir hier leider nicht im

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Haus«, sagte er, als ob er sich da-für entschuldigen müßte. Das Haus stammte noch aus der viktorianischen Zeit; ein Herren-haus, das man zu einem Bürohaus umgebaut hatte. Graziös schwan= gen sich die breiten Treppen em­por. Man sah förmlich die Schatten der vornehmen Damen aus ver= sunkenen Zeiten darauf empor­schreiten. Als sie im dritten Stock angelangt waren, schrillte ihnen allerdings ein sehr modernes Ge­räusch entgegen.

»Ist das Ihr Telefon?« fragte Dr. Willing. »Hoffentlich nicht, denn ich be­komme bestimmt die Tür nicht rechtzeitig auf«, sagte Blount und machte sich hastig an der Bürotür zu schaffen. »He, es ist tatsächlich meins!«- Er stürzte durch den Raum und riß den Hörer von der Gabel. »Hallo.. . Clara? Da hast du aber Glück gehabt, daß du mich gerade noch erwischt hast!« Dr. Willing schlenderte indessen zu einem der beiden Fenster hin­über, und es schien so, als ob er dem Gespräch überhaupt nicht zu­hörte.

»Was . . . ?« Dicks Stimme war plötz­lich so verändert, daß Willing augenblicklich erstarrte. Im schwa­chen Schein der Treppenhausbe­leuchtung erschien Blounts Gesicht

geradezu gespenstisch bleich. »Ruf sofort die Polizei! Clara . . . Clara!« Blount ließ den Hörer fallen; seine Stimme überschlug sich geradezu. »GroßerGott! Sie rief mich an,weil jemand ums Haus herumschlich. Ich konnte gerade noch ein Krachen hören - vermutlich die Fenster­scheibe. Sie schrie auf, dann fiel ein Schuß, und dann - nichts mehr!« Dr. Willing war es, der für den fassungslosen Blount die Polizei anrufen mußte. Er knallte den Hö­rer auf die Gabel. »Los, wie fahre ich Sie am schnellsten zu Ihrem Haus zurück? Sie sind ja gar nicht in der Verfassung, den Wagen selbst zu steuern.«

Abseits der Straße, inmitten eines etwa zwei Hektar großen Gartens, lag das Landhaus der Blounts. Mit seinen weinberankten Hauswänden und von Ziersträuchern umgeben, war es reizend anzuschauen. In der Einfahrt stand bereits ein Polizei­wagen, auf der anderen Straßen» seite ein Eilbotenwagen. Beim Eintreten bemerkte Willing, daß keinerlei Diele vorhanden war. Durch die Haustür gelangte man unmittelbar in das Wohnzimmer. Allerdings hätte ein gewöhnliches Landhaus niemals ein derartiges Wohnzimmer gehabt. Die Wände, der samtweiche Teppich und die

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hauchzarten Gardinen wiesen alle das gleiche farbenfrohe Pastell-gelb auf. Hingegen waren die ge­polsterten Möbel ganz in Schwarz gehalten, aus Ebenholz oder Teak­holz, mit Elfenbein und Gold ein­gelegt.

Lediglich ein paar ausgesuchte an­tike chinesische Malereien zierten die Wände. Es gab dort weder einen Kamin noch irgendwelche alten Erb­stücke, Bücher oder Kinderspiel­sachen. Willing hatte den Eindruck, als befände er sich mitten in einer Bühnendekoration, statt in einer Wohnung, und zwar in einer Büh­nendekoration, die ein Theaterkri­tiker in ihrer nüchternen Klarheit des Stils wahrscheinlich als äußerst gelungen dramatisch wirksam be­zeichnet hätte.

So hatte er denn auch gar nicht den Eindruck, daß das Fenster in Wirk­lichkeit zerbrochen war, obwohl die herumliegenden Glassplitter wie zarte Eisscherben glitzerten. Noch unwirklicher aber schien es, daß der Körper, der in dem erkerartigen Anbau auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnraumes am Boden lag, wirklich die Leiche einer Frau war und nicht eine Bühnenpuppe. Es wirkte gerade so, als habe ein routinierter Bühnengestalter sie eigens in dramatischer Pose dort hingelegt.

Die Frau war in ein lockeres, wei­tes Hausgewand aus elfenbeinfar­biger Seide gehüllt, das von Silber­fäden durchzogen war. Diese wa­ren es, die das funkelnde Licht der Brillantbrosche an ihrem Hals glit­zernd zurückwarfen. Gegen die Leichenblässe ihrer Haut stachen die leuchtenden kastanienroten Haare und die scharlachrot ge­schminkten Lippen scharf ab. Es schien, als ob sie schliefe, hätte man nicht auf ihrer glatten, marmornen Stirn ein häßliches kleines Loch be­merkt, an den Rändern ausgezackt und bläulich verfärbt. Von einem kleinen Tisch neben ihr pendelte an seiner Schnur der Tele­fonhörer herab. Zu ihrer anderen Seite lag ein Jagdgewehr. »Mein eigenes Gewehr . . . « , mur­melte Blount mit gebrochener Stimme. »Und da, da ist ja auch die vermißte Brillantbrosche!« Er machte nicht einmal den Ver­such, sich dem Alkoven zu nähern, sondern wandte sich zu dem zer­brochenen Fenster um, als ob diese herausfordernde Ironie des Schick­sals, daß es sein eigenes Jagdge­wehr war, durch das seine Frau den Tod erlitten hatte, sein Fassungs­vermögen überstieg. »Wie lange, meinen Sie, ist sie schon tot?« wurde Willing von ei­nem Polizeileutnant empfangen.

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Willing nahm eine rasche Unter» suchung vor. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, der Tod könnte jederzeit innerhalb der letzten Stunde eingetreten sein. Wie aber die Dinge liegen, kann ich es sogar genauer präzisieren. Mr. Blount hat nämlich über das Telefon den tödlichen Schuß ge= hört, und das war vor genau fünf» zehn Minuten. Bitte, Dick, bestäti» gen Sie ihm das.«

Blount bemühte sich, wenigstens die allernotwendigsten Worte über die Lippen zu bringen. Er machte einen derart verstörten und er= schütterten Eindruck, daß der Poli= zeileutnant geradezu erleichtert war, sich wieder an Willing wenden zu können.

»Also etwa um sechs Uhr fünfzehn hörten Sie beide im Büro das Tele» fon klingeln«, sagte er, »und Mrs. Blount war noch dabei, mit ihrem Mann zu sprechen, als er während des Gesprächs das Fenster zersplit» tern hörte. Dann hat sie wahr» scheinlich zur Seite geblickt und den Eindringling entdeckt. Als die» ser das Gewehr ihres Mannes packte, stieß sie einen Schrei aus.« Der Blick des Leutnants glitt zu dem leeren Gewehrständer an der Wand. »Als der tödliche Schuß fiel, glitt ihr dann der Hörer aus der Hand, und Sie, Doktor, unter»

• brachen natürlich die bis dahin noch bestehende Verbindung, als Sie in Blounts Büro das Telefon benutz» ten, um die Polizei zu verständi» gen.« »Wer i s t . . . « , Willing unterbrach sich. Fragend sah er zu dem Poli» zisten hinüber, der in der entgegen» gesetzten Ecke des Raumes ein Mädchen und einen jungen Mann bewachte.

Die dunklen Augen des Mäddiens wirkten so flehend und voller Angst wie die eines Schulkindes. Sie trug einen weiten weißen Pullover, einen hellblauen Rock und weiße Mo» kassins. Ihr Haar schimmerte in zartem, goldbraunem Ton. Es war in recht einfacher Art geschnitten und ein wenig zerzaust. Mit beiden Händen umklammerte sie die eine Hand des jungen Mannes. Dieser mochte höchstens ein Jahr älter sein als sie selbst und machte einen zurückhaltenden, finsteren Eindruck, während sich das Mäd» chen offenbar am Rande einer Pa= nik befand; ein kräftiger junger Mann mit trotzigen braunen Augen und einem gequälten Zug um den Mund. Sein militärisch kurzer Haar» schnitt beeinträchtigte ein wenig den Ausdruck seines sonst so sym» pathischen Gesichts. Sein Sport» hemd und seine Blue jeans waren schmutzig und abgetragen.

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Dick Blount folgte Dr. Willings Blick. »Das ist ja Janey Emmett«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Und der Bursche da, wer ist das?« »Ich heiße Frank Denby und weiß von der ganzen Sache überhaupt nichts, genausowenig wie Janey. Sie haben kein Recht, uns hier f est= zuhalten. Ich werde meinen Vater anrufen, und der wird uns einen Rechtsanwalt schicken. Ich - « »Einen Moment mal«, sagte Wil= ling ganz ruhig. »Wenn Sie mit der ganzen Sache, wie Sie behaupten, überhaupt nichts zu tun haben-was machen Sie dann eigentlich hier?«

»Ich bin Fahrer beim Eilboten-dienst. Heute nachmittag gegen vier Uhr habe ich für Mrs. Blount ein Päckchen aus New York abgehe-fert. Sie hat es mir auch sofort quittiert. Als ich dann aber ins Büro zurückkam, merkte ich, daß sie mit einem ganz falschen Namen unter­schrieben hatte, und weil ich meine Quittungen und Abrechnungen stets in Ordnung haben will, bin ich noch mal umgekehrt und zu­rückgefahren. Um halb sieben war ich wieder hier, damit sie mir den Abschnitt mit ihrem richtigen Na­men unterschreiben sollte. Sehen S i e - h i e r ist er!« Er hielt einen schmalen gelben Papierstreifen hoch.

»Clara Drexel - ihr Künstler­name?« las Dr. Willing laut vor und zog fragend die Augenbrauen zusammen. »Nein«, sagte Blount, »ihr Mäd­chenname. Sie hat sich nur ver­schrieben. Das ist ihr früher auch schon öfter passiert. Mein Gott, ich weiß nicht, ob das nun wirklich so furchtbar wichtig ist!« »Für mich schon«, gab der Bursche zurück. »Das Päckchen war aus­drücklich an Mrs. Clara Blount adressiert, und ich will in meinen Quittungen kein Durcheinander haben.«

»War denn etwas so Wertvolles darin?« »Lediglich Gesichtspuder, allerdings ein ziemlich teurer. Ich weiß es da­her, weil ein wenig davon auf den Teppich rieselte, als sie das Päck­chen auf den Telefontisch legte. Sie sagte mir, es sei ein ganz beson­derer Puder, der in New York eigens für sie zusammengestellt und auf ihren Teint abgestimmt ist. Man sollte eigentlich erwarten, daß ein so teurer Puder dann auch ordentlich verpackt würde.« »Und was geschah, als Sie dann zum zweitenmal hierherkamen?« »So ziemlich alles, was man sich nur vorstellen kann«, antwortete der junge Mann verbittert. »Ich sah hier das Licht und das einge-

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schlagene Fenster. Als ich klingelte, war es Janey, che mir die Tür auf* machte. Ich kenne sie natürlich. Wir beide sind hier in Eastport ja zu» sammen aufgewachsen und mitein= ander zur Schule gegangen. Und als sie die Tür aufmachte, sah sie voll-kommen verstört aus. Sie überfiel mich sofort mit den Worten: >Um Gottes willen, Frank, Mrs. Blount ist tot. Jemand hat sie erschossene Ich warf nur einen Blick auf die Leiche und sagte, wir müßten so» fort die Polizei holen. Janey fing an zu weinen, und ich versuchte sie zu beruhigen, bis dann die Polizisten kamen und uns beide hier vorfan» den.«

»Und nun erzählen Sie einmal, Miss Emmett.« Janeys erschrockener Blick irrte durch das Zimmer. »Ich-ich fand sie hier tot liegen, gerade ein paar Minuten, ehe Frank kam.« »Warum sind Sie denn eigentlich hierhergekommen ? « Janey schrak zurück. »Muß ich das unbedingt sagen? Bis vor einer Woche habe ich hier als Hausmäd= chen gearbeitet. Die Arbeit gefiel mir nicht sonderlich, aber meine Mutter ist verwitwet; daher hatten wir nicht genug Geld, um mich als Sekretärin oder etwas Ähnliches ausbilden zu lassen. Vor einer Wo= che hatte Mrs. Blount ihre Brillant»

brosche verlegt; jedenfalls ver» mißte sie die Brosche, obwohl sie sie ja auch verloren haben konnte. Sie sagte aber, so etwas sei ihr im Leben noch niemals passiert. Aller» dings behauptete sie auch nicht, daß ich sie genommen hätte; aber ich weiß, daß sie im stillen davon über» zeugt war, denn sie hat mir gleich darauf gekündigt. Sie muß auch anderen Leuten erzählt haben, daß sie mich des Diebstahls verdäch» tigte, denn ich konnte in ganz Eastport, das ja doch recht klein ist, ganz einfach keine Stellung mehr finden, nicht einmal als Dienstmäd» chen, auch nicht aushilfsweise. Heute nachmittag um vier rief sie mich nun plötzlich an und sagte, die Brosche habe sich wiedergefunden. Dann bat sie mich, noch heute abend um sechs Uhr fünfzehn zu ihr zu kommen. Sie wollte mit mir be= sprechen, ob ich wieder bei ihr zu arbeiten anfangen wollte. Ich dachte mir, wenn sie mich wieder eine Zeitlang bei sich beschäftigen würde, wird sicher niemand mehr sagen können, daß ich eine Diebin sei. Deshalb kam ich dann auch pünktlich, und da - da war sie tot.« Das Mädchen begann hilflos zu schluchzen, und der junge Mann legte den Arm um sie und flüsterte: »Nicht aufregen, Janey, es wird sich schon alles aufklären.«

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Dr. Willing wandte sich an Blount. »Wußten Sie, daß die Brosche wie= dergefunden wurde?« »Nein, natürlich nicht. Ich bin um zwei Uhr mittags ins Büro gegan= gen und habe dort gearbeitet, bis ich mich um sechs Uhr mit Ihnen in der Old Mill Tavern traf. Daher konnte ich doch gar nicht wissen, daß Clara um vier die Brosche wie-dergefunden hatte. Übrigens be= zweifle ich, daß sie wirklich von Clara gefunden wurde. Dieses Mädchen hier ist die einzige, die das behauptet. In Wirklichkeit war es vielleicht so, daß sie Clara zuerst erschossen und ihr dann hinterher die Brosche an das Kleid gesteckt hat. Mir scheint das alles nichts wei= ter als ein gerissener Trick dieses Mädchens zu sein, um heute abend ihre Gegenwart hier im Haus zu er= klären und sich außerdem auch noch von dem Verdacht des Dieb= stahls reinzuwaschen. Und nicht nur das - sie wollte damit auch er= reichen, daß sie scheinbar keinerlei Motiv für ihren Rachemord hatte und daß somit auf sie gar nicht erst ein Verdacht fallen sollte.« »Nein, nein!« schrie Janey auf. »Wie können Sie nur so gemein von mir denken! Ich habe sie doch gar nicht umgebracht! Nein, ich war's wirklich nicht, ganz bestimmt nicht!«

»Haben Sie das hier geschrieben, ist das Ihre Schrift?« Dr. Willing hielt ihr das bewußte Stück Papier hin. »>Dein Bruder Tod ...< - ja, das ist von Shelley, glaube ich. Ich entsinne mich, daß wir das Gedicht voriges Jahr in der High-School durchge= nommen haben. Dieses Schulheft habe ich aufgehoben, weil ich mir auf den leeren Seiten Adressen und Telefonnummern notiert habe.« »Hatten Sie dieses Heft hier im Haus, als Sie hier beschäftigt wa­ren?«

»Genau kann ich das nicht sagen, aber möglich ist es schon.« Dr. Willing zog den Polizeileutnant zur Seite, unter die Tür eines offe= nen Nebenzimmers. »Blount be= hauptet«, sagte er, »dieses Blatt Papier sei heute früh unter der Post für seine Frau gewesen.« Halblaut vor sich hinmurmelnd las der Polizeileutnant vor: »>Dein Bruder Tod kam und rief: suchst du mich?< Nun, so etwas be= kommt man nicht gerade gern anonym mit der Post ins Haus ge= schickt. Andererseits ist es aber auch gerade kein ausgesprochenes Vergnügen, unschuldig des Dieb= Stahls bezichtigt zu werden. Mrs. Blount kam sich wohl sehr groß= herzig vor, als sie davon Abstand nahm, die Sache gerichtlich weiter-

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zuverfolgen. In Wirklichkeit nahm sie aber gerade dadurch dem Mäd= chen jede Chance, sich offen und ehrlich zu verteidigen. Statt dessen schwatzte sie es dann überall bei den Leuten herum, und so ist es denn kein Wunder, daß die Kleine in ganz Eastport keine Stellung mehr finden konnte. Wenn sie diese anonyme Drohung wirklich an Mrs. Blount geschickt und sie hinterher umgebrächt hat, ist das sogar vorsätzlicher Mord. Aller» dings, was die strafrechtliche Seite der Angelegenheit betrifft, so ist sie ja noch nicht einmal Zwanzig. Sie fällt also noch unter die Jugend» Paragraphen. Aber selbst wenn diese Zeilen hier von ihrer Hand stammen, wird es immer noch schwer zu beweisen sein, daß sie sie ausgerechnet zu diesem Zweck geschrieben hat. Es könnte sich ja auch nur, wie sie gerade behaup» tet hat, um eine Niederschrift von ihrem Englischunterricht her han» dein. Wie verhält sich denn das mit dem Briefumschlag? Ist es tatsäch» lieh dieselbe Handschrift?« Willing nickte. »Eindeutig die» selbe. Aber ihr Anwalt könnte sich auf den Standpunkt stellen, dieser Umschlag habe irgend etwas ande» res enthalten, als er von ihr an Mrs. Blount geschickt wurde. Der Staats» anwalt müßte erst einmal den Be=

weis dafür erbringen, daß niemand anderer im Besitz dieses Blattes Pa= pier und des Umschlags gewesen sein kann und niemand anderer beides an Mrs. Blount hätte auf» geben können.« »Nun sagen Sie einmal selber, Dok» tor«, meinte der Polizeileutnant, »wer anders außer Mr. Blount könnte wohl im Besitz eines Brief» Umschlags gewesen sein, der an seine Frau gerichtet war. Aber ge= rade er scheidet von vornherein aus dem Kreis der Verdächtigen aus, denn Sie selbst waren ja bei ihm, als er in seinem Büro den Anruf von Mrs. Blount entgegennahm und am Telefon Ohrenzeuge des tödlichen Schusses wurde.« Sie waren während ihres leise ge= führten Gespräches ein paar Schritte weiter in das Nebenzimmer hinein» gegangen. Noch nie zuvor hatte der Polizeileutnant einen so durchdrin» genden Blick gesehen wie den, mit dem Dr. Willing durch die offene Tür jetzt die Gesichter der vier Menschen im anderen Zimmer mu= sterte. »Im Grunde verabscheue ich diese Fälle, die niemals gerichtlich wirklich geklärt werden können«, sagte der Psychiater schließlich, »obwohl jeder weiß, wer der Schul» dige ist, aber niemand hieb» und stichfeste Beweise dafür erbringen kann. Daher kann auch dieser Fall

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hier nicht auf so einfache Weise zum Abschluß gebracht werden. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich eine kleine psychische Schock» methode anwende?« »Durchaus nicht, Doktor.« »Vorher müßte ich allerdings noch kurz einmal telefonieren.« Dr. Wil= ling wählte eine Nummer, stellte einige ruhige Fragen und horchte ein paar Sekunden lang zu. »Danke«, sagte er dann und legte den Hörer auf.

»Glauben Sie, das Mädchen hat es allein getan?« fragte der Polizei» leutnant. »Könnte es nicht eher sein, daß sie es beide gewesen sind? Solch ein Bürschchen kann sehr empfindlich sein, wenn man sein Mädchen eines Diebstahls bezieh» tigt; ob zu Recht oder zu Unrecht spielt dabei gar keine Rolle. Und er ist bis über beide Ohren in sie verliebt, schon seitdem sie mitein» ander zur Schule gegangen sind -das weiß ich genau.« »Sie denken da immer nur an sieht» bare Beweise«, sagte Willing. »Übersehen Sie doch nicht die psy» chologischen Anhaltspunkte, die auf die Spur des Mörders führen -das Zeugnis des unsichtbar Gegen» wärtigen.«

»Ich weiß nicht recht, was Sie damit meinen. Nach meiner Auffassung muß es entweder das Mädchen oder

der Bursche gewesen sein - oder aber beide zusammen. Es sind ja überhaupt keine anderen Verdäch» tigen da.« »Ist das tatsächlich alles, was Sie mit der Aussage des jungen Man» nes anzufangen wissen«, murrte Willing. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und wandte sich an Janey. »Haben Sie den Erker, den Alkoven da, seit» dem Sie um sechs Uhr fünfzehn ins Haus kamen, auch nur ein einziges Mal betreten?«

»Nein, nie!« beteuerte das Mäd» chen spontan. »Ich konnte doch bei» nahe schon von der Tür aus sehen, daß Mrs. Blount tot war. Meinen Sie, ich hätte mich auch nur getraut, sie noch näher anzusehen?« »Und Sie, Denby?« »Ich auch nicht. Als die Cops ka= men, stand ich ja noch mit Janey unter der Haustür und war über» haupt noch gar nicht im Haus ge» wesen.«

»Befanden Sie sich heute nachmit« tag in unmittelbarer Nähe von Mrs. Blount, als der Puder auf den Тер» pich fiel?«

»Nein, ich stand schon wieder un» ter der Tür. Als ich hörte, daß sie etwas rief, drehte ich mich noch einmal um. Sie war sehr aufge» bracht, und ich sagte nur zu ihr: >Tut mir leid, Madam, aber schließ»

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lieh bin ich es nicht gewesen, der dieses Päckchen verpackt hat. < Dann ging ich fort.« »Der Schuß wurde aus allernäch= ster Nähe abgegeben«, sagte Wil-ling. »Das kann man an den zer-fetzten, bläulichen Wundrändern erkennen. Wer immer der Täter war, er stand jedenfalls unmittel= bar neben ihr in dem Erker, und zwar, nachdem der Puder bereits auf den Teppich gerieselt war. Teu= rer Gesichtspuder ist bekanntlich sehr fein und stark haftend. An den Schuhen des Mörders müssen demnach noch chemisch nachweis= bare Spuren davon zu finden sein, selbst wenn er versucht haben sollte, sie abzuwischen. Sie bleiben also beide bei Ihrer Behauptung, daß keiner von Ihnen heute nach= mittag in dem Erker gewesen ist?« Die beiden jungen Leute machten den Eindruck von Kindern, die sich fürchteten, von böswilligen Er-wachsenen aufs Glatteis geführt zu werden. »Nein, wirklich«, stieß Janey hervor, »ich bin bestimmt nicht dortgewesen.« Und Frank fügte selbstsicher hinzu: »Genau-sowenig wie ich. Sie können von mir aus meine Schuhe ins Polizei­labor schicken, wenn Sie wollen.« Willing wandte sich an Blount. »Hatte Ihre Frau eine Lebensver­sicherung abgeschlossen?«

»Natürlich. Wir waren beide ver­sichert. Jeder zugunsten des an­deren. Sie werden doch nicht etwa annehmen, daß ich deswegen . . . « »Warum denn nicht?« Tiefe Röte überzog plötzlich Dicks helle Gesichtshaut. »Sie waren doch zusammen mit mir im Büro, als Clara mich anrief! Sie waren doch selbst dabei, als ich mit ihr sprach!« »Ich habe keineswegs gehört, daß Sie mit ihr gesprochen haben. Vom anderen Ende der Leitung habe ich nämlich nicht den. leisesten Laut vernommen. Alles, was ich hören konnte, war Ihre Stimme, Blount, als Sie >Clara< sagten. Selbst wenn ich die Leitung angezapft hätte, wäre es unmöglich gewesen, von Clara auch nur ein einziges Wort zu hören, weil sie nämlich zu die­sem Zeitpunkt schon längst tot war.«

»Sie sind ja wahnsinnig!« brauste Blount auf. »Sie haben doch gehört, wie das Telefon klingelte, als wir zusammen die Treppe heraufka­men. Nicht ich, sondern Clara war es doch, die mich angerufen hatte. Sie haben doch selbst gesehen, wie ich den Hörer abhob. Und wenn es nicht Clara war, die angerufen hatte, wer sollte es denn sonst ge­wesen sein?« »Dein Bruder Tod«, gab Willing zur Antwort. »Mit anderen Wor-

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ten: niemand. Seit fünf Uhr abends stand das gesamte Bürohaus leer. Als Sie und ich dort hinkamen, war es kurz nach sechs. Dieses Haus hier stand inzwischen ebenso leer, denn Clara war bereits tot. Nach demZu= stand der Leiche zu urteilen, müßte der Tod etwa kurz vor sechs Uhr eingetreten sein. Wie einfach für Sie, Mr. Blount, Ihre Frau um halb sechs zu erschießen, das Telefon abzunehmen, Ihre eigene Büronum= mer zu wählen und schleunigst zu der Old Mill Tavern zu fahren, wo wir uns dann getroffen haben. Den Telefonhörer ließen Sie natürlich ganz so herunterhängen, als ob er Clara aus der Hand gefallen wäre, als der tödliche Schuß sie traf. Kein Mensch war in der Zwischenzeit an einem der beiden Enden der Lei= tung, der die Verbindung hätte un= terbrechen können. Das Rufzeichen funktioniert rein automatisch wei= ter. Niemand kann das Klingeln abstellen, außer er unterbricht an dem einen oder anderen Ende die Verbindung, indem er den Hörer auflegt. Das hat mir soeben die Telefongesellschaft bestätigt, bei der ich drüben von dem Apparat im Nebenzimmer deswegen eigens an= gerufen habe.

Die ganze Angelegenheit mit der verschwundenen Brillantbrosche war von Ihnen schon über eine Wo=

che im voraus geplant. Sie selbst hatten die Brosche an sich genom= men und Ihre Frau in dem Verdacht unterstützt, daß Janey sie gestoh= len hätte. Sie kannten Ihre Frau nur allzugut, um zu wissen, wie schnell sie es überall herumerzäh= len würde. Dieses Geschwätz sollte Janey alle beruflichen Möglichkei= ten verbauen, ihr jede Chance ver= derben. Sie brauchten für Janey ein Motiv, warum sie gegenüber Ihrer Frau Haßgefühle entwickelt haben könnte, wenn der Fall später vor Gericht verhandelt werden würde. Dann hätten Sie ihr dieses Motiv immer wieder unterschieben kön= nen. Janey hatte keinerlei Motiv oder Grund, Ihrer Frau feindlich gesinnt zu sein. Also schufen Sie bewußt eines, mit dem Sie dann später vor Gericht hätten aufwar» ten können; eben dadurch, daß Sie die Affäre mit der angeblich ge= stohlenen Brosche einfädelten. Dann haben Sie es so eingerichtet, daß Ihre Frau heute nachmittag die Brosche wiederfinden mußte. Sie redeten ihr zu, Janey anzurufen und sie um sechs Uhr fünfzehn zu sich ins Haus zu bestellen. Die Polizei sollte gerade zur rechten Zeit hier eintreffen, um das Mädchen hier neben der Leiche vorzufinden. Auch die Unterhaltung mit mir war zeitlich genau abgestimmt. Wir ka=

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men gerade um sechs Uhr fünfzehn in Ihrem Büro an, als das Telefon immer noch klingelte. Es hätte ja möglich sein können, daß Janey, die zur selben Zeit ins Haus bestellt worden war, die Verbindung un= terbrochen hatte, um die Polizei an= zurufen.« Willing hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr er spöttisch fort: »Kein Wunder also, daß Sie Ihre Uhr keine Sekunde aus den Augen ließen. Schließlich sind Sie Fernsehautor, Mr. Blount, der darauf trainiert ist, Dialoge nach Sekunden zu berechnen. Pro Seite eine Minute, nicht wahr? Selbstverständlich sind Sie selbst es gewesen, der das Blatt Papier aus Janeys Schulheft herausgerissen hat, als sie noch hier im Hause be= schäftigt war. Der Umschlag stammte von einem Brief, den Ja= ney irgendwann einmal an Ihre Frau geschrieben hatte. Da die Briefmarke mit dem Poststempel eingerissen und der Poststempel, soweit er das Datum betrifft, un= leserlich ist, mußten wir uns allein auf Ihre Aussage verlassen, der Brief sei gerade erst heute morgen mit der Post gekommen. Wahr= scheinlich waren Sie es sogar, der das Datum raffiniert und geschickt unleserlich gemacht hat, während der Brief vorher ganz sauber auf= geschlitzt gewesen sein mag.«

Alle Farbe war aus Blounts Gesicht gewichen. Er war jetzt weiß wie eine gekalkte Wand. »Glauben Sie denn ernstlich, ich hätte das alles getan - nur wegen der Versiehe» rungssumme?« »Nicht allein des Geldes wegen«, seufzte Willing. »Sie und Clara wa= ren als das glücklichste Ehepaar in ganz Eastport bekannt. Aber kön» nen Sie sich vorstellen, daß eine wirklich glücklich verheiratete Frau nach vierzehn Jahren aus Versehen, und zwar des öfteren, noch immer mit ihrem Mädchennamen unter» schreibt. Ich wiederhole: Nicht nur einmal, sondern, wie Sie selber zu» gegeben haben, schon oft und oft. Das menschliche Tun und Lassen wird niemals vom Zufall bestimmt. Jedes Ausrutschen der Feder, jeder ganz gewöhnliche kleine Schreib» fehler ist gewissermaßen, vor allem, wenn er in dieser Häufigkeit auftritt, auf eine Wunschvorstel» lung im Unterbewußtsein zurück» zuführen. Bei solchen Irrtümern enthüllt sich der wahre Gemütszu» stand ebenso klar wie im Traum. Genauso, wie sich die gespaltene Persönlichkeit durch Anzeichen des Wahnsinns verrät, so verrät auch ein derart winziger kleiner Splitter der Persönlichkeit den wirklichen Zustand des Unterbewußtseins. In der Blitzgeschwindigkeit einer Tau»

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Helen McCIoy

sendstelsekunde erlangen das Un= terbewußtsein und der verborgene Wunsch die Herrschaft über die motorischen Nerven. Dann zieht es sich ebenso blitzschnell wieder zu= rück, und das Bewußtsein gewinnt wieder die Oberhand. Niemand hat jemals dieses Unter= bewußtsein gesehen. Es ist nicht wie das Bewußtsein allein im menschlichen Gehirn lokalisiert, sondern wie das Leben selbst über den ganzen Körper verteilt. Wenn also ein Verbrecher infolge eines unterbewußten Fehlers - einer un= terbewußten Fehlhandlung, die von ihm selbst oder aber auch von sei= nem Opfer begangen worden sein kann - in die Falle gerät, dann wird er meist durch das Zeugnis dieses stets unsichtbar Gegenwärtigen überführt.

Frauen, die unglücklich verheiratet sind, vor einer Scheidung aber aus religiösen, wirtschaftlichen oder an= deren Gründen zurückscheuen, las= sen es ihren Mann, von ihrem Un= terbewußtsein her getrieben, meist irgendwie büßen - gewissermaßen aus einer unterbewußten Rache da= für, daß er sie unglücklich gemacht hat. Sie wollen ihn genauso un= glücklich sehen, wie sie es selbst sind. Dabei sind sie sich natürlich niemals >bewußt<, daß dadurch Männer, die eine entsprechende

psychische Disposition haben, bis zum Äußersten, ja, bis zum Mord getrieben werden können.« Dr. Willing wandte sich an den Po= lizeileutnant. »Wie Sie gehört ha= ben, sagte Blount, er hätte das Haus um zwei Uhr verlassen und wäre nicht vor sechs Uhr dreißig zurück= gekehrt, als ich ihn in seiner ge= mimten Fassungslosigkeit hierher zurückfahren mußte. Seit wir im Hause sind, hat auch er den Erker noch nicht betreten. Wenn Sie jetzt aber seine Schuhe ins Polizeilabor bringen lassen, wird man daran noch Spuren des Gesichtspuders finden, der um vier Uhr hier auf dem Teppich verstreut wurde, zwei Stunden, nachdem er angeblich be= reits in sein Büro gegangen war.« Blounts Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse. Ein widerlicher, grauenhafter Schein flimmerte im Hintergrund seiner Augen; ein Blick, den Dr. Willing bei ihm noch niemals wahrgenommen hatte. »Auch Sie würden Clara umge= bracht haben, wenn Sie vierzehn Jahre mit ihr zusammen hätten le= ben müssen! Ich bin heilfroh, ja, heilfroh bin ich, daß ich sie erschos= sen habe - ich, ich würde - « Willing ging zu der anderen Ecke des Zimmers hinüber, von wo aus Janey und Frank ihm mit offenen Mündern entgegenstarrten. »Was

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hätte man wohl mit uns gemacht, Doktor, wenn Sie nicht gewesen wären?« schluckte Janey, und Trä= nen der Dankbarkeit standen in ihren Augen. »Aber - Mr. Blount, er war doch immerhin Ihr Freund.« »Nein, nicht mein Freund; nur ein Bekannter, mit dem ich gelegentlich auf Cocktailparties zusammenge= troffen bin«, antwortete Willing.

»Ein Bekannter, der meine Intelli= genz leider ein wenig unterschätzte, als er sich ausgerechnet an mich wandte und inj mir einen gewichti= gen Zeugen für sein windiges Tele= fonalibi zu finden hoffte, lediglich weil er wußte, daß ich mit der Poli= z e i - n u n sagen wi r -un te r einer Decke stecke.« Und Dr. Willing lächelte.

Als Band 2 in der Reihe H E Y N E - A N T H O L O G I E N

erschien

20 S C I E N C E F I C T I O N - S T O R I E S (i. Folge)

»The Best from Fantasy and Science Fiction«, Anthony Bouchers große SF» Anthologie, hier erstmals in deutscher Sprache. Die besten Stories aus dem führenden amerikanischen Magazin »The Ma= gazine of Fantasy and Science Fiction« von С. M. Cornblut, Frederik Pohl, Alfred Bester, Theodore Sturgeon, Arthur Porges, Chad Oliver, Charles Beaumont, Arthur C. Clarke, Isaak Asimov, Richard Matheson, Ray Bradbury, Robert Sheckley, Daniel F. Galouye, Ron Smith, Poul Anderson, Jay Williams, Will Stanton, Р. M. Hubbard, Robert Abernathy und C. S. Lewis.

504 Seiten, DM 4.80

Die Reihe wird fortgesetzt.

Überall im Buchhandel und Bahnhofsbuchhandel erhältlich. Bitte fordern Sie unser ausführliches Gesamtverzeichnis an.

Wilhelm Heyne Verlag, 8 München 2, Nymphenburger Straße 47

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Thomas Walsh

Сор Callahans Coup

Hier ist wieder einer von Thomas Walshs unvergleichlich routiniert geschriebenen Kurzromanen, vollgepackt mit human interest, in dem es um nichts weiter geht, als um das Schicksal eines zum ein= fachen Straßenpolizisten degradierten kleinen Cops. Wie es sich für eine Kriminalstory gehört, fließt dabei zwar auch ein wenig Blut, jedoch nur ganz, ganz am Rande . . .

Bereits der erste Blick auf den Pres= sekommentar des neuen Police= Commissioners belehrte Callahan darüber, daß sein neuer Vorgesetz= ter viele Vorzüge aufzuweisen hatte. Der Text dieses Kommentars war zugleich klar und eindringlich ge= halten; Zurückhaltung und würde= voller Ernst sowie Stärke und selbstbewußtes Vertrauen schwan= gen darin mit. Harrison T. Finley versprach beileibe keine Wunder; er wußte genau, was die öf f entlich= keit von ihm erwartete. Sie hatte ein Anrecht auf ein leistungsfähiges, ehrliches Polizeirevier, das bezüg= lieh Korruption selbstverständlich über jeden Zweifel erhaben war. Callaham las mit großem Interesse.

Nach einem ungeschriebenen Ge= setz beginnen neue Vorgesetzte er= fahrungsgemäß ihre Tätigkeit mit einem gründlichen Großreinema= chen. Selbstverständlich bestand nun die Möglichkeit, daß diese Säuberung sich auch auf ihn er= strecken könnte. Callahan hatte dies allerdings bisher noch niemals ernstlich erwogen. Tatsächlich traf aber genau drei Tage nach der Ver= öffentlichung ein fernschriftlicher Befehl ein. In kurz gehaltenem Amtsstil spie der Fernschreiber die Meldung aus, daß Daniel John Callahan, First=Grade=Detective der Undercover Squad, hiermit ab sofort zum Straßenpatrouillen» dienst zurückversetzt worden sei.

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Сор Callahans Coup

Mit erblassendem Gesicht wurde Daniel John Callahan sich bewußt,

daß gekränkter Stolz einen Mann zu Stein erstarren lassen kann. Allerdings hatte er im Unglück noch Glück gehabt und war nicht völlig abgemustert worden. Aus der Morgenzeitung sprang ihm so= fort die Nachricht entgegen, daß die Undercover Squad vollständig auf= gelöst worden war. HarrisonT. Fin= ley hatte sich zwar sehr vorsichtig ausgedrückt, doch war es ein offe= nes Geheimnis, daß die Angehöri= gen dieser Streife nicht gerade »er= folgreich« gearbeitet hatten. Sogar hier lagen Anzeigen über Fälle von Korruption und Bestechung vor, und selbst von einem bevorstehen» den Untersuchungsverfahren war die Rede. Und so meldete sich Cal= lahan am folgenden Montag um sieben Uhr dreißig in seinem alten Polizeirevier zum uniformierten Dienst.

Einen Mann wie Daniel John Cal= lahan hätte man lange studieren können, ohne aus ihm dadurch viel schlauer zu werden. Rein äußerlich gesehen war er sechs Fuß groß und wog seine guten einhundertachtzig Pfund. Er hatte karottenrote Haare, helle, ziemlich schmale Augen und einen breiten Mund. Nichts Träu= merisches oder Idealistisches war an ihm zu bemerken, keine Spur

von Einfallsgabe oder Phantasie. Vor allem aber wäre es äußerst schwierig gewesen, etwas von sei= nem inneren Stolz zu entdecken. Dabei war gerade dieser Stolz so sehr ein Teil von ihm wie etwa sei» ne Hände; hitzig und brennend, aber tief in seinem Inneren ver= schlössen. Einem solchen Stolz zu nahe zu treten, ist stets eine höchst gefährliche Angelegenheit. Bei Männern wie Callahan hat der Stolz die Macht, den Charakter völlig zu entstellen und zu verzerren. Callahan nahm seine dienstlichen Befehle entgegen. Und so begann er auf der Fletcher Avenue, zwischen der Pearl Street und Naples Street, wieder seinen regulären, monoto= nen Streifendienst zu versehen, und sein Gesicht war noch ein wenig härter geworden, mit einem tücki= sehen Glitzern in den Augen. Jetzt wieder in Uniform, schlichtete er die kleinen alltäglichen Streitigkei= ten und jagte in den Gassen und Hinterhöfen hinter Lausbuben her. Zweimal stündlich rief er beim Re= vier an, nahm Betrunkene fest und erteilte die ihm zustehenden klei= nen Anweisungen, und bei alledem versuchte er, das Gefühl der Schan» de zu vertuschen, das an seinem Herzen nagte.

Hitzeflimmernd und glühend zog

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Thomas Walsh

der 4. Juli herauf, US=Amerikas größter oder zumindest turbulen» tester Nationalfeiertag. Den ganzen Vormittag hindurch krachten ohren= betäubend Salutschüsse und Platz= patronen, Knallfrösche platzten in knallenden Ketten. Gegen ein Uhr mittags waren Callahans Ohren gegen den Lärm bereits so abge= stumpft, daß er sich zuerst gar nicht bewußt war, was diese anderen Geräusche zu bedeuten hatten. Sie klangen schärfer und durchdringen» der, aber nicht übermäßig laut. Als er um die Ecke der Tiller Street bog, sah er zunächst vor sich nur die staubige, von Menschen wim= melnde Straßenschlucht. Am Stra= ßenrand standen Schubkarren aller Art aufgereiht, und nur in einer klaffenden Parklücke, da, wo zwei Wagen fehlten, entdeckte Callahan plötzlich einen Mann, der grauen» haft verkrümmt quer über dem Bordstein lag. Mit den Armen und dem Gesicht hing er vornüber im Rinnstein, und auf der gegenüber» liegenden Seite setzte sich gerade eine schwere Limousine in Bewe» gung und fuhr schnell davon. Callahan gelang es gerade noch, drei Schüsse abzugeben, ehe der Wagen in die nächste Seitenstraße hineinjagte. Beim Abbiegen fegte ihm aus dem Auto die kurze Salve einer Maschinenpistole entgegen.

Es schien geradeso, als ob kleine Zündholzflämmchen aufflackerten und sich schwach von dem gleißen» den Sonnenlicht abhoben. Callahan schwankte, als ob ihn ein mächtiger Windstoß erfaßt hätte. Er starrte zum Himmel, wo unzählige blaue Flecke phantastisch zu tanzen und flimmern schienen. Mühsam ver» suchte er sich aufzusetzen. Um sich herum hörte er ein einziges tosen» des Durcheinander von schreienden Stimmen und eilig davontrampeln» den Schuhen. Und dann stand ein weißgekleidetes Mädchen vor ihm, kühl und groß, das ihm unbedingt auf die Beine helfen wollte, wäh» rend er nach seinem Revolver ta» stete.

»Finger weg!« bemühte sich Calla» han, sie anzufauchen. »Zum Teufel, was wollen Sie eigentlich?« Ob er es nun wirklich so schroff hervorbrachte, wußte er selber nicht recht. Als er dann wieder auf den Beinen stand, begann sich der ganze Gehsteig um ihn zu drehen und wie betrunken zu schwanken, so daß Callahan todsicher wieder umgefallen wäre, wenn sich das Mädchen und ein kleiner dicker Kerl nicht an seine Seite geschoben und ihm stützend unter die Arme ge= griffen hätten. Sie halfen ihm quer über die breite Fletcher Avenue hin» weg, in ein niedriges Treppenhaus

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und dann in einen dämmrigen,

kühlen Raum hinein, in dem rings an den Wänden Korbsrühle und in der Mitte ein Tisch mit einem Pak= ken illustrierter Zeitschriften stan» den. Dann überfiel ihn der erste rei= ßende Schmerz, und er verlor das Bewußtsein.

Callahan erwachte in einem kleinen weißgetünchten Raum, der ihn von da an für drei ihm unendlich lang erscheinende Wochen gefangenzu= halten schien. Dank der rührend um ihn besorgten Krankenschwe= stern hatte er nichts anderes zu tun als zu essen, zu schlafen und Zei» tungen zu lesen.

Wie sich herausstellte, war der Mann im Rinnstein von einem gan= zen Hagel von Geschossen aus einer Maschinenpistole durchsiebt wor= den. Little Abe Mowrer — das war sein Name gewesen — hatte bei einer ganzen Zahl von Rackets, organisierten Erpressergeschäften, seine Hände im Spiel gehabt. Die Zeitungen vertraten die Ansicht, er habe außerdem versucht, beim Spielautomatengeschäft mitzumi= sehen, und deshalb hätte Kid Num= bers ihn sich aufs Korn genommen, ein wenig allzu gründlich. Callahan las all dies mit lebhaftem Interesse und bitterer Genugtuung. In Callahans früheren glorreichen

Zeiten war er Kid Numbers oft be» gegnet. Es hatte sich nicht eben um herzliche Begegnungen gehandelt. Nur rein zufällig waren sie in Ho» telbars aneinander vorübergegan» gen, lediglich mit einem flüchtigen Kopfnicken oder ein nicht weniger flüchtiges »Hello« austauschend. Numbers, ein blaßgesichtiger, hage» rer Rowdy, hatte überall in der Stadt das Spielautomaten=Racket aufgezogen und unter seine Kon= trolle gebracht. Auf diesem Gebiet war Kid Numbers quasi ein Genie. Ansonsten war er ein ruhiger, wenn auch aalglatter Typ und keineswegs furchterweckend. Bemerkenswert an ihm war allein seine Phobie vor Krankheiten. Ganze Wochen ver» brachte er unter ärztlicher Beobach­tung in Krankenhäusern, warf Tau» sende von Dollars für Ärzte hinaus, für Spezialisten ebenso wie für Ge= sundbeter und Quacksalber. Stets trug er ein Thermometer in der Та» sehe, und Callahan hatte ihn einmal überrascht, als er mit bleichem, fie» berhaft gespanntem Gesicht an sei» nem Puls fingerte. Sogar in aller Öffentlichkeit schluckte er Pillen und trank niemals etwas anderes als Milch.

Callahan wußte, daß Numbers das Spielautomaten=Racket kontrollier» te, genausogut, wie es die Zeitun» gen wußten und das Police=Head=

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quarter, aber kein Mensch hatte jemals etwas dagegen unternom-men. Und warum nicht? Einem je= den hätte Callahan vorrechnen können, daß dieser Schieber wö= chentlich 50000 Dollar vereinnahm-te. Unzählige Nickels und Dimes und hin und wieder ein Quarter ergaben zusammengenommen diese erstaunliche Summe. Natürlich floß nicht die ganze Summe in seine eigene Tasche; da Kid aber ein gu­ter Geschäftsmann war, erhielt er für das, was er ausgab, die vollen Gegenleistungen. Callahan verzog sein Gesicht zu einem säuerlichen Lächeln, als er weiter las, daß der Commissioner, wie er öffentlich ankündigte, darauf aus war, Kid Numbers zu fassen. So kinderleicht diese Aufgabe auch aussehen mochte — schon bald würde sich zeigen, wieviel Protektion für auch nur einen kleinen Teilbetrag von fünf­zig Mille käuflich war. Selbstver­ständlich würde sich Kid Numbers jetzt für eine Weile hinter die Ku­lissen zurückziehen, aber Callahan wäre jede Wette eingegangen, daß das Spielautomaten-Racket munter weitergehen und die Fäden alle in Kids Händen zusammenlaufen wür­den, wo immer er sich auch aufhal­ten mochte.

Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus nahm Callahan seine

Streifengänge auf der Fletcher Ave­nue wieder auf. Diese Art Tätigkeit festigte in ihm die Überzeugung, daß es richtig gewesen war, von Anfang an alles mit Mißtrauen zu betrachten. Gute Polizeiarbeit, hatte dieses hohe Tier von einem Com­missioner gesagt — und was bekam er, Callahan, dafür, daß er sein Le­ben aufs Spiel setzte? Die Lause­jungen, Schubkarren, Lärm und Hitze — das war alles. Während­dessen saß Finley im Polsterstuhl in seinem Büro und gab Interviews, Charley Kirk schwamm und fischte nach Herzenslust in Gebirgsbächen; bei seinem fetten Gehalt konnte er sich das ja ohne weiteres leisten. Callahan hingegen watete durch Mühsal und Gestank, und während der trübselig sich abspulenden Kette der Tage fraß sich die Wunde in seinem Herzen immer tiefer ein. Gute Polizeiarbeit! Callahans Lip­pen verzogen sich zu bitterem Hohn, und dieser Ausdruck wich nur noch selten von seinen verkniffenen Lip­pen.

Nachdem er zwei Wochen lang sei­nen monotonen Patrouillendienst versehen hatte, blieb er eines Tages vor einem Haus in der Fletcher Avenue stehen. Das blanke Mes­singschild neben der niedrigen Haustür trug die Aufschrift Dr. A. F. Moore. Callahan, der dieses

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Schild früher zwar schon oft be= merkt hatte, war vor der Schießerei niemals drinnen in diesem Hause gewesen. Als er jetzt das Warte* zimmer betrat, schlug irgendwo ein melodisches Türgeläute an. Einen Augenblick später erschien die Sprechstundenhilfe. »Oh, der Polizist von damals«, sag= te sie, als sie ihn erkannte. »Wie geht es Ihnen denn jetzt?« »Ausgezeichnet«, antwortete Cal= lahan. »Ich wollte mich heute nur bedanken, daß Sie mir damals ge= holfen haben, Sie und der Doktor.« Das Mädchen hatte sich gegen den Tisch gelehnt und klopfte mit einer Karteikarte gegen ihr Kleid. Rei= zend sah sie aus in ihrer weißen Tracht. Eigentlich war sie für Calla= hans Geschmack ein wenig zu groß, aber gertenschlank und von einer Art leicht drahtiger, jedoch graziö= ser Geschmeidigkeit. Hinter ihr in der Tür tauchte Dr. Moore auf, hemdsärmelig, eine brennende Zigarette zwischen den Lippen. Er war nicht nur glattrasiert, sondern auch spiegelblank kahl= köpfig; an seinem geradezu sterilen, makellosen Aussehen erkannte man in ihm sofort den Arzt. Callahan schätzte ihn auf etwa Sechzig — ein untersetzter, lebhafter und ein wenig undurchsichtiger Typ. »Hallo«, sagte er zu Callahan und

kniff ein Auge zu, »Cops sind nicht so leicht umzubringen, eh? Sieben zähe Leben — wie eine Katze.« Callahan grinste. »Wäre gut, wenn Sie gewisse Kerle auch davon über= zeugen könnten. Die könnten sich dann eine Menge Mühe und ver= geudete Patronen ersparen.« »Well«, erwiderte der Doktor und musterte ihn kritisch, »da müssen Sie schon selber auf der Hut sein.« Er warf einen Blick auf das Mäd= chen, blinzelte zu Callahan hinüber und wandte sich wieder zur Tür. »Ich bin im Sprechzimmer, wenn Sie hier mit ihm fertig sind, Judie.« Nachdem er gegangen war, richtete sich Judie von der Tischkante auf, an die sie sich gelehnt hatte. Ihr Haar, soweit es für Callahan sicht= bar war, schimmerte hell unter ihrer Haube hervor. Sie hatte eine nied= liehe kleine Stupsnase und einen jugendlich frischen Mund, so daß die nüchterne, sachliche Atmosphä= re, die sie ausstrahlte, Callahan ir= gendwie nervös machte. »Ich hoffe, Sie werden bald wieder völlig hergestellt sein«, sagte sie. »Das bin ich ja jetzt schon«, ant= wortete Callahan. Erblickte auf seine Uhr und stellte fest, daß von seiner Mittagspause noch ganze zehn Mi= nuten übriggeblieben waren. Nach weiteren fünf Minuten kam er zu dem Schluß, daß dieses Mädchen

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offenbar nicht zu dem Frauentyp gehörte, der ihm durch Anhimmeln, durch Parfümwolken und Finger= nägel, die sie in einen roten Farb= stoff getaucht zu haben schienen, den Magen umdrehen würde. Auf seine Frage, was sie Donnerstag abend vorhätte, blickte Judie zunächst ein wenig erstaunt, dann jedoch leicht amüsiert drein. »An sich nichts Be= sonderes«, sagte sie, und Callahan meinte, das träfe sich ausgezeichnet, er würde sie also um acht Uhr ab= holen.

»Nun«, sagte Judie, »ich weiß wirk= lieh nicht, ob —« »Halb neun würde auch genügen«, erklärte ihr Callahan. Eigentlich machte er sich nicht allzuviel aus Mädchen, aber in gewisser Hinsicht war er ausgesprochen altmodisch. Manche Dinge hielt er einfach für selbstverständlich, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Zum Beispiel war es für ihn eine feststehende Tatsache, daß jedes Mädchen hell begeistert sein müßte, wenn er sie ausführte. Adrett und allerliebst anzuschauen stand sie immer noch da und sah ihm nach, während er hinter sich die Tür ins Schloß zog. Die leise Unsicherheit war nicht aus ihrem Gesicht gewichen, und Callahan hätte nur zu gerne gewußt, warum.

Dem ersten Donnerstag folgte ein zweiter, und bald pflegten sie sich dann auch samstags zu treffen. Alsbald waren ihre Verabredungen zu einer festen Gewohnheit gewor= den, bis Callahan zum Nachtdienst eingeteilt wurde. Nun blieben nur noch die Sonntage übrig, und da stellte es sich heraus, daß Judie sonntags stets etwas anderes vor= zuhaben schien. Bereits nach einer Woche begann sie Callahan sehr zu fehlen, und er machte sich seine Gedanken um sie. Zu gern hätte er gewußt, was sie an diesen Sonn= tagen tat. Und dann, an einem Frei= tagabend, als Dr. Moore noch spät abends Sprechstunde hielt, gelang es Callahan, hinter das Geheimnis ihrer sonntäglichen Vorhaben zu kommen.

Dieses Geheimnis entpuppte sich in Gestalt eines stattlichen jungen Mannes mit einem schmalen, dunk= len Künstlerschnurrbart, der seine Limousine vor Dr. Moores Praxis parkte. Das grüne Kreuz auf dem Nummernschild wies ihn als Arzt aus. Er verschwand im Haus und kam kurz darauf mit Judie zusam= men zurück. In offensichtlich aller= bester Laune stiegen sie ein und fuhren davon.

Eine Stunde später begegnete Cal= lahan Dr. Moore, als dieser die Fletcher Avenue daherkam, die

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ewige Zigarette zwischen den Lip» pen und in der Hand seine kleine schwarze Ledertasche. Callahan begrüßte ihn mit mürri= scher Miene, freute sich aber, mit ihm ein paar Worte wechseln zu können. »Heißer Tag heute, eh?« sagte er.

»Yeah, verflixt heiß«, stimmte der Doktor zu, »verdammt heiß sogar, Callahan.« Er schob seinenPanama= hut ins Genick und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Nicht ge= rade das gesündeste Wetter für je» manden, der es mit dem Herzen zu tun hat. Dem alten Pat Doyle geht's hundsmiserabel.«

»Dem aus der Naples Street?« frag= te Callahan ohne sonderliches In= teresse. »Ich dachte, der wäre be= reits ausgezogen — das Haus wurde doch schon letzte Woche beschlag» nahmt.«

Mit seinen Gedanken war er ganz woanders; in seinem Innern nagte der Gedanke an Judie und den Mann mit dem großen Wagen. Als er sich bei dem Doktor vorsichtig nach ihm erkundigte, bemühte er sich, seiner Stimme einen möglichst unbefangenen Klang zu geben. »Ach, Sie meinen Travers«, sagte der Doktor, »J. Miles Travers. Ja, der war Internist in dem Kranken» haus, in dem Judie ausgebildet wurde. SeithersindsiealteFreunde.«

»Hm, hm«, brummte Callahan nur, aber hinter seinem Rücken um= klammerten seine Hände den Gum» miknüppel nur noch fester. »Hatte ich mir schon gedacht.« Der Doktor warf die Zigarette in den Rinnstein. »Übrigens ein net» ter Bursche, dieser Miles Travers. Zudem recht aufgeweckt; der wird es im Leben noch zu was bringen.« Irgend etwas begann sich unerträg» lieh eng wie ein Eisenreifen um Cal= lahans Brust zu legen. Mit wilder Verzweiflung dachte er daran, daß Judie smart genug sein würde, die Dinge so zu sehen, wie sie in Wirk» lichkeit lagen, und daß sie genau wußte, warum sie ihre Sonntage nicht mit einem dummen kleinen Straßenpolizisten vergeudete, der ihr im Grunde vollkommen gleich» gültig war. Der junge Dr. Travers, ja, der brauchte natürlich nicht den Rest seines Lebens die Fletcher Avenue auf und ab zu patrouillie» ren; der würde im Leben immer höher und höher klettern, und wenn Judie auch nur einen Funken Verstand besaß, würde sie sich an ihn hängen.

»Nun, dann will ich mal zusehen, daß ich weiterkomme«, sagte der Doktor. »War heute ein anstren» gender Tag für mich.« Callahan blickte ihn neugierig an, wodurch sich der heftige Verdruß

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in seinem Inneren ein wenig mil= derte. »Sie müssen doch schon 'ne ganz schön lange Zeit hier gewohnt ha» ben, Doktor. Manchmal frage ich mich, wie Sie das überhaupt ausge= halten haben.« »Volle zweiunddreißig Jahre«, be= stätigte Dr. Moore und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger ge= dankenvoll das Kinn. »Ja,zweiund= dreißig Jahre, das ist wahrhaftig 'ne lange Zeit. Ich kam damals hierher, weil mir einfach das Geld fehlte, um anderswo eine größere, luxu» riösere Praxis anzufangen. Nach ein oder zwei Jahren wollte ich dann umziehen, aber aus mancherlei Gründen wurde schließlich doch nichts daraus. Schwer zu sagen, warum eigentlich nicht. Wahr= scheinlich habe ich mich hier zu sehr eingewöhnt; so wie man sich an die meisten Dinge im Leben gewöhnt, Callahan.« Er lächelte va= ge und traurig, und dann winkte er grüßend, blinzelte mit den Augen und setzte seinen Weg fort. Callahan ging weiter die Tiller Street entlang. In einem dunklen Torweg blieb er stehen und rauchte nachdenklich eine Zigarette. Gegen» über mündete eine Gasse ein. Als er seine Zigarette gerade zur Hälfte geraucht hatte, tauchte in dieser Gasse ein Wagen auf, aus dem ein

schlanker junger Mann stieg. Cal» lahan erkannte ihn im Licht der Scheinwerfer, und seine Augen zogen sich zu einem schmalen Spalt zusammen. Der schlanke junge Mann war niemand anderer als Georgie Cane, und Georgie Cane war Kid Numbers Geldeintreiber, sein »Kassier«.

Callahan drückte die Zigarette aus und verharrte unbeweglich in der dunklen Toreinfahrt. Von dort aus beobachtete er, wie Georgie Cane die Scheinwerfer abstellte und den Wagen an der Einmündung der Gasse im Halbdunkel stehenließ. Dann tauchte seine Gestalt hinter dem Wagen unter, während Calla» han hinter ihm bereits auf raschen, leisen Sohlen die Straße überquerte. Er hastete durch die Gasse bis zur nächsten Querstraße und fand sie gähnend leer. Georgie Cane schien wie vom Erdboden verschluckt. Callahan wartete volle zwanzig Minuten lang, den Rücken gegen einen Zaun gelehnt. Dann endlich tauchte Georgie Cane wieder auf der Straße auf. Er war aus einem kleinen roten Ziegelhaus getreten, das im Parterre einen kleinen schmierigen Zigarrenladen beher» bergte. Darüber lag nur ein einziges Stockwerk, das offenbar als Woh» nung diente. Callahan zog sich vor» sichtig durch eine offenstehende

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Tür hinter den Zaun zurück, bis Cane vorbeigegangen war und sei» nen Wagen startete. Er trat erst wieder auf die Straße, als der Wa= gen leise davongeglitten war. Dann blickte er nachdenklich auf das rote Ziegelhaus. Er ging aber nicht etwa gleich hin= über und schnüffelte dort herum. Callahan war ein viel zu routinier= ter Сор, um sich die Sache durch eine solche Tölpelei zu verpatzen. Wenn nämlich Kid Numbers wirk= lieh dort wohnte, wenn diese Woh­nung über dem Laden die Zentrale war, in der alle Fäden zusammen» liefen, dann würde Georgie Cane zweifellos wiederum dort auftau» chen und Callahans Verdacht er» härten. Callahan hatte Geduld; er konnte warten.

Drei Nächte lang verbrachte er viele Stunden in dieser Gasse und beob» achtete das ihm verdächtig erschei» nende Haus, bis auch der letzte Lichtschein darin erlosch. Auf den ersten Blick schien es überhaupt nichts Auffälliges an sich zu haben, außer, daß sich manche Kunden un= gewöhnlich lange im Laden aufhiel» ten. Aber niemals war Cane darun» ter oder sonst jemand, den Callahan kannte. Um elf Uhr pflegten die Lichter zu erlöschen, und dann ver» sank das Haus in Ruhe.

Callahan wachte geduldig Tag für Tag. Manchmal kam es ihm vor, als ob er lediglich seine Zeit ver» geudete, aber er war um so fester entschlossen, jeden Schritt, der hier zu unternehmen war, selber zu tun. Was hieß denn eigentlich gute Po» lizeiarbeit? Ob der Commissioner wohl der Meinung war, Kid Num» bers zu fassen, würde auch darunter fallen? Der hohe Boß, der da hin» ter seinem Schreibtisch hockte und Männer abkanzelte, die weitaus tüchtiger waren als er selbst; der keine blasse Ahnung hatte, worum es überhaupt ging; den Callahan mit jeder Faser seines Herzens haß» te und verachtete — was würde Harrison T. Finley wohl für Augen machen, wenn er, Callahan, Kid Numbers schnappte? Dieser Gedanke erfüllte ihn in den langen Nächten der folgenden Wo» che mit einer seltsamen Genug» tuung . . . Callahan war jetzt wieder zum Nachtdienst eingeteilt worden, von Mitternacht bis acht Uhr früh. Hin und wieder im Morgengrauen begegnete er Doktor Moore. Irgend» wo auf der Fletcher Avenue war ein Baby gerade dabei, das Licht der Welt zu erblicken oder für irgend» einen alten Mann am Faragut Place war es erloschen. Auf dem Hinweg winkte der rundliche Dr. Moore, und wenn er von seinen Besuchen

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zurückkehrte, blieb er bisweilen stehen, um eine Zigarette zu rau= chen und ein wenig zu schwatzen. Mit der Zeit begann Callahan, sich schon im voraus auf die Begegnung mit dem Arzt zu freuen. Sie hockten sich dann zusammen auf eine Tür= schwelle oder auf den Schaukasten vor der Tür des Selbstbedienungs= ladens und unterhielten sich mit vertraulich leiser Stimme. Sie dis= kutierten über viele Dinge — Cal= lahan, der einfache Straßenpolizist und der Doktor. Über Politik und Frauen, über Sport und mitunter sogar über Philosophie. Der Doktor lebte in einer ganz merkwürdigen Vorstellungswelt. Er war mit seinem Dasein durchaus zufrieden und vertrat die Überzeu= gung, daß das Leben nicht von Reichtümern abhängig war. Im Ge= genteil, meist war es sogar ausge= sprochen durchschnittlich, und es blieb einem gar nichts anderes übrig, als sich, so gut es eben ging, hindurchzuquälen. Natürlich hatte es auch seine guten Seiten, aber diese waren selten so verlockend und glitzernd, wie sie von den Dich= tern dargestellt wurden. Ebenso hatte es seine schlechten Seiten, aber diese waren wiederum niemals ganz so düster, wie sie zunächst aussahen. Callahan hingegen, dem noch das ungestüme Blut der Ju=

gend durch die Adern pulsierte, verachtete diese ihm zu abgeklärte Lebenseinstellung, aber im Laufe der Zeit entwickelte sich in ihm für den alten Doktor eine geradezu rührende, beschützende Zuneigung. In den langen, endlosen Stunden, ehe die Morgendämmerung herein= brach und das Leben wieder er= wachte, grübelte er oft darüber nach, wie das Leben des Doktors wohl verlaufen sein mochte. Zweiunddreißig Jahre! Ein Schau= der überlief ihn, wenn er sich das vorstellte. Auf seinen einsamen Streifengängen glaubte er mitunter zu spüren, daß die schäbigen alten Häuser der Fletcher Avenue ihn mit den in ihnen zusammengepferchten Nichtsnutzen und Versagern, Trun= kenbolden und Asozialen nahezu zu erdrücken schienen. Die Panik, die diese Vorstellung in ihm er= weckte, trieb ihn blindlings durch die Straßen. Er fluchte, weil er aus diesem Elend hier endlich heraus» kommen wollte und schwor sich, sich niemals mehr durch irgend et= was beirren zu lassen. Judie und der hohe Boß — handelten sie nicht beide nach dem gleichen Prinzip? Nimm dir, was du nur irgend krie= gen kannst, nütze jede erdenkliche Möglichkeit dazu aus, nütze sie schnell. Wer sich nicht selber half, dem half niemand und dem war

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auch nicht zu helfen. Keiner würde

sich um ihn kümmern, keiner wür= de auch nur einen Finger krumm machen. Steckte man erst einmal bis zum Hals im Dreck, so gab es niemanden, der einen wieder her= auszog.

Aber dann hatte der Doktor eines Samstagabends einen Brief von Judie für ihn. Sie schien sich Ge= danken zu machen, was aus ihm geworden und was mit ihm los war. Falls er morgen abend keinen Dienst haben sollte, würde sie ihn gegen sieben Uhr erwarten. Calla» han stieß ein kurzes spöttisches Lachen aus, als er den kurzen Brief beim Schein einer Straßenlaterne las. Eine großartige Chance für ihn, sagte er zu sich selbst, wirklich großartig!

Er war sich eigentlich nicht recht im klaren, warum er sich überhaupt die Mühe machte, bei ihr zu er» scheinen. In ihrem hellen Leinen» kleid und mit dem breitrandigen weißen Hut wirkte Judie noch dunk» ler und schlanker denn je. Ein An» flug stiller Zartheit umgab sie, den er vorher niemals an ihr bemerkt hatte. Sie fuhren mit seinem Road» ster zu einem Restaurant außer» halb der Stadt hinaus, wo sie schon einmal gewesen waren und wo man zu angemessenen Preisen ausge» zeichnet essen und tanzen konnte.

Judie verhielt sich auffallend still, so still, daß Callahan plötzlich der Gedanke kam, daß er sie langweilte und daß sie eifrig bemüht war, ihn endlich loszuwerden; daß ihr Schweigen weiter nichts war als die gezwungene Verlegenheit eines Menschen, der sehnlichst wünscht, ein lästiges Anhängsel loszuwer» den, und nicht so recht weiß, wie er es anfangen soll.

Auf dem Heimweg parkten sie am Rande einer dunklen, verlassenen Straße. Callahan hatte die Arme auf dem Lenkrad verschränkt und die Brust dagegen gelehnt. »Nun«, fragte er schließlich, »wie geht es dem Sonntagsfreund, wie geht es Miles? Hatte heute wohl aus» nahmsweise keine Zeit?« Judie schwieg einen Moment. »Nein«, sagte sie dann, »heute wollte ich mit Ihnen zusammen sein, Dan. Aber ich wußte gar nicht, daß Sie ihn überhaupt kennen.« Callahan lachte kurz auf. »Glaube durchaus, daß Sie das nicht gewußt haben«, sagte er. Dann beugte er sich zu ihr hinüber, faßte mit einer Hand ihr Kinn und küßte sie. Judie ließ es geschehen; sie blieb voll» kommen ruhig und unbeteiligt. »Warum haben Sie das getan, Dan?« fragte sie, und in ihrer Stimme lag ein Ton, den Callahan sich nicht erklären konnte.

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Thomas Walsh

»Warum?« sagte er wütend. Dun= kel und herausfordernd glänzten seine Augen. Der aufwallende Zorn in seinem Inneren ließ ihn rück= sichtslos werden; er wollte sie ab= sichtlich verletzen. »Dreimal dür= fen Sie raten, Schwesterchen. Schließlich habe ich 'ne ganze Men= ge Geld für Sie ausgegeben, 'ne Menge Zeit für Sie vertan. Dafür hab' ich ja auch mal was verdient.« »Ich verstehe«, erwiderte Judie ganz ruhig.

»So, wirklich?« meinte Callahan, »Dann ist es ja gut. Sie haben Ihr Spielchen mit mir getrieben; na schön, macht mir weiter nichts aus. Ich denke, wir haben uns gegen= seitig nichts vorzuwerfen. Ich woll» te nur, daß Sie die Sache im richti= gen Licht sehen.« »Ich glaube, das tue ich auch.« »Um so besser«, sagte Callahan nur. Während sie schweigend zurück» fuhren, genoß er verdrossen seinen Triumph. Vor ihrer Tür stellte er nicht einmal den Motor ab und war ihr auch nicht beim Aussteigen be= hilflich.

Am nächsten Tag prangte auf der Titelseite der Morgenzeitung Geor= gie Canes Bild. Er war in der Nacht zuvor von dem neu zusammenge= stellten Sondereinsatzkommando des neuen Commissioners ge=

schnappt worden. Jetzt hielt man ihn in Untersuchungshaft und ver» nahm ihn wegen des Mordes an Mowrer. Callahan konnte an die» sem Morgen lange im Bett liegen» bleiben und las die ganze Zeitung durch. In dieser Woche wechselte sein Dienst wieder auf die Schicht von vier bis Mitternacht. Als er um halb vier ins Polizeirevier kam, summte es dort wie in einem Bie» nenstock.

Ein stellvertretender Chief=Inspec= tor und zwei oder drei Mann vom Sondereinsatzkommando standen herum, und das Gerücht lief um, der Commissioner hätte gewisse Beweise, daß Kid Numbers unmit» telbar vor der Schießerei in der Fletcher Avenue gesehen worden war.

Die knisternde Spannung steckte selbst Callahan an; er fühlte, daß es höchste Zeit war, wenn er sei» ber und ganz allein den großen Coup landen wollte. Von seinem/ alten Posten in der Gasse aus be= obachtete er, wie um zehn Uhr drei» ßig der kleine dicke Mann, dem der Zigarrenladen gehörte, vor die Tür trat, sie hinter sich schloß und den» noch das Licht brennen ließ. Calla» han folgte ihm mit den Blicken, wie er die Straße hinunterging und in dem Lokal an der Ecke verschwand. Callahan schlenderte zu dem roten

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Сор Callahans Coup

Ziegelhaus hinüber und studierte die Nachricht, die mit Bleistift auf ein Stück Pappe gekritzelt und über dem Türknauf befestigt wor= den war. >Bin in fünf Minuten zu= rück<, lautete sie. Das feine Lächeln in Callahans Mundwinkeln ver= breitete sich über sein ganzes Ge= sieht. Er drehte den Türknauf und betrat den Laden.

Im Hintergrund, rechts vom Laden= tisch, befand sich eine Türöffnung, die mit einem fadenscheinigen grü= nen Vorhang verdeckt war. Er schlug den Vorhang beiseite und gelangte in eine enge Diele, an de= ren Seite sich eine Treppe hinauf= zog. Um das Knarren seiner Schritte auf den Stufen zu dämpfen, schlich Callahan ganz an deren äußerster Kante hinauf und erreichte fast lautlos den Treppenabsatz im ersten Stock. Dort oben war es ein wenig heller. Drei offene Türen zweigten von dem Treppenabsatz ab, und aus einer der Türen schwebte ein dünner Faden von Zigarettenrauch heraus. Callahan blieb davor ste= hen.

Gegen den unbestimmten weiß» liehen Schimmer des Bettes, gleidi drinnen neben der Tür, hoben sich die Umrisse eines hageren Mannes ab, der

n u r m i t Unterhemd und Unterhose bekleidet war. In der Hand, die über den Rand der Ma=

tratze hing, hielt er eine Zigarette. Callahan glaubte, nicht das leiseste Geräusch verursacht zu haben. Doch als er vor der Tür stehenblieb, wandte der Mann blitzschnell den Kopf, und der hagere Körper er= starrte. »Bleib schön ruhig hegen«, warnte Callahan und wog die Pistole in der Hand, »laß dir ruhig Zeit, Kid.« Der Mann, der da auf dem Bett lag, war groß und schlank. In seinem Unterzeug wirkte er wie ein unter= ernährter, knochiger junger Bursche. »Callahan«, sagte er mit weicher, ziemlich heiserer Stimme, »Calla= han im Kriegsschmuck eines lausi= gen Straßen=Cops.« »Allerdings«, knurrte Callahan, »und in diesem Kriegsschmuck nehme ich dich jetzt fest. Los, zieh dich an!«

Kid Numbers richtete sich im Bett auf und schwang die Beine über den Rand. »Wo steckt denn eigentlich dieser verdammte Patsy?« »Das nächste Mal«, sagte Callahan, »such dir als Aufpasser Heber einen Antialkoholiker. Patsy ist eben mal zu Smith 'rüber, um schnell einen zu kippen.«

Kid Numbers bedachte den dicken Patsy mit einer ganzen Serie von gesalzenen Flüchen. »Es dürfte euch übrigens schwer»

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fallen, mir irgend etwas anzuhän= gen, auch wenn du mich jetzt ein= kassierst, Callahan.« Callahan nickte. »Daran hege ich nicht den mindesten Zweifel. Los, zieh dich jetzt endlich an.« Kid zog eine Grimasse und schnaub= te verächtlich. »Okay«, sagte er, »aber hören Sie mir erst mal 'ne Minute zu, Calla= han. Ich hab' Little Abe nicht umge= legt, und auch auf Sie habe ich nicht geschossen. Ich hab' dafür ein Alibi, das weder Sie noch sonst jemand umschmeißen kann. Hab' mich nämlich nicht wohlgefühlt, verstehen Sie? Die ganze Woche über war ich überhaupt nicht in der Stadt, sondern auf 'ner Farm. Ich kann mindestens zehn Leute bei= bringen, die Ihnen das bestätigen.« »Klar«, sagte Callahan, »jeder, der so gerissen ist wie du, könnte das. Aber es ist leider etwas durchge= sickert, was dein Alibi auf reichlich schwache Füße stellt. Gerade ehe die Schießerei losging, hat dich nämlich der Commissioner auf der Fletcher Avenue gesehen. Bei mir hier brauchst du übrigens nicht zu singen. Dafür wird der Staatsan= walt bezahlt; der wird sich schon noch ausgiebig genug mit dir un= terhalten.«

»Ich weiß«, erwiderte Kid, »aber wollen wir beide nicht lieber erst

mal miteinander reden, Callahan?« Ungeduldig schlug er sich mit der Hand aufs Knie. »Sie sind jetzt ge= rade an einem Punkt angelangt, wo auch für Sie etwas abfallen könnte. Wenn Sie mich jetzt ver= haften, vergehen bestimmt volle zwei Monate, bis das Verfahren gegen mich überhaupt eröffnet wird. Selbst gegen Kaution läßt man mich inzwischen todsicher nicht wieder laufen, und darum werden Bur= sehen, die wie der kleine Abe eine Chance wittern, sich in das AuJ:o= matengeschäft einmischen, und ich weiß schon im voraus, daß sie es in Grund und Boden ruinieren wer= den.«

»Na, wenn schon«, brummte Calla= han. »Nun denken Sie mal scharf nach. Solange ich draußen bin, erhalte ich das Geschäft im Laufen. Im Knast hingegen kracht mir alles zusam* men. Demnach ist es mir also durch» aus was wert, draußen zu bleiben, Callahan. Es ist mir fünf Mille wert.«

»Fünf Mille?« Callahan hörte sich selbst mit den Zähnen knirschen. »Du mieser kleiner —« Wütend machte er eine unbeherrscht te Bewegung, um Kid aus dem Bett herauszuprügeln. Der Gangster zuckte jedoch mit keiner Wimper. Seine eiskalten schwarzen Augen

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Сор Callahans Coup

hingen an Callahans Gesicht. »Zehn Mille, das ist mein letztes Ange= bot«, sagte er. »Ein ganz schöner

Batzen, Callahan. Entweder Sie greifen zu, oder . . . « Callahan blieb dicht vor ihm ste= hen, schlug aber nicht zu. Irgend etwas hielt ihn zurück. Das wider= wärtige Bild von Harrison T. Finley war plötzlich vor ihm aufgestiegen. »In bar«, sagte Kid Numbers; sein knochiges, emporgerichtetes Gesicht war hart und gespannt; im trüben Schein der Straßenbeleuchtung, die von draußen hereinfiel, hatte es einen grauen Schimmer angenom= men. »Sofort und auf der Stelle, Callahan.«

Er stand auf und durchquerte auf bloßen Füßen das Zimmer. Aus einer Schublade holte er einen ge= bündelten, von einem Gummiband zusammengehaltenen Packen Geld= scheine hervor. Dann legte er sich aufs Bett zurück und schaltete an dessen Kopfende das Nachtlämp=

Wien ein. Callahan stand über ihn gebeugt. Sein Gesicht glänzte, als sei es mit öl eingerieben. In seinem Unter= bewußtsein gärte der Haß auf Fin= ley, der langsam immer stärker werdende Haß auf seinen Vorge= setzten. Wie ein Messer durch* schnitt dieser Gedanke sein Inneres. Ein blutiges Greenhorn war Calla=

han gewesen — gerade gut genug, als Sündenbock herzuhalten. Finley hatte die Macht, ihn zu vernichten; Finley, der nicht einmal ein voll* wertiger Сор war; der vom Polizei» dienst keine blasse Vorstellung hat= te; Finley, der nichts weiter konnte, als aufrechte Cops abzukanzeln und von ausgezeichneter Polizeiarbeit daherzuschwatzen und von ehren= haften Verdiensten, die er sich sel= ber zuschrieb; Finley mit seiner herablassenden verächtlichen Mie= ne, Finley . . .

In diesen Augenblicken ging in Cal= lahan eine seltsame Verwandlung vor. Sekundenschnell und dennoch klar und überdeutlich spürte er, wie sich etwas in ihm verzerrte. Es ge= schah außerhalb seines klaren Be= wußtseins, geradeso, als ob eine Kraft, die stärker war als er selbst, sein ganzes Denken umklammert hielt. Sein von Finley zutiefst ver= letzter Stolz bäumte sich in ihm auf und brachte ihn zu der flammenden Überzeugung, daß gerade jetzt der richtige Augenblick gekommen war, Finley dies alles zu vergelten. Es schien ihm so, als ob die Hand, die das Geld annahm, Harrison T. Fin= ley gleichzeitig mitten ins Gesicht schlug und ihn dadurch endlich überzeugte, daß Callahan ein Сор von Format war, ein weitaus bes= serer Polizist als er selbst, und

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nichts, was Finley auch immer tun mochte, würde jemals etwas daran ändern. Ganz sicher eine höchst merkwürdige und verworrene Lo= gik, aber Haß und Stolz sind nun einmal solche merkwürdigen und verworrenen Auswüchse der menschlichen Seele. Sie haben eine uralte innere Bindung zueinander und sind imstande, einen beleidig* ten Mann zu völlig unberechenba* ren Handlungen hinzureißen. Callahan stieg die Treppe hinunter und trat durch den Laden auf die Straße hinaus — allein! Mürrisch stapfte er über das holprige Stra= ßenpflaster und kämpfte gegen sei= ne eigene verhohlene Wut an. Zu seinen Rachegefühlen war jetzt noch eine bösartige Schadenfreude hinzugetreten; dessen war er sich durchaus bewußt. Vor der Messing* tafel von Dr. Moore blieb er stehen und blickte zu dem Licht hinauf, das noch im Wartezimmer brannte — ein Zeichen dafür, daß Judie noch nicht nach Hause gegangen war. Sie sollte —

Als er die Treppe hinaufstieg, hatte sein ganzer verworrener innerer Zorn sich plötzlich aus unerfindli* chen Gründen gegen Judie gewandt. Wild fühlte er ihn in seinen Schlä* fen hämmern. Die unmöglichsten Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Er hätte die Geldscheine Har*

rison T. Finley ins Gesicht schleu* dem, ihn niederschlagen und in die Gosse werfen mögen wie eine wi= derliche Ratte. Er würde es ihm schon noch zeigen. Zunächst aber wollte er jetzt zu dem Mädchen. Sie sollte sehen, daß er bare zehn* tausend Dollar in der Tasche trug. Was sie wohl davon halten mochte und von ihm, Callahan, dem ver* trottelten Straßenpolizisten? Sie kam gerade aus einem der hin* teren Zimmer heraus. Ihr Gesicht erstarrte, als sie ihn erkannte. Um zu verhindern, daß sie ihn einfach ignorierte und an ihm vorbeiging, mußte er sie an beiden Händen festhalten.

»Bitte«, sagte sie mit eisiger, frem* der Stimme, »lassen Sie mich vor» bei, Mr. Callahan.« »So, soll ich das?« versetzte Calla* han. »Soll ich zulassen, daß Sie ein* fach an mir vorbeigehen?« Irgend* wie wußte er dann nicht mehr, was er eigentlich sagen sollte, und starr* te sie nur töricht an. Auf einmal brach in Judie die Empörung her* vor. Er sah, wie ihre Augen auf* flammten, als sie sich heftig aus sei* nem Griff loszumachen suchte. »Wollen Sie mich gefälligst loslas* sen? Und zwar sofort!« »Keineswegs«, höhnte Callahan, »noch nicht, mein Schatz. Ich möchte Ihnen nämlich erst noch ein paar

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Worte sagen, Ihnen und Ihrem Sonntagsfreund. Sie scheinen ja ganz schön vernarrt in ihn zu sein, was? Alte Freunde! Ha — das müs= sen Sie schon jemand anderem weismachen als ausgerechnet mir. Ich war vermutlich nur so eine Art Lückenbüßer. Sie beide haben wohl angenommen, ich hätte keinen Funken Verstand — eh?« Ein gefährlicher Zug erschien um ihren Mund. »Mr. Callahan«, sagte sie, »sind Sie etwa der Ansicht, daß Sie das auch nur im mindesten et» was angeht? Ich bin Ihnen keinerlei Erklärung schuldig und sehe über» haupt keinen Grund, warum ich mich vor Ihnen rechtfertigen soll= te . . .«

Callahan schüttelte sie und schrie sie an: »Der denkt doch nicht im Traume daran, Sie jemals zu heira= ten! Ich vermute vielmehr, e r . . .« »Doch«, schrie Judie zurück, »gera= de das will er nämlich, und morgen werde ich ihm endgültig mein Ja= wort geben. Genau das werde ich tun, Mr. Callahan.« »Natürlich«, entgegnete Callahan mit wildem Gelächter, »warum auch nicht? Mich — mich würden Sie ja doch niemals heiraten. Dann hätten Sie nämlich kein Dienst» mädchen, keinen Straßenkreuzer; es gäbe für Sie auch keine Europa» reisen, geschweige denn einen Hau»

f en Kleider — Pariser Modelle, ver» steht sich. Alles, was ich Ihnen bie» ten könnte, wären ein paar Kinder, ein gemietetes Haus mit bestenfalls sechs Zimmern und eine alte Ben» zinkutsche. Haben Sie vielleicht ge= dacht, ich hätte das alles nicht schon von Anfang an geahnt? Gleich vom ersten Moment an habe ich Sie rieh» tig eingeschätzt!«

»Sie heiraten!« fuhr Judie auf. »Und wenn Sie der letzte Mann auf Erden wären, nicht einmal dann!« Er schüttelte sie immer noch hin und her und schrie, daß sie das noch bereuen würde; er brüllte es ihr in die Ohren, ohne darauf zu achten, was er eigentlich schrie. Judie ver» suchte, ihn noch zu übertönen; ihre Stimmen steigerten sich bis zu einem gegenseitigen wilden Keifen und Brüllen.

»Glauben Sie mir doch endlich«, schrie Callahan völlig außer sich und vollkommen verzweifelt, »ich habe Sie wirklich geliebt — dumm wie ich nun einmal war. Aber schon damals haben Sie sich nicht das mindeste aus mir gemacht. Ich war ja nur . . .« »Nein, ich war die Dumme!« schrie Judie zurück. »Wundern Sie sich etwa darüber, Mr. Callahan? Ich habe Ihnen doch eigens jenen Brief geschrieben, sogar gestern abend habe Sie noch gefragt, warum.. .«

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Callahans Lippen wurden plötzlich trocken. Er versuchte, sie mit der Zunge zu befeuchten. »Das ist doch alles gar nicht wahr«, sagte er wie betäubt. »Was!« schrie Judie mit bebender Stimme. Hell flammte der Zorn in ihren Augen. »Stellen Sie sich doch nicht dümmer als Sie sind, Mr. Cal= lahan. Aber damit ist es jetzt vor= bei. Jetzt habe ich nur noch Verach= hing für Sie übrig. Sie sind ein wi= derlicher Mensch.« »Aber Judie«, bettelte Callahan und versperrte ihr den Weg zur Tür, »so hören Sie mir doch zu! Wenn Sie das gestern abend wirklich so gemeint haben, wie können Sie Ihre Meinung dann so plötzlich än= dern?«

»Das könnte ich auch nicht«, gab Judie zurück, »glauben Sie das! Aber glauben Sie etwa, ich ließe mich von Ihnen jemals wieder der= art zum Narren halten? Nicht ein einziges Mal haben Sie mir gesagt, daß Sie mich lieben oder daß Sie mich heiraten wollen. Sie sind zwar mit mir ausgegangen, sind mit mir herumgezogen, aber niemals, nie= mals . . .«

»Verstehen Sie mich doch«, sagte Callahan jetzt mit ruhiger Stimme und streckte ihr beide Hände ent= gegen. »Gestern abend habe ich Sie angelogen. Ich konnte einfach nicht

anders, weil ich Angst hatte, Judie, heillose Angst. Ich dachte, Sie wür= den mich todsicher auslachen, wenn ich Ihnen ein solches Geständnis machte, und da brachte ich es ein= fach nicht übers Herz, einfach nicht über die Lippen. Ich kann nun ein= mal nicht aus meiner Haut heraus. Ich war einfach nicht fähig, Ihnen zu sagen, daß ich Sie liebe, denn dadurch hätte ich mir eine viel zu große Blöße gegeben — ich hätte mich gefühlt, als ob ich buchstäblich nackt vor Ihnen dagestanden wäre.« Der Doktor kam ins Zimmer herein und blinzelte ihnen zu. Er räusperte sich und machte unklare Andeutun= gen, daß er zu Pat Doyle in der Naples Street müsse. Noch unter der Tür blieb er stehen und warf über die Schulter einen Blick zu= rück. Bevor er die Tür endgültig schloß, sah er Callahan eindringlich an, schlug die Augen gen Himmel und schüttelte mißbilligend den Kopf.

»So, Sie konnten einfach nicht!« sagte Judie. »Wirklich jammerscha= de! Glauben Sie etwa, ich hätte Ihnen das abgenommen? Glauben Sie, ich würde es Ihnen hier %nd heute abnehmen? Frauen sind an= spruchsvolle Wesen, Dienstmäd= chen, Luxuslimousinen, Europarei= sen, nicht wahr? Was sind Sie doch für ein gewiegter Frauenkenner,

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Mr. Callahan. Sie haben das alles ja so genau gewußt!« Ganz dicht trat sie vor ihn hin. »Wenn ich einen Mann wirklich liebe, küm= mert es mich nicht, ob er einen Cent oder eine Million in der Tasche hat. Ob Sie mir das nun glauben oder nicht!«

Dies war keine Frage; es war eine unumstößliche Feststellung. Es schien, als beobachte sie aufmerk= sam seinen Mund und begann so= gleich wieder zu sprechen, als sie sah, daß er etwas erwidern wollte. »Oder nehmen Sie etwa an, daß ich mir auch nur das mindeste aus einem Mann mache, der von mir eine derartige Meinung hat? Sie sind wirklich eine allzu komische Type, Mr. Callahan, geradezu zum Lachen. Sie haben wohl überhaupt keine Augen im Kopf? Starrsinnig und dumm sind Sie, wie all die an= deren auch. Warum haben nicht auch Sie versucht, den armen Dok= tor Moore einzuschüchtern, genau wie die anderen?« »Welche anderen?« fragte Callahan. »Cops? Warum waren die denn hier?«

»Warum die denn hier waren?« äffte Judie ihn höhnisch nach. »Noch nicht einmal das wissen Sie, Mr. Callahan. Man weiß schon jetzt, der Gangster, der auf Sie ge= schössen und den anderen Mann

getötet hat, wird sich darauf hin= auszureden versuchen, er sei an jenem Tag auf dem Land gewesen. Aus einem seiner Leute, den sie ge= schnappt haben, hat man aber her= ausgeholt, daß der Doktor ihn zu= fällig ein paar Minuten vor der Schießerei in einem Wagen auf der Fletcher Avenue gesehen hat. Es war nämlich jener Mann, der stän= dig in seine Praxis kam und über alle möglichen Leiden klagte. Der Doktor kannte ihn nur allzugut.« Callahans Stimme schlug zu einem Krächzen um. »Kid Numbers — es war doch nicht etwa Kid Numbers, Judie?«

»Doch, genau der war es, jedenfalls nannten sie ihn so.« Der Ausdruck ihrer Augen veränderte sich, als sie ihm in sein sommersprossiges, plötzlich grau und fahl werdendes Gesicht blickte. »Was ist mit Ihnen?« »Pat Doyle«, würgte Callahan her= vor. »Pat Doyle in der Naples Street! Der Doc hat doch eben ge= sagt, daß er zu ihm wolle.« »Ja, und —«

Callahans Mund begann hilflos zu zucken. »Pat Doyle, der ist ja be= reits gestern ausgezogen, Judie. Das Haus ist längst beschlagnahmt wor= den. Das Haus steht jetzt leer! Wenn jemand den Doktor ange= rufen hat, war es nie und nimmer

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Pat Doyle. Der hätte ihm doch sei= ne neue Adresse angegeben. Es muß jemand anderer gewesen sein, der den Doktor in das leere Haus locken will!« Erschrockene Blässe überflog ihre Wangen. Sie versuchte, sich an ihn zu klammern, Callahan aber machte sich gewaltsam von ihr los. »Poli= zei«, stieß er heiser hervor und riß die Tür auf. »Rufen Sie sofort die Zentrale an, Judie! Geben Sie de= nen dort die Adresse mitHausnum= mer der Naples Street!« Mit einem einzigen riesigen Satz sprang er die Treppe hinunter. Kid Numbers war ein vorsichtiger Mann. Ein Haus, das vollkommen leerstand, und dann - irgendwo in einer finsteren Diele! Der Knall des Pistolenschusses würde ver= schluckt, von den Wänden aufge= sogen werden!

Jetzt wußte Callahan allzu genau, daß nur Kid Numbers dahinter= stecken konnte. Er selbst war es ja gewesen, der ihm erzählt hatte, der Commissioner habe einen Zeugen. Daraufhin hatte Kid wahrscheinlich verzweifelt überlegt, welchen Leu= ten er an jenem Tage begegnet war. Auf einmal war es ihm dann einge= fallen — natürlich, dem Doktor! Der war ja in der Fletcher Avenue an seinem Wagen vorbeigegangen und hatte ihn sogar noch gegrüßt. E r . . .

Nach Atem ringend, rannte Calla= han weiter. Als er die Naples Street erreichte, taumelte er bereits, doch eine unerklärliche Kraft trieb ihn unaufhaltsam weiter. Die Naples Street war eine kurze, enge Gasse. Auf der linken Seite standen ein paar dunkle, zweistöckige Häuser, zu deren oberem Stockwerk bau= fällige hölzerne Treppen hinauf= führten. Pat Doyle hatte im letzten dieser Häuser gewohnt, in der obe= ren Etage. Vor der Haustür blieb Callahan stehen. Wenn er nun ein= fach laut schreien würde — Er riß die Tür auf und stürzte ins Haus. In dem Stockwerk über ihm fiel ein einziger Schuß. Er hatte ge= ahnt, daß ein einziger Schuß genü= gen würde. Er stolperte über die Stufen im Treppenhaus, fiel hin und rappelte sich mühsam auf. Er hatte die Augen zu schmalen, glit= zernden Schützen zusammengezo* gen. Über sich hörte er Schritte, einen Schmerzenslaut. Plötzlich flackerte im obersten Stockwerk ein Licht auf. Der schwache Schein ließ die Umrisse eines unbestimmbaren grauen Schattens erkennen, der sich wie ein verschwommener Nebelfleck an die Wand drückte. Callahan schlich darauf zu, sein Mund war nur noch ein schmaler Strich. In der Hand hielt er die schußbereite Pistole. Glühen»

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der Haß brannte in seinem Herzen. Nur ein einziger Schuß hatte ge= nügt! Der Mann lag auf dem Fußboden des oberen Stockwerks. Direkt über den hölzernen Dielen flammte ein Streichholz auf. Als Callahan den Treppenabsatz erreichte, war es wieder erloschen, und die schwere, undurchdringliche Dunkelheit er= füllte den engen Raum. Wieder er= hob sich das Wimmern. Der Doc, dachte Callahan, von Angst gehetzt. Er ließ sich auf die Knie nieder und zog aus der hinteren Hosentasche seine Stablampe. In seiner Kehle erstickte er einen qualvollen Laut. Dann faßte er den Mann an der Schulter und drehte ihn behutsam herum.

Das verzerrte Gesicht von Patsy, dem dicken Zigarrenhändler, starr= te ihm entgegen. Callahan verschlug es die Sprache. Am anderen Ende der Diele sagte jemand: »Callahan, Glanz und Gloria!« Als er sich um= wandte und den Strahl der Stab= lampe in diese Richtung lenkte, sah er den Doktor auf sich zukommen. Callahan stellte eine Menge Fragen, die der Arzt zunächst auch willig beantwortete, bis er schließlich doch ein wenig ungeduldig wurde und sagte: »Halten Sie mich denn wirklich für so naiv, Callahan? Pat Doyle hatte sonst immer für mich

das Licht auf der Diele brennen las= sen. Diesmal aber brannte es nicht, und da fiel mir ein, daß Sie mir et= was gesagt hatten, er sei umgezo= gen. Nun, dieser Trick stammt doch wahrlich aus der Klamottenkiste. Man ruft mich an und lockt mich in irgendein, leerstehendes Haus, um mich auszuplündern. Daher trage ich seit Jahren nachts stets eine Pi= stole bei mir.«

Dann erzählte der Doktor, wie er gehört hatte, daß sich da irgendein Bursche im Dunkeln zu bewegen schien. Daraufhin hatte er geschos= sen, allerdings nur, um ihm einen gehörigen Schrecken einzujagen. Plötzlich erinnerte sich Callahan an etwas.

»Wissen Sie«, sagte er, »da ist noch jemand, dem ich kurz einen Besuch abstatten muß. Ihnen kann hier ja weiter nichts mehr passieren. Judie hat bereits die Polizeizentrale ver= ständigt. Jede Minute werden ein paar Cops mit dem Krankenwagen hier eintreffen. Ich komme dann so= fort wieder zurück!« Als Callahan auf die Straße trat, heulte irgendwo die Sirene eines Funkstreifenwagens. Er wartete den Wagen aber gar nicht erst ab, sondern ging die Naples Street hin= unter bis zu der Gasse und diese entlang bis zu dem Zigarrenladen. Die Haustür war abgeschlossen, er

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Thomas Walsh

drückte sie mit der Schulter ein und drang auch hier unaufhaltsam vor. Im Dunklen fand er Kid Numbers auf einem Stuhl sitzend. Er war vollständig angezogen, und neben ihm standen zwei reisefertig ge= packte Koffer. Callahan kam so schnell und unerwartet auf ihn zu, daß dem Gangster keine Zeit blieb, seine Pistole zu ziehen, ehe ihn Cal= lahans Faust genau auf die Kinn= spitze traf. Und noch immer stand das verbissene Lächeln in Callahans Gesicht, als er die Geldscheine aus seiner Tasche zog und sie Kid auf den Bauch häufte.

Mühsam erhob sich Kid auf die Knie. Er fluchte wild und nannte Callahan einen heimtückischen Schuft und eine betrügerische Ratte, aber Callahan fühlte sich auf ein= mal so erleichtert, daß ihn das über= haupt nicht berührte. Einen Augen= blick lang durchfuhr ihn sogar der Gedanke, Harrison T. Finley sei am Ende vielleicht doch nicht so ganz im Unrecht gewesen. Er hatte auf

einmal das Gefühl, wieder aufrecht gehen und wieder schlafen zu kön= nen. Seine Gedanken schweiften auch zu Judie, und er wußte, daß sie ihre Meinung nicht so plötzlich geändert haben konnte — nicht über Nacht. Daniel John Callahan haßte nie= manden mehr, nicht Finley und nicht einmal Kid Numbers. Es ging wieder bergauf mit ihm. Das Zeug dazu hatte er, dessen war er sich jetzt ganz sicher. Vielleicht noch ein Jahr, vielleicht auch zwei — auf jeden Fall, es ging bergauf. »Was ich noch sagen wollte«, mein» te er, als Kid wieder auf die Füße kam, »du wirst dich in dem >Großen Haus< sicher recht wohl fühlen, Kid. Man wird dich auf alles hin unter» suchen, was du nur irgend willst. Zweimal wöchentlich, wenn du un= bedingt darauf drängst. Und wenn du brav bist, werden sie dir viel= leicht dein Thermometer lassen. Nun, ist das vielleicht nichts?«

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Roy Vickers

Der gerissenste Geizhals ganz Europas

Einmal ersann die engelgesichtige und ätherische Fidelity Dove eine völlig neue Methode, weltberühmte Diamanten zu stehlen; und ein anderes Mal brachte sie es sogar fertig, sich die gesamte Grafschaft von Swallowsbath samt Hügeln, Flüssen, Dörfern und Sägemühlen unter den Nagel zu reißen! Hier wird nun berichtet, wie diese mo= derne Miss Robin Hood den notorischsten Geizkragen ganz Europas dazu >animierte<, mittels eines ihrer stets auf Lager liegenden Tricks einem notleidenden Krankenhaus ein recht ansehnliches Sümmchen zu >stiften<...

Der Fall von Mr. Jabez Crewde gibt uns vielleicht Grund zu der Annah= me, daß Fidelity Dove zu dieser Zeit so etwas wie ein Gewissen zu ent» wickeln begann. Zwar verdiente sie an Jabez Crewde nicht viel, aber im= merhin bekam sie natürlich ihre ganzen Ausgaben, die sich — wie gewöhnlich — auf höhere Summen beliefen, wieder herein, und sie kal= kulierte für ihren eigenen und den Zeitaufwand ihrer Leute gesalzene Honorare ein. Wer bei diesem Un= ternehmen allerdings am meisten verdiente, das war das Kranken» haus der Grauen Brüder. Wenn Sie

nun zu denjenigen gehören sollten, die Fidelity Dove auch nicht den mindesten Funken von Gutherzig» keit zutrauen, so nehmen Sie eben an, daß Fidelity einfach aus einer Laune heraus den gerissensten Geizkragen ganz Europas dazu brachte, diesem Krankenhaus 20 000 Pfund zu stiften.

Jabez Crewde machte seinem Ruf, der gerissenste Geizkragen ganz Europas zu sein, alle Ehre. Zu sei» nem Vermögen, das sich auf insge» samt 200000 Pfund belief, war er als Finanzier oder besser gesagt, als Geldverleiher gekommen. Er war

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Roy Vickers

aber auf das für gewöhnlich beim Verleihen von Geld auftretende Ri= siko niemals eingegangen, seine Formel, durch die er reich geworden war, lautete: Der Geldverleiher kas» siert die Wucherzinsen, und das Risiko dabei hat der Bankier zu tra= gen. Er selbst wohnte in Islington in einem düsteren Viertel in einem ebenso düsteren Haus. Hätte er sich nicht eine leichte Blind= darmreizung zugezogen, so hätte Fidelity wohl niemals etwas von ihm gehört. Als er sich nämlich eines Tages nicht wohlfühlte, such= te er in seinen schäbigsten Kleidern die Praxis eines stark beschäftigten Arztes auf. Der Arzt stellte tatsäch= lieh eine Blinddarmentzündung fest und riet zu einer Operation. Nun war Jabez Crewde beileibe kein Zimperling, der sich etwa vor kör= perlichen Schmerzen fürchtete, je= doch versetzten ihn die durch eine Operation möglicherweise entste» henden Unkosten in Angst und Schrecken. Nachdem er den Arzt so weit gebracht hatte, statt des üblichen Honorars von fünf Shil= ling die doppelte Summe anzuneh= men, wies dieser den gerissensten Geizkragen ganz Europas zur ko= stenlosen Behandlung in das Kran» kenhaus der Grauen Brüder ein. Bei der Operation traten keinerlei Komplikationen auf, und somit war

auch Jabez Crewdes Genesung nur von kurzer Dauer. Zufällig hatte jedoch ein gewisser Gorse in dieser Zeit von dem Kuhhandel mit dem Arzt Wind bekommen und hinter» brachte es Fidelity. Sie kreuzte die Hände über dem Ausschnitt ihres traumgrauen Nachtgewandes und schüttelte traurig den Kopf. »Geiz ist wahrhaftig der Aussatz der Seele«, sagte sie. »Cuthbert, ich bin zutiefst empört!» »In diesem Fall kann ich dir aller» dings nur beipflichten«, erwiderte Gorse. »Er hat gut und gerne seine hunderttausend Pfund im Spar» strumpf stecken.« »Diese armen, unterbezahlten Ärz» te, die überarbeiteten Schwestern«, entrüstete sich Fidelity. »Und all die dringenden Notfälle, die unbedingt dort aufgenommen werden müssen — oder ist das vielleicht ein Kran» kenhaus, das im Gelde nur so schwimmt?«

»In einer Zeitungsnotiz hieß es, daß sie einen ganzen Flügel schließen müssen, falls sie innerhalb von drei Monaten nicht zwanzigtausend Pfund aufbringen können«, berieb^» tete Gorse.

»Sie haben jedem armen Kerl buch» stäblich ihr letztes Hemd gegeben. Und was haben sie nun davon? Ihnen schwimmen sämtliche Felle davon!«

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Der gerissenste Geizhals ganz Europas

»Fidelity!« stöhnte Gorse. Wie je= der andere, der für sie >arbeitete<, hätte er sein Leben für Fidelity hin» gegeben, aber ansonsten war er al= lein von all diesen anderen der Überzeugung, daß sie eine der ge= rissensten Schwindlerinnen war — ebenfalls ganz Europas. »Mein Lieber, obwohl du mich so hoch verehrst, bist du immer so schrecklich grausam zu mir«, seufzte Fidelity. »Aber weil ich dich "nun einmal in mein Herz geschlossen habe, muß ich dich eben so nehmen wie du bist. Hör zu und sag mir dann, ob du mit meinem Vorhaben einverstanden bist.« »Ich höre«, seufzte Gorse und war» tete, was nun folgen würde. Als Fidelity zu sprechen begann, hatte ihre Stimme den süßen Klang einer Nachtigall.

»Sag Varley, unserem Juwelier, daß er bei den besten Firmen, die er fin= den kann, Perlen im Wert von fünf» zigtausend Pfund aufkaufen soll«, sagte sie.

Gorses Gesicht hellte sich auf. »Fidelity, ich hatte mir schon die ganze Zeit gedacht, daß du über kurz oder lang wieder eines von deinen Geschäften planen wür= dest!« sagte er und verließ den Raum, um ihre Weisungen weiter» zugeben.

Jabez Crewde beschäftigte in sei» nem Kreditbüro die übliche Zahl von Agenten, eine Handvoll Leute, die er jedoch nur in ihrer Freizeit für sich arbeiten ließ, damit er ihnen entsprechend knauserige Gehälter zu zahlen brauchte. So gelang es Fidelity denn auch innerhalb weni» ger Tage, einen von diesen zu be= wegen, daß er sie aufsuchte. Eine volle Woche lang hatte sie mit Gor» se alles aufs genaueste durchge» sprochen. Nun saß sie mit ausge» sprachen ängstlicher Miene in je= nem trüben Haus in Islington in dem schmutzigen Raum, der Jabez Crewde gleichzeitig als Büro und Wohnzimmer diente. »Ich — ich habe gehört, daß Sie krank waren, Mr. Crewde; ich hof= fe,daß es Ihnen jetzt wieder besser« geht«, sagte Fidelity wie jemand, der einen Geldverleiher gnädig stimmen möchte.

»Es muß mir einfach bessergehen, Miss Dove«, stöhnte Crewde. »In diesen harten Tagen kann ich mir eine lange Krankheit einfach nicht leisten. Was kann ich für Sie tun?« »Ich — ich hörte, daß Sie Finanzier sind«, begann Fidelity zu stam» mein, »und ich befinde mich in einer recht schwierigen Lage, die Sie ge= wiß noch besser verstehen werden als ich. Einer meiner Freunde, der sich in Börsengeschäften bestens

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auskennt, hat mir den todsicheren Tip gegeben, jetzt sofort fünf tau« send Pfund zu investieren, wodurch sich das eingesetzte Kapital in we= nigen Tagen versiebenfachen wür= de.« Jabez Crewde gelang es mühelos, ein Lächeln zu unterdrücken. Es ge= hörte zu seinem Beruf, sich die Pia« ne von hoffnungslosen Phantasten anzuhören. »Fahren Sie fort, Miss Dove«, sagte Crewde. »Aber schlagen Sie mir bitte nicht vor, Ihnen fünftausend Pfund zu leihen.« »Oh, gerade diesen Vorschlag woll« te ich Ihnen machen«, erklärte Fi« delity treuherzig. »Sehen Sie, ich habe nun einmal keine fünftau« send Pfund und daher erscheint es mir noch bedauerlicher, wenn ich mir eine derart günstige Gelegen« heit entgehen lassen müßte. Zwar verstehe ich nicht allzuviel von Geld, aber wenn ich fünfunddrei« ßigtausend Pfund hätte, brauchte ich mir über Geld ja auch keine Ge= danken mehr zu machen. Deshalb bin ich auch so ängstlich darum be= müht, diese einmalige Gelegenheit zu nützen.«

Mr. Crewdes Blicke wanderten zu Fidelitys Handtasche. Sie war aus grauem Brokat — ein billiges, un­modernes Ding, das darauf schlie« ßen ließ, daß seine Trägerin zu

stricken, sich regelmäßig mit ihrer Mutter zu treffen pflegte und in dieser Tasche für artige Kinder kleine Geschenke bereithielt. »Können Sie irgendwelche Sicher« heiten bieten?« fragte er. »Sie meinen Kapital und Wertpa« piere«, erkundigte sich Fidelity naiv. »Leider besitze ich weder das eine noch das andere. Das einzig Wertvolle, das ich habe, ist der Schmuck, den mir mein Großonkel hinterlassen hat. Ich darf diesen Schmuck zwar nicht verkaufen, dachte es mir aber so, daß ich Ihnen den Schmuck als Pfand überlassen könnte. Dies würde nicht weiter auffallen, da ich einer Sekte ange« höre, die ihren Mitgliedern verbie« tet, Schmuck zu tragen. Wenn ich dann erst einmal diese fünfund« dreißigtausend Pfund habe, kann ich den Schmuck ja wieder aus« lösen.«

»Haben Sie ungefähr eine Ahnung, welchen Wert dieser Schmuck hat?« fragte Crewde, während Fidelity bereits dabei war, eine Anzahl von Lederetuis hervorzuholen und zu öffnen. »Als seinerzeit mein Onkel starb, ^ ließ man ihn schätzen«, erwiderte Fidelity bescheiden. »Der Assessor sagte, er sei etwas über fünftausend Pfund wert. Mir erschien es gerade­zu unfaßbar, daß jemand soviel

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Geld für Schmuck angelegt hatte.« Mit Kennermiene unterzog Mr. Crewde die Perlen einer genauen Prüfung. Er war durchaus geneigt, bezüglich ihres Wertes dem Asses» sor zuzustimmen. Er fühlte seine Annahme durchaus bestätigt, in Fi» delity, mit ihrem tadellos sitzenden grauen Schneiderkostüm und ihrem kleinen weißen Hut, eine zwar ex» travagante, in finanziellen Dingen jedoch völlig hoffnungslose Närrin vor sich zu haben. »Obwohl sie im Augenblick wohl keinen großen Wert haben, sind es an sich doch recht gute Perlen«, sagte er geistesgegenwärtig. »AI» lerdings pflege ich in der Regel Schmuck nicht zu beleihen. Haben Sie denn keine anderen Sicherhei» ten?«

»Ich fürchte, keine«, erwiderte Fi» delity kleinlaut. Genau das war es, was Mr. Crewde hatte wissen wollen. Für einen Geldverleiher ist es nämlich nur von geringem Nutzen, für einen kleinen Kredit ein wertvolles Pfand einzubehalten, wenn der Klient noch andere Sicherheiten aufzuwei» sen hat, da dieser das Pfand dann ja jederzeit wieder auslösen kann. Wenn dieses Pfand aber die einzige Sicherheit darstellt, steht es so gut wie fest, daß dieses Pfand über kurz oder lang in die Hände des Geld»

Verleihers gerät; dies ist vor allem dann der Fall, wenn der Kredit zu dem Zweck aufgenommen wird, durch irgendwelche finanzielle Ma= nipulationen schnellstens reich zu werden. »Nun ja, ich weiß nicht recht«, mur» melte Mr. Crewde mit berufsmäßig zögernder Stimme. »Zur Zeit scheint sich aber auch jeder Geld ausleihen zu wollen. Zu welchem Termin glauben Sie, Miss Dove, daß Ihre - ahm - finanziellen Pia» ne den erwarteten Gewinn einbrin» gen werden?«

»Mein Freund meinte, in etwa sechs Wochen«, antwortete Fidelity. »Sechs Wochen! Hm, das ließe sich vielleicht machen.« In überschwenglichen Worten be« gann Fidelity sich bei ihm zu be» danken. »Sind Sie wirklich ganz sicher, daß Sie in sechs Wochen das Pfand wie» der einlösen können?« fragte Mr. Crewde kühl. »Ganz sicher!« rief Fidelity aus. »Mein Freund hat mir dies aus» drücklich zugesichert.« »Nun gut«, sagte Mr. Crewde. »Ich lasse dann den Vertrag aufsetzen, den Sie mir später unterschreiben müssen. Wenn Sie morgen zur glei» chen Zeit wiederkommen, werde ich den Vertrag samt dem Geld für Sie bereitliegen haben.«

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Fidelity überflog den Darlehensver» trag am nächsten Tag nur flüchtig. Seine zahlreichen Klauseln und Rückversicherungen waren für sie restlos uninteressant. Sie unter» schrieb das Dokument, quittierte den Scheck, nahm die Quittung für die Perlen entgegen und verließ das schmuddelige Haus in Islington. Für Perlen im Werte von fünfzig» tausend Pfund hatte sie einen Kre» dit von fünftausend Pfund zu einem Zinssatz von sechzig Prozent auf» genommen!

Der gerissenste Geizkragen ganz Europas rieb sich, nachdem dieser jüngste Handel abgeschlossen war, befriedigt die Hände. Seine zwan» zigjährige Berufserfahrung hatte ihn gelehrt, daß Miss Fidelity Dove nach sechs Wochen mit einer vagen Geschichte über ihr Mißgeschick aufkreuzen und um Stundung bit» ten würde. Bei vorsichtiger Mani» pulation würde er in einem Jahr das Pfand mit nahezu zehnfachem Wert verkaufen können, ohne auch nur ein weiteres Mal Geld investieren zu müssen. Er war gerade dabei, ein System auszutüfteln, wie man die Steuermarken auf den zahlrei» chen Transaktionsformularen ein» sparen könnte, als ihm sein Diener eine Visitenkarte überreichte:

Mr. Abraham Behrein Hatton Garden

Er nickte, und der Besucher wurde hereingeführt. Behrein war makel» los seriös gekleidet, eine höchst würdevolle Erscheinung. Er be» grüßte Jabez mit ausgesuchter Höf» lichkeit.

»Ich komme mit einer Bitte zu Ihnen, Mr. Crewde«, begann er. »Ich habe Grund zu der Annahme, daß Sie gestern mit einer Dame — einer gewissen Miss Dove — ein Geschäft abgeschlossen haben.« »Ja, und was ist damit?« fragte Crewde. »Ist diese Dame etwa noch nicht volljährig?«

»Darum handelt es sich gar nicht«, erklärte Behrein. »Ich wollte Sie le= diglich bitten, mir einen Blick auf die Perlen zu gestatten, die sie bei Ihnen hinterlegt hat. Ich bin mir durchaus bewußt, daß Ihnen meine Bitte höchst ungewöhnlich erschei» rien mag, aber — ich habe meine ganz bestimmten Gründe.« »Was für Gründe?« »Diese Gründe möchte ich vorerst lieber nicht nennen.« »Kommt nicht in Frage!« fuhr Ja» bez Crewde ihm in die Rede. »Sie weigern sich?« fragte Behrein indigniert.

»Natürlich weigere ich mich. Grant, zeigen Sie diesem Gentleman doch bitte, wo hier die Tür ist.« Jabez Crewde war nach diesem Zwischenfall einigermaßen ver»

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wirrt; Behrein hingegen durchaus nicht. Er stieg in das Taxi, das draußen auf ihn wartete und fuhr schnurstracks zu Scotland Yard. Hier wies er ebenfalls seine Karte vor, erklärte, daß er von Beruf Ju= welier sei, und gab an, bestohlen worden zu sein. Er verlangte den zuständigen Beamten zu sprechen. Nach kurzer Wartezeit wurde er in das Dienstzimmer von Kriminal» inspektor Rason geführt. »Vor kurzem kaufte ich einen Satz Perlen im Wert von nahezu fünf» zigtausend Pfund«, erklärte Beh= rein dem Inspektor. »Mr. Rason, heutzutage ist das viel Geld, und dieser Kauf erforderte von mir ein gehöriges Maß an Vorsicht. Oftmals boten sich mir günstige Gelegenheit ten, diese Perlen weiterzuverkau» fen, doch eilte es mir damit nicht sonderlich. Dann wurde ich mit einer Dame bekannt gemacht, bei der es mir durchaus glaubhaft er» schien, daß sie diese Perlen für sich selbst erwerben wollte. Sie suchte mich zweimal in meinem Büro auf, um sich die Perlen anzu= sehen und die einzelnen Punkte des Geschäftsabschlusses festzulegen. Am Montag dieser Woche kam sie nun zum drittenmal zu mir. Sie machte einen durchaus sympathi» sehen Eindruck, schien aus gutem Hause zu stammen, und als ich

dann ans Telefon gerufen wurde, zögerte ich nicht, sie für einen Augenblick mit den Perlen allein zu lassen.« Kriminalinspektor Rason stöhnte. Er wußte nur zu gut, was nun fol= gen würde — eine Geschichte, die er schon allzuoft zu hören bekommen hatte. »Meine Klientin«, fuhr Behrein fort, »äußerte nochmals ihr Entzücken und sagte, daß sie nur noch einige finanzielle Dinge arrangieren müß= te und mich in der kommenden Woche anrufen würde. An jenem Vormittag wollte ich dann die Per» len, die ich seit dem Besuch der Da» me nicht mehr in die Hand genom» men hatte, einem anderen Interes» senten zeigen. Wissen Sie, was ich fand — die raffiniertesten Imitatio» nen, die mir je zu Gesicht gekom» men sind, bestenfalls einhundert» fünfzig Pfund wert! Ich habe na» türlich keinerlei Beweise, aber ich bin sicher, daß diese Person den Tausch vorgenommen hat, während ich telefonierte.«

»Hat sie Ihnen ihren Namen ange­geben?« fragte Rason. »Gewiß doch — Fidelity Dove«, er» widerte Behrein. »Als ihren Wohn» sitz gab sie mir zwar Bayswater an, was jedoch zweifellos nicht stim» men dürfte.« »Die Adresse stimmt durchaus«,

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entfuhr es Rason. »Wahrscheinlich wartet sie bereits darauf, daß wir sie anrufen. Sie ist die kaltschnäu= zigste Schwindlerin von ganz Lon= don und Umgebung. Sie pflegt sich niemals auch nur die Mühe zu ma= chen, irgendwo unterzutauchen. Schon ein gutes dutzendmal bin ich haargenau auf ihrer Spur gewe= sen und dennoch hat sie es im= mer wieder fertiggebracht, daß man ihr nichts nachweisen konnte. Ir= gendwie ist sie auf ihrem Fachge= biet geradezu ein Genie.« »Dies klingt nicht gerade sehr be= ruhigend für jemand, der im Begriff ist, auf Grund ihrer Genialität fünf= zigtausend Pfund zu verlieren«, sagte Behrein mit Leichenbitter» miene.

»Natürlich werden wir der Sache nachgehen«, erklärte Rason. »Vielleicht kann ich Ihnen dabei behilflich sein«, sagte Behrein. »Durch einen reinen Zufall habe ich erfahren, daß diese Dame — wenn man sie überhaupt als solche be= zeichnen darf — bei einem gewissen Mr. Jabez Crewde Geld aufgenom» men und als Pfand bei ihm Perlen hinterlegt hat. Einer Sache bin ich mir absolut sicher, daß nämlich die» ser Mr. Crewde sein Personal äu= ßerst schlecht bezahlt und. . . äh . . .« »Das kann man wohl behaupten«, sagte Rason und seufzte.

»Vor einer halben Stunde war ich in seinem Büro in Islington«, fuhr Behrein fort. »Mit aller mir zu Ge= böte stehenden Höflichkeit, wie ich hoffe, bat ich ihn, mich einen Blick auf die Perlen werfen zu lassen. Er nahm meine Bitte äußerst un= freundlich auf und wies sie brüsk zurück.«

Kriminalinspektor Rason machte sich eine Notiz. »Haben Sie ihm von Ihrem Verdacht erzählt?« »Wenn er mir dazu Zeit gegeben hätte, so hätte ich ihm die Sache er= klärt«, antwortete Behrein. »Er ließ mich aber hinauswerfen, noch ehe ich irgendeine Erklärung abge= ben konnte.

Hier habe ich«, fuhr Behrein fort, »Fotos von den Perlen und die ge= naue Beschreibung eines Experten. Falls Sie die Möglichkeit haben, auf diesen Mr. Crewde einen ge= wissen Druck auszuüben oder sonst etwas gegen ihn in der Hand haben, so werden Ihnen diese Unterlagen hier gewiß von großem Nutzen sein.«

»Natürlich kann ich es durchsetzen, daß wir einen Hausdurchsuchungs= befehl erhalten, falls das notwen= dig ist«, sagte Rason. »Aber solch drastische Maßnahmen versuchen wir nach Möglichkeit zu umgehen. Ich halte es jedoch für sehr wahr= scheinlich, daß es mir gelingt, ihn

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war, konnte Crewde nur noch hilf­lose, unzusammenhängende Worte stammeln. »Vorausgesetzt, daß Mr. Behrein die erforderlichen Unterlagen vor­weisen kann«, erklärte Rason, »werden die Perlen, da es sich ja um Diebesgut handelt, durch ge­richtliche Verfügung natürlich ihm zugesprochen. Wollen Sie, Mr. Crewde, daß die anfallenden Ge­richtskosten auf Ihre Rechnung ge­hen?« Und mit einem leisen Lä­cheln fügte er hinzu: »Ebenso selbstverständlich die Kosten für die zivilrechtlichen Auseinandersetzun­gen.«

»Natürlich nicht!« krächzte Crewde empört. »Nein, ich kann es mir ein­fach nicht leisten, ein halbes Dut­zend Rechtsanwälte zu nehmen, die einem ja doch nur das Geld aus der Nase ziehen. Dies hier ist Sache des Staatsanwalts. Ich bin durchaus be­reit, als Zeuge aufzutreten — aller­dings nur, wenn mir die dadurch verlorene Zeit entsprechend vergü­tet wird.«

»Mr. Behrein, ich nehme an, daß Sie mit der Sache vor Gericht gehen wollen, nicht wahr?« fragte Rason, wobei es ihm gerade noch gelang, ein Schmunzeln zu unterdrücken. »Mir bleibt ja gar keine andere Wahl«, erwiderte Behrein. »Wenn Sie mir einen anderen Weg zeigen,

zu überreden, mir die Perlen frei-willig zu zeigen.« »Wäre es vielleicht möglich, daß ich Sie begleite?« fragte Behrein. »Es wäre nämlich durchaus möglich, daß ich noch weitere Anhaltspunk-te finden und Ihnen dementspre-chend noch weitere Hinweise geben könnte, wenn ich selber einen Blick auf die Perlen werfen dürfte.« Der Inspektor stimmte bereitwillig zu, und nach einer halben Stunde war Behrein wiederum in jenem Haus in Islington — diesmal jedoch von Inspektor Rason begleitet.

Als sich Jabez Crewde dem Polizei» offizier gegenübersah, gab er so= fort klein bei und holte ohne Wi­derrede die Perlen hervor. Er legte sie auf den Tisch, aber noch wäh-rend er damit beschäftigt war, sie dekorativ auszubreiten, fuhr Beh» rein auf: »Das sind meine Perlen, Mr. Crewde! Innerhalb einer Stun-de kann ich Ihnen ein gutes Dut­zend Experten herbeiholen, die sie identifizieren können. Wenn Sie hier diese Fotos und Unterlagen durchsehen wollen, so werden Sie sich selber überzeugen können.« »Ihre Perlen! Was wollen Sie damit sagen?«

Behrein erzählte nochmals die lei­dige Geschichte von den vertausch­ten Perlen. Als er damit zu Ende

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wie ich sonst zu meinen Perlen komme, bin ich gern bereit —« Rason gelang es gerade noch im letzten Augenblick zurückzuhalten, was ihm bereits auf den Lippen lag. Statt dessen sagte er: »So wie die Dinge nun einmal liegen, Mr. Beh= rein, würde ich Ihnen raten, sehr auf der Hut zu sein. Es sieh': zwar alles nach einem völlig klaren Fall aus; schon vorher sprachen ein oder zwei Indizien gegen die be= wußte Dame. Immerhin — wenn Sie darauf bestehen, daß wir sie sofort verhaften, muß ich mir natürlich erst den erforderlichen Haftbefehl beschaffen. Statt dessen möchte ich jedoch lieber vorschlagen, daß Sie erst einmal abwarten, bis ich sie mir angesehen und angehört habe.« Mr. Behrein knickte zu einer leich-ten zustimmenden Verbeugung ein. »Ganz wie Sie meinen, Inspektor«, erwiderte er. »Sie verstehen von derlei Sachen zweifellos mehr als ich. Jedoch würde ich mit Mr. Crew-de gerne noch ein paar Worte unter vier Augen sprechen, sofern er jetzt dazu bereit ist.« »Also gut«, sagte Rason. »Ich wer= de mich jetzt auf den Weg zu dieser Miss Dove machen.«

»Es sieht ganz danach aus«, erklär-te Mr. Behrein, nachdem der In-spektor das Zimmer verlassen hatte,

«als ob Sie, Mr. Crewde, und ich eine gehörige Menge Geld und Zeit verschwenden müßten. Wollen Sie daher mit mir eine Vereinbarung treffen?« »Was für eine Vereinbarung?« fragte Crewde. »Sie, ja Sie — Sie sind aus dem Schlamassel fein her= aus. Ich hingegen habe für diese ge= stohlenen Perlen bare fünftausend Pfund hergegeben, und Sie werden auf Grund irgendeines Urteils-spruchs diese Perlen nicht so ein­fach herausbekommen. Schließlich habe auch ich mein Recht, und ich gedenke nicht, für nichts und wie­der nichts . . . «

»Nun gut, Mr. Crewde«, fiel Beh­rein ihm besänftigend in seine hit­zige Rede. »Ich bin der Ansicht, wir Geschäftsleute sollten zusammen­halten, wenn wir etwas Derartiges durchzustehen und auszufechten haben, und es liegt mir fern, mein Recht etwa auf Ihre Kosten auszu­fechten. Ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein. Ich habe für diese Perlen einen Käufer in Aussicht, und da dieser drängt, ist höchste Eile geboten. Wenn die Perlen nun volle drei Monate lang als Beweis­stücke bei Gericht liegen werden — ganz zu schweigen von einem Zivil­prozeß zwischen Ihnen und mir, was ich zutiefst bedauern würde —, so geht mir dieser Käufer mit sei-

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nem günstigen Angebot verloren. Wenn Sie mir die Perlen hingegen jetzt sofort aushändigen, werde ich Ihnen eine ordnungsgemäße Quit= tung ausstellen und Ihnen selbst-verständlich auch sofort die fünf= tausend Pfund erstatten. Es geht dann auf mein Risiko, ob ich wie-der zu meinem Geld komme.« Jabez Crewde glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Äh — wie bitte? Ich fürchte, ich habe Sie da nicht ganz verstanden«, krächzte er, und Behrein mußte sein Angebot noch einmal wiederholen. »Natürlich«, fügte Behrein dann noch hinzu, »werden Sie die Zinsen für das von Ihnen ausgeliehene Geld verlieren; aber die sind ja für Sie in jedem Fall verloren — ebenso auch das Erstrecht auf die fünftau­send Pfund. Wie Sie bereits selber mehr oder weniger zugegeben ha­ben, würde ich die Perlen später auf gerichtlichem Wege sowieso wieder zurückbekommen. Ich würde es je­doch begrüßen, wenn Sie in unse­rem beiderseitigen Interesse auf das Angebot, das ich Ihnen soeben gemacht habe, eingehen würden.« »Durchaus einverstanden!« konnte Crewde gar nicht schnell genug heraussprudeln.

Behrein zog seine Brieftasche her­vor. »In meinem Beruf muß man zwangsläufig stets eine größere

Summe bei sich haben«, erklärte er und zahlte Crewde die fünftausend Pfund bar auf dessen schon reich­lich abgewetzten Schreibtisch. Er fügte eine ordnungsgemäße Quittung für die Perlen hinzu und verließ den gerissensten Geizhals ganz Europas, der förmlich vor Er­leichterung zitterte, da er um den Verlust von fünftausend Pfund und sein Erscheinen vor Gericht herum­gekommen w a r . . .

Es war fast schon Mittag, als Kri­minalinspektor Rason zu Fidelitys Haus in Bayswater kam. Fidelity, in zartgrauen Taft von erlesener Qualität gehüllt, bat ihn, am besten doch gleich zum Essen dazubleiben. Natürlich lehnte der Inspektor höf­lich dankend ab.

»Sie nehmen aber auch niemals eine von meinen Einladungen an, Mr. Rason«, beklagte sie sich, und ihre Augen leuchteten dabei so klar und unschuldig wie die eines Kin­des. »Zu dieser ungewöhnlichen Stunde wird Sie doch wohl nicht gar etwas Dienstliches hierherführen?« Rason verzog das Gesicht. »Miss Dove«, begann er, »ich kom= me wegen eines Juwelendiebstahls zu Ihnen. Sämtliche Verdachtsmo­mente weisen auf Sie als die Täte­rin hin. Aber ich habe mit Ihnen schon zu viele ähnlich gelagerte

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Fälle durchexerziert, als daß ich die­sem Umstand allzuviel Bedeutung beimessen würde.« Fidelitys Gesicht verharrte in en= gelsgleichem Lächeln. »Es läuft immer auf das gleiche hin-aus«, fuhr Rason fort. »Da ver­schwende ich nun meinen ganzen Scharfsinn und meine ganze krimi­nalistische Erfahrung, tue mein Menschenmöglichstes, um Sie end­lich einmal zu fassen, und doch weiß ich schon im voraus, daß Sie sich auch jetzt wieder geschickt aus der Schlinge ziehen werden.« »Ihre Worte schmeicheln mir unge­mein, Mr. Rason«, lächelte Fidelity immer noch. »Und Schmeicheleien befremden mich und bringen mich stets in Verlegenheit. Ansonsten muß ich Ihnen gestehen, daß ich nicht im mindesten weiß, wovon Sie eigentlich reden.« »Gestern vormittag«, seufzte Ra­son, »haben Sie bei einem gewissen Mr. Jabez Crewde Perlen verpfän­det, die Sie vermutlich durch falsche Perlen ersetzt haben, nachdem Sie sie vorher einem gewissen Mr. Abraham Behrein gestohlen hatten. Mr. Behrein hat fotografische Auf­nahmen von diesen Perlen und Gut­achten von Experten. Und diese ha­ben die bewußten Perlen als die­jenigen identifiziert, die Sie bei Mr. Crewde verpfändet haben.«

»Wie war doch der Name dieses anderen Herrn — Berling?« »Behrein«, sagte Rason. »Miss Do­ve, wollen Sie etwa abstreiten, die­sen Herrn zu kennen?« »Ja«, erklärte Fidelity. Ihr schlich­tes Ja klang geradezu wie ein hei­liger Eid.

Einen Moment lang herrschte tiefe Stille. In Inspektor Rasons Augen schimmerte es, als ob er seine Be­fürchtungen alsbald bestätigt fin­den würde. »Darf ich mal einen Moment Ihr Telefon benutzen?« fragte er.

Fidelity gestattete es ihm mit einer leichten Neigung des Kopfes. Ra­son überflog die Seiten des Telefon­buches. Er suchte nach dem Namen >Behrein< und konnte ihn nicht fin­den. Daraufhin rief er das Polizei­revier in Holborn an. Er nannte seinen Namen und Dienstgrad und gab dann die Per­sonalien Behreins durch. »Behrein, Abraham, Hatton Garden. Schicken Sie sofort einen Mann dorthin und lassen Sie nachprüfen, ob Name und Adresse stimmen. Rufen Sie mich dann sofort hier wieder an.« Er gab Fidelitys Nummer durch. Nach einer Viertelstunde, in der Fi­delity sich in so blumigen Verglei­chen, wie man sie sonst nur in der Heiligen Schrift finden kann, über Perlen ergangen hatte, kam der

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Rückruf. Ein Abraham Behrein war in Hatton Garden nicht bekannt. »Nun, Mr. Rason«, fragte ihn Fide» lity mit kindlich unschuldsvoller Miene, »sind Sie jetzt eventuell ge= neigt, sich dafür zu entschuldigen, daß Sie mir vorhin nicht geglaubt haben?«

»Nein«, sagte Rason. Aber diese schroffe, nachdrückliche Weigerung brachte Fidelity keineswegs aus dem seelischen Gleichgewicht. Als er ihren Salon verlassen hatte und die luxuriös ausgestattete Vorhalle durchquerte, folgte ihm immer noch ihr silberhelles Lachen, und dieses Lachen klang ihm selbst dann noch in den Ohren, als er das Haus schon längst hinter sich hatte.

Mr. Jabez Crewde war aufs äußer» ste entrüstet, als ihm am nächsten Morgen von seinem schlecht be= zahlten Bürodiener gemeldet wurde, daß Fidelity Dove vor der Tür stän» de und ihn zu sprechen wünschte. »Führen Sie sie herein und verstän» digen Sie sofort die Polizei«, flü= sterte er seinem Bürodiener zu. Graziös wie immer kam Fidelity hereingetänzelt. Sie führte mit dem Kopf andeutungsweise eine Ver= neigung aus.

»Oh, Mr. Crewde!« rief sie mit hel= ler Stimme. »Ich weiß buchstäblich nicht, wie ich Ihnen danken soll!

Das Geld, das Sie mir geliehen ha= ben, muß wahrhaftig Zauberkraft besessen haben. Die kleine Speku= lation, zu der mir mein Freund ge= raten hatte, unser Plan — er hat die kühnsten Träume übertroffen, so» gar die meines Freundes. Es ist so viel Geld dabei herausgesprungen — ich weiß nicht, ob über seine Fir» ma oder seinen Börsenmakler —, und ich habe soviel dabei verdient, daß ich jetzt sofort zu Ihnen ge= kommen bin, um Ihnen Ihre fünf» tausend Pfund zurückzuzahlen.« »Lassen Sie mich das Geld erst ein» mal sehen«, krächzte Crewde mit seiner rauhen Stimme. »Aber ich will doch nicht, daß Sie es sich nur ansehen — ich will, daß Sie es nehmen!« Und Fidelity zähl» te ihm die Banknoten auf den Tisch. Mit seinem schmierigen, feisten Daumen blätterte Mr. Crewde die Banknoten mit der Geschwindig» keit eines berufsmäßigen Bankkas» sierers durch.

»Sie können das Geld hierlassen«, sagte er und schielte zur Tür. Dann schob er die Scheine zu einem Bün» del zusammen und ließ sie sicher» heitshalber in seiner Tasche ver= schwinden. Befremdet schaute Fidelity ihn an. »Stellen Sie mir denn gar keine Quittung aus? Wollen Sie mir denn nicht meine Perlen zurückgeben?«

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»Moment, das wird sich gleich er= geben«, entfuhr es Crewde. »Entgegen meiner sonstigen Nei= gung, in Gelddingen ein wenig zu vertrauensselig zu sein, kann ich dennoch nicht umhin, Ihr Verhalten als äußerst beunruhigend zu emp= finden«, erklärte Fidelity. »Ich bin keineswegs gewillt, hier noch län= ger unnütz bei Ihnen zu warten. Die Quittung ist nicht weiter wkh= tig, da meine Bank sowieso die Se= riennummern der Scheine notiert hat. Schicken Sie mir die Perlen bit= te an meine Privatadresse.« »Ihre Privatadresse! Nun, die weiß ich bereits im voraus — in ein bis zwei Wochen wird es das Gefäng= nis in Aylesbury sein«, triumphierte Mr. Crewde. »Was die Perlen be= trifft, so befinden sich diese bereits wieder bei Mr. Abraham Behrein, dem Sie sie gestohlen haben.« »Oh, wie können Sie —« Mit zit= ternden Fingern kramte Fidelity ein Taschentuch hervor. »Das sagen Sie am besten gleich dem Polizisten«, schnauzte Mr. Crewde sie an, denn gerade in die» sem Augenblick öffnete sich die Tür seines schäbigen Büros, und der Bürodiener führte einen unifor= mierten Hüter der Ordnung herein. »Was geht hier vor sich?« fragte der Polizist.

»Dies ist die Frau, die Sie suchen«,

kreischte Crewde, »Scotland Yard weiß über sie genau Bescheid.« Ein wenig verwirrt und verdutzt blickte der Polizist drein. »Sie wol= len gegen die Dame Anzeige er= statten?« fragte er. »Nein, nicht ich!« keifte Crewde. »Mit Strafanzeigen und dergleichen will ich nichts zu tun haben. Das ist Sache des Staatsanwalts.« »Soviel ich weiß, liegt kein Haft= befehl vor, diese Dame zu arretie= ren«, sagte der Polizist. »Sofern Sie von sich aus keine Anzeige erstat= ten, kann ich sie auch nicht mitneh= men.«

»Hier ist meine Visitenkarte«, wandte sich Fidelity nun ihrerseits an den Polizisten. »Draußen vor dem Haus steht mein Wagen, falls Sie sich dessen Nummer notieren wollen.«

Seelenruhig fuhr Fidelity mit ihrem Wagen nach Hause. Sofort nachdem sie sein Büro ver= lassen hatte, rief Jabez Crewde Scotland Yard an. Er wurde mit Ra= son verbunden, der ihm sagte, daß alle Bemühungen, die Spur von Abraham Behrein zu finden, bisher fehlgeschlagen wären. »Ich fürchte, daß das Ganze weiter nichts als ein raffiniertes Täu= schungsmanöver war«, sagte Ra= son. »Aber keine Sorge, Mr. Crew= de, ich nehme an, daß Sie die be=

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wußten Perlen haben, nicht wahr? Offensichtlich ist dieser Schwindel mit dem raffinierten Täuschungs* manöver doch danebengegangen.« »Ja schon, mag sein — aber sie hat mir das ausgeliehene Geld inzwi= sehen zurückgezahlt und verlangt daher auch die Perlen zurück!« pro= testierte Crewde.

»Ich weiß nicht, was ich Ihnen da raten soll«, sagte Rason. »Aber mir scheint es immer noch das Beste zu sein, wenn Sie sie ihr zurückgeben.« »Aber ich habe sie ja gar nicht mehr!« kreischte Crewde. »Ich ha= be sie doch Behrein gegeben, dem sie ja gehören, und der hat mir da= für fünftausend Pfund gegeben — die gleiche Summe, für die ich sie ihr beliehen hatte!« »Oh!« entfuhr es Rason. Aber die= ser eine einzige lang hingezogene Ton beinhaltete so ziemlich alles, was ein einziger Ton überhaupt nur beinhalten kann.

»Mit >Oooh!< kommen wir hier kei= nen Schritt weiter«, tobte Crewde am anderen Ende der Leitung. »Wissen Sie, was Sie dort allesamt sind? Ein einziger Narrenhaufen!« fügte er kreischend hinzu, ehe er den Hörer auf die Gabel knallte.

Am nächsten Vormittag erhielt Ja= bez einen eingeschriebenen Brief von Fidelitys Anwalt, Sir Frank

Wrawton. In knappen Worten wur= de er darin aufgefordert, unverzüg= lieh die Perlen zurückzuerstatten oder aber ihren Geldwert in bar, der von Sachverständigen auf fünf= zigtausend Pfund geschätzt wor= den war.

Gegen elf Uhr hatte Jabez Crewde in Erfahrung gebracht, daß Sir Frank Wrawton lediglich ermäch= tigt war, ihm eine Quittung für die Perlen oder über den betreffenden Geldbetrag auszustellen. Gegen zwölf Uhr war er bereits in Fidelitys Haus in Bayswater. Sie empfing ihn in ihrem Frühstücks= zimmer. »Ich hab' mir jetzt alles genau zusammengereimt«, schrie er Fidelity entgegen. »Ich weiß jetzt, wie Sie dieses Ding gedreht haben. Dieser Behrein, wie er sich nennt, ist Ihr Komplice, mit dem Sie unter einer Decke stecken. Ich werde Ihnen jetzt mal die ganzen Tricks aufzählen, mit denen Sie mich 'rein* legen wollten. Sie kauften die Per= len; sie waren echt. Dann liehen Sie sich bei mir fünftausend Pfund und zahlten mir später fünftausend» fünfhundert zurück. Die fünfhun= dert zahlten Sie drauf. Fünftausend verlor Ihr Komplice, als er sich bei mir die Perlen zurückholte. Im gan= zen haben Sie also fünftausend» fünfhundert Pfund verloren — und für diese Auslagen haben Sie mir

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die Haftung für fünfzigtausend Pfund angehängt. Wahrscheinlich haben Sie die Perlen bereits inner» halb einer Stunde, nachdem Beh= rein von mir weggegangen war, verschwinden lassen, um sie spä= ter wieder zu ver . . . « »Mr. Crewde, haben Sie sich schon einmal gründlich überlegt, wie Sie diese scheußlichen Verleumdungen vor Gericht aufrechterhalten wol= len?« fragte Fidelity ernst, doch mit sanftem Augenaufschlag und im sanften Tonfall einer Betschwester. »Pah, die Anwälte sind genau sol= cheSchlawiner wie die Polizisten...« »Und die Krankenhäuser?« fragte Fidelity noch eindringlicher und sanfter.

Crewde blickte derart verwirrt und hilflos drein, daß einem dieser mit allen Wassern gewaschene Wuche= rer beinahe hätte leid tun können. »Mr. Crewde, man nennt Sie den gerissensten Gauner ganz Euro= pas«, sagte Fidelity. »Ich allein ha= be stets behauptet, das sei nicht wahr, aber ich wollte von Ihnen, daß Sie mir das auch selber bewei= sen. Sie schulden mir fünfzigtau= send Pfund. Sie werden kaum mehr als weitere eintausend Pfund für Anwaltskosten ausgeben müssen, um gegen meine Klage anzugehen. Einem Geizhals Geld aus der Nase zu ziehen, ist ein ausgesprochenes

Vergnügen. Wenn jemand aber kein Geizhals ist, so macht mir das bei= spielsweise keinerlei Vergnügen. Ich nehme an, daß das Krankenhaus der Grauen Brüder zwanzigtausend Pfund sicher gut gebrauchen kann.« »Wie bitte?« murmelte Crewde. »Ich verstehe Sie da nicht ganz. Ich soll denen zwanzigtausend bare Pfund geben?«

»Wenn Sie dem Krankenhaus der Grauen Brüder einen Scheck über zwanzigtausend Pfund ausschrei= ben«, sagte Fidelity, »werde ich von meiner Forderung an Sie ein Fünftel abstreichen. Zwanzigtausend für die Grauen Brüder, zwanzigtausend für mich, und Sie bekommen eine Quit» tung über fünfzigtausend Pfund.« »Dabei haben Sie dann ja einen Reingewinn von vierzehntausend= fünfhundert Pfund!« stöhnte Crew= de, während sich sein Gesicht grün= lieh verfärbte.

»So könnte es man vielleicht aus= drücken«, bestätigte Fidelity. »Sie können es aber auch einmal von diesem Gesichtswinkel aus sehen, Mr. Crewde: Ich biete Ihnen zehn= tausend Pfund, damit Sie in Lon­don den scheußlichen Ruf, der ge= rissenste Geizhals ganz Europas zu sein, endlich austilgen . . . Oh, ich sehe, Sie haben gerade keinen Füll= halter zur Hand. Hier bitte, neh= men Sie meinen.«

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Will Scott

Blau in Grau

Will Scott hat wahrscheinlich mehr Kurzgeschichten herausgebracht als irgendein anderer lebender Autor — sie gehen bereits in das zweite Tausend hinein! Also ein immenser Schatzschriftstellerischer Erfahrung. Und wenn Will Scott nun sagt, er verabscheue die stur= geradeaus geschriebene Kriminalgeschichte, so läßt einen das stutzen. Hier nun ist eine seiner vielleicht am besten gelungenen Kriminal^ stories, und urteilen Sie bitte selbst — ist sie den üblichen >Wer= war=der=Mörder=Ceschichten< nicht um Lichtjahre voraus?

Zwei volle Wochen lebte Edgar Coppel nicht in dieser Welt. Er war sie satt geworden, diese Welt, und das schreckliche Gleichmaß ihrer Tage. Was sich in seinem Leben je zu ändern schien, das waren die Zahlen auf dem großen Wandka= lender im Büro: 4, 5, 6 . . . und selbst diese Zahlen gingen nur bis 3 1 , dann fingen sie wieder mit eins von vorne an, bis man am liebsten das Hauptbuch genommen und es in tausend Fetzen gerissen hätte. Aber tat man das? Der große Ka= lender gehörte der Firma. Auch das Hauptbuch gehörte der Firma. Auch Edgar Coppel gehörte der Firma.

>Ist Mr. Hepplewhite im Hause?< — >Wie ist Ihr Name?< — >Brown.< — >Wollen Sie bitte Platz nehmen, ich sehe nach, ob Mr. Hepplewhite zu sprechen ist.< Raus durch die Glastür. Rein durch die Glastür. >Kommen Sie bitte mit, Mr. Hepple= white erwartet Sie.< Jahrelang dasselbe. Leute, die Brown hießen, bitten Platz zu neh= men. So tun, als ob Mr. Hepple» white zu beschäftigt wäre, als daß man ihn jetzt stören durfte. Raus durch die Glastür, zurück durch die Glastür. Leute, die Brown hießen, bitten mitzukommen. Jahrelang . . . Ein Hundeleben. Auch eine Hunde=

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Will Scott

weit. Aber Edgar Coppel hätte sein Stückchen Anteil an dieser Welt für kein anderes Stückchen einge= tauscht. Er verabscheute diese Welt im ganzen. Er verabscheute vor al= lern alles, was er in der Zeitung las; das, was man in Romanen Le= ben nannte — Leben mit großem >L<. Er wußte, daß sein eigenes klei= nes Leben nur ein Käfig war. Wer aber, der seine gesunden Sinne bei= sammen hatte, hätte wohl aus einem Käfig, auch wenn er noch so winzig war, in eine Freiheit fliegen wollen, von der man in der Zeitung las?

>Tausende campieren in Southend Beach im Freien. < — >Ladenmord in Hornsey - Beute ganze zwei Shil» ling, fünf Pence.< — >Hat ihre Beine auf zwanzigtausend Pfund versi= ehern lassen.< — Verhandlungen in Genf wieder aufgenommene — >Mord im Hinterhaus in White* haven.< — >Täter an Hand eines Hammers identifizierte — >Berlin= Gespräche abgebrochene — >Kid= napper rennt in die Fallee — >Vier= linge in Brookswoode — >Selbst= mord im Hausboote — >Erdbeben in Algier.<

Edgar Coppel pflegte zu sagen, er könne in jedem Januar vorhersagen, was im Dezember in der Zeitung stehen würde. Er hatte keine Ahnung, was man

dagegen wohl hätte unternehmen sollen. Er hatte auch keine Ahnung, wohin er in diesem Jahr fahren sollte. Er wußte lediglich, wohin er schließlich verreisen würde, wenn seine vierzehn Urlaubstage im Sep= tember fällig waren. Vielleicht nach Margate, nach Bognor oder Cro= mer oder sonst irgendwohin. Es kam ja auch gar nicht darauf an, wo er schließlich landen würde. Es bedeutete eine Mole, bunte Lam= pions und Quartiere, wo man nach der ersten Woche nicht mehr allzu höflich behandelt wurde. Es bedeu= tete den allherbstlichen Gesell* schaftsabend mit Konzerteinlagen, bei dem man sich von völlig Frem= den die vorletzten Witze vom vor= vorletzten Jahr anhören mußte. Es bedeutete, daß man für alle Fälle stets und immer ein Monstrum von einem Regenschirm mit sich herum= schleppen mußte, und es bedeutete Dutzende von Postkarten, auf den Knien geschrieben, den Rücken an eine harzige Kiefer gelehnt, die einem das neue Sport Jackett rui= nierte; grellfarbige Ansichtskarten an Leute, die man mit Wonne ein wenig zu ärgern wünschte, die an= dererseits aber auch wiederum sehr verärgert sein würden, falls man etwa vergaß, ihnen eine solche Karte zu schicken. Und es bedeutete Zeitungen, noch

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Blau in Grau

ehr Zeitungen. Man war einfach zwungen, sie zu kaufen, wenn

man an die See fuhr; man hatte ja nichts Besseres zu tun. Man kaufte sie und setzte sich damit in einen Liegestuhl für zwei Penny und schimpfte über die grauenhaften Kolportageberichte, die man darin fand, und regte sich nicht minder über die politischen Leitartikel auf, ganz wie zu Hause, nur eben noch ein wenig mehr, da man ja aus= nahmsweise mehr Zeit hatte als sonst, Zeit im Überfluß. >Außen= minister fliegt zu den Monte=Carlo=> Gesprächen. < — >Bluttat mitten im Wald — einziges Indiz, eine Omni» busf ahrkarte. <

Ja, die bewußten vierzehn Tage im September. Dorthin also würde er verreisen, und so war der obligate Ablauf jener bewußten vierzehn Tage im September. Und dann, so plötzlich, daß es ihn selbst erschreckte, fragte er sich: »Will ich wirklich?« Und dann sag= te er: »Nein! Der Teufel soll mich holen! Dieses Mal nicht.« Und als die Zeit gekommen war, stopfte er seine Zahnbürste und sein Rasierzeug in eine kleine Blechbüchse, steckte die Blechbüchse in seine Tasche, holte sich sein Geld von der Kasse ab und ging. Ging ganz einfach. Eine Landkarte hatte Edgar Coppel

nicht, er hatte nicht einmal eine Idee. Am ersten Tag kam er bis Epping Forest und schlief in einem Heuschober. Schon als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte er von Männern gelesen, die in Heuschobern schliefen. Jetzt hatte er es selbst einmal probiert, und es hatte ihm durchaus gefallen. Kein Gas ausdrehen, keinen Hund in die Küche sperren, keine Tür abschlie= ßen. Es gefiel ihm einfach großartig. Bereits nach dem ersten Tag wußte er nicht mehr genau, wo er sich eigentlich befand. Er lebte von Brot und Käse oder was in den ländlichen Kneipen gerade zu haben war. Mit= unter schlief er auch in diesen Knei= pen. Wenn es unversehens Nacht wurde und er keine Kneipe fand, suchte er sich einen Heuschober oder einen trockenen Graben oder eine alte Scheune. Zum erstenmal in seinem Leben fand er es äußerst schwierig, sein Geld loszuwerden. Eines Nachmittags stand er eine volle Stunde lang in einer Schmiede von Middle=Essex und sagte sich, ein Pferd zu beschlagen, sei doch gar nicht so einfach, wie er immer gedacht hatte, und einen ganzen Nachmittag verbrachte er gar auf einem großen Feld und sah zu, wie dort Klee geerntet wurde. Wenn er in ein Dorf kam, so machte er um die Zeitungsstände mit ihren

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Will Scott

bunten Auslagen einen großen Bo= gen. Sollte Paris doch ruhig verhan= dein; sollte man doch Mordbeweise finden; sollte man doch Rekorde brechen, das Kap sechs Stunden früher erreichen als andere, ihn in= teressierte es nicht. Ihn interessier» ten überhaupt keine Nachrichten. In den Kneipen, in die er kam, gab es auch keine Nachrichten. Nichts von Pariser Verhandlungen, nichts von versicherten Beinen für zwan= zigtausend, nichts von Mordindi» zien. Da hatten ganz andere Dinge den Vorrang; was zu tun wäre, wenn es in den nächsten vierund= zwanzig Stunden keinen Regen geben sollte, oder was Old Pete nun mit seinem abgebrannten Ge= treideschober anfangen sollte. Am dreizehnten Tag befand er sich bei Sonnenuntergang auf dem Hü= gel hinter Benfleet. Er wußte gar nicht, daß es Benfleet war, bis er zu einem Wegweiser kam. Benfleet — so nahe war er also am Fluß. Seit Tagen hatte er keinen Wegweiser mehr gesehen.

Die neue Southend=Street mit ihrem Strom von eiligen Fahrzeugen, ihrem Lärm und den blinkenden Verkehrsampeln war fünfzig Yards entfernt, und ein riesiges Kino= plakat schrie ihm in der grauen Dämmerung seine blau=rote Rekla= me entgegen, die Edgar Coppel

klarmachte, daß Schmieden und Kleefelder nun hinter ihm lagen und er in die Zivilisation zurückge» kehrt war.

ODEON

— 4. W o c h e —

A N N C A R E Y i n VERGESSENES LEBEN

Dieselbe alte Welt. Er stand am Rande eines Feldes, den Rücken gegen einen alten Zaun gelehnt. Sein Anzug hatte inzwischen völlig seine Fasson ver» loren. Die Absätze seiner Schuhe waren abgetreten, und die eine Sohle war mitten durchgebrochen. Aber er scherte sich einen Pfiffer» ling darum. Erst in zwei Tagen brauchte er wieder in makellosem Geschäftsanzug in seiner Firma an» zutreten, und bis dahin konnte er noch volle dreißig Stunden herum» laufen, ganz wie es ihm paßte. Vom Fluß wehte ein leiser Wind herüber; er wehte ein Zeitungsblatt über eine Hecke und über das Feld und legte es Edgar zu Füßen nieder. Er machte sich nicht die Mühe, es aufzuheben. Nach dreißig Stunden würde er wieder genug Zeitungen zu lesen bekommen — mehr als ge= nug. Paris würde immer noch ver» handeln, Indizienbeweise würden gefunden werden, in Gepäckräu-

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men oder in Garagen; irgend je= mand würde wieder einmal zum Kap fliegen und es zwei Tage früher erreichen als irgendein anderer. Er richtete sich von dem Zaun auf, gegen den er sich halb gelehnt und halb gekauert hatte, und in seiner Tasche klapperte die Blechbüchse. Sie klapperte schon seit ein paar Tagen, und schon seit ein paar Ta= gen war ihm dies Klappern auf die Nerven gefallen. Schon die ganze Zeit hatte er vorgehabt, dagegen etwas zu tun. Erzog die Blechbüchse aus der Tasche, öffnete sie, langte zu seinen Füßen hinunter und an= gelte sich das Zeitungsblatt. Er knüllte das Zeitungsblatt zu einem Ballen zusammen und stopfte die= sen Papierballen in den Hohlraum in der Blechbüchse, der durch die in der Zwischenzeit immer mehr zusammengeschrumpfte Seife und Rasierseife entstanden war, so daß jetzt nur noch die Zahnbürste darin geklappert hatte. Er schüttelte die Büchse; jetzt klapperte sie nicht mehr. Er steckte sie in die Tasche. Hinter London, weit drüben, ging die Sonne unter; ein purpurner Ball m einem Kranz von Schiefergrau. Immer stärker fiel die Dämmerung ein, und die roten Buchstaben auf dem Filmplakat verwandelten sich in Schwarz, die blauen verblaßten zu nichts.

DEON

— 4. oche —

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Für einen Augenblick interessierte ihn das. Er fragte sich, wodurch so etwas zustande käme. Zum ersten= mal, seit er sich auf seiner friedli= chen Tramptour ins Blaue befand, spürte er einen kühlen Hauch in der Luft, in dem leisen Windzug, der vom Fluß heraufwehte. Er stand auf und streckte seine steifen Beine. Er kehrte der neuen Southend= Street den Rücken zu und schlurfte müden Schrittes durch eine kleine Gasse. Nach einer halben Meile ge= langte er zu einem kleinen ver= schlafenen Gasthaus. Hier gab es eine kleine Mahlzeit für ihn, und ein Bett hatte man auch. Die kurze Erinnerung an politische Verhand= lungen, an Rekorde, an versicherte Beine und selbst an die Glastür in seinem Büro war bereits wieder er= loschen. Er saß im Gastzimmer, aß sein Brot und seinen Käse und hörte jemandem zu, der noch den trocke= nen Sommer von 1887 miterlebt hatte, damals, als der Teich restlos ausgetrocknet war. Gegen zehn Uhr fühlte er sich bett= reif. Er fuhr sich mit der Hand über sein stoppliges Kinn und fragte sich, ob er sich vielleicht noch rasieren

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Will Scott

sollte, ehe er sich zu Bett legte; dann hätte er am nächsten Morgen, an seinem letzten Ferientag, sogar diese Prozedur schon hinter sich. Er dachte eine Weile darüber nach und je mehr er darüber nach= dachte, desto mehr gefiel ihm die= ser Gedanke. »Könnte ich vielleicht ein wenig heißes Wasser haben?« fragte er den Wirt. »Alles, was Sie haben wollen. Wenn Sie sich einen kleinen Augen= blick gedulden würden, Mister«, sagte der Wirt. »Kann ich«, nickte Edgar. Und um zwanzig nach zehn, vor einem Spiegel voll brauner Flecken, seine Blechbüchse auf der einen Seite eines uralten Waschtisches und einem Krug mit heißem Was= ser auf der anderen, begann er sich zu rasieren.

Er fühlte sich irgendwie in geho= bener Stimmung, zugleich aber auch niedergeschlagen. Die gehobene Stimmung rührte wohl daher, daß ihm noch zwei Urlaubstage verblie= ben, und niedergeschlagen war er, wenn er an die Glastür dachte, an die Hunderte von Menschen, die Brown oder Smith hießen und die Mr. Hepplewhite sprechen wollten. Nachdem er sich rasiert hatte, packte er sein Rasierzeug wieder in die Blechbüchse ein und setzte sich

auf den Bettrand; er strich sich über sein jetzt glattes Kinn und be= trachtete sein Gesicht im Spiegel, soweit er es zwischen den braunen Flecken entdecken konnte. Durch das Rasieren fühlte er sicherfrischt; er fühlte sich plötzlich nicht mehr länger schläfrig. Aber was sollte er tun? Es gab hier ja nichts zu tun, niemand, mit dem er sich hätte un= terhalten können. Auf dem Waschtisch lag immer noch der zusammengeknüllte Zei= tungsballen, der ihm als Pfropfen für seine Blechbüchse diente. Edgar Coppel schaute sich ein wenig im Zimmer um. Drei oder vier Bücher lehnten unordentlich auf einem recht und schlecht zurechtgezim= merten Bücherbrett. Er stand von der Bettkante auf und überflog die Titel. Schundromane — genau wie er es sich gedacht hatte. Dann fiel sein Blick wiederum auf den Zei= tungsballen. Er faltete ihn vorsieh» tig auseinander, strich ihn mit den Händen glatt und breitete die Zei= tung vor sich auf dem Bett aus. Er wußte schon im voraus, daß er dort wieder nur die von ihm so ge= haßten Standardnachrichten finden würde, die er, wie er ja stets be= hauptete, schon im voraus prophe= zeien konnte; aber wenigstens wür= den sie ihm helfen, eine halbe Stun= de totzuschlagen, oder vielleicht

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auch ein wenig mehr, bis er sich dann endlich schlafreif fühlen wür= de. Das Zeitungsblatt war die Seite zwölf vom Sunday Sphere jener Woche, und es enthielt tatsächlich nichts anderes, als was er sich be= reits gedacht hatte.

Fortsetzung von Seite x:

ZUSAMMENFASSUNG I M F A L L C A S S I D Y

Aufschrei des Angeklagten beim Todesurteil:

>Lügner haben sich gegen mich verschworen !<

Dann folgten die Schlußszenen des Verfahrens gegen einen gewissen Herman Cassidy, angeklagt des Mordes an einem gewissen Peter Pond in einer Scheune an der Peri» pherie von Cromer . . .

>Es sind Vorwürfe laut geworden, daß die Beweisführung in die= sem Fall von allzu vielen Indizien abhängig gemacht worden ist, aber die Aussage des Zeugen Woodward konnte von der Ver= teidigung nicht entkräftet wer= den. Der Angeklagte hat unter Eid ausgesagt, daß er sich an dem betreffenden Abend und zu der Zeit, da das Verbrechen began= gen wurde, auf der Jacht Mayfly befand, die in Cromer vor Anker

lag. Wie er behauptete, sei er unter Deck gewesen und hätte geschlafen. Der Verteidigung ist es nicht gelungen, dieses Alibi zu erhärten, denn, wie Cassidy sel= ber zugegeben hat, war er zu die= sem Zeitpunkt der einzige Mensch an Bord. In diesem Fall, so darf man wohl sagen, hat sich, falls diese Tatsache zutrifft, ge= gen den Angeklagten das Schick= sal verschworen. Der Zeuge Woodward hat ebenfalls unter Eid ausgesagt, an dem betreffen= den Abend und genau zu dem Zeitpunkt, als das Verbrechen begangen wurde, gesehen zu ha= ben, wie der Angeklagte die Scheune verließ. Cassidy war ihm persönlich unbekannt, aber den Namen Mayfly, in hellblauen Buchstaben vorne auf Cassidys weißem Pullover gestickt, hatte er deutlich erkennen können. Als ihm mehrere Cassidy ähnlich se= hende Personen vorgeführt wur= den, konnte er Cassidy sofort identifizieren. Cassidy ist ein Mann von auffallendem Äuße= ren, groß und kräftig gebaut, und sieht den anderen Mitgliedern der kleinen Mannschaft der May= fly in keiner Weise ähnlich . . . Wenn Woodwards Aussage nicht durch diese andere Tatsache er= härtet würde, oder aber wenn

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man die andere Tatsache für sich allein betrachten würde, ohne Woodwards Aussage, dann könnten die in der Öffentlichkeit lautgewordenen Vorwürfe durch= aus berechtigt s e i n . . . So aber muß man sich trotz mancher, vielleicht begründeter Zweifel damit zufriedengeben, daß das gemeine Verbrechen in der Scheu= ne von Cromer in der Dämme= rang des Juliabends . . .

Edgar Coppel merkte plötzlich, daß er gähnte. Er ließ das Zeitungsblatt zu Boden gleiten, zog sich aus, blies die Kerze aus und ging zu Bett. In weniger als einer Minute war er fest eingeschlafen. Am nächsten Tag war er genauso früh auf wie der Wirt selber — noch viel zu zeitig für das Früh= stück. Da ihm nichts Besseres ein= fiel, bummelte er gemütlich das Gäßchen entlang bis zur Southend= Street, die zu dieser Morgenstunde noch leer und verlassen dalag. Er stützte sich mit den Ellenbogen auf ein Zauntor und schaute in die Fer= ne, schaute ins Leere.

ODEON -A N N C A R E Y i n VERGESSENES LEBEN

Nachher sagte er sich, daß er eigent= lieh gar nicht bewußt darüber nach=

gegrübelt hatte. Es schien irgendwo drinnen in seinem Kopf geschehen zu sein, vielleicht sogar in seinem Unterbewußtsein, ganz so, als ob es dieses Unterbewußtsein ge= wesen war, jemand ganz anderer, der da an diesem Puzzlespiel herum= geknobelt hatte.

Bei Tageslicht: ODEON -

A N N C A R E Y i n VERGESSENES LEBEN.

In der Dämmerang: D E O N -

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Merkwürdig! Der erste Buchstabe eines jeden Wortes auf dem Kino= plakat war hellblau, die übrigen waren knallrot. Jetzt bei Tageslicht, jetzt konnte man alles gleich gut lesen. Aber am Abend zuvor, im schwindenden Licht der grauen Dämmerung, waren die roten Buch= staben schwarz geworden und die blauen Buchstaben völlig ver= schwunden gewesen. Er versuchte sich an etwas aus sei= nen Schulbubentagen zu erinnern, als er seine erste primitive Foto= Box geschenkt bekommen hatte, und er gar nicht hatte verstehen können, warum die kleinen Mäd= chen in roten Kleidern auf den Fo= tos nachher immer in schwarzen Kleidern >herausgekommen< waren,

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während ihre blauen Kleider stets völlig weiß ausgesehen hatten. Je= mand hatte es ihm einmal erklären wollen, aber schon damals hatte er es niemals richtig verstanden. Als er das Gäßchen zum Gasthaus zurückschlenderte, rückte ein wei= teres Mosaiksteinchen des Puzzle» spiels an seinen Platz. > . . . wenn man die andere Tatsache für sich allein betrachten würde, ohne Woodwards Aussage . . .< »Oh!« sagte Edgar Coppel. > . . . den Namen Mayfly, in hell» blauen Buchstaben vorne auf Cassi» dys weißem Pullover gestickt, hatte er deutlich erkennen können .. .< »Hm«, sagte Edgar Coppel. > . . . in der Dämmerung des Juli» abends . . .

»Ich hab's!« rief Edgar Coppel. Und er beschleunigte seine Schritte und eilte ins Gasthaus zurück, so schnell ihn seine Beine nur irgend trugen. »Gleich ist das Frühstück fertig«, versprach der Wirt. »Hat Zeit bis später«, erwiderte Edgar Coppel und hastete weiter. Er jagte die Treppe hinauf in sein kleines Gasthauszimmer, und hob vom Boden das Blatt aus der letzten Sunday Sphere auf. Er setzte sich auf den Bettrand und suchte sich die verschiedenen Einzelheiten aus dem Bericht des Cassidy=Falles zu» sammen. Seit er ein kleiner Junge

gewesen war, hatte er sich niemals mehr so sonderbar, in so merkwür« diger Art erregt und aufgeregt ge= fühlt. Ja, tatsächlich! Es schien alles von diesem Zeugen Woodward abzu» hängen — davon, daß er den Namen Mayfly auf Cassidys Pullover ge» sehen haben wollte und dadurch die Polizei zu der Jacht geführt hatte. Und nachher, bei der Identifizier rung . . . aber in erster Linie galt Woodwards unter Eid geleistete Aussage, daß er den Bootsnamen auf Cassidys Pullover gesehen hat» te, und zwar ganz in der Nähe der Scheunentür. Und wenn Woodward es nun nicht gesehen hatte, wenn er es gar nicht gesehen haben konn te . . .

Edgar Coppel drehte das Zeitungs= blatt um und suchte sich wieder die entscheidenden Einzelheiten des Falles heraus; doch diesmal über» flog er sie nicht, er studierte sie Wort für Wort. Blaue Buchstaben — graue Dämmerung — und eine Straßenbreite zwischen Woodward und dem Mann, der aus der Scheu» ne herausgekommen war . . . Edgar Coppel legte die Zeitung aus der Hand und versuchte nachzu­denken.

Wenn Woodward den Namen Мяу» fly auf Cassidys Pullover nicht ge»

sehen hätte—und er konnte ihn nicht

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gesehen haben —, dann hatte Wood» ward gelogen, dann war es Wood= ward gewesen, der zum Zeitpunkt der Tat der Scheune am nächsten gewesen war, und der ganze Fall gegen Cassidy fiel völlig auseinan» der, und wenn die Buchstaben wirk= lieh blau waren — hellblau — und wenn es wirklich in der grauen Dämmerung geschehen war . . . Vielleicht ist es nur eine ganz be= stimmte Art von Blau, sagte sich Edgar Coppel. Vielleicht haben die Buchstaben auf dem Filmplakat da draußen gerade diese bestimmte Nuance, und andere Arten und Schattierungen von Blau . . . Aber dann erinnerte er sich wieder an die blauen Kleider seiner kleinen Freundinnen, die auf den Fotos stets und immer weiß >herausge= kommen< waren.

Er merkte, daß er die alten Bücher auf dem selbstgezimmerten Bücher» brett anstarrte, ein paar waren blau eingebunden, ein paar davon rot. Hier im Morgenlicht sahen sie rot und blau aus. Er stand auf und hol» te sich drei dieser Bücher — ein ro= tes, ein hellblaues und ein dunkel» blaues. Er zog den Vorhang vor das Fenster und öffnete die Tür des vor» sintflutlichen Kleiderschranks. Im Dämmerlicht des Schrankinneren hielt er die drei Bücher vor sich hin. Das rote Buch wirkte dunkel, das

dunkelblaue wirkte ebenfalls dun» kel, das hellblaue Buch wirkte weiß» lich=blaß. Nicht so blaß, daß man farblos sagen konnte, aber es war hier im Innern des Kleiderschranks ja auch nicht wirklich dunkel. Viel= leicht war echte Dunkelheit not» wendig, um diese optische Tau» schung, oder was es sonst sei, voll» kommen zu machen — vielleicht et» was am Himmel oder irgend etwas, was in der Luft lag. Er studierte den Zeitungsbericht ein drittes Mal. Hellblaue Buchstaben, stand dort ausdrücklich zu lesen, und graue Dämmerung . . .

D E O N -NN AREY П ERGESSENES EBEN

Daran gab es also keinen Zweifel. Vielleicht war nur noch die be= stimmte Nuance von Blau erf order» lieh — grünlichblau oder gelblich» blau oder eine andere Schattierung. Aber es begann allmählich so aus» zusehen, als ob jede Art von Hell» blau, aus der Entfernung einer Straßenbreite gesehen, im Grau der Dämmerung weiß Gott schwierig zu erkennen sei.

> . . . wenn man die andere Tatsache für sich allein betrachten würde, ohne Woodwards Aussage .. .< Ich muß mit jemand sprechen! dach» te Edgar Coppel. Unbedingt!

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In der Mitte des Zeitungsblattes waren in einem kleinen ausgespar= ten Rechteck die Namen der Rich= ter, des Staatsanwalts und der An= walte der Verteidigung aufgeführt. >Simnel und Smith, Anwälte des Angeklagten. <

Tief in Gedanken versunken, aß er langsam sein Frühstück in sich hinein. Eine eigenartige Lage, in der er sich da befand. Wenn er nicht zufällig den sonderbaren Scherz entdeckt hätte, den sich schwinden» des graues Tageslicht mit hellblauer Farbe erlaubte, dann hätte diese Ge= richtssache vielleicht ein böses Ende finden können. Wieso hatte er das eigentlich vorher niemals bemerkt? Es gibt eben Dinge, die sieht man, und man sieht sie doch nicht. Wie man zum Beispiel die obere Hälfte einer Reihe von Buchstaben, einer Zeile, lesen soll. Man kann ein Stück Papier über die obere Hälfte legen, und dann kann man jedes Wort lesen. Aber deckt man nun die untere Hälfte zu und ver= sucht dann die Worte zu lesen, dann kann man es nicht. Das hatte er einmal in einer Illustrierten gelesen und selber ausprobiert. Sicher gab es viele so ulkige kleine Dinge: man mußte sie nur herausfinden. Hellblau kann man in der Dunkel= heit nicht sehen, rot hingegen sieht

man beinahe doppelt so gut; das hatte er nun herausgefunden. Also gut, sogar sehr gut. Wenn die graue Dämmerung an jenem ver» hängnisvollen Abend in Cromer dunkel genug gewesen war, wenn die blauen Buchstaben auf Cassidys Pullover blau genug waren, und wenn Woodward also nicht gesehen haben konnte, was er vorgab, gese» hen zu haben — dann gab es keiner= lei Beweis oder auch nur Indizien dafür, daß Cassidy zur Zeit des Mordes überhaupt in der Nähe der Scheune gewesen war. »Ich muß mit jemandem sprechen!« sagte Edgar Coppel. »Ich muß!«

Eine völlig veränderte, höchst seit» same Sachlage, ein völlig neuer Aspekt. Mr. Coppel, Eigentum der Firma Hepplewhite & Company, bisher gefangengehalten in seinem winzigen Käfig, würde nun plötz» lieh im grellen Licht der öffentlich» keit als der Mann dastehen, der durch einen winzigen Zufall einen anderen Mann vor dem Galgen ge= rettet hatte.

»Simnel und Smith«, sagte Edgar Coppel halblaut vor sich hin, »sie werden herausfinden, wie dunkel es war und wie hell die Buchstaben auf dem Pullover sind. Ganz sicher wird die Polizei den Pullover als Beweisstück in Gewahrsam haben.

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Sie kann ja dort selber einen Ver= such machen, aber wir sind nicht auf sie angewiesen — wir können auch selber die notwendigen Ver= suche machen.« Er zahlte seine kleine Rechnung in dem Gasthof, ging zum Benfleeter Bahnhof und nahm den ersten Zug nach London. Niemand nahm auch nur die geringste Notiz von ihm. Für all die vielen Vorüberhastenden war er nichts weiter als ein äußer» lieh ein wenig heruntergekommener junger Mann. Edgar Coppel lächel= te. Sie wußten ja noch nichts, sie würden schon noch Augen machen! Es wurde Mittag, bis er zu seinem kleinen Zuhause kam. Er badete, zog sich um und wurde wieder der adrette Mr. Coppel von einst, aber ein Mr. Coppel mit einem ganz neuen blitzenden Glanz in den Augen. Bereits um drei stand er im Vorzimmer der Rechtsanwälte Sim= nel und Smith, und Simnel & Smiths eigener >Mr. Coppeh — der ganz so aussah, als hieße er Brown — versuchte von dem wirklichen Mr. Coppel zu erfahren, worum es sich denn handle, um Mr. Simnel oder Mr. Smith nicht unnötig zu stören.

»Tut mir leid, kann ich Ihnen leb der nicht sagen«, beharrte Edgar Coppel und blieb standhaft. Der Mann am Empfangstisch schob

seine Unterlippe vor und schielte auf die Uhr. Die beiden Allgewal= tigen seiner Rechtsanwaltsfirma waren ja immer so schrecklich be= schäftigt. Edgar Coppel zog einen Notizzettel aus der Tasche und schraubte seinen Füllhalter auf. Auf den Zettel schrieb er: >Betrifft Fall Cassidy — wichtige Informationen^ »Geben Sie das Herrn Simnel oder Herrn Smith«, sagte er und faltete das Papier zusammen. Der Angestellte seufzte, ging durch eine Glastür hinaus — ausgerechnet durch eine Glastür —, kam mit höchst erstaunten Augen zurück und sagte: »Bitte, kommen Sie mit. Mr. Simnel möchte Sie sprechen.« Und Mr. Simnel sah Mr. Coppel durch seine Tür hereinkommen — ein höchst erstaunter Mr. Simnel. »Mr. — eh Coppel?« sagte Mr. Sim= nel.

»Allerdings«, bestätigte Mr. Cop= pel. Mr. Simnel hielt immer noch den Zettel in der Hand, den Coppel ge= schrieben hatte. »Der Fall Cassidy«, sagte er ganz ruhig, »so — eh — so schreiben Sie hier . . . « Er verlor sich in Schweigen und sah Mr. Coppel forschend an.

Mr. Coppel trug seinen Fall vor, zählte seine Argumente an den Fin= gerspitzen auf und zitierte die Zu= sammenfassung des Berichts. Er

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trug seinen Fall, wie Mr. Simnel — wenn natürlich auch nur im Stillen — zugeben mußte, ausgezeichnet vor. Seinen letzten Beweispunkt er» klärte er ganz besonders deutlich — daß nämlich die ganze Beweisfüh» rung von dem Zeugen Woodward abhänge und daß die Aussage des Zeugen Wood ward wiederum allein nur von der Tatsache abhing, daß der Name auf dem Pullover des Mannes, den Woodward aus der Scheune herauskommen gesehen hatte, der Name der Jacht Mayfly gewesen war.

»Damit ging Woodward zur Poli» zei«, sagte Mr. Coppel, »und die Polizei fuhr natürlich sofort zur Mayfly hinaus. Daraus ergab sich dann die ganze Indizienkette. Aber diese Indizienkette hätte sich nicht ergeben, wenn Woodward nicht den Namen Mayfly auf dem Pullover gelesen hätte. Und angenommen, nur einmal angenommen, er hat ihn nicht gesehen?«

Mr. Simnel blinzelte. »Fahren Sie fort«, sagte er. Und Mr. Coppel fuhr fort: »Wenn er den Namen nicht gesehen hat, hat er vielleicht auch keinen Pullo= ver gesehen, und vielleicht hat er auch überhaupt keinen Mann ge= sehen. Es war Cassidys Pistole, gut und recht. Aber Waffen können gestohlen werden, können jeman=

dem >untergeschoben< werden, so nennen Sie das doch? Wenn Wood= ward den Namen auf dem Pullover nicht gesehen hat, überhaupt nicht sehen konnte, dann sieht mir die ganze Sache danach aus, als ob man die Schuld an dem Mord bewußt jemand anderem in die Schuhe schie» ben will — nämlich Cassidy.« Mr. Simnel blinzelte immer noch und sah noch verwirrter und er» staunter drein. »Wenn Woodward den Namen überhaupt nicht sehen konnte, sagen Sie?« »Es ist bereits einwandfrei ermittelt worden«, erklärte Mr. Coppel, »daß keine Straßenbeleuchtung brannte, auch keine Laterne vor oder neben der Scheune, daß zwischen den bei» den Männern die volle Breite einer Straße lag und daß der Name auf Cassidys Pullover mit hellblauer Farbe aufgestickt war.« »Nun, und?« fragte Mr. Simnel. Mr. Coppel, der sich durch seinen Eifer derart erhitzt hatte, daß ihm feine Schweißtröpfchen auf der Stirn standen, erhob sich und blick» te sich im Zimmer um. »Gestatten Sie?« sagte er. Und zu Mr. Simnels Erstaunen nahm er von Mr. Sim» nels Wandregal zwei Bücher herun» ter und zog den Vorhang vor Mr. Simnels Bürofenster zu. »Hier ist es jetzt zwar nicht ganz so dunkel, daß ich es Ihnen eindeutig

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Will Scott

beweisen kann«, sagte Mr. Coppel, »aber es reicht aus, daß Sie sich eine ungefähre Vorstellung machen können.« Dann kam es ihm zum erstenmal zum Bewußtsein, daß er sich ganz und gar nicht so benahm, wie Mr. Coppel von Hepplewhite & Company sich eigentlich beneh= men sollte. »Dies mag Ihnen viel= leicht einen Anhaltspunkt geben, Mr. Simnel«, verbesserte er sich da= her.

Er hielt die beiden Bücher in eine dunkle Ecke, und dahinter stellte er eine jener großen weißen Schreib» unterlagen aus Löschpapier. »Das Buch in meiner linken Hand ist hellblau«, erklärte er. »Das Buch in meiner rechten Hand hingegen ist grellrot. Können Sie bei diesem Licht das hellblaue Buch vor der weißen Löschunterlage erkennen, Mr. Simnel?« fragte er. »Kaum«, gab Mr. Simnel zu. »Und das rote Buch, Mr. Simnel?« »Ganz deutlich, es erscheint fast schwarz.«

»Sehen Sie!« rief Mr. Coppel aus. »Wenn also diese Bücher Wörter gewesen wären, so hätten Sie die hellblauen nicht sehen können.« »Großer Gott!« rief Mr. Simnel. »Sonderbar, was es so alles gibt!« Dadurch ermutigt, erzählte Edgar Coppel von seiner Entdeckung in der Southend=Street vom Abend

zuvor, als A N N C A R E Y sich in der Dämmerung vor seinen Augen in

N N AREY verwandelt hatte. »Sie sehen also, Mr. Simnel«, sagte er, »es hängt alles vom Grad der Dunkelheit ab, und davon, wie hell das Blau war. Damit steht und fällt der ganze Fall Cassidy. Es würde weiß Gott die Mühe lohnen, das herauszufinden.« »Entschuldigen Sie mich einen Mo= ment«, bat Mr. Simnel, der jetzt selber ganz rot im Gesicht gewor= den war; er ging hinaus und mur= melte noch einmal »Merkwürdig!« vor sich hin.

Es dauerte nahezu zehn Minuten, bis er wieder zurückkehrte. »Ganz helles Blau — die Buchstaben auf dem Pullover«, sagte er. »Ich habe ihn mir gerade angeschaut. Und es muß schon ziemlich dunkel gewesen sein, denn Woodward be= hauptete, Cassidy hätte ihn nicht gesehen. Und ebenso behauptete Woodward, er hätte sich nicht etwa in einem Versteck verborgen ge= halten.«

»Welch ein Glück, Mr. Simnel«, rief Mr. Coppel, »daß ich gestern abend die Southend=Street über= querte, nicht wahr?« »Glück?« echote Mr. Simnel. »Für Cassidy natürlich.« »Für Cassidy?«

»Nun . . . « Edgar Coppel stockte

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Blau in Grau

und suchte nach dem rechten Wort, um auszudrücken, daß er sich hier keineswegs allzusehr als Held in einem Mordprozeß aufspielen wollte. »Aber man kann die Dinge doch nicht einfach weiter ihren Lauf nehmen lassen. Da muß doch sofort etwas unternommen wer= den!«

»Wie meinen Sie das?« fragte Mr. Simnel. »Wenn Woodward lügt«, erklärte Edgar Coppel, »dann reißt das doch diese ohnehin fragwürdige Indi= zienkette völlig auseinander und stellt den ganzen Fall auf den Kopf, meinen Sie nicht auch?« Für eine Weile, so lange, daß Edgar Coppel vor innerer Erregung mehr und mehr errötete, saß Mr. Simnel da und blickte seinen Besucher starr an. Dann schaute er zur Seite und stützte sich auf die Kante seines Schreibtisches.

»Ich kann... ich kann nicht ganz...«, begann er stockend. Wiederum starrte er Edgar Coppel ins Gesicht. »Wo . . . wo haben Sie davon ge= hört?« fragte fragte er. »Ich habe es in der Sonntagszeitung gelesen«, erwiderte der völlig ver= wirrte Edgar Coppel. »In der Sunday Sphere?« »Allerdings .«

»Und all das lasen Sie und . . . « »Ja, gewiß.«

»Aber . . .« Das schien für Mr. Sim= nel einfach zuviel zu sein. Er stand auf, ging zur Tür, rief etwas nach draußen, wartete einen Augenblick u d kam mit einem Exemplar der letzten Sunday Sphere zu seinem Schreibtisch zurück. »Sie haben es also wirklich hier drin gelesen?« »Ja doch!« bestätigte Edgar Coppel. Nicht um alles in der Welt konnte er sich vorstellen, was da plötzlich in Mr. Simmel gefahren war. Na= türlich hatte er es gelesen. »Das he iß t . . .« , sagte er. »Ja?« fragte Mr. Simnel. »Nur einen Teil der Zeitung«, ge= stand Edgar Coppel. Mr. Simnel riß weit die Augen auf, und dann plötzlich schien die Starre von ihm zu weichen; er überhastete sich förmlich. Er schlug die Sunday Sphere auf, die Seite zwölf. »Mei= nen Sie diese hier?« fragte er. »Ja, genau das«, bestätigte Edgar Coppel, und er erzählte, daß er Fe= rien von Zivilisation und Zeitungen gemacht hatte und daß der Wind ihm am Abend zuvor dieses lose Blatt vor die Füße geweht hatte. »Ah — so«, sagte Mr. Simnel. Jetzt endlich lag Verstehen in seinen Augen, doch auch noch etwas ande= rej war in ihnen zu lesen, und die= ses andere war es, was Edgar Cop= pel erschreckte.

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Will Scott

»Hier steht...«, erläuterte Mr. Sim= nel und zeigte auf den oberen Rand, »Fortsetzung von Seite eins.« »Ja, das habe ich gesehen«, sagte Mr. Coppel. »Und auf Seite eins steht —« Mr. Simnel reichte Edgar Coppel die zusammengefaltete Zeitung hin= über, die Titelseite, Seite eins, nach oben. Und Edgar Coppel las:

BERÜHMTE PROZESSE

DER VERGANGENHEIT — N R . 6:

D E R F A L L C A S S I D Y

Im Alten Gerichtshof wurde am 3. Oktober 1886 vor Richter Stret= t o n . . . »Ich . . . « , murmelte Edgar Coppel mit puterrotem Gesicht.

»Der Mr. Simnel hier in der Zeitung war mein Vater«, erklärte Mr. Simnel. Edgar Coppels Gesicht wechselte langsam von Rot in ein krankhaftes Grau. »Also selbst wenn ich recht h a b e . . . « »Was wahrscheinlich der Fall ist«, seufzte Mr. Simnel. »Das könnten wir wohl sogar heute noch bewei= sen. Allerdings . . . Nun, Sie haben es ja selbst gesehen.« »Vierundsechzig Jahre zu spät, mei= nen Sie«, sagte Edgar Coppel und griff zögernd nach seinem Hut. »Vierundsechzig Jahre zu spät«, nickte Mr. Simnel. »Ja«, sagte Edgar Coppel und seufzte.

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О. Henry

Nach zwanzig Jahren

Ein kleiner Diamant, der unter den unzählbaren KriminaUStories hervorblitzt — die Geschichte eines Mannes, der zweitausend Meilen weit hergereist kam, um eine vor zwanzig Jahren getroffene Ver= abredung einzuhalten — von einem der größten amerikanischen Kriminalgeschichtenerzähler...

Die Art, in der der Polizist vom Pa= trouillendienst die Avenue herauf* kam, wirkte recht imposant. Diese Wirkung war jedoch nicht etwa ge= wollt, sondern es geschah rein ge= wohnheitsmäßig, denn Zuschauer gab es zu dieser Stunde kaum. Es war kurz vor zehn Uhr abends, und eisige Böen, die eine Vorahnung von Regen mit sich brachten, hatten die Straßen nahezu leergefegt. Wie der Polizist so dahinschritt und hier und da prüfend an den Türen rüttelte, wie er seinen Gummiknüp= pel in abgezirkelten Figuren durch die Luft kreisen ließ, dann und wann ein wachsames Auge die friedliche Avenue entlanggleiten ließ, da war er mit seiner kraftvol» len Gestalt und dem aufrechten

Gang so recht das Sinnbild eines Hüters der Ordnung. In dieser Ge= gend pflegten die Geschäfte schon früh zu schließen. Von Zeit zu Zeit konnte man zwar noch das Licht eines Tabakladens oder einer durch= gehend geöffneten Snackbar sehen; im großen und ganzen aber gehör* ten die Türen zu Läden und Ge= schäftshäusern, die schon seit Stun* den geschlossen hatten. Der Polizist befand sich gerade in der Mitte eines Häuserblocks, als er plötzlich seine Schritte verlang» samte. Im Torbogen einer jetzt im Dunkel daliegenden Eisenwaren* handlung lehnte ein Mann mit einer Zigarre im Mund, ohne daß er sie angezündet hatte. Als der Polizist auf ihn zutrat,

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О. Henry

sprudelte der Mann hastig eine Antwort hervor. »Ist schon in Ord* nung, Wachtmeister, ich warte hier nur auf einen Freund. Wir haben uns hier vor zwanzig Jahren verab* redet. Kommt Ihnen wohl 'n biß=

chen komisch vor, eh? Nun, ich will es Ihnen erklären, damit Sie sehen, daß ich hier nicht etwa irgendwel= che Dummheiten anstellen will. Vor zwanzig Jahren stand hier nämlich ein Restaurant, da, wo jetzt dieser Laden ist — >Big Joe Brady's Re= staurant< hieß es.« »Yeah«, sagte der Polizist. »Vor fünf Jahren wurde es abgerissen.« Der Mann im Torbogen kramte in seiner Tasche, brachte eine Schach» tel Streichhölzer zum Vorschein und zündete sich umständlich seine Zi= garre an. Die Flamme beleuchtete ein blasses, kantiges Gesicht mit durchdringenden Augen und einer kleinen weißen Narbe neben der rechten Augenbraue. In der Kra* watte, die der Mann trug, steckte ein großer, ungewöhnlich gefaßter Diamant.

»Heute vor zwanzig Jahren«, sagte der Mann, »aß ich hier in >Big Joe Brady's Restaurant< zu Abend. Jim* my war mein bester Freund, ein Pfundskerl, der beste Kerl von der Welt. Er und ich, wir wuchsen hier in diesem nicht gerade vornehmen Viertel von New York auf, genau

wie zwei Brüder. Ich war achtzehn, Jimmy zwanzig. Am nächsten Мог* gen wollte ich in den Westen auf* brechen; ich wollte zu Geld kom= men. Jimmy hingegen hätten keine zehn Pferde aus New York weg* gebracht; für ihn war New York der einzige Platz in der Welt, wo man überhaupt leben konnte. Ja also — an jenem Abend machten wir dann aus, daß wir uns hier nach genau zwanzig Jahren wieder tref= fen wollten, genau am gleichen Tag und genau um die gleiche Zeit, egal, was aus uns geworden wäre, wie es uns ginge und von wo immer wir auch hergereist kommen müßten. Wir meinten damals, in zwanzig Jahren würde sich unser Leben doch wohl soweit entschieden haben, und irgendwie müßten wir es bis dahin zu etwas gebracht haben.« »Klingt ja recht interessant«, sagte der Polizist. »Allerdings eine ziem= lieh lange Zeit zwischen den beiden Verabredungen, scheint mir. Haben Sie denn in der Zwischenzeit nie* mals mehr etwas von Ihrem Freund gehört?«

»Doch — ja, eine Zeitlang haben wir uns sogar noch geschrieben«, erzählte der Mann. »Aber nach ein, zwei Jahren, wie das so ist, haben wir uns aus den Augen verloren. Wissen Sie, der Westen ist ja ganz schön groß, und ich bin ziemlich

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Nach zwanzig Jahren

weit drin herumgekommen, fast in jedem Winkel. Dennoch habe ich weiß Gott keine Sekunde gezögert, von so weit her nach New York zu reisen. Denn ich weiß, wenn Jimmy noch am Leben ist, dann wird auch er hierherkommen; er war immer der treueste, zuverlässigste Junge, den man sich nur irgend denken kann. Er wird es bestimmt nicht vergessen haben. Weiß Gott — volle zweitausend Meilen bin ich gereist, um heute abend hier unter dieser Tür zu stehen. Aber das ist es mir wert, jeden Cent und jede Sekunde, wenn der alte Knabe auf= taucht und mich nicht vergessen hat.«

Der Mann im Torbogen zog eine goldene Sprungdeckeluhr hervor, deren Deckel mit kleinen Diaman= ten besetzt war. »Drei Minuten vor zehn«, verkündete er. »War genau zehn, als wir uns damals hier vor dem Restaurant verabschiedeten.« »Scheint Ihnen nicht gerade schlecht ergangen zu sein, nicht wahr?« fragte der Polizist. »Kann man wohl sagen! Hoffe nur, daß es Jimmy wenigstens halb so gutgeht wie mir. Er war immer 'n bißchen schwerfällig, der Gute. Als ich mich hocharbeitete, da habe ich es weiß Gott mit den smartesten Big=Shots, mit den raffiniertesten Hohen Tieren aufnehmen müssen.

Hier in New York hingegen bleibt einer ja doch immer nur in seinem aiten Gleis. Erst im Westen, das kann ich Ihnen versichern, da wird man auf Touren gebracht und zwar gehörig.« Der Polizist schwang mit seinem Gummiknüppel einen seiner kunst= voll abgezirkelten Kreise und trat ein paar Schritte zurück. »Ich muß jetzt weitergehen«, sagte er. »Nun, ich hoffe, daß Ihr Freund auch wirklich kommt. Werden Sie hier noch lange auf ihn warten?« »Ich glaube nicht«, erwiderte der andere, »'ne gute halbe Stunde ge= be ich ihm noch Zeit. Wenn Jimmy noch auf dieser Erde herumläuft, und sich nicht bereits die Radies= chen von unten anschaut, wird er in dieser halben Stunde auch be= stimmt hier sein. Wiedersehen, Wachtmeister.«

»Gute Nacht, Sir«, sagte der Poli= zist und machte sich weiter auf seine Runde; und hier und da rüttelte er prüfend an den Türen. Ein feiner kühler Sprühregen hatte niederzu» rieseln begonnen, und aus den ge= legentlichen Böen war ein gleich» mäßiger und heftiger Wind gewor= den. Die wenigen Fußgänger, die noch unterwegs waren, eilten miß= gestimmt und schweigend dahin; sie hatten ihre Pelzkragen hoch= geschlagen und die Hände tief in

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den Taschen vergraben. Und in dem Torbogen der Eisenwarenhandlung stand der Mann, der zweitausend Meilen gereist war, um eine bei= nahe lächerliche Verabredung mit seinem Jugendfreund einzuhalten, rauchte seine Zigarre und wartete. Er wartete etwa zwanzig Minuten. Dann kam von der anderen Straßen= seite ein breitschultriger, großer Mann in einem Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen herüber* • geeilt. Er kam geradewegs auf den Mann zu, der unter dem Torbogen wartete.

»Bist du's, Bob?« fragte er, zunächst noch zweifelnd. »Bist du's, Jimmy Wells?« rief der Mann unter dem Torbogen begei= stert. »Mensch, mich trifft der Schlag!« rief der Hinzugekommene und schüttelte dem anderen beide Hän= de. »Jawohl, das ist Bob, oder ich will hier auf der Stelle unter das Pflaster versinken. Habe ich doch gewußt, daß ich dich hier vorfinden würde, wenn du überhaupt noch am Leben bist. Junge, Junge, zwan= zig Jahre sind eine verflixt lange Zeit. Wie du siehst, selbst unsere alte Kneipe von damals ist inzwi= sehen futsch gegangen. Ich wünsch= te, sie stünde noch da; dann könn= ten wir dort drin gleich wieder zu Abend essen. Nun komm, erzähl

schon — wie ist es dir im Westen ergangen, altes Haus?« »Toll, kann ich dir sagen! Hab' buchstäblich alles erreicht, was ich mir in den Kopf gesetzt hatte. Aber du — hast dich mächtig verändert, Jimmy. So groß hatte ich dich eigentlich gar nicht mehr in Erinne= rang.«

»Nun, ich bin eben noch ein oder zwei Zoll gewachsen, als ich bereits die Zwanzig hinter mir hatte.« »Geht's dir halbwegs ordentlich hier in New York, Jimmy?« »Nun ja, einigermaßen. Hab' einen Job hier bei der Stadtverwaltung. Aber jetzt komm, Bob, geh'n wir in ein anderes Lokal, gleich hier in der Nähe, und dann wird erst ein= mal von den guten alten Zeiten ge= redet.«

Arm in Arm setzten sich die beiden Männer in Bewegung, und der Mann aus dem Westen, dessen überhebliches Getue durch seine beruflichen Erfolge noch zugenom» men zu haben schien, begann un= terwegs die Geschichte seiner Kar= riere zu skizzieren. Der Breitschub trige, den Kragen seines Trench= coats hochgeschlagen, hörte ihm interessiert zu.

An der Ecke kamen sie zu einem hellerleuchteten Dragstore. Im grellweißen Licht seiner Neonröh= ren blieben sie stehen und drehten

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Nach zwa :ig Jahren

ehe wir aufs Revier gehen, soll ich Ihnen noch einen Brief übergeben. Hier, lesen Sie ihn bitte, gleich hier beim Schaufensterlicht. Der Brief stammt von dem Polizisten Wells.« Der Mann aus dem Westen faltete das kleine Stück Papier auseinan= der. Seine Hand war fest, als er zu lesen begann, aber hinterher zit= terte sie ein wenig. Auf den Zettel waren nur flüchtig ein paar Zeilen gekritzelt:

Bob, ich war rechtzeitig an der vereinbarten Stelle. Als das Streichholz aufleuchtete, mit dem du deine Zigarre anzündetest, erkannte ich in dir den Mann, der in Chicago gesucht wird. Ich konnte es einfach nicht selber tun; so ging ich weiter und holte einen Geheimpolizisten, der es nun für mich tun wird.

Jimmy

sich gleichzeitig einander zu, um sich ins Gesicht zu sehen. Der Mann aus dem Westen stutzte plötzlich, kniff die Augen bis auf einen Spalt zusammen und zog sei= nen Arm unter dem des anderen hervor.

»Sie sind nicht Jimmy Wells!« fuhr er auf. »Zwanzig Jahre mögen ja 'ne verflixt lange Zeit sein, aber so lang sind sie denn auch wieder nicht, um eine römische Nase in eine Him= melsfahrtsnase zu verwandeln.« »Mitunter verwandeln sie aber auch einen sauberen, ehrlichen Kerl in einen Schurken«, erwiderte der Breitschultrige. »Seit zehn Mi= nuten stehen Sie unter Arrest, >Seäden=Bob<. In Chicago vermutete man bereits, daß Sie hier bei uns aufkreuzen würden, und sie kabel= ten uns, sie würden sich gern ein wenig mit Ihnen unterhalten. Sie kommen doch freiwillig mit, nicht wahr? So, ja, so ist's brav. Aber

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Frederick Irving Anderson

Das Haus am Ende der Straße

Manche Kriminalgeschichtenerzähler scheinen über derartige litera= rische Qualitäten zu verfügen, daß ihre Stories der Zeit zu trotzen vermögen. Hier ist eine solche >unsterbliche< Kriminalstory, die 1922, vor mehr als vierzig fahren, zum erstenmal in T H E A M E R I C A N

M A G A Z I N E erschien. Mit nur ein paar winzigen Änderungen —könnte diese Story nicht gerade erst im letzten Monat veröffentlicht worden sein?

Die Uhr auf dem Kamin hatte ge= rade neun geschlagen. Grinder, der alte Jagdhund, der beim Feuer lag und mit der Schnauze seinen Stum= melschwanz benagte, hob plötzlich lauschend den Kopf und sah zu sei= nem Herrn hinüber; aber Beiden, von Beruf Brückenbauingenieur, saß mit seinem Freund Armiston völlig vertieft über eine Partie Schach gebeugt.

Die beiden Männer, in derben Ho= mespun gekleidet und mit sprießen= den Barten, merkten gar nicht, daß der Hund sich wachsam aufrichtete. Nur das gedämpfte Ticken der alten Uhr und das Knistern des Feuers im Kamin unterbrachen die Stille.

Lautlos erhob sich Grinder und reckte seine vom langen Liegen stei= fen Beine. Da trug ihm doch der Wind etwas zu, da kam doch etwas den Hügel herauf? Grinder stelzte zu seinem Herrn hinüber und horchte angestrengt nach draußen. Sacht stieß er ihn mit der Schnauze gegen das Handgelenk, und Beiden strich ihm zerstreut über den Kopf. Es erschien Grinder ganz und gar unbegreiflich, daß diese beiden lie= ben törichten Menschen hier noch so ruhig sitzen konnten. Beiden, der in Kürze in den Anden, in Peru, eine Brücke bauen würde, hatte sich hier oben in das seit lan= gern unbewohnte Haus seiner Vor=

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Das Haus am Ende der Straße

fahren zurückgezogen, um vorher noch ein wenig mit seinen Gedan= ken allein zu sein. Sein Freund und Schachgegner Oliver Armiston, ehe= maliger Autor von Kriminalroma= nen, lebte jetzt von den Tantiemen seiner schriftstellerischen Glanzzeit. Er hatte sich bei seinem Freund quasi selber eingeladen und ihm versprochen, die Rollen des Kochs und Tellerwäschers zu übernehmen. Ja, hätte man noch in den guten al= ten Zeiten gelebt, dann wäre es jetzt in diesem Hause wohl hoch hergegangen. Schon von fern hätte sich die feudale Kutsche auf ihrem mühevollen Weg den steilen Hang hinauf mit frohem Hörnerklang angekündigt; die alte Zugglocke, die noch heute von dem hölzernen Torbogen im Vorgarten herabhing, unter dem verblichenen Schild mit den drei Krähen — sie hätte wieder ihr rhythmisches Klagen hören las= sen und damit Knechte und Mägde zusammengerufen; die Viererkut= sehe auf dem Weg von Hartford nach Albany wäre am Tor ange= bunden worden; die Damen wären hereingeflattert, und die Herren hätten mit ihren Zinnkrügen dröh= nend auf den alten Schanktisch ge= schlagen und getrunken und sich dabei die Neuigkeiten angehört, die hier von Nord und Süd eintrafen. Aber all das lag lange, lange zu=

rück. Das verwitterte Schild mit den drei Krähen knarrte zwar immer noch an den beiden verrosteten Ketten, an denen es herabbaumelte, aber die frühere Geselligkeit war dahin, sogar die Straße den Hügel herauf gab es nicht mehr — sie war jetzt nur noch eine von Gießbächen zerklüftete Rinne. Grinder stapfte an die Tür, steckte seine Schnauze an den Spalt und winselte. Beiden stand auf, um ihn hinauszulassen. Es war eine unan= genehme Nacht; der Nieselregen gefror noch fast im Niederfallen. Beiden spähte hinaus. »Ist das nicht ein Motor?« sagte er erstaunt. Von draußen klang ein summendes Geräusch wie das eines riesigen Hornissenschwarmes her= ein. Noch während er in die Dun= kelheit hinausstarrte, tauchten zwei geisterhaft durch das Dunkel ta= stende Autoscheinwerfer vor ihm auf. Das Auto kam langsam, su= chend näher, es erreichte das Tor und fuhr hindurch. »He! Hallo!« rief Beiden, und der Hund bellte dazu. Aber der Wagen hielt nicht an. Daraufhin rannte Beiden zu der Zugglocke, ergriff die Kette, die schon seit ewigen Zei= ten dort hing, und zog daran, daß es weithin widerhallte. Der Wagen stoppte, und langsam fuhr er bis ans Tor zurück.

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Frederick Irving Anderson

»Hallo!« rief eine Stimme. »Wohin führt diese Straße hier eigentlich?« »Nirgendwohin!« rief Beiden zu= rück. »Sie hört hier auf. Sie hätten den Fluß entlangfahren müssen. Wie sind Sie denn überhaupt hier heraufgekommen?« »Das weiß der liebe Himmel!« ant= wortete die Stimme aus dem Wa= gen. Ein Suchlicht leuchtete auf; Beiden und der Hund standen in dessen grellem Lichtkegel unter dem alten Torbogen. Dann, als wä= re er neugierig, glitt der Strahl die Balken des Torbogens hinauf und erfaßte das verwitterte Schild mit den drei Raben.

»Oh, ein Gasthaus!« rief der un= sichtbare Fahrer aus. »Um so bes= ser!« »Dies ist kein Gasthaus, hier gibt es keine Unterkunft«, erklärte Bel= den. »So, nicht? Aber Sie haben doch ein Schild aushängen.« Die Stimme in der Dunkelheit klang plötzlich fast aggressiv. »Dieses Schild hängt bereits seit hundertfünfzig Jahren hier«, erwi= derte Beiden. »Read Blackstone hat doch seiner= zeit die Sache mit der Beschilderung von Gasthäusern geregelt«, sagte die Stimme, »und zwar zu der Zeit, als auch dieses hier aufgehängt wurde, und diese Regelung dürfte

auch heute noch so gültig sein wie ein Gesetz. Jedenfalls fahre ich die= sen Hügel vor morgen früh nicht wieder hinunter.« »Auch ich gehe keinen Schritt wei= ter!« erklärte eine Frauenstimme aus dem Dunkel des Wagens her= aus. Beiden machte eine leichte Ver= beugung. Darin mußte man sich also wohl schicken. Oliver kam mit einer Laterne heraus. »Du«, kicherte ihm Beiden ins Ohr, »die halten dies hier für ein Gast= haus. Treiben wir dies Spielchen ruhig noch ein wenig weiter.« Er ging mit der Laterne voran und dirigierte den Wagen über die halb zugewachsene Auffahrt bis zur Scheune. Zwei undeutliche, in Pelz gekleidete Gestalten stiegen aus. »Im Kofferraum sind zwei Reise= taschen«, sagte der Mann. »Die eine nehme ich — nehmen Sie bitte die andere«, erwiderte Beiden und lachte leise vor sich hin. In der Küche stellte er die Tasche ab und ging dann hinaus, um noch ein paar Holzscheite zu holen. Als er zurückkehrte, stand der Mann vor dem Feuer und war dabei, sich seine Handschuhe auszuziehen. Die Frau kauerte sich neben Grinder und kraulte ihm das Fell. Dann stand sie auf, lachte und ließ ihren Pelz von den Schultern gleiten; eine elegante Silhouette kam dar=

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Das Haus am Ende der Straße

unter zum Vorschein. Ihr vorzeitig ergrautes Haar schimmerte silbrig von dem Nieselregen, der es über= sprüht hatte. Ihr Gesicht, rund und glatt wie das eines Kindes, war von der Kälte zart gerötet, was ihr zu ihrer Lebhaftigkeit ausnehmend gut stand. Sie wehrte den verspiel= ten Jagdhund ein wenig von sich ab und blickte sich im Zimmer um. »Wie hübsch!« rief sie und klatsch= te freudestrahlend in die Hände. Im flackernden Licht des Kamin= feuers und der Kerzen wirkte der Raum mit den antiken Möbeln in der Tat äußerst freundlich und ein= ladend. Auf ihrem Rundgang durchs Zimmer kam sie auch zu dem alten Schanktisch. »Ist dies hier das Fremdenbuch?« fragte sie frohgelaunt, als sie ein in altes Leder gebundenes Buch ent= deckte, das mit einer Kette an dem Schanktisch befestigt war. »Müssen wir hier unsere Namen eintragen?« »So will es das Gesetz, Madam«, sagte Beiden und schlug die letzte freie Seite auf. Er reichte ihr einen Federkiel, und entzückt lachte sie auf.

»Wer hat sich denn zuletzt hier eingetragen?« fragte sie und sah genauer hin. Während sie die weni= gen Zeilen überflog, murmelte sie beim Lesen halblaut vor sich hin. »>Der ehrenwerte Herr Jonathan

Croyden mit seiner Dame und zwei Dienstboten, davon einer frei. Don= nerstag, der Siebenzehnte im fünf= ten Monat, achtzehnhundertvier= undfünfzig.<« Sie schnappte nach Luft. »Achtzehnhundertvierund» fünfzig — du liebe Güte!« rief sie. »Und ich — ich bin die nächste!« Dann schrieb sie mit blitzenden Augen in steifer Handschrift, um die Hieroglyphen des ehemaligen ehrenwerten Herrn Jonathan Croy= den nachzuahmen. »Wie Sie sehen, ist das Geschäft hier im Road=End=Haus in den letz= ten Jahren nicht sonderlich gut ge= gangen«, lachte Beiden. Er hatte sich dem Mann zugewandt, der jetzt das Blatt überflog, auf dem die Dame sich eingetragen hatte. Sie packte ihn bei den Rockaufschlägen und drehte ihn zu sich herum. »Ist es hier nicht phantastisch ro= mantisch? Und wie wir hier anka» men — in einer Nacht wie dieser!« Dann wandte sie sich zu Beiden um. »Wie ist denn dieser Jonathan Croyden damals mit seiner Dame und seinen beiden Dienstboten, davon >einer frei<, hier heraufge= kommen?«

»Sicher mit einem sehr guten Wa= gen — Blitzexpreß=Kutsche, Ma= dam.« »O ja! In einer Viererkutsche!« sagte sie. »Vier PS also. Und wir,

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Angus — wieviel hat unsere Kut= sehe? Vierzig?« »Achtzig, glaube ich«, erwiderte der Mann. Und in schalkhafbdramatischem Ton begann sie zu rezitieren: »Wild war die Nacht. Nur Schur= ken waren unterwegs.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Der Wirt war ein gräßlicher Kerl, er wollte uns einfach nicht aufnehmen. Doch wir sagten zu ihm —« Ihre glitzern= den Augen richteten sich auf Bel= den, der dicht an ihrer Seite stand, »— Sir! Was hat Er ein Schild drau= ßen hängen? Weiß Er nicht, daß Blackstone — Read Blackstone, der damals hier die Gesetze erließ — gesagt hat: >Wer ein Schild aus= hänget an seinem Thore, der hat zu sorgen für Nahrung und ein Nachtquartier für einen jeglichen, wer immer auch des Weges kom= me.<«

»Ich fürchte, ich habe mich anfäng= lieh ein wenig grob benommen«, sagte der Mann jetzt bereits we= sentlich freundlicher. »Meine Vorfahren hatten immer ein offenes Haus«, sagte Beiden. »Wie konnte ich es anders machen in einer solchen Nacht. Haben Sie schon gegessen?«

»O ja«, antwortete der Mann be= haglich. Dann merkte er zum er= stenmal das aufgestellte Schach=

spiel, und er kam herüber und setzte sich dazu. »Aha, Philidor — die alte Schach= Art«, sagte er nachdenklich. »In= zwischen doch längst außer Mode.« »Bei uns nicht — wir versuchen es dennoch.« »Dann lassen Sie sich bitte nicht unterbrechen. Die Sache interessiert mich, wirklich.« »Darf ich mich ein wenig umschau= en?« fragte die Frau. »Na hör mal — was glaubst du denn, wo du hier bist?« sagte der Mann. Er sagte es ziemlich scharf. »Pssst!« bat sie und legte ihm den Finger auf die Lippen. »Wollen wir nicht lieber für ein paar Augen= blicke vergessen, wo wir hier sind?« Die drei anderen versanken in das Schweigen von schachspielenden Männern. Während die Frau von einem Gegenstand zum anderen ging, stehenblieb, um sich den einen oder anderen näher anzusehen oder ihn gar zu betasten, zeichneten ihre klappernden spitzen französischen Absätze auf dem harten Marmor= fußboden ein imaginäres Muster. Ansonsten war die Stille so tief, daß die drei Männer nervös zusam= menfuhren, als die Frau auf ein= mal fragte: »Darf ich auch einmal hinaufgehen?«

»Aber meine Liebe—ich bitte dich!« protestierte der Mann.

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Das Haus am Ende der Straße

»Warten Sie, ich gebe Ihnen eine Kerze«, sagte Beiden. Als sie wieder herunterkam, war die Partie Philidor, jene alte Art von Schach, beendet. Die drei Män= ner hatten sich vor den Kamin ge= setzt und plauderten gemütlich mit jener oberflächlich freundschaft= liehen Anonymität, wie sie etwa im Salonwagen eines Zuges der We= stern Railroad zu entstehen pflegt. »Gibt es hier vielleicht sogar einen Hausgeist?« fragte die Frau und kauerte sich neben Grinder nieder. »Sogar damit können wir aufwar= ten, Madam«, antwortete Beiden. »Mit einem Pferd.« »Ein Pferd — als Hausgeist!« rief das Ehepaar wie aus einem Munde. »Ja, ein Pferd.«

»Aber wieso ein Pferd? Geister sind doch Seelen von Menschen; Pferde hingegen haben doch gar keine Seelen.« »Bezüglich Geisterkunde möchte ich mich nicht als kompetent be= trachten«, erwiderte Beiden.»Jeden= falls kommt es nachts auf die Wiese vor dem Haus, um hier zu grasen, und stampft dabei polternd mit den Hufen. Der Sage nach ist an einer seiner Fesseln stets ein toter Mann angebunden.«

Ein loser Fensterladen klappte hef= hg zu, und sie fuhren zusammen — dann, als sich die Spannung in

ihnen löste, begannen sie zu lachen. »Es gehört an sich zu unserer Fa= miliengeschichte, die wir für ge= wohnlich niemandem erzählen«, er= klärte Beiden. »Dieses Haus und das Land, das dazu gehört — so er= zählt man sich —, wurden einmal von einem meiner hochnoblen Ah= nen einem armen betrunkenen Teu= fei beim Kartenspiel abgewonnen, und zwar mit Hilfe eines Spiegel= tricks. Eigentlich waren es ja zwei; seine Frau, glaube ich, war es, die den Trickspiegel hielt.« »Hat sich denn das Opfer nie ge= rächt?« fragte die Frau in scheuem Ton.

»O doch! Er stahl ein Pferd aus dem Stall — eines seiner eigenen Pferde, die er beim Spiel mit ver= loren hatte —, denn mitsamt dem Haus hatte er ja auch alles andere verloren. Er band sich selber an die Fessel dieses Pferdes und zerschmet= terte sich den Kopf. Das Pferd ga= loppierte heim — man hörte es die ganze Nacht hindurch stampfen. Und am Morgen fanden sie ihn dann.«

»Oh!« Sie streichelte Grinders Kopf. »Angus«, sagte sie leise. »Ja?« »Hier sind wir genau richtig — ge= nau so, wie wir es uns gewünscht haben.« »Aber meine Liebe — ich bitte dich!«

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»Doch!« beharrte sie. Sie hob Grin» ders Kopf und schaute ihm ein» dringlich in seine treuen Hunde» äugen. »Ich wußte es sofort, als ich dieses Zimmer betrat.« »Also ich muß dich doch wirklich bitten! Wir sind diesen beiden Gentlemen bereits genug zur Last gefallen, und sie haben gute Miene zum bösen Spiel gemacht.« Er wandte sich zu Beiden um, wie je» mand, der um Nachsicht für ein un= gezogenes Kind bittet. »Madam«, sagte er mit einem irgendwie ironi» sehen Unterton, »neigt ein wenig zur Hast. Wenn sie etwas sieht, das ihr gefällt, dann sind Gefallen und Besitzen für sie das gleiche. Sie hat offensichtlich eine intensive Vor» liebe für das Haus Ihrer Vorväter gefaßt. Ich möchte Sie warnen!« »Noch niemals habe ich ein Zim» mer wie dieses gesehen«, murmelte die Frau. »Ist es die ganze Zeit im Besitz Ihrer Familie gewesen?« »Seit 1789 — seit jene Dame da» mals mit dem Trickspiegel manipu» lierte«, sagte Beiden und behielt sie im Auge.

»Und all die anderen Dinge hier im Zimmer?« »Die sind nach und nach dazuge» kommen. Nichts davon stammt je» doch aus den letzten siebzig Iah» ren. Sie haben ja selbst gesehen, die Straße hier herauf besteht eigent»

lieh gar nicht mehr, und unsere Ein» gangstür draußen hängt fast mehr in der Luft als in den Angeln.« »Ich möchte es kaufen — so wie es ist.« Ihre Augen glühten vor Eifer. »Dagegen muß ich scharf prote» stieren!« fuhr der Mann ihr da= zwischen. Er stand auf und machte aus seinem Ärger kein Hehl. Sie ließ sich jedoch dadurch keines» wegs beirren. »Ich möchte nichts verändert haben«, fuhr sie fort. »Sogar die Asche im Kamin muß liegenbleiben.«

»Und der Geist?« warf Beiden ein. »Oh, auf dem Geist — auf dem be= stehe ich, unbedingt!« »Haben Sie sich schon einmal das rosa Zimmer angesehen; das da oben in der Ecke?« fragte Beiden und zeigte zur Decke hinauf. »Das mitdemgroßenHimmelbett?« »Ja, das. Dieses Zimmer ist auch etwas, worüber wir in der Familie sonst nicht zu sprechen pflegen. Das wird Ihren Enthusiasmus wohl ein wenig dämpfen. Kein Mensch will dort mehr schlafen. Früher haben es verschiedene Leute versucht. Was in diesen Nächten mit ihnen ge= schah, ist bis heute ein Rätsel ge= blieben — am Morgen lagen sie je» denfalls tot im Bett.« »Angus, Angus!« rief sie entzückt. Sie sprang auf und schlang die Ar» me um den Hals des Mannes, ob»

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wohl dieser sie in seiner verdrießli= chen Laune von sich stoßen wollte. »Denk doch nur! Hier haben wir alles beieinander. Einen Pferdegeist, der stampft, und ein Totenzimmer! Und erst dieses reizende Wohnzim» mer hier! Ich muß es einfach haben, ich muß! Ich wußte es sofort, als ich zur Tür hereinkam!« Sie wandte sich zu Beiden um. »Wieviel ver* langen Sie? Ich will es haben — jetzt sofort!«

Das Gesicht des Mannes verfinster= te sich mehr und mehr. »Der ungewöhnliche Abend hat eine ungewöhnliche Fortsetzung«, sagte er schnell. »Ich kenne Ihren Namen nicht, mein Herr, noch den Ihren«, wandte er sich an Oliver. »Und Sie haben mich auch nicht nach dem meinen gefragt. Ich weiß nicht einmal, wo ich mich hier eigentlich befinde. So seltsam es auch klingen mag, ich könnte Ihnen in diesem Augenblick nicht einmal sagen, ob ich hier im Staate New York, Massachusetts oder Connec= ticut bin. Ich weiß einzig und allein, daß ich, nachdem ich mich unhöflich benommen habe, Gast eines sehr liebenswürdigen Mannes bin.« Dann wandte er sich an seine Frau. »Und nun willst du ihm das Dach über dem Kopf wegnehmen?« frag= te er mit schlecht verhohlenem Är= ger.

Aber sie lachte nur. »So, du weißt gar nicht, wo du eigentlich bist? Was könntest du dir Romantischeres wünschen?« Ein Hauch von Spannung lag in der Luft, jedoch nur ein paar Sekunden lang. Oliver warf einen neugierigen Seitenblick zu Beiden hinüber, einen leicht amüsierten Seitenblick. »Wollen Sie es ihr wirklich über= lassen?« fragte der Mann. »Ent= schuldigen Sie, aber das kommt mir beinahe vor wie ein Sakrileg.« »Im Gegenteil, ich bin direkt froh, daß ich es endlich loswerde. Es steckt voll von unangenehmen Erinnerun= gen. Vierhundert Acres zerklüftet tes, unbewirtschaftetes Land gehö» ren mit dazu. Und das Haus hier, wie Sie sehen — nun ja, ist nicht weniger verwildert. Nicht mal ein Weg führt hier herauf. Nur durch unwahrscheinliches Glück ist es Ihnen gelungen, überhaupt hier her= aufzugelangen. Bei einem zweiten Versuch würden Sie sich zweifellos den Hals brechen. Sie sehen, eine etwas wunderliche Wertschätzung von jemandem, der etwas verkau= fen will. Diese Dinge da —«, fuhr Beiden fort, indem er auf die ver­streut herumstehenden Antiquitä» ten deutete, während Grinder die Ohren spitzte, um mitzukriegen, was da wohl vor sich ginge, »— für jemand anderen würden sie viel«

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Frederick Irving Anderson

leicht einen sentimentalen Wert darstellen. Aber nicht für mich. Mir hat es hier oben noch nie recht ge= fallen. Da ist nämlich wirklich et= was — da oben in dem rosa Zim= mer. Was es ist, weiß ich nicht, aber es ist da. Ich möchte betonen, daß ich Sie ausdrücklich gewarnt habe!« Die Frau holte tief Atem. »Zehn= tausend — in bar, versteht sich?« »Mein Gott, das ist doch viel zuviel. Diese Summe werden Sie allein da= für aufwenden müssen, um die Straße reparieren zu lassen.« »Das lassen Sie nur unsere Sorge sein«, sagte der Mann kurz und fast ein wenig schroff.

»Ha!« triumphierte die Frau, kau= erte sich auf dem Teppich vor dem Kamin nieder und umarmte Grin= der, der sich das nur allzugern ge= fallen ließ. Beiden stand auf und ging zu dem alten Stehpult hinüber. Und während er seine Feder über das Papier gleiten ließ, las er gleich= zeitig laut vor: »Für einen Dollar Anzahlung gewähre ich hiermit das Vorkaufsrecht der Liegenschaft, be= kannt als das Beldensche End=Road= Haus, und die Farm, gelegen im Bezirk von . . . «

»Nein, bitte nicht!« unterbrach ihn die Frau schnell. »Wir wollen gar nicht so genau wissen, wo es eigent= lieh liegt.« »Genaue Ortsbezeichnung, Bezirk

und Staat lasse ich also weg«, fuhr Beiden fort. »An . . .« Er wandte sich um. »An wen? Ich kann nicht gut ein Haus in Unbekannt an Nie= mand verkaufen.« Fragend blickte die Frau zu dem Mann hinüber, und es entstand eine jener winzigen Verlegenheits= pausen. Kurz entschlossen ging Beiden zu dem auf dem alten Schanktisch liegenden Fremdenbuch hinüber und las halblaut vor, was die Frau dort hineingeschrieben hatte:

»Agnes Witcherly und ihr ehren= werter Herr, beide frei.« »Übertragen Sie es auf Agnes«, sagte der Mann, und Beiden ging wieder zu dem altmodischen Steh= pult zurück.

»An Agnes Witcherly aus — wieder ungenannt?« Die Frau nickte rasch. »Also ungenannt. Mit dem gesam= ten Inhalt der Wohnung, der Ställe und sämtlicher Gebäude—inklusive der Asche im Kamin. Vorgenannte Agnes Witcherly wird innerhalb von dreißig Tagen an die News= boys=Bank in New York City die Summe von zehntausend Dollar einzahlen, und zwar in anonymer Form. Gezeichnet — Webster Bel= den«, murmelte Beiden leise vor sich hin, während er unterschrieb. »Webster Beiden?« fragte der Mann

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nd drehte sich ein wenig auf sei= em Stuhl herum.

»Allerdings — Webster Beiden. Sei so nett, Oliver, und unterschreib du hier als Zeuge. Und Sie, Madam, unterschreiben hier bitte ebenfalls, "o, danke. Wollen Sie sich nun zu=

"chst einmal alles gründlich an= ehen?« fragte er den Mann, er Mann faltete das Blatt zusam= ien und legte es auf den Kamin=

sims. Er zog eine Dollarnote hervor und überreichte sie Beiden. Wie= derum herrschte für einen Augen= blick jener leise Hauch von verle= genem Schweigen. Es war geradezu erstaunlich, wie sich die Atmosphä= re auf einmal gewandelt zu haben schien. Der Mann schauerte leicht zusammen, er legte zwei oder drei Scheite Holz im Kamin nach und sagte leichthin zu Beiden: »Sie ge= statten doch? Das Haus gehört ja jetzt mir — oder doch zumindest ihr.«

Leise vor sich hinsummend stieg die Frau die Treppe hinauf und hielt dabei eine Kerze hoch über den Kopf. Die drei Männer hörten sie dort oben herumrumoren. Gleich darauf kam sie mit zwei kleineren Koffern zurück, die sie auf den Bo= den stellte. Dann ging sie in die Vorhalle hinaus und trug einen schweren Pelzmantel herbei. »Der Mantel gehört doch Ihnen,

nicht wahr?« fragte sie Beiden lie» bens würdig. »Ja, Madam!« »Darf ich Ihnen hineinhelfen?« »Ja, aber um Himmels willen«, fiel ihr der Mann ins Wort. »Das heißt denn aber doch die Dinge ein wenig zu weit treiben!« Er räusperte sich und wandte sich an Beiden. »Bitte verzeihen Sie — ich hoffe, Sie ver= stehen, nicht wahr?« »Durchaus«, erwiderte Beiden und nahm ihr den Mantel ab. Die Frau ging noch ein zweites Mal zu dem Garderobeständer in die Vorhalle hinaus, und dieses Mal brachte sie Olivers Mantel mit. »Ihre Hüte habe ich nirgendwo gefunden. Ihre Koffer habe ich bereits gepackt, das heißt, all die Dinge, die ich dort in Ihren Zimmern herumliegen sah. Das war auch wohl alles, was Sie mit heraufgebracht hatten, oder nicht?«

»Aber du kannst sie doch nicht ein» fach so hinauswerfen!« »Dies ist jetzt mein Haus«, sagte sie. Sie öffnete die Tür. »Draußen ist jetzt heller Mondschein, und es hat ein wenig zu frieren begonnen. Sie werden den Rückweg sicher gut finden, meine Herren. Ich danke Ihnen.«

Ein eisiger Windstoß fegte ins Zim= mer und ließ die Asche aufwirbeln. Mit hochgestellten Ohren stand

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Grinder daneben, abwartend, un= geduldig. Die beiden Männer traten über die Schwelle. Als sich die Tür sacht hinter ihnen geschlossen hatte, sagte Beiden zu Oliver, während er seinen Mantel» kragen hochschlug: »Was für eine unglaubliche, kaltblütige Frau!«

Vier Tage danach. »Hallo! Ich dachte, du wärst längst in Antofagasta«, rief Armiston, als der Brückenkonstrukteur bei ihm eintraf. »Nein, nein, komm ruhig herein, ich bin nicht sehr beschäf« tigt, du störst keineswegs«, fügte Oliver schnell hinzu, als er sah, daß Beiden fragend auf Armistons Be= sucher blickte. Dieser uniformierte Besucher — Policeman Parr — wandte sich ein wenig unbehaglich auf seinem Stuhl um. »Worum geht es denn?« fragte Armiston. »Immer wieder um das gleiche, um das liebe Geld«, brummte Beiden, und mit einem kläglichen Lächeln fügte er hinzu: »Könntest du mir eben mal ein paar Millionen leihen?« »So schlimm?«

»Noch schlimmer als schlimm. Hast du heute morgen den Börsenbericht gehört?« »Mein Lieber«, erwiderte Oliver mit leisem Tadel in der Stimme, »ich lege mein Geld zwar an, aber ich spekuliere nicht. Infolgedessen

notiere ich mir die Börsenberichte auch nur nachmittags.« »Ich bin wieder mal abgesackt«, sagte Beiden pessimistisch. »Muß irgendwie eine Pechsträhne oder et= was Ähnliches erwischt haben, und ausgerechnet jetzt, wo ich eine Brücke baue, ein Kraftwerk — da ist das Allernötigste, was ich dazu brauche, Geld! Im Börsenanzeiger heißt es: >Abwarten, Tendenz nur vorübergehend nachgebende Ich kann aber nicht warten, und das habe ich denen auch gesagt. Von denen war aber nichts weiter her» auszuholen«, murmelte der Inge» nieur und spielte mit seinem >De= nen< auf die Finanzmagnaten in Wall Street an, »als der trostvolle Ratschlag, ich solle mich an Win» ehester wenden.« Armiston und Parr stutzten und tauschten einen raschen Blick.

»Winchester — das ist gleichbedeu» tend mit Strom und Kraft«, erklärte Beiden. »Vielleicht wißt ihr das nicht, aber jedesmal, wenn ihr das Licht anschaltet, geschieht das ge= wissermaßen mit allerhöchster Er= laubnis eines Mannes namens Win» ehester.«

»Und Sie sind wirklich zu ihm hin» gegangen?« wollte Parr wissen. »Ja, ich Trottel bin auch tatsächlich hingegangen«, sagte Beiden. »Aber er war nicht zu Hause.«

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»Was hat man Ihnen denn dort er= zählt, wo er sei?« »Irgendwelche vagen Geschichten — er wäre gerade zu einer wichtigen Konferenz in Kalamazoo oder Kamtschatka gefahren. Sie wissen ja selber, was aus solch aalglatten Angestellten schon herauszuholen ist. Und die Peruaner haben mir ein endgültiges Ultimatum gestellt. Irgendwie, irgendwoher muß ich das Geld auftreiben! Das heißt, ich muß irgendwie, irgendwo Winche= ster auftreiben.«

»Genau das muß auch ich«, be= merkte der Polizist säuerlich. »Was!« rief der Brückenbauer überrascht, und Armiston grinste. »Ich habe niemals im Leben an merkwürdige Zufälle geglaubt«, sagte Oliver, »aber im wirklichen Leben scheinen sie tatsächlich vor= zukommen, Parr, nicht wahr?« Er warf dem alten >Menschenjäger< einen leicht spöttischen Blick zu. »Wie es scheint, haben verschiede» ne Herren, die du vorher mit >De= nen< zu bezeichnen geruhtest« — er warf einen Blick zu Beiden hinüber

— »Parr gestern abend ihre Auf» Wartung gemacht, denn sie hatten für ihn eine >diskrete< Aufgabe. Und zwar erklärten sie ihm, ein gewisser allmächtiger Herrscher über Licht und Strom hätte ausge» rechnet in einem kritischen Augen»

blick sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen, Frau und Kinder in Coronado zurückgelassen und wäre mit einer zweifelhaften Dame wie vom Erdboden verschwunden.« »Winchester?« entfuhr es Beiden, und Oliver nickte. »Allerdings; den wollen diese Her» ren schnellstens ausfindig machen, und diese dankbare Aufgabe haben sie ausgerechnet Parr zugeschanzt. Aber nicht etwa um seine sterbliche Seele zu retten, das ist ihnen völlig egal. Es geht ihnen nur darum, ihren Hals aus der finanziellen Schlinge zu ziehen.« Beiden fluchte leise vor sich hin. Daß sein Unternehmen, das Tau» senden von Arbeitern ihr tägliches Brot bringen sollte und in das be= reits Millionen von Dollar investiert waren, von der schwachen Stunde eines einzigen Menschen abhängen sollte — das erschien ihm geradezu als eine Ironie des Schicksals. »Würden Sie ihn kennen, wenn Sie ihn sähen?« fragte Parr. Beiden schüttelte den Kopf, und Parr zog ein Foto aus der Tasche. »Heiliger Himmel!« riefen Beiden und Oliver einstimmig und fuhren auf. »Sie kennen ihn also?« fragte Parr erregt.

»Und ob wir ihn kennen!« rief Bei» den wie mit Donnerstimme. »Ihn kennen? Ha! Vor vier Tagen stand

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er da und sah zu, wie seine — hm — Begleiterin mich aus meinem eigenen Haus hinauswarf.« Er griff nach Hut und Stock. »Der soll mich aber kennenlernen — das kann ich Ihnen flüstern!«

Als sie den felsigen Hügel erreicht hatten, hörten sie einen Hund jau» len. »Das ist doch Grinder«, kam es von Armistons Lippen. Beiden und Ar= miston begannen zu laufen. Erst an der Hausecke holte Parr sie ein. »Es ist tatsächlich Grinder, gleich dort unter dem Fenster«, keuchte Beiden, und sie hasteten weiter. Vor der Küchentür, vom Schnee halb zugeweht, war eine Anzahl Päckchen aufgestapelt; es waren die Lebensmittel, die der Junge aus dem Laden unten im Dorf dort hinterlegt hatte. In den Spalt der Küchentür hatte der Junge einen Zettel gesteckt: >Sehr geehrter Herr, die Eier und die Milch liegen in der Kartoffelkiste, ich habe Feuer ge= macht. Ich habe auch eine Ratte ge= sehen und eine Falle aufgestellte »Scheint so, als ob sich das >Pär= chen< bereits wieder davongemacht hat«, bemerkte Parr ironisch. Bel= den zog die Scheunentür auf; der Wagen stand noch darin! Er sah zu den Schornsteinen hinauf; nicht die Spur eines Rauchfadens.

Daraufhin stemmten Beiden und Oliver ihre Schultern gegen die zwar starke, aber schon morsche alte Tür, und auch Parr half mit seinem Gewicht dabei nach. Mit einem Bersten brach die Tür end» lieh nach innen auf. Das Zimmer befand sich noch in dem gleichen Zustand, wie sie es verlassen hatten. Auf dem Sofa la= gen der Nerzmantel und der Hut der Frau und ihr roter Schleier. Vor dem Kamin lag das aufgeschlagene Schachbuch. Das Feuer im Kamin war erloschen, die Asche längst er» kältet. Als Beiden die Treppe hin» aufstieg, verspürte er ein Würgen im Hals; dicht auf dem Fuße folg» ten ihm seine beiden Begleiter. Es war das rosa Zimmer, zu dem sie als letztes gingen. »Das verdammte Weibsstück!« murmelte Beiden vor sich hin. Er verspürte jetzt regelrecht schauer» liehe Angst. Als er die Tür aufstieß, stieg ihnen ein schwacher, modri» ger Geruch in die Nase. Im winter» lieh fahlen Licht, das sich durch die halb zugezogenen Vorhänge stahl, entdeckten sie, wonach sie suchten. Zuerst fielen ihnen nur kleine in= time Accessoires ihrer Garderobe in die Augen: dicht neben einem Stuhl ein Paar winzige Pantoffel» chen; ein Frisiermantel, lässig über das Ende des Bettes geworfen; und

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dort, wie in tiefem Schlaf lag sie selbst — die eine ihrer schmalen weißen Hände auf der Bettdecke. Und als sie dann im Zimmer stan= den, entdeckten sie auch Winche= ster, der zusammengebrochen und leblos vor dem Fenster lag. »Er muß gerade versucht haben, das Fenster zu öffnen«, sagte Parr in dienstlich nüchternem Tonfall. Es war bereits dunkel, als endlich der alte Dorfarzt eintraf, den Parr herbeigerufen hatte. Parr war zum Bahnhof hinuntergestiegen, um an die Finanzmagnaten zu telegrafie= ren, damit sie sich dort in Wall Street auf den bevorstehenden Bör= senkrach einstellen konnten. Der alte Arzt, dessen Pelz und Vollbart von Schnee bestäubt war, kam vor Kälte zitternd herein und schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Seine Augen blie= ben auf den Kleidern der Frau auf dem Sofa haften. Nachdenklich folgte er den anderen ins obere Stockwerk hinauf. An der Tür zum rosa Zimmer blieb er schnuppernd stehen. »Puhl« sagte er. Beiden reichte ihm eine Kerze. »Hier ist es wohl wieder einmal, nicht wahr? Und dabei hatte ich bereits gehofft, Nemesis hätte endlich aufgehört, hier ihr Unwesen zu treiben.« »Nemesis — oder Gott weiß wer«, seufzte Oliver.

»Aha, da ist der andere.« Der Dok= tor drehte sich mit der Kerze um, und die Schatten im Zimmer mach» ten an den Wänden die Drehung mit. Er beugte sich über Winchester. »Zyankalivergiftung, sehen Sie?« Armiston nickte neugierig und be= stürzt zugleich. »Haben Sie den beiden denn nichts über dieses Zimmer hier gesagt?« »Natürlich habe ich ihnen alles er= zählt!« fuhr Beiden auf. »Aber die= se Frau wollte es durchaus selbst herausfinden.« »Nun ja, inzwischen dürfte ihre Neugierde wohl befriedigt sein«, sagte der alte Doktor, und nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich glaube zwar nicht an Geister, aber an frische Luft glaube ich.« Und er ging hin und öffnete weit die bei= den Fensterflügel, dann eilte er zu den anderen, die sich wieder auf den Gang zurückgezogen hatten, und schlug die Tür krachend hinter sich zu. Gerade als sie hinunter» stiegen, kam unten Parr zur Tür herein.

»Was war es denn, Doktor?« fragte Parr, und der alte Doktor schüttelte den Kopf und fingerte an seinem ergrauten Vollbart. »Etwas, was man erst noch herausfinden muß«, sagte er in seiner ruhigen, beson= nenen Art. »Sie sind bereits seit Tagen tot.«

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Wie einem Tote doch noch eins auswischen können, dachte Beiden, und laut sagte er: »Irgendwie müs= sen wir diese Frau hier loswerden.« »Und das Zimmer am besten gleich mit ihr«, knurrte der alte Doktor. Beiden nahm das Blatt Papier vom Kaminsims, mit dem er vor vier Tagen quasi aus einer Laune heraus diesem Frauenzimmer für einen Dollar Anzahlung sein Haus und sein Land überschrieben hatte; er steckte beides in die Tasche. Am nächsten Tag brachten die Nachmittagszeitungen die Nach= rieht von dem plötzlichen Tod Win» chesters infolge eines alten Herz» leidens. Er hätte sich gerade ein paar Tage zur Erholung in den Ber» gen von Litchfield County auf gehab ten, wo er vorgehabt hatte, Lande» reien aufzukaufen. In Wall Street fuhr den Kleinaktionären ein gehö= riger Schock in die Glieder, aber die hierarchischen Magnaten, jene ge» wissen >Denen<, waren dank Parr längst darauf vorbereitet gewesen. Eine reichlich unklare Notiz irgend» wo im Innern der Zeitung berich» tete vom Tode einer gewissen Ag= nes Witcherly, die jedoch nieman» dem etwas sagte und für die sich auch niemand weiter interessierte. »Ich werde für ein paar Tage in die Stadt fahren«, erklärte Beiden, »um dort noch einige Kleinigkeiten zu

erledigen. Du und Grinder, ihr bei» de dürft hier inzwischen die Stel» lung halten.« »Wird gemacht«, sagte Armiston. »Darf ich ein bißchen hier herum» schnüffeln? Besitzt du eigentlich gar keine Familienaufzeichnun» gen?« Beiden suchte die alte Familienbibel hervor und zugleich einen Stoß frü» herer Aufzeichnungen. Armiston holte inzwischen die Eier und die Milch aus der Kartoffelkiste. Wäh» rend er noch damit beschäftigt war, tat Grinder mit lautem Bellen eine Entdeckung kund: eine Falle voll gefangener Ratten. In dieser Entdeckung lag fast etwas Schicksalhaftes, so schien es zu» mindest dem ehemaligen Schrift» steller, der voller Ungeduld nach einem Fingerzeig suchte. Er trug die Falle mit den verängstigten Tie» ren nach oben in das rosa Zimmer und versorgte sie mit einem Vorrat von Käse und Wasser. Dann schloß er das Fenster, ging hinaus und machte die Tür hinter sich zu.

Nach drei Tagen kam Beiden aus der Stadt zurück. »Nun, bist du endlich ein wenig schlauer geworden, was sich in dem rosa Zimmer abgespielt haben könnte?« fragte Beiden, als sie vor dem Kamin saßen und ihre Pfeifen

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rauchten. »Wahrscheinlich nicht. Bisher ist es jedenfalls noch nie= mandem gelungen.« »Soviel ich weiß, hat noch niemals jemand ernstlich den Versuch ge>= macht, es herauszubekommen«, sagte Oliver. »Ich möchte dir gern ein paar Fragen stellen.« Beiden nickte schweigend. »Zwei deiner Großonkel«, fuhr Oliver fort, »star= ben am gleichen Tag, nämlich am 1 5 . Dezember 1844; Ebenezer und Jeduthalum. Und nicht Nemesis, sondern dieser Großonkel Jedutha= lum scheint hier gehaust zu haben, und zwar scheint es irgendwas mit einer Axt zu tun zu haben. Dein Großvater, der Überlebende der drei Brüder, hat über seinen Tod geschrieben: >Der Herr ist ein Gott der Vergeltung, er wird sich rächen. < Was ist mit dieser Axt — wurde Jeduthalum des Mordes verdäch= tigt?«

»Mein Großvater pflegte immer zu sagen, Jeduthalum hätte Ebenezers Tod verschuldet«, sagte Beiden. »Ebenezer war der erste, der indem rosa Zimmer starb. An dem Мог-gen, an dem sie ihn fanden, stiegen sie in die Wassermühle hinunter, um es Jeduthalum zu sagen. Er war nämlich dort hinuntergegangen, um seine Axt zu schleifen. Sie fan-den ihn tot im Schnee liegen — mit zerschmettertem Kopf. Der An«

triebsriemen der Wassermühle war gerissen und hatte wie eine Peitsche, die mit aller Gewalt zurückschlägt, seine Schädeldecke zertrümmert. Es gab aber nichts, was bewies, daß er mit dem Tod des Bruders auch nur das geringste zu tun hatte.« »Und dann, im gleichen Winter, starb Constance Hagar, deine alt-jüngferliche Tante — ebenfalls im rosa Zimmer«, sagte Oliver. »Ja, genau.« »Und dann?«

»Mein Großvater maß ihrem Tod keine besondere Bedeutung bei«, erzählte Beiden. »Eine Frau, die eben im Bett gestorben war; nichts weiter Besonderes also. Bett ist Bett, und dort ist es schließlich, wo die meisten Menschen zu sterben pflegen. Immerhin blieb das Zim= mer seit damals verschlossen. Kei-ner hat je wieder darin geschlafen.« Er schwieg einen Augenblick. »Mo-ment mal«, sagte er dann. »Da war aber noch etwas anderes, ungefähr zehn Jahre später. Es steht mit all diesem aber in keinerlei Zusam= menhang, und es steht auch nichts davon in der Bibel oder der Chro­nik. Eines Nachts im Winter — ich glaube, es war 1855 — stieg irgend­ein Tramp, Cyrus Whiteman, un= gesehen dort ein. Schien betrunken gewesen zu sein. Am darauffolgen­den Morgen war er tot.«

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»Und weiter?« »Das war dann so ziemlich das letzte. Von da an ging es mit dem Haus immer mehr bergab. Die Straße verfiel, und mit ihr verfiel auch alles andere. Mein Großvater verschloß das Haus und kam nie-mals wieder hierher zurück. Und auch dann, als es in den Besitz mei= nes Vaters überging, ist es nie mehr ständig bewohnt worden. Eigentlich merkwürdig«, sagte Beb den nachdenklich. »Ich selbst habe, was mein Vater niemals getan hat, ein paarmal in dem rosa Zimmer geschlafen.«

Erregt beugte sich Armiston vor. »Was?« »Aus purer Prahlerei. Als ich noch das College besuchte, kamen mein Vater und ich manchmal im Som= mer hier herauf, um zu fischen. Nun ja, und da habe ich eben ein paarmal in diesem Zimmer über-nachtet. Das überrascht dich wohl einigermaßen, nicht wahr? Viel­leicht bringt es sogar deine ganzen Theorien durcheinander.« »Durchaus nicht«, antwortete Ar­miston jedoch völlig unerwartet. »Ich habe oben eine Falle Ratten stehen; er scheint ihnen da oben recht gut zu gefallen. Aber nun er­zähl mir bitte noch etwas über Je­duthalum. Mit ihm hat doch eigent­lich alles angefangen.«

Beiden durchforschte sein Gedächt­nis, aber nur in Bruchstücken ka­men seine verschwommenen Erin­nerungen zutage. »Jeduthalum«, sagte er, »war ein wilder, roher Typ—Seemann, Goldgräber, Tramp und was weiß ich sonst noch alles. Sein väterliches Erbe hat er ver­praßt, und dann tauchte er von Zeit zu Zeit wieder auf, um seine Brü­der zu beschwatzen, ihm Geld zu leihen. Und wenn sie ihn abwiesen, überschüttete er sie mit wüsten Drohungen. Seine >Besuche< bedeu­teten niemals etwas Gutes. Manch­mal, wenn er nach Hause kam, war er aber auch bei Kasse und brachte von irgendwoher allerlei Erfindun­gen mit oder hatte Ideen, wie man das Haus ausbessern könnte. Zum Beispiel hat er veranlaßt, daß in die Küche fließendes Wasser gelegt wurde. Und er baute auch den Ka­min, in dem man ganze Holzscheite brennen lassen konnte — damals noch eine Neuheit.« Während Beiden erzählte, ging Oli­ver im Zimmer auf und ab und auch als Beiden geendet hatte, fuhr er mit seiner Wanderung fort. Jetzt allerdings ging er von einem Zim­mer zum anderen. Als er zurück­kam, war Beiden im Keller, er hatte sich einen Berg Buchenscheite auf die Arme geladen, trug diese ins Wohnzimmer hinauf und stapelte

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sie dort so in den brennenden Ka= min, daß sie die ganze Nacht hin= durch heizen würden. Am nächsten Morgen, noch vor dem Frühstück, kam Armiston mit seinem Käfig voll Ratten herein — alle waren tot. Er setzte ihn draußen ab und betrachtete ihn argwöhnisch und nachdenklich. »In dieser Nacht?« stöhnte Beiden. Oliver nickte. Da war es also wie= der einmal geschehen, während je= mand dort oben geschlafen hatte — auch wenn es diesmal nur Ratten gewesen waren.

»Jetzt gehe ich der Sache aber auf den Grund!« schrie Beiden völlig außer sich. »Diesem >Geheimnis< werde ich schon noch auf die Spur kommen!« »Hast du irgendeine bestimmte Vermutung?« Beiden schüttelte den Kopf. »Nun, ich — ich habe eine«, erklärte Armiston. Draußen bellte der Hund. »Da kommt der Bursche, der Win= ehester und diese Frau, die er da mit sich herumschleppte, ihrem Schicksal zugeführt hat.« Der Junge aus dem Dorfladen kam mit stampfenden Schritten die Stufen heraufgepoltert. »Hör mal, mein Sohn«, sagte OU= ver, »wieviel Uhr war es, als du letzte Woche am Dienstag morgen das Feuer angezündet hast?«

»Gegen sechs in der Früh«, ant= wortete der Junge. »Warum? Ist es wieder ausgegangen? Die beiden Herrschaften dort oben schliefen noch, aber ich hatte einen Zettel hin= terlassen. Habe ich etwas falsch ge= macht?« »Nein, durchaus nicht. Es ist alles in Ordnung; ich wollte es bloß wis= sen. Wenn du wieder hinunter ins Dorf kommst, sag dem Doktor, er möchte heraufkommen. Vergiß nicht, ihm das auszurichten.« Als der Junge gegangen war, wandte sich der verblüffte Beiden an Arminston: »Worauf willst du eigentlich hinaus?« »Es war doch Winter, als Ebenezer, Constance und der versoffene Tramp in dem rosa Zimmer star= ben, nicht wahr?« »Ja — wieso?«

»Der Junge unten aus dem Dorf hat auf deine Veranlassung hin bei Ta= gesanbruch im Kamin Feuer ge= macht, während Winchester und die Frau noch schliefen«, sagte Oü= ver.

»Gott im Himmel, was meinst du denn nun damit wieder?« rief Bel= den aus. »Auch du hast gestern abend im Kamin Feuer gemacht, so daß es die ganze Nacht hindurch brannte, und heute morgen waren meine Ratten tot. Kannst du mir folgen?«

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Frederick Irving Anderson

»Ja . . . ja . . . « »Jeduthalum baute diesen Kamin, der das Schlafzimmer oben mit­heizt«, fuhr Armiston fort. »Da hast du die Erklärung, nach der du suchtest. Irgend etwas ist da oben in dem rosa Zimmer — was es ist, das weiß ich auch nicht. Aber ich weiß jetzt, daß es tödliche Gase entwickelt, wenn es mit Hitze in Berührung kommt. Falls Jedutha-lum irgend etwas in das Zimmer hineingesteckt oder hineingelegt hat, um Ebenezer ins Jenseits zu befördern, so hat er ganz sicher vorgehabt, es wieder herauszuho­len, sobald es seinen Zweck erfüllt hatte. Aber die Hand Gottes schlug strafend zu, während er drunten an der Mühle seine Axt schärfte, und daher ist dieses Zeug für immer dort drinnen geblieben. Immer, wenn es im rosa Zimmer warm wurde und jemand dort geschlafen hat, ist dieser Jemand dort gestor­ben . . . Komm, jetzt werden wir im Kamin das Feuer löschen.« Sie warteten, bis sie sicher waren, daß es für sie nicht mehr gefährlich werden konnte, und dann gingen sie nach oben in das rosa Zimmer. Als dann der Doktor kam, hatten sie bereits den Fußboden rund um den Heizungsschacht aufgerissen. Prüfend und schnuppernd sog der alte Doktor die Luft ein.

»Was haben Sie da?« fragte er. Oliver reichte ihm auf einer Keh­richtschaufel die Überreste einer alten Schachtel. Mit einem Bleistift schob der Doktor die klumpigen Stücke darin auseinander. »Jeduthalum hat es also doch ge­tan — ich habe es ja schon immer geahnt, immer«, sagte er zerstreut. »Immer habe ich über diesen Ge­ruch nachgedacht, habe mir meine Gedanken darüber gemacht, immer hat es mich verfolgt. Irgendwann wäre ich ohnehin selber einmal ge­kommen, um es endlich herauszu­finden.« Er wies auf den staubigen Klumpen einer grauen Masse, et­wa so groß wie ein Ei. »Zyanid«, sagte er. »Wenn Sie es erhitzen — etwa auf neunzig oder hundert Grad — verströmt es ein tödliches Gas, das sogenannte Zyanogen.«

Das End-Road-Haus steht immer noch. Es ist inzwischen restauriert, die Straße ist neu angelegt und eine neue Heizungsanlage eingebaut worden. Die Fensterläden sind so gut repariert worden, daß man in stürmischen Nächten kein >Geister= pferd< mehr stampfen hört. Und aus dem rosa Zimmer ist in­zwischen wieder ein sonniges Schlafzimmer geworden, in dem man, selbst wenn geheizt ist, im Winter getrost übernachten kann.

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Rufus King

Die Leiche in der Rinne

Hier ist eine jener Stories, die Rufus King kriminalechriftstelleri* sehen Weltruhm verschafft haben — ausgefeilt bis ins minuziöseste Detail. Allerdings muß man für diese minuziösen Details ein schar= fes Auge offenhalten. Denn nur dann wird man wirklich erfassen, worauf sich sein schon fast legendärer Weltruhm begründet...

Es mag zwar auf den ersten Blick durchaus nicht so aussehen, als hätten die beiden im folgenden geschilderten Ereignis etwas mit« einander zu tun gehabt, aber den» noch standen sie in engem Zusam« menhang . . . Am 1 5 . Juni 1952 landete Saul Mc Sager, auch >Streifenbein< genannt, weil er stets gestreifte Hosen zu tragen pflegte, wegen Mordes an Mark Kevin, mit Spitznamen >die Maus<, im Staate Florida auf dem Elektrischen Stuhl. Man hielt es all« gemein nur für recht und billig, daß damit sowohl der Mörder als auch sein Opfer die Rechnung für die schlimmsten Kapitalverbrechen ih= rer Zeit beglichen hatten. Am Montag, dem 1 5 . Juni 1 9 5 3 ,

also genau ein Jahr später, gaben die in Halcyon wohnenden Mitglie« der des Frauenvereins von Florida im Gulf Stream Room des elegan« ten Driftwood Clubs eine Dinner» party. Diese Party fand zu Ehren von Mrs. Warburton Waverly statt, die vom Frauenverein zur >Coura= giertesten Bürgerin des Jahres< ge= wählt worden war. Dieser Ehren« titel wurde Mrs. Waverly auch nach außen hin durch die Überreichung eines Orchideenarrangements und einer gravierten Silberplakette be» stätigt.

Mrs. Waverly besaß eine zarte Fi« gur; sie war eine kinderlose Witwe Ende der Fünfziger. Also hätte je« der, der sich einigermaßen bei Kräf« ten fühlte, sie mühelos und ohne

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Rufus King

jeglichen körperlichen Widerstand ihrerseits so lange würgen können, bis sie tot gewesen wäre. Sie hatte keinen engeren Freundeskreis; of= fensichtlich lebte auch von ihrer Verwandtschaft niemand mehr; sie hatte aber auch in den zwei Jahren, die sie nun bereits in Florida zuge= bracht hatte, keinerlei Anstren= gung unternommen, um irgendweb che näheren Bekanntschaften zu schließen. Nach dem Prozeß gegen McSager erweiterte sich jedoch der Kreis der Leute, die sie kannten, ganz beträchtlich.

Die Generalstaatsanwaltschaft von Florida zog Mrs. Waverly als völ= lig unerwartete Zeugin hinzu; bis zu dem dramatischen Augenblick nämlich, da sie in den Zeugenstand trat, mußte sie so dichte Schleier tragen, daß sie von niemandem erkannt werden konnte. Dieser Verhüllung hatte sie zweifellos ihr Leben zu verdanken; zwei andere geladene Zeugen nämlich — Rat Williams und seine Angebetete >La Flamme< — waren spurlos ver-schwunden, noch bevor sie ihre Aussagen machen konnten. Es wur= de allgemein angenommen, daß ihre Abwesenheit eine immerwährende sein würde, da sie höchstwahr= scheinlich unfreiwillig am Fest= essen einiger Alligatoren in den Everglades, dem sumpfverseuchten

Hinterland Floridas, >teilgenom= men< hatten. Eigentlich war es die mit klar= blauem Wasser gefüllte Felsen= rinne, jener von Gott geschaffene Swimming=Pool, die Mrs. Waverly auf ihren augenblicklichen Ruhmes-weg gebracht hatte; die Plakette und all die anderen Ehrungen wur= den ihr ja deswegen zuteil, weil sie den Mut gehabt hatte, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, indem sie nicht gezögert hatte, dem Staatsanwalt unter vier Augen zu erzählen, was sie beobachtet harte, und indem sie dann später vor Gericht öffentlich aussagte.

Die bereits erwähnte Felsvertiefung befand sich hinter dem Haus und lag hart an der Grenze des Grund-Stücks, das sie sich damals gekauft hatte und das ungefähr drei Meilen westlich der am Meer gelegenen Ortschaft Halcyon lag. Durch die­sen Felseinschnitt war bereits der nötige Abstand geschaffen, der erst die wirkliche Stille und Zurück­gezogenheit von dem bevölkerten Strand, von jenem Gewimmel von sonnenhungrigen >Eintagsfliegen< gewährleistete; außerdem gewähr­te er Schutz vor den unzähligen Krabben mit ihrem widerlichen Ge­ruch, auf die nächtliche Schwimmer nur allzu leicht treten konnten, wo­bei zudem ein häßlich knirschendes

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Geräusch entsteht. Unzählige die= ser Felsvertiefungen kennzeichnen •weithin die Gegend um Creater Miami und in nördlicher Richtung entlang dem Federal Highway. Diese Felsenrinne war also, wie be= reits gesagt, ein idealer Swimming= Pool. Sie war recht groß und tief und angefüllt mit einem Wasser von intensivstem Cerulanblau, das zu den aus ihr herausragenden Felszacken in phantastischem Farb= spiel kontrastierte. Das Schwimm» becken war umgeben von Kokos= palmen, Avocados, Lindenge» sträuch, einigen prächtigen und schattenspendenden Ficus Exotics und den üblichen Bougainvillea und rosa Hibiskushecken — also ein höchst exotisch=romantisches Platz» chen für die weniger romantische Versenkung, die McSager mit der hastig herbeigeschleiften Leiche Ke= vins hier vorgenommen hatte. Das Grundstück um McSagers Ranch Club, die in der ganzen Ge= gend weit und breit exklusivste Spielhölle, grenzte im Osten an das Anwesen von Mrs. Waverly. Die» ser glückliche Umstand hatte Mc Sager auf die in ihrem Grundstück befindliche Felsvertiefung als den >günstigsten< Aufbewahrungsort für Kevins >heiße< Leiche gebracht. Die Umstände erforderten es näm» lieh, die Leiche schleunigst ver»

schwinden zu lassen, was McSager selbst besorgte, wobei er aus Zeit» mangel die sonst üblichen, genau» en Überlegungen und die — wie es im Verbrecher] argon heißt — Ze= mentgarnierungen außer acht las» sen mußte. Niemals hätte er auch nur im Traum daran gedacht, daß ein so zierlicher alter Nachtfalter wie Mrs. Waverly überhaupt noch schwimmen konnte und daß sie darüber hinaus auch noch die Ge= wohnheit haben könnte, jeden Morgen vor dem Frühstück in be= sagtem naturgeschaffenen Swim» ming»Pool herumzuplanschen. McSager wußte auch nichts von einer anderen Gewohnheit Mrs. Waverlys, das waren ihre Rund» gänge, die sie um zwei Uhr mor= gens zu unternehmen pflegte. Dies tat sie besonders gern und oft, um sich in einsamen Betrachtungen er» gehen zu können und weil sie an chronischer Schlaflosigkeit litt. Und auf einem dieser Rundgänge wurde sie dann, im Schatten einer Bou» gainvilleahecke stehend, Augen» zeugin der Wasserbestattung. Mrs. Waverly wußte stets und im» mer, was sie zu tun hatte. Sie hatte jedoch ihr ganzes Leben lang zu» nächst einmal gegeneinander abge» wogen, was für und was gegen eine Sache sprach, bevor sie etwas un= ternahm oder sich äußerte; und

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nun >in diesem höchst kritischen Augenblick< rechnete sie sich ziem= lieh genau aus — sehr genau sogar, wie später die Schicksale von Rat Williams und >La Flamme< bewei» sen sollten —, was mit ihr gesche= hen würde, daß sie Augenzeugin der Swimming=Pool=Bestattung ge= wesen war, falls dieser unsolide Gentleman inzwischen Gelegenheit bekam, sie zum Schweigen zu brin= gen. Nach diesen Überlegungen zog sie es vor, der Szene den Rük» ken zu kehren und in dieser Nacht in ihr leeres Haus zurückzugehen, wo sie sich sorgfältig einschloß, sich das unvermeidliche Kännchen Kaffee aufbrühte — sie brauchte das stets, um einschlafen zu kön= nen —, zwei Tassen davon austrank und zu Bett ging. Das Haus, eine der hier üblichen, mit Stuckarbeit verzierten Betonkonstruktionen, war nicht allzu groß, ebenerdig und hatte drei Schlafzimmer, zwei Bade= zimmer, einen Wohnraum, eineKü» che, eine überdachte Liegeterrasse und eine verschließbare Garage für das Packard-Kabriolett, das sie fuhr.

Nachts war sie stets ganz allein im Haus. Den Tag über kam ein far= biges Hausmädchen, und einmal die Woche war ein Mann da, der die Hibiskushecken trimmte und die Blumenbeete in Ordnung hielt. Die

wenigen Leute, die sie kannten, stellten oft Überlegungen darüber an, warum sie eigentlich nicht wie= der geheiratet hatte, da sie doch alles hatte, was eine Frau anzie» hend macht: gutes Aussehen, ein recht ansehnliches Vermögen und sehr angenehme Charaktereigen= schaffen. Letztlich schrieb ein jeder ihre Zurückgezogenheit der Liebe zu ihrem letzten Mann, Warburton Waverly, zu, die offensichtlich sei= nen Tod überdauerte. Nach fünfstündigem Schlaf erwach= te Mrs. Waverly; ihre Haare stan= den nicht wirr durcheinander, und sie wußte auch noch ganz genau, was in den frühen Morgenstunden am Wasser geschehen war. Sie zog einen Badeanzug, Sandalen und einen Bademantel an und ging nach draußen. Sie benutzte die Küchen= rür, die sie für Maybelle, das Mäd= chen, das nun bald, nämlich um acht Uhr, kommen würde, unver= schlössen ließ.

AlsMaybelles Mann inderSeventh Avenue auf einem Bau zu arbeiten begann, hatte er seine Frau hier im Haus als Dienstmädchen verdingt. Sie war eine kräftig gebaute junge Frau, und über ihre physische Kraft täuschte die dunkle, wie Satin glän= zende Haut hinweg; in all ihren Bewegungen lag eine etwas schwer« fällige Würde, und sie war von

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Natur aus die Verschwiegenheit in Person. Sie pflegte zunächst, bevor sie sich an ihre Arbeit machte, ein halbes Becherglas voll Sherry zu leeren, geradeso, als sei es Wasser, dann zog sie die Sonnenvorhänge im Wohnzimmer hoch, stellte die Ja= lousien so ein, daß die erquickend frische Morgenluft und die Strah= len der aufgehenden Sonne ins Zimmer dringen konnten und be= gann dann, den Kaffee fertigzuma= machen, der für Mrs. Waverly im= mer auf der Terrasse bereitstehen mußte, wenn sie morgens vom Schwimmen zurückkam. An diesem Morgen jedoch brachte Mrs. Waverly selbst eine Verände-rung in den gewohnten Tagesab= lauf; sie begab sich nämlich nicht auf die Terrasse, sondern kam di-rekt in die Küche. »Guten Morgen, Maybelle.« »Guten Morgen, Mrs. Waverly.« »Sag mir rasch, wen ich anrufen könnte. Draußen im Wasser Hegt eine Leiche. Es ist ein Mann, und ich glaube, daß er irgendwie am Grund festgemacht ist. Ich stieß ge= gen ihn, als ich ins Wasser sprang.« Was Maybelle auch immer von die= ser Nachricht halten mochte — sie brachte sie nicht aus ihrer stets zur Schau getragenen unerschütterli= chenRuhe. Leichen in Wasserrinnen

waren schließlich nichts allzu Unge= wohnliches; meistens waren es kleine Kinder, die in diesen Was­serrinnen zu planschen pflegten, obwohl die Polizei nicht müde wur­de, die Eltern über Funk, Fernsehen und Presse ständig daran zu erin­nern, besser auf ihre Kinder auf­zupassen. »Tot?« fragte Maybelle ohne jede spürbare Bewegung in der Stimme. »Ja doch! Und ich bin auch ganz sicher, daß es für jeden Wieder­belebungsversuch zu spät ist. Wie gesagt, die Leiche ist irgendwie festgemacht. Wo sollte man in einem solchen Fall doch gleich an­rufen?«

»Im Büro des Sheriffs. Soll ich es für Sie tun?« »Ach ja, bitte.« »Um diese Zeit wird jetzt wohl Mr. Budd Dienst tun.« Zwei Polizisten, die gerade eine Streifenfahrt durch die Seventh Avenue gemacht hatten, als sie der Funkspruch erreichte, trafen als er­ste ein und gingen gleich zu Mrs. Waverly auf die Terrasse hinaus. Sie hatte ihren Bikini gegen einen bambusblätter-gemusterten Baum-wollkittel vertauscht. Sie führte die beiden Männer zu der Wasser­rinne, wo sie am Grunde des tief­blauen Wassers noch einen dunk­leren Flecken entdecken konnten.

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Mr. Budd vom Büro des Sheriffs war inzwischen ebenfalls eingetrof= fen. Er trat bis an den Rand der Wasserrinne, zog sein flamingo= farbenes Hemd, seine Schuhe, Strümpfe und seine Hose aus, un= ter der er eine Badehose trug, und sprang ins Wasser. Die Sonne stand jetzt hoch genug am Himmel, so daß die großen Bäume keine Schat= ten mehr warfen und die goldenen Strahlen ungehindert in das Was= ser dringen konnten. Das Licht tauchte Budds nackten jungen Kör= per in den warmen braunen Fleisch-farbenton, den Mrs. Waverly im Spanischen Museum immer so sehr bewunderte.

Budd schien eine halbe Ewigkeit druntenzubleiben— scheinbare Zeit-losigkeit ist ja das Charakteristi­kum eines Tages in Florida; dann tauchte er endlich wieder auf, sagte zu einem der Streifenpolizisten: »Frank, ich brauche eine Draht­zange.«

Frank ging zum Streifenwagen, holte eine Zange heraus, gab sie Budd, der wieder für eine geraume Zeit unter Wasser verschwand, und nachdem er ihr durch einen kleinen Stoß Auftrieb gegeben hatte, schnellte die Leiche Kevins an die Wasseroberfläche; von dort aus zogen Frank und Jimmy sie an den felsgezackten Rand der Rinne.

»Das ist doch >MausKevin<«, stellte Jimmy fest. »Yeah«, sagte Frank. »Yeah«, bestätigte Budd ebenfalls. »Einer von Ihren Freunden?« fragte Mrs. Waverly. »Nein, Ma'am. Ich denke, daß man ihn am besten als den Geschäfts­konkurrenten Ihres Nachbarn, die­ses Mr. Saul McSager, bezeichnen könnte«, sagte Budd mit leisem Vorwurf in der Stimme. Auf dem Grundstück begann es nun lebendig zu werden; es trafen die Ambulanz und ein Gerichts­mediziner ein; dann kamen Mr. Jepson, der zuständige Staatsan­walt, und der zuständige Untersu­chungsrichter angefahren, und natürlich waren auch bereits die Reporter der in Miami, Fort Lauder-dale und Halcyon erscheinenden Zeitungen und einige von den all­gegenwärtigen Kameraleuten der Fernsehstationen von Fort Lauder-dale und Miami zur Stelle. Mrs. Waverly, die sich zwar höflich geweigert hatte, für die Kamera­leute noch einmal ihren Bikini an­zuziehen, sich jedoch zu einer ge­stellten Aufnahme bereitgefunden hatte, indem sie in dramatischer Pose mit dem Finger auf das ceru-lanblaue Wasser in der Felsrinne hinunterdeutete, gelang es, den Staatsanwalt beiseite zu nehmen

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bekundete ihr hierfür sein vollstes Verständnis, und daher wurde über sie und ihr gefährliches, aber un= schätzbares Wissen ein dichter Schleier der Verschwiegenheit ge= breitet.

Inzwischen waren Monate vergan= gen; das Gerichtsverfahren hatte stattgefunden, und weitere Monate waren dahingegangen; das Beru= fungsverfahren war niedergeschla= gen worden, und der sonst so milde Gouverneur hatte das Begnadi= gungsgesuch abgelehnt; Saul Mc Sager war auf dem Elektrischen Stuhl hingerichtet worden, und wieder war ein Jahr verflossen; die Tische des Gulf Stream Room im Driftwood Club waren mit Arran= gements aus korallenfarbenen Gla= diolen und mit goldenen Troddeln geschmückt worden. Mrs. V. W. Harris, Erste Vizepräsi= dentin der Florida Federation of Women's Unions, die ein halblan= ges Kleid aus rosa Organdy trug — rosa war in diesem Frühjahr die Modefarbe —, überreichte Mrs. Waverly die Silberplakette. Mrs. Waverly trug ein schickes schwar» zes Gesellschaftskleid, das ihre Nackenlinie vorteilhaft zur Geltung brachte, eine dreireihige Perlen» kette und das Orchideenbündel, das man ihr bereits bei der Cocktail»

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und ihn in die Stille einer dicht be= wachsenen Laube zu führen. »Eine Frage, Mr. Jepson«, sagte sie, als sie sich gesetzt hatten, »welchen Schutz können Sie mir zusichern?« Jepson betrachtete sein Gegenüber mit stechendem Blick. »Schutz gegen was und gegen wen, Mrs. Waverly?«

»Ich meine Schutz gegen Vergel» tungsmaßnahmen; ich könnte ja zum Schweigen gebracht werden, noch bevor ich vor Gericht ausge= sagt habe.« Die Schwüle, die auf diesem Tag lastete, und der Duft der in der Nähe wachsenden Gardenien hat= ten beinahe die berauschende Wir= kung von Opium. »Sie sahen, wie es geschah?« »Sie meinen den Mord? Nein, den habe ich nicht gesehen. Aber ich sah, wie Mr. McSager die Leiche in die Rinne warf.« »Sie würden Mr. McSager also ganz sicher wiedererkennen?« »Ja.« Sie gab ihm dann nähere Einzel= heiten an, und er fragte sie höflich, warum sie denn nicht sofort das Büro des Sheriffs verständigt hätte. Sie erklärte ihm daraufhin, daß sie deswegen Angst davor gehabt hätte, weil sie zwischen Furcht und der Erfüllung ihrer Bürgerpflicht hin und her gerissen worden sei. Jepson

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party in der sogenannten Titonen= vorhalle überreicht hatte, von der aus man auf das Meer hinausblik» ken konnte. Gegen elf hatten sich die Damen dann endlich alle voneinander ver= abschiedet, und Mrs. Waverly lenkte ihr Kabriolett nun west= wärts, entlang dem geraden, sich endlos hinziehenden Halcyon Bou= levard; sie sehnte sich nach der friedvollen Ruhe ihres Heims, die sich immer wie eine weiche und angenehme Hülle um sie zu legen schien. Nachdem sie den Wagen in die Garage gefahren hatte, ging sie in das stille Haus hinein, legte die Kette vor die Haustür, schaltete die Kaffeemaschine ein und sah nach, ob Maybelle — wie sie es häufig tat — wieder einmal vergessen hatte, den Küchenausgang abzusperren. Und natürlich hatte sie es wieder einmal vergessen. Mrs. Waverly drehte den Schlüssel um und legte die Kette vor.

Sie trug ihre Kaffeetasse ins Wohn= zimmer hinüber und setzte sie auf einem niedrigen Tisch nahe am Ka= min ab, auf dessen Sims sie die sil= berne Plakette gelegt hatte. Dort hatte sie die Plakette vor Augen und konnte, sich selbst und ihre eigene Courage bewundernd, sich an ihr erfreuen. Drüben auf der Se= venth Avenue schlug ein Hund an.

Dieser Laut durchdrang die Stille der Nacht so schauerlich, als wolle er eine stetig zunehmende Gefahr ankündigen. Gab ihr jenes Hundegebell in die= ser Nacht ihres Triumphes derar= tige Gedanken ein? Oder war ihr Triumph vielleicht allein von sich aus auf solchen Gedanken begrün* det? Konnte der Tod eines Mannes, der auf dem Elektrischen Stuhl ge= endet hatte, überhaupt einen Triumph bedeuten? Sprangen dem Delinquenten, wenn der Strom ein= geschaltet wurde, nicht die Zähne aus dem Mund und flogen im gan= zen Hinrichtungsraum herum? Sie überlegte, wo sie wohl diese dumme Geschichte aufgeschnappt haben mochte. Ja, natürlich, wäh= rend der Gerichtsverhandlung hatte ihr einer der Leute, die sie zu be= wachen hatten, davon erzählt. Nun, nachdem sie instinktiv das Gefühl der herannahenden Gefahr ver= spürte, bedrückte und beängstigte sie dies noch weit mehr. Die Silber= piakette verlor allmählich an An= ziehungskraft und Wert. Das Bild von den umherspringen» den Zähnen ließ sie nicht mehr los, und besonders intensiv ging es ihr im Kopf herum, daß es ausgerech= net Saul McSagers Zähne gewesen waren. Er war ein kräftiger und gut aussehender Mann im besten Al=

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ter gewesen, dem noch das blaue Blut eines ritterlichen Freibeuters in den Adern geflossen war. Mrs. Waverly war nie mit ihm zusam= mengetroffen, noch war sie jemals zum Ranch Club hinübergegangen, da sie jede Art von Glücksspiel für ausgemacht töricht hielt; wenn sie McSager jedoch gelegentlich mit dem Wagen im Vorbeifahren be= gegnet war, so hatten sie sich stets mit einem freundlichen Kopfnicken gegrüßt.

Heute nacht nun wollte sie nicht wie gewöhnlich um zwei Uhr ihren üblichen Rundgang machen, da sie sich einfach zu müde fühlte. Sie trug ihre Tasse in die Küche zurück, um dort noch einen letzten Schluck Kaffee zu trinken. Als sie die Tasse ausgetrunken hatte, blieb ihr Blick an der Küchentür haften. Sie war ganz sicher, daß sie den Schlüssel im Schloß steckengelassen hatte, aber jetzt war das Schlüsselloch leer. Mrs. Waverly empfand immer stärker, daß jemand auf leisen Soh= len hinter ihr herschlich, und plötz= lieh überkam sie regelrechte Angst um ihr Leben. Sie hatte nur den einen Wunsch, möglichst schnell aus dem Haus hinauszugelangen. Um ihre sich steigernde Angst zu tarnen und ihren Gang unbeküm» mert erscheinen zu lassen, nahm sie die Kaffeetasse mit sich, als sie

ins Wohnzimmer zurückging. Und dort erblickte sie eine fremde junge Frau, die auf einem Stuhl saß. Sie hatte weiß Gott was erwartet — nur das nicht. Sie hätte vielleicht eher noch einen Landstreicher er« wartet, niemals aber diese gut ge= kleidete, außerordentlich blasse, wohlerzogen aussehende junge Da= me. Der Hund von der Seventh Avenue drüben begann sein Gebell wieder mit jenem schauerlichen apokalyptischen Heulton. »Dieses Gekläff, für das überhaupt kein Grund vorhanden ist, gehört zu jenen Dingen, die mich völlig durcheinander bringen«, sagte Mrs. Waverly. »Die Nachbarn dort, de= nen der Hund gehört, müssen ent= weder taub oder sehr ordinäre, rücksichtslose Leute sein, finden Sie nicht auch?«

»Ja, gewiß«, erwiderte die junge Frau. »Sie haben ganz recht, Mrs. Waverly. Und bevor Sie sich die Mühe machen, sich mir vorzustel= len, möchte ich Ihnen sagen, wer ich bin — Sie haben das Vergnügen mit Elsa McSager, Sauls Tochter.« Elsas eiskalte Augen fixierten die Silberplakette auf dem Kamin= sims, und Mrs. Waverly blickte rasch zu der vorderen Haustür hin= über. Auch dort war der Schlüssel abgezogen. Sie stellte die Tasse auf dem Tisch ab, zog sich einen Stuhl

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heran und setzte sich. Mrs. Wa= verly überlegte, ob das Mädchen wohl ebenfalls wußte, daß im Hin= richtungsraum die Zähne ihres Va= ters umhergeflogen waren. »Ich nehme an, Miss McSager, daß Sie, nachdem Maybelle gegangen war, hier einfach hereingekommen sind und gewartet haben?« »Genauso war es. Ich wartete in einem der Schlafzimmer.« »Und wozu das alles?« »Sozusagen, um unsere Jahresfeier abzuhalten. Ich werde Sie nämlich töten, Mrs. Waverly.« »Oh!«

»Und bemühen Sie sich erst gar nicht, mir einreden zu wollen, ich würde nicht mit Ihnen fertigwerden und nicht ungeschoren davonkom= men. Das schaffe ich spielend, dar= auf können Sie sich verlassen! Das Alibi, das ich mir verschafft habe, ist nie und nimmer zu erschüttern, und außerdem weiß keine Men= schenseele, daß ich überhaupt hier bin.«

Mrs. Waverly fiel die Jugend des Mädchens auf; sie hielt sie für nicht älter als Sechzehn. »Welche Schule haben Sie besucht, Miss Mc Sager — war es die Sturdevant Hall?« fragte sie. »Ja. Woher wissen Sie das?« »Ich merkte es sofort an Ihrem Tonfall, an der Art, wie Sie sich

ausdrücken. Selbstverständlich hat Ihr Vater diese Schule für Sie aus= gesucht. Möchten Sie nicht eine Tasse Kaffee mit mir trinken?« »Das wäre tatsächlich die Masche«, sagte Elsa mit tödlichem Ernst. Mrs. Waverly kam zu dem Schluß, daß dieser Ausdruck aus dem stän= dig wechselnden Wortschatz der jungen Leute von heute auf Teen= agerart Zustimmung bedeuten soll= te. Miss McSager machte sich gar nicht die Mühe, ihr in die Küche zu folgen — zweifelsohne hatte sie sämtliche Türschlüssel abgezogen und eingesteckt; sie konnte nun zu= tiefst verletzt und mit der Uber= legenheit, die ihr ihre jugendliche Kraft verlieh, dasitzen, die Hand bereits erhoben gegen eine alte zer= brechliche Frau; sie konnte auch unbesorgt die Zeit verstreichen lassen, bis sie den ihr genehmen Moment, um zuzuschlagen, für ge= kommen hielt.

Mrs. Waverly kehrte ins Wohn= zimmer zurück und stellte eine Tas= se dampfenden Kaffee auf den Tisch. »Bitte, entschuldigen Sie mich für einen Augenblick, Miss McSager—« »Machen Sie sich gar nicht erst die Mühe, nach der Pistole in Ihrer Nachttischschublade zu suchen. Ich habe sie nämlich hier in meiner Ta= sehe.«

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»Nun ja, ich hätte mir gleich den» ken können, daß Sie sich hier drin» nen gründlich umgesehen haben.« » Selbstverständlich.« »Nehmen Sie Zucker?« »Ja, einen Würfel, bitte. Aber kei= ne Sahne.«

»Schon wieder dieser unmögliche Hund!« »Er wird Ihnen nicht mehr lange auf die Nerven fallen.« »Ja, das möchte ich auch fast sagen. Sie müssen Ihren Vater sehr ge= liebt haben, nicht wahr? Halten Sie es für grotesk, wenn ich Ihnen sa= ge, daß auch ich ihn geradezu be= wundert habe? Ich meine — seine männliche Haltung während des Prozesses.«

»Das finde ich allerdings sehr ver» wunderlich.« »Nun, Tatsache ist, daß ich ihn wirklich bewundert habe. Warum haben Sie mit Ihrer Angelegenheit eigentlich so lange gewartet, Miss McSager?« »Nun, das kann ich Ihnen sagen. Vielleicht verstehen Sie es sogar.« »Ich werde es jedenfalls versuchen.« »Es bedurfte erst noch eines letzten Anstoßes — es ist genauso wie mit einem Schlagbolzen —, erst durch ihn kann die an sich seit langem schußbereite Pistole losgehen. Was mich betrifft, so bedeutet jene Pia» kette dort oben für mich das aus=

lösende Moment, den sich auslösen» den Schlagbolzen.« »Ich verstehe durchaus.« »Das verwundert mich.« »Mich nicht. Denn sicher hatten Sie doch bereits in Sturdevant Hall eine Menge Ärger.« »Was soll dort schon gewesen sein?« »Wurden Sie nicht aufgefordert, die Schule zu verlassen?« »Allerdings. Aber zweifellos hat man dort alles, auch mich, sehr schnell wieder vergessen, nachdem ich erst einmal von dort fort war.« »Sind Sie wirklich froh darüber?« »Sie können sich gar nicht vorstel» len, wie sehr!«

»Ich kann mir das sogar sehr gut vorstellen. Sie haben die Willens» kraft Ihres Vaters geerbt, die Ihnen ein allmächtiges Gefühl einflößt, nach dem Motto: >Die Rache ist mein.< Nun noch etwas anderes, Miss McSager. Ich frage Sie dies lediglich aus rein ästhetischen Gründen. Wollen Sie mich hier ein» fach liegenlassen? Soll ich hier ver» wesen?«

»Nein, nicht hier im Haus. Ihr Mäd= chen wird Sie später in der so oft zur Sprache gekommenen Wasser» rinne finden. Es wird so aussehen, als hätten Sie sich beim Hinein» springen an einer unter der Wasser» oberfläche liegenden Felsspitze den Kopf aufgeschlagen, das Bewußt»

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sein verloren und seien dann er= trunken.« Mit zynischer Lässigkeit fügte sie noch hinzu: »Es wird be= stimmt nicht herauskommen, daß an der Geschichte etwas faul ist.« »Ihnen wird wohl auch bedeutend wohler zumute sein, wenn erst ein= mal alles vorüber ist«, meinte Mrs. Waverly so ungezwungen wie nur möglich.

Elsa verfiel in die sarkastische, überlegene Redeweise vieler Tu» gendlicher. »Sie zeigen bemerkens» wert viel Verständnis!« »Nun, schließlich habe ja auch ich mein Leben gelebt. Ich habe Leben und Tod und — bis zu einem ge= wissen Grade — auch die Liebe ken= nengelernt. Überrascht es Sie, daß ich siebenmal verheiratet war?« Elsa sah Mrs. Waverly an, als sei die unmittelbar vor ihrem Tode stehende ältliche Frau eine Art ehe» liches Weltwunder. »Tatsächlich, das überrascht mich!« »Sehen Sie, jeder meiner Sieben war anders. Die ersten drei waren >Einsame Herzen< — Mitglieder eines Eheanbahnungsclubs. Von den anderen vier kann man schon eher sagen, daß sie zumindest das Recht darauf haben, nicht mit» einander in einem Atemzug genannt zu werden. Natürlich hatten sie einiges gemeinsam; so hatten zum Beispiel alle vier zu meinen Gun»

sten eine sehr hoheLebensversiche» rung abgeschlossen; sie waren alle vier ziemlich reich und hatten alle denselben Wunsch, den ich stets schon vorher dem jeweiligen Arzt gegenüber zu äußern pflegte: Sie wollten nämlich alle feuerbestattet werden, so daß man sie heute leider nicht mehr exhumieren kann. Noch heute bringe ich ihnen Blumen aufs Grab, obwohl sie in Wirklichkeit ja längst in alle vier Winde ver» streut sind.«

Mrs. Waverly schaute auf die ver» goldete Uhr, die neben der silber» nen Plakette auf dem Kaminsims stand. Zwölf Minuten waren in» zwischen verstrichen. Mit >durch Erfahrung geschultem Blick< auf Miss McSager vergewisserte sie sich, daß deren Muskeln bereits völlig den Dienst versagten und daß dies für einige dunkle Stunden anhalten würde, bis die Sonne das Wasser in der Felsenrinne wieder cerulanblau färben würde. »Trinken Sie doch Ihren Kaffee aus, Miss McSager.« Mrs. Waverly lehnte sich nach vorn und betrach» tete mit kritischem Blick den Inhalt von Elsas Tasse. »Schon gut, es macht nichts. Ich glaube, daß Sie bereits genug davon getrunken ha» ben. Sagen Sie mir nur schnell noch, meine Kleine — brennt Ihnen der Mund ein wenig?«

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Louis Bromfield

Josephine Criminelle

Eine köstlich kitzlige und höchst geistreiche Story über Verdacht der Erpressung, angedrohten Selbstmord und einen Mordprozeß — gar nicht erst zu reden von einem anderen Verbrechen von . . . oder sagen wir lieber: allzu delikater Art, um schon im voraus darauf einzugehen — von einem Pulitzerpreisträger und einer der berühm= testen amerikanischen literarischen Größen .. .

Sie war uns von Schwester Theresa vom St.=Joseph=Krankenhaus emp= fohlen worden und kam in dem herrlichen Sommer des Jahres 1932 zu uns. Sie sollte für die Kinder sorgen und hatte deren Wäsche und Zimmer in Ordnung zu halten. Sie war von ziemlich großem Wuchs, sehr kräftig und für ihr Alter — Schwester Theresa sagte, daß sie sechzehn Jahre alt sei — schon er= staunlich gut entwickelt. Ihre Eltern wohnten in einem kleinen Haus nahe dem Mühlbach an der Straße, die nach Fleurines führt, dort, wo früher alljährlich am Hubertustag die Jagdhunde gesegnet wurden — einem romantischen kleinen Haus, von Pappeln überschattet, mit

einem Rosenbusch davor, einer Rosenart, die den poesievollen Na= men Les Sept Soeurs trägt, und dessen blühende Zweige fast das ganze Haus überrankten, genau ein Haus, wie es sich auch Abbe Prevost hätte erdenken können, um darin seine berühmte Romanfigur Manon Lescaut leben zu lassen. Ihr Name war Josephine — also kein ausgefallener phantasievoller Modename wie etwa Colette oder Jacqueline oder gar Euphemie, son= dern ein ganz alltäglicher Name, wie er meist in mittelständischen Krei= sen zu finden ist und der eigentlich nichts Besonderes besagt. Sie wirkte in ihrer herben — und fast könnte man sagen farbenprächtigen —

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Louis Bromneid

Schönheit wie ein ziemlich schlech» tes und mit zu vielen Farben über» ladenes Bild eines flämischen Ma= lers. Sie hatte eine ganz seltsame Art, jemanden anzusehen, beson» ders, wenn dieser Jemand ein Mann war. Ebenso seltsam war ihr Ge= kicher, in das sie anschließend aus= zubrechen pflegte. Später fiel mir dann ein, daß eigentlich dies uns schon einen Wink hätte geben müs= sen, aber damals gingen wir einfach darüber hinweg, da es immer schwieriger geworden war, jeman= den zu finden, der Windeln und Nachthemdchen wäscht. Unsere Amme mußte nämlich unbedingt entlastet werden, denn sie hatte mit unseren drei Kindern und deren fünf kleinen Cousins im Alter von sechs Monaten bis zu vier Jahren, die uns für ein halbes Jahr rück= sichtslos aufgehalst worden waren, bereits alle Hände voll zu tun. Obwohl Senlis eine todlangweilige Stadt war und die gebotenen Ab» wechslungen sich im kirchlichen Leben erschöpften, waren seltsamer» weise gerade Hausangestellte aus= gesprochene Mangelware. Diese Krise hatte die einzige Fabrik des Ortes, bekannt unter dem Namen Le Caoutchouc de Senlis, herauf» beschworen. Wie schon der Name sagt, stellte diese Fabrik Gummi= waren her. Sie war in einem statt»

liehen Haus auf der anderen Stra» ßenseite untergebracht, dem uns» rigen fast genau gegenüber, dort, wo der Kanal, der auch durch un= seren Garten hindurchfloß, eine Bie» gung machte. Hinter der Fabrik endet der Kanal in dem Wallgra» ben, der die Mauern der alten Feste Vauban umschließt. Le Caoutchouc de Senlis war für uns nahezu le» bensbestimmend geworden, da es alle jungen Mädchen, die sich als Kindermädchen geeignet hätten, aufgesogen hatte; alle, mit einer Ausnahme, und die war — Jose» phine. Wir entdeckten, daß Jose» phine auf keinen der von Le Caout= chouc de Senlis ausgeworfenen Köder angebissen hatte; sowohl sie als auch ihre Mutter konnten näm» lieh der sittlichen Einwirkung eines solchen Betriebes durchaus nichts Gutes abgewinnen. Außerdem wa= ren sie der Ansicht, daß es für ein junges Mädchen mit Josephines Та» lenten geradezu unter ihrer Würde

sei, Fabrikarbeit anzunehmen. Da» mals begriffen wir eben noch nicht das volle Ausmaß der Rolle, den der Ehrgeiz in Josephines >Karriere< spielen sollte.

Sie erfüllte ihre Pflichten fast mit einer gewissen Hingabe, nicht etwa nur recht und schlecht, und eine Zeitlang meinte daher Nanny so» gar, daß wir es mit ihr eigentlich

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Josephine Criminelle

recht gut getroffen hätten. Das will schon einiges heißen, denn Nanny war ein Typ, wie ihn nur England hervorbringen kann: eine ganz selt= same Mischung von Überspannt» heit. Sie pflegte kein Blatt vor den Mund zu nehmen, und in mancher Hinsicht war sie sogar recht derb zu nennen; dennoch hielt sie sehr viel auf Bildung und äußerst kor= rektes Benehmen. Einige Tage lang schien die stattlich gewachsene, hübsche und junge Josephine sogar der Prototyp eines braven und wohlerzogenen jungen Mädchens zu sein.

Zunächst stiftete Nanny auch kei= nerlei Unruhe im Haus, nachdem wir Josephine zu uns genommen hatten, wohl aber die beiden >Ma= rien<. Sie waren Cousinen, fast gleichaltrig und bereits in jenem gewissen kritischen Alter; damit man sie auseinanderhalten konnte, wurde die eine Marie und die andere Maria genannt. Ihr Tatendrang war mitunter dem von Kobolden ver= gleichbar, und mit besonderer Vor= liebe wirbelten sie Wolken vonStaub auf, was jedoch nur zur Folge hatte, daß sich dieser Staub sehr bald wieder legte, kaum daß sie ihn bei ihrer emsigen Tätigkeit hochgewir= belt hatten. Ihre Vorliebe galt auch dem Zerbrechen von Geschirr und dem Horchen an Schlüssellöchern.

Ich weiß allerdings nicht, ob sie viel davon profitierten, denn im Fami= lienkreis wurden alle Unterhaltun= gen in englischer Sprache geführt, und beide gaben auch ganz offen zu, daß sie von diesen Unterhaltun= gen kein Wort verstünden. Vor al= lern aber waren die beiden Jungfern. Und in keinem anderen Land der Welt kann eine Jungfer jüngfer= licher sein als gerade in Frankreich! Was so eine rechte französische Jungfer ist, so kann sie in diesem Jungfernstand mehr wollüstiges Vergnügen finden, als es jemals die leichtlebigsten Mademoiselles ge= funden haben, die in den gewag= testen französischen Romanen zu agieren pflegen. Kurzum, die bei= den waren die eingefleischtesten Jungfern, die man sich überhaupt nur denken konnte. Zwar behaup= teten sie, sie hätten bei Josephine schon von Anfang an Lunte gero* chen, wogegen ich jedoch der An= sieht bin, daß sich ihre Verdächti» gungen zunächst einzig und allein auf Josephines gesundes, vitales Aussehen stützten. Dies ist in Frank= reich traditionsgemäß durchaus ein Grund zu gewissen Verdächtigun= gen.

Die Köchin Marguerite hingegen bereitete Josephine keinerlei Schwierigkeiten und brachte ihr auch keinen Argwohn entgegen.

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Louis Bromfield

Marguerite stammte aus Perigord; sie war groß, von gutem Aussehen, mütterlich, stets froh gelaunt und als Köchin nahezu unübertrefflich. Sie war verwitwet und hatte zwei erwachsene Söhne, und sie nahm gegenüber Josephine eine sehr ver» ständnisvolle, vielleicht allzu nach= sichtige Haltung ein. Sie war der Ansicht, daß Mädchen ihre Vergnü= gungen haben sollten; ja, sie be= wahrte sogar das Geheimnis über das Toilettenfenster im unteren Stockwerk.

Wie all die anderen Fenster, die auf die Straße hinausgingen, war auch dieses Fenster zum Schutz gegen Einbrecher mit massiven Eisengit» tern versehen, die wie bei einem Fenster in Scharnieren hingen und in der Mitte von einem soliden Vor» hängeschloß zusammengehalten wurden. Später allerdings versag= ten diese Gitter bemerkenswerter» weise sowohl im Hinblick auf die Senegalesen als auch auf Josephines sonstige Liebhaber. Diese Fenster sollten also beileibe niemandem als Aus= und Eingang dienen, zumin= dest hatte daran niemand gedacht — ausgenommen dann später bei Josephine. Natürlich hätte sie, um zu ihrem jeweiligen Rendezvous zu gelangen, auch durch die Haustür oder eines der Fenster auf der Gar» tenseite hinausschlüpfen können,

aber Josephine trug so etwas wie einen Instinkt fürs Theatralische in sich, das sie veranlaßte, durch das vergitterte Toilettenfenster ins Freie zu klettern. Wann diese nächtlichen Ausflüge nach ihrem Dienstantritt bei uns be= gannen, wußte niemand genau zu sa= gen. Ich jedoch schließe jetzt, nach allem, was wir erst viel später er» fahren sollten, daß sie sich gleich in der ersten Nacht ihres Aufent= haltes bei uns zum Schloßwall auf= machte. Das war der Ort, wo sich im allgemeinen die Liebespaare zu treffen pflegten, sozusagen der Apollohain des Städtchens. Jeden= falls hatte Marguerite eines Nachts wieder einmal ihre üblichen Magen= beschwerden. Sie ging deshalb noch einmal in die Küche hinunter, um sich Artischockentee aufzubrühen. Es war drei Uhr morgens. Durch eine offenstehende Tür wurde sie auf einmal Josephines gewahr, die sich kaum überhörbar durch das untere Toilettenfenster herein» zwängte. Ich weiß nicht, ob die bei= den daraufhin ein stillschweigendes Ubereinkommen trafen oder ob Marguerite das Geheimnis nur hü= tete, um Josephine in irgendeiner Weise erpressen zu können. Auf jeden Fall bewahrte Marguerite das Geheimnis, und es wäre wohl nie» mals aufgekommen, hätte es Jose»

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phine später nicht selbst verraten, als sie, veranlaßt von ihrem Sinn fürs Theatralische, wieder einmal einen ihrer merkwürdigen >Aus= brüche< hatte. Dies geschah an einem der inNord= frankreich so seltenen Abende, an denen es zu heiß ist, um schlafen zu können. Die Luft war schwül und drückend; es herrschte eine ähnliche Atmosphäre wie am Kar= freitag, wo ganz Senlis nur die Auferstehung des Herrn erwartet. Feuchte Tropenluft kroch durch die weit geöffneten Fenster herein. Es war eine entschieden dramatische und zugleich ungesunde Nacht. Sogar den Kindern wurde es in ihren gedrängt vollen Zimmern zu eng; sie warfen sich im Schlaf her= um, wachten auf und riefen nach Wasser. Gegen zwei Uhr jedoch kehrte wieder Ruhe ins Haus ein, und auch das letzte noch wache Kind hatte genug erquickendes Wasser getrunken und war einge= schlafen. Dann wurde die unbe= wegliche stille Luft plötzlich von durchdringenden Schreien zerrissen, die von heftig hervorgestoßenen, zunächst unzusammenhängenden Sätzen unterbrochen wurden. Es verging kaum eine Minute, da hingen aus allen Fenstern der obe= ren Stockwerke neugierige Köpfe heraus. Drunten bot sich ihnen eine

seltsame Szene, die allerdings im trüben Schein einer weiter entfern= ten Gaslaterne nur schwer zu er= kennen war. Unten auf der Brücke konnte man die schemenhaften Ge= stalten eines Mannes und einer Frau sehen. Der Mann trug die Korporalsuniform des am Ort sta* tionierten Spahi=Regiments. Er lehnte sich zurück, indem er sich auf seine Ellenbogen stützte und beobachtete eine Frau, die auf dem gegenüberliegenden steinernen Brückengeländer stand. Der Soldat sah dem Tun der Frau, die gerade eben noch das Gleichgewicht hielt und dabei schrie: »Je vais те jeter a l'eau! Je vais те jeter ä l'eaul«, mit geradezu schamloser Gelassen» heit zu. Die Entfernung vom Brük= kengeländer bis zur Wasserober= fläche betrug allerdings nicht mehr als etwa drei Meter, und das Was= ser selbst war kaum einen Meter tief, was die ganze Szene an sich zu einer theatralischen Farce machte. Es läßt sich schwer sagen, wie lange diese farcenhafte Szene der wach» senden Zuschauermenge noch zur Augenweide gereicht hätte, wenn ihr nicht das Eingreifen unseres Nachbarn, Monsieur Regnier, des Verwalters der Gummifabrik, ein Ende bereitet hätte. Dieser von Ge= stalt für einen Franzosen unge= wohnlich große, stämmige Mann

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Louis Bromneid

pflegte sonst eine höchst verträg= liehe und phlegmatische Gemütsart an den Tag zu legen. Nun aber hatte ihn diese Schreierei aus dem ehelichen Schlummer gerissen und aus dem mächtigen Doppelbett ge= trieben. Wutentbrannt lehnte er sich aus einem der Fabrikfenster im zweiten Stock und brüllte mit der Lautstärke des Stiers von Bashan hinunter: »He! Sie da!« Das ge= nügte. Die Frau hielt sofort mit Schreien inne und wandte sich dem Fenster zu. Die Arme hingen ihr schlaff herunter, und wie angewur= zeit stand sie auf dem Brückenge= länder, als nun Monsieur Regnier, angetan mit einem wallenden Nachtgewand, ein Schauspiel vom Stapel ließ.

Als der Fabrikverwalter nämlich merkte, daß sie zu ihm hinaufhörte, schrie er: »Wenn Sie unbedingt 'reinspringen wollen — gut, dann springen Sie doch! Tun Sie's doch, wenn Sie sich nun schon mal um= bringen wollen! Aber reißen Sie mit Ihrem Gezeter nicht ehrbare Bürger mitten aus dem Schlaf!« Nach diesen Worten ließ er das Fenster wieder zuknallen, um die ungesunde, drückende Nachtluft auszusperren.

Diese Ansprache von Monsieur Regnier war so typisch französisch, wie sie gar nicht französischer hätte

sein können — klar, überlegt und logisch. In ihr hatte er die unan= tastbaren Rechte jedes Einzelmen= sehen berücksichtigt. Zweifellos hatte diese Frau ein Recht darauf, sich umzubringen, wenn sie unbe= dingt wollte; dies ging ihn nichts an. Sie hatte aber nicht das minde= ste Recht, mit ihren Selbstmorde» rischen Absichten die Nachbarn aufzustören. Nachdem Monsieur Regnier in dieser Art seinen Stand» punkt kundgetan hatte, legte er sich wieder in sein überdimensionales Ehebett.

Die Rede hinterließ durchaus ihren Eindruck; zweifellos hatte sie sogar an den gallischen Sinn der Frau für Rechtmäßigkeit und Logik appel= liert. Ohne auch nur noch ein Wort zu sagen, kletterte sie vom Brük= kengeländer herab und ging lang= sam zur Straße in Richtung auf die Gaslaterne. Der Soldat löste seine Ellenbogen von dem steinernen Brückengeländer, zündete sich ge= lassen eine Zigarette an und folgte ihr in geringem Abstand. Als die Frau in den gelben Lichtschein der Gaslaterne trat, erkannten wir alle in ihr unsere Josephine, die wir in jungfräulichem Schlummer auf ihrem Zimmer im dritten Stock ge= wähnt hatten.

Ich war natürlich nicht der einzige, der sie erkannte. Den zwei unein»

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nehmbaren jüngferlichen Festun= gen, den zwei Marien nämlich, wa= ren die aufreizende Figur und der langsame, hüftenschwingende Gang nur zu bekannt. Sie warteten unten im Dunkeln auf sie, als sie kurz vor Morgengrauen durch das Toi= lettenfenster hereingekrochen kam. Die zwei Marien waren die perso= nifizierten Göttinnen der Rache! Ihre kreischenden Anschuldigungen und Josephines bissige Widerreden weckten das ganze Haus auf. Wir beschäftigten Josephine jedoch auch weiterhin bei uns, da für sie einfach kein Ersatz zu finden war, weil die Mädchen aus der Gummi= fabrik fast ausnahmslos damit be= schäftigt waren, die französischen Geburtsziffern um ein beträcht= liches emporklettern zu lassen. Von den zwei Marien angestachelt, un= terzog ich das Gitter des Toiletten» fensters einer gründlichen Unter= suchung. Josephine war mitbewun= dernswerter Entschlossenheit vor= gegangen. Sie hatte ganz einfach das Vorhängeschloß aufgeknackt und beiseite geworfen. Auf meine Anordnung hin brachten die zwei Marien das Schloß wieder an. Diese Tätigkeit nahm ziemlich lange Zeit in Anspruch, wobei die beiden un= unterbrochen tratschten wie ein al= tes Elsternpaar. Als erste Reaktion auf dieses Geschehnis hin konnte

ich jedoch nur Bewunderung auf= bringen für die Vitalität und strot= zende Gesundheit Josephines, die es fertigbrachte, den lieben langen Tag lang Windeln zu waschen und sich nächtelang mit Unteroffizieren im Apollohain herumzutreiben. Nach diesem Ereignis war das Ver= hältnis zwischen Josephine und den zwei Marien von andauernder und betonter Kühle. Marguerites Hal= tung blieb freundlich und unverän» dert; zweifelsohne hatte diese Epi= sode glückliche Jugenderinnerungen in ihr heraufbeschworen. Nanny sah das alles vom typisch britischen und vom hygienischen Standpunkt aus; die moralischen Gesichtspunk» te berührten sie nicht, aber sie miß= billigte es, ein Mädchen Windeln waschen zu lassen, das sich mit die= sen Spahi=Unteroffizieren herum= trieb.

Der Sommer verging, und — soweit dies aus dem Vorhandensein von Vorhängeschlössern und dem >ge= heiligten< Spionieren der beiden Marien zu schließen war — Jose= phine schien von da an ein solideres Leben zu führen. Aber da täuschten wir uns gewaltig! Drei Monate nach der Brückenszene trug Jose= phine nämlich einen schweren Korb mit frisch gewaschenen Windeln durch den hinteren Hausflur und hatte infolge der Anstrengung eine

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Fehlgeburt. Das war der unum» stößliche Beweis dafür, daß Jose= phine also irgendwie und irgend» wann doch aus dem Haus gelangt war. Diesmal nahmen die beiden Marien, die darüber geradezu außer sich waren, die Angelegenheit gleich selbst in die Hand. Sie schickten nach Alcide, der Josephine mitsamt ihren Habseligkeiten in die Behau» sung ihrer Mutter zurückbringen sollte. Alcide war ein Typ für sich. Er war fünfundsiebzig Jahre alt und führte ein beschauliches Leben, dessen ru= higer Ablauf nur dadurch gestört wurde, daß er seinem alten Schim» mel täglich zweimal das Geschirr umhängen mußte, um zum Bahn= hof zu fahren und dort die Ankunft des Bummelzuges, der zwischen Chantilly und Crepy=en=Valois ver= kehrte, abzuwarten. Das alte Pferd hatte dabei ein höchst kurioses Ve= hikel, eine Art kleinen, verbeulten Omnibus hinter sich herzuziehen, an dem ein Messingschild ange= bracht war, auf dem zu lesen stand: >Carrossen'e Benguet i8y8<. Außer zu den Fahrten zum und vom Bahn-hof wurde der >Omnibus< gelegent= lieh auch noch für Hochzeitsgeselb Schäften oder auch von alten Damen gemietet, wenn diese ihre alljähr= liehen Bekanntenbesuche absolvier»

ten. Nun hatten die beiden Marien also dieses Vehikel bestellt, damit es ihre Feindin Josephine heim und ihnen aus den Augen schaffe. Ich kehrte zu diesem Zeitpunkt ge= rade von Paris zurück und kam zu= fällig an dem Omnibus vorbei. Alcide kauerte auf dem >Führer= stand<; im Inneren des Wagens ent= deckte ich zwischen zwei schwarz gekleideten und entrüstet drein= blickenden Marien die Gestalt Jose= phines. Obwohl sie sich in ihrer Haut sicherlich nicht sehr wohl fühlte, saß sie herausfordernd und hocherhobenen Kopfes da, in dem Bewußtsein, daß sie den beiden Jungfern einiges voraus hatte. Sie schaute auf die Welt herab wie einst Marie Antoinette auf ihrem Weg zur Guillotine. Im hinteren Flur erzählte mir dann Marguerite von Josephines tragi« schem Mißgeschick. Natürlich trug sie mir die ganze Sache völlig ruhig und gefaßt vor. Anschließend fragte sie mich dann: »Was meinen Sie nun dazu? Zu dieser Josephine? Sie ist gewissermaßen eine manifesta* tion de la naturel Manifestationen der Natur kann man nicht ändern!« Und schließlich fügte sie noch hin» zu: »Die beiden armen Marien! Sie vergehen fast vor Stolz und zu» gleich Neid!« Stolz und Neid — seltsame Worte hatte sie da ge=

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wählt. Die beiden Marien waren stolz, daß sie sich etwas erhalten hatten, wonach es kaum jemand ge= lüstet hatte. Sie hatten eine Art Schatz daraus gemacht, und doch — irgendwo im Grunde ihres Herzens packte sie nun der Neid. Soweit es unseren Haushalt betraf, war das das Ende von Josephine. Von nun an wollten wir Josephine zwar vom Standpunkt Marguerites betrachten, als eine manifestation de la nature, aber gerade diese Art von Manifestation paßte einfach nicht in unsere Vorstellungswelt hinein.

Der Winter ging vorüber, der Früh= ling kam, und nach einer kurzen Periode zurückgezogenen Lebens tauchte Josephine wieder auf den Straßen der Stadt auf. Und als der Sommer kam, wurde es offensicht= lieh, daß diese manifestation de la nature dem Apollohain wieder ein= mal allzu zahlreiche Besuche abge= stattet hatte. Es war zudem allge= mein bekannt, daß Josephine nicht verheiratet war, obwohl sie von Zeit zu Zeit gesehen wurde, wie sie sich die Tage mit den verschieden» sten Männern vertrieb, angefangen vom Kohlenmann, der so verrußt war, daß man seine Gesichtszüge kaum erkennen konnte, bis zu dem Sergeanten von der Spahi=Kaval= lerie. Der Sergeant ist insofern be=

merkenswert, als er für Josephine einen >sozialen< Aufstieg bedeutete, denn bislang hatte sie es nur bis zu einem Korporal gebracht, bis zu demjenigen nämlich, der sie mit solch zynischer Gleichgültigkeit be= obachtet hatte, als sie damals auf der Brücke den Selbstmordversuch unternommen hatte. Die ganze Zeit über war diese manifestation de la nature einem nie erlöschenden Vul= kan vergleichbar: Josephine reihte eine Schamlosigkeit an die andere. Fast täglich hinterbrachten uns die beiden entrüsteten Marien neue Nachrichten über sie. »Dieses Weib! Diese verkommene Kreatur! Was für ein schlechtes Beispiel gibt es doch den wohlerzo= genen jungen Mädchen und den ar= men, unschuldigen Kindern! Sie — sie ist ein Ungeheuer!« so zeterten sie. Ihre tiefe und unersättliche Em= pörung führte ihre bereits erwähn» ten Rachegelüste einem neuen Hö= hepunkt zu. Gläser, Tassen und Unterteller — eben alles, was in einem Haushalt an Ton= und Glas= waren vorhanden ist — nahmen für sie plötzlich die Gestalt Josephines an und hatten es entsprechend zu büßen. Daß es somit also entspre= chend viel Scherben gab, bedarf wohl keiner weiteren Erwähnung. Sechs Wochen später, an einem Sonntagabend im Juni, gaben Mon»

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sieur und Madame Verdeau eine Soiree. Sie waren beide sehr musi= kaiisch. Von Madame Verdeau am Klavier begleitet, trug Monsieur Verdeau Stücke von Baudelaire und Verlaine vor. Madame Verdeau hingegen begleitete sich selbst, wenn sie mit unsicherer Piepsstim= me Balladen trällerte. Die beiden waren kinderlos und lebten von einem Einkommen, das sich allmäh= lieh astronomischen Höhen näherte. Sie gaben ihre Musikabende haupt= sächlich deswegen, um sich eine Ge= legenheit zum Rezitieren und Sin= gen zu verschaffen. Sie wollten aber auch dem Baron de Maricourt, einem saft= und kraftlosen Mann von fünfundsechzig Jahren eine Chance bieten, daß er seine neu= esten Gedichte öffentlich vorlegen durfte.

Das Verdeausche Haus befand sich ganz in der Nähe des Teils des Burgwalles, der eingeebnet und zu einem Park umgestaltet worden war. Dieser Park grenzte an den Friedhof und die — mit den Augen eines Geschäftsmannes betrachtet — dort sehr günstig gelegene Werk» statt des Steinmetzen. Der Abend bei den Verdeaus verlief angenehm, und Madame Verdeau sang gerade mit flötender Stimme und ein we= nig unrein die Ballade >L'Esclave<, als sie durch das Erscheinen der

hochschwangeren Josephine unter= brochen wurde, die im Zustand höchster Erregung durch die offen» stehende Terrassentür ins Zimmer hereingeplatzt kam. »Vite, venez vite!« schrie sie. »Je= mand will sich umbringen!« Dieser alarmierende Anblick be= reitete Madame Verdeaus Wieder= gäbe von >L'Esclave< ein jähes Ende. Monsieur Verdeau, als Hausherr, und Baron de Maricourt, als der örtliche Saint=Simon, folgten der verstörten Josephine dorthin, wo der hpothetische Selbstmord statt= finden sollte. Als sie hinkamen, richtete Monsieur Verdeau den Strahl seiner Taschenlampe auf die Gestalt, die am Boden lag. Und da lag in dem gelblichen Lichtkreis, den Revolver neben sich, der Sergeant — tot und steif wie ein Besenstiel. Und nun gab Josephine eine ihrer besten schauspielerischen Vorstel= lungen. »Ich bat ihn, mich zu hei= raten. Ja, ich flehte ihn darum an! Ich schwor beim Haupt meiner Mutter, daß er der Vater meines Kindes ist. Er leugnete es ab. Er sagte, der Kohlenmann sei der Va= ter, und er wolle sich lieber um= bringen, als daß er mich heiraten würde. Und das hat er dann auch tatsächlich getan!« Nach einem flüchtigen Blick auf Josephines Figur warf der Baron

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eine zwar zutreffende, aber doch recht spitze Bemerkung ein: »Mög= liehst gerade noch rechtzeitig, nicht wahr? Nun wird er Ihnen auch so noch als eine Art Ehemann oder et= was Ähnliches dienlich sein.« Man rief die Polizei, Josephine wurde weggebracht und für den Rest der Nacht in den >Bunker< ge= steckt. Während all dieser Vorgän= ge fuhr sie fort, die Vorstellung einer zehntklassigen Schauspielerin erstklassig nachzuahmen. Sie rang die Hände, sie weinte, sie rief le hon Dieu als Zeugen an, und schließlich schritt sie stolz und hoch= erhobenen Hauptes in ihre Zelle. Sie verstand es von Anfang an ausgezeichnet, sich in ein ganz be= sonderes Licht zu setzen. Am nächsten Morgen überbrachte der Milchmann den beiden Marien die Neuigkeit. Von ihm stammte auch die beunruhigende Nachricht, Josephine selber hätte den Revol= ver, der am Schauplatz des >Selbst= mordes< gefunden worden war, ge= kauft oder sich sonstwie verschafft. Die zwei Marien waren entzückt. Sie triumphierten. Sie waren erlöst. Wie in den frommen Büchern, die ihre einzige Lektüre darstellten, so war hier in der Wirklichkeit der Tugend Rechtfertigung widerfah= ren. »Vouz voyez!« pflegten sie ständig zu sagen. »Vous voyez! Ich

habe es ja immer schon gesagt, daß dieses Mädchen in ihrem Herzen eine Mördergrube trägt!« Die sanftmütige, selbstzufriedene Kö= chin Marguerite hatte unter dem Triumphgeschrei der beiden schwer zu le :den. Noch aber hatte Josephines Karriere längst nicht ihr Ende gefunden. Sie wurde des Mordes an einem ge= wissen Henri Wirtz, Sergeant beim achten Regiment der marokkani= sehen Spahis, angeklagt und vor das Schwurgericht in Beauvais gebracht. In den Pariser Zeitungen wurde der Fall natürlich als >Verbrechen aus Leidenschaft dargestellt und ent= sprechend groß aufgemacht. Das einzige Bild allerdings, das von Jose= phine aufzutreiben war, zeigte sie im Kommunionkleid; dieses Bild erschien in Bordeaux im >Matin<, im >Petit Parisien< und sogar in >La Petite Gironde<. Von Paris kamen Reporter, die sie und ihre Mutter interviewten. Dabei stellte sich heraus, daß letztere die Weisheit nicht einmal mit Teelöffeln geges= sen und daß auch sie ein ähnlich bewegtes Leben hinter sich hatte, in dem es jedoch niemals zu solch dramatischen Höhepunkten gekom= men war wie bei ihrer Tochter. Nach dem Code Napoleon wird der Angeklagte so lange für schul= dig befunden, bis seine Unschuld

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erwiesen ist. Josephine hatte als Mörderin vor Gericht zu erscheinen. Inzwischen war sie ihre Last der Sünde losgeworden; im Kranken= haus St. Joseph hatte sie nämlich entbunden — bei denselben Schwe= stern, die sich früher einmal für Josephines lauteren Charakter ver= bürgt hatten.

Nie lieferte sie einen besseren Be= weis dafür, was es bedeutet, eine manifestation de la nature zu sein. Wie eine Witwe gekleidet saß sie zwischen den beiden Polizisten. Sie trug einen mindestens ellenlangen, wenn auch billigen Schleier mit einer winzigen weißen Krause, was ihre herbe, aber blühende Schön* heit besonders zur Geltung bringen sollte. Meist saß sie mit gesenktem Kopf da; nur von Zeit zu Zeit stieß sie kurze, leise Seufzer aus. Bei der Zeugenbefragung kamen allerhand interessante und ein we= nig belastende Tatsachen ans Ta= gesucht. Sie mußte zugeben, daß sie nicht sicher sei, ob nun der Köhlen» mann oder der Sergeant der ur= sprüngliche Grund für den ganzen Fall gewesen war. An dieser Stelle fragte der Vorsitzende, ein schmäch= tiger kleiner Mann, dessen kunst= voll gezwirbelter Bart die Form einer Fahrradlenkstange hatte, mit klarer französischer Logik, warum Josephine denn nicht versucht hät=

te, den Kohlenmann zu kriegen, nachdem der Sergeant sich so strikt geweigert hatte, sie zu heiraten; er fragte weiter, warum sie ihr Glück dann später nicht auch noch bei dem Korporal versucht hätte. Der Kor= poral wurde nämlich bei der Zeu= genvernehmung, wenn auch nur ganz am Rande, erwähnt. Dies, so meinte der Vorsitzende, wäre doch weit weniger mühsam gewesen, als zu morden.

Nachdem Josephine tränenreich er= klärt hatte, daß sie keine Mörderin sei und daß der Sergeant sich lieber hätte umbringen wollen, um sie nur ja nicht heiraten zu müssen, zeigte sie ihr wahres Gesicht. Sie war das, was man eine gesellschaft= liehe Streberin nennt. »Ich wollte einen Offizier — oder zumindest einen Sergeanten. Einen Kohlen= träger kann schließlich jede haben«, meinte sie.

Die Verhandlung dauerte drei Ta= ge. Monsieur und Madame Verdeau und Baron de Maricourt wurden vorgeladen. Alle drei taten verwirrt und verärgert, waren im Grunde aber dennoch erfreut und fühlten sich geehrt, daß sie in einem Mord= prozeß als Zeugen auftreten durf= ten. Josephine in ihren Trauerge= wändern fuhr indessen eifrig fort, die Rolle der völlig niedergeschmet= terten Rubenswitwe zu spielen, und

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wegen des wenig erprobten, pro= vinziellen Spürsinns der Geschwo= renen für juristische Schauspiel* kunst verfehlte gerade diese Rolle ihre Wirkung nicht. Am letzten Verhandlungstag war ein notorisch frauenlüsterner ältlicher Ladenbe= sitzer, der in der ersten Reihe saß, geradezu zu Tränen gerührt. Ich glaube, daß Josephine, obwohl sie selbst das Mordinstrument ge= kauft hatte, hauptsächlich deswe= gen freigesprochen wurde, weil es niemanden gab, der für ihre Ge= schichte den Gegenbeweis hätte er= bringen können. Sie behauptete nämlich, daß ihr der Sergeant die Waffe entwand, als sie sich selbst hatte töten wollen und daß er sich lieber das Leben genommen hatte, als sie zu heiraten. Es war dies einer jener Fälle, wo die gesamte Ge= meinde den oder die Angeklagte einmütig für schuldig hält; hier allerdings war beim besten Willen nichts zu machen.

Der rasende, ohnmächtige Zorn der beiden Marien überstieg jetzt alles bisher Dagewesene. Sie hoben die Hände zum Himmel und schüttel» ten sie in ihrer ohnmächtigen Wut. Die Zertrümmerungen in unserem

geschirreichen Haushalt nahmen neue und geradezu unglaubliche Ausmaße an, und ihre Launen, ihre Tyrannei und ihre Zerstörungswut wurden so unerträglich, daß wir sie hinauswerfen mußten, was sie na= türlich noch mehr verbitterte. Gott sei ihr Zeuge, so riefen sie, daß auf Erden stets das Böse triumphiere und stets die Unschuldigen verfolgt würden. Bevor wir nämlich nicht die beiden Marien loswurden, konnten wir auch die Geschichte mit Josephine nicht loswerden. Ich jedenfalls bezweifle sehr, daß die beiden Marien Josephine bis auf den heutigen Tag losgeworden sind.

Zwei Tage darauf verließ sie als freier Mensch den Gerichtssaal. Josephine heiratete den Kohlen= träger. Es war offensichtlich eine >Vernunftehe<, sozusagen jaute de mieux, denn sie dauerte nur ein oder zwei Wochen; danach ver= schwand Josephine. Ihr Kind ließ sie in der Obhut ihrer Mutter zu= rück. Als die manifestation de la nature zum letztenmal gesehen wurde, war sie gerade auf dem Weg nach Paris, um dort aus ihrer Publicity Geld herauszuschlagen.

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Edgar Wallace

Die Affäre in Chobham

Eine Kriminalgeschichte, die ausgerechnet an Weihnachten spielt? Doch völlig unpassend! Nun, so unpassend erscheint das durchaus nicht, wenn man bedenkt, daß eine Geschichte von Verbrechen und Sühne im weiteren Sinne ja doch ein Weihnachtsgleichnis ist, oder nicht? Wenn ein grausamer Mord gerächt wird, wenn die Gerech* tigkeit triumphiert, wenn das Gute das Böse überwindet, sind dies doch alles Schritte in die richtige Richtung — zum Frieden auf Erden, zum guten Willen aller Menschen, die auf Erden leben . . .

Da war ein Mann, der mit Frauen eine ganz besondere Art hatte, vor allem mit solchen Frauen, die in der realistischen Schule der Er= fahrungen nicht gerade das Abitur abgelegt hatten. Sein Name war Alphonse Riebiera, und er bezeich= nete sich als Spanier, obwohl sein Paß von irgendeiner kleinen mittel= amerikanischen Republik ausge= stellt worden war. Mitunter prä= sentierte er auch Visitenkarten, die den Aufdruck

L E M A R Q U I S D E R I E B I E R A

trugen, jedoch nur bei ganz beson= deren Gelegenheiten.

Er war jung, mit oliv=brauner Ge= sichtsfarbe, makellosen Gesichts= zügen, und wenn er lächelte, ließ er zwei Perlenketten von verwirrend blitzenden weißen Zähnen sehen. Er hielt es für angebracht, immer wie= der sein äußeres Erscheinungsbild zu wechseln. Zum Beispiel — wenn er als engagierter Eintänzer zum Personal eines ägyptischen Hotels gehörte, trug er seine Koteletten am seitlichen Haaransatz ein wenig länger, was ihn merkwürdigerweise noch weit jünger erscheinen ließ; im Spielkasino von Enghien, wo er sich über irgendwelche Schleids wege die Stellung eines Croupiers

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Die Affäre in Chobham

zu verschaffen gewußt hatte, deko-rierte er sich mit einem kleinen schwarzen Schnurrbart. Gesetztere, nüchterne und nicht sehr einfalls= reiche Beobachter seines abenteu= erlichen Lebenswandels waren irritiert und erstaunt, daß Frauen in solcher Zahl auf ihn zu fliegen schienen, aber bekanntermaßen ist es ja für jedermann schwierig, die attraktiven Qualitäten eines erfolg» reichen Liebhabers herauszufinden. Es verfielen ihm buchstäblich die unwahrscheinlichsten Frauen — und hatten es später zu büßen. Es kam die Zeit, da er ständiger Gast jener Spielbanken wurde, wo er einst-mals der Niedrigste und am meisten Beargwöhnte unter den Angestelb ten gewesen war; wo er fürstlich in Hotels lebte, in denen er früher einmal für soundsoviele Piaster pro Tanz engagiert gewesen war; Diamanten prangten an seiner ma= kellos weißen Hemdbrust, Mani­küren pflegten seine Fingernägel und erhielten von ihm dafür weit höhere Trinkgelder, als ihm einst« mals Tanzpartnerinnen scheu hat-ten in die Hand gleiten lassen. Es gibt gewisse rohe, ungeschlachte Typen, die in den billigen Cafes, die sich auf der weniger vorneh-men Seite der Seine zusammen-drängen, ununterbrochen Domino zu spielen scheinen, und besagte

Typen stellen die erstaunlichsten Informationsquellen dar. Sie wis-sen genau über den Lebenswandel der merkwürdigsten Leute Bescheid, und wenn sie über Alphonse dis= kutierten, nahmen sie kein Blatt vor den Mund. Sie konnten einem — weiß der Himmel, woher sie diese Informationen hatten — von dicken, fetten Einschreibebriefen erzählen, die Alphonse in seiner Wohnung auf dem Boulevard Haussmann ins Haus geflattert kamen. Einschreibe-briefe, vollgestopft mit Geldschei-nen und verzweifelten Schreiben, in denen, und zwar in den verschie­densten Sprachen, eigentlich fast immer das gleiche stand: >Mehr kann ich Ihnen beim besten Willen nicht schicken — dieses hier ist das letzte. < Aber die Absender schickten dennoch mehr.

Alphonse hatte ein ausgezeichnet organisiertes Unternehmen aufge­zogen. Er pflegte per Schlafwagen nach London, Rom, Amsterdam, Wien oder sogar nach Athen zu reisen und sich dort in den vor­nehmsten Hotels ein Luxusappar­tement zu mieten — mit Telefon. Gewöhnlich traf er sich dann an einem vorher telefonisch ausge­machten Treffpunkt mit einer vor Tränen überfließenden, vor hyste­rischer Wut kochenden, verbitter­ten, beleidigten, zerknirschten, aber

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dennoch stets zahlungswilligen jun= gen Dame. Denn wenn er diesen jungen Da= men Auszüge aus den Briefen vor= las, die aus den Zeiten des >großen Liebesrausches< stammten, und ihnen auf das Pfund, die Lira, den Franc oder den Gulden genau das Einkommen ihrer Gatten auf den Kopf zusagte, überlegten es sich diese dann lieber doch noch einmal, die ganze Angelegenheit, auch wenn sie inzwischen längst passe war, ihren Ehemännern zu beichten, und Alphonse fuhr mit der von ihnen gezahlten >Rate< nach Paris zurück.

Dieses war seine Methode bei den größeren Fischen, die an seiner An= gel zappelten. Mitunter kündigte er seine Ankunft auch durch dis= krete Briefe an, in denen sich per» sönliche Anspielungen erübrigten. Er hatte keine sonderliche Angst vor Ehemännern oder Brüdern; seine Philosophie, die das Produkt jahre= langer Erfahrung war, ließ ihn ver= ächtlich auf die menschliche Natur herabblicken. Er war überzeugt, daß die meisten Menschen von Na= tur aus feige waren, ängstlich um ihr Leben zitterten und fast mehr noch um ihren guten Ruf. In jeder seiner beiden Jackett=Taschen trug er eine Pistole, deren Kolben mit Silber und Elfenbeinschnitzereien,

die Nymphen darstellten, eingelegt waren. Diese beiden Pistolen hatte er einem Mann abgekauft, der von Wien aus nach Kairo Kokain ein= schmuggelte. Alphonse hatte etwas mehr als zwanzig >Klientinnen< in seinen Büchern stehen und ergänzte diese Liste, wann immer sich dazu eine Gelegenheit bot. Von diesen etwas über zwanzig waren fünf Gold= minen — er jedenfalls bezeichnete sie als solche. Die übrigen betrach= tete er als Silberminen. Eine dieser Silberminen lebte in England; eine liebreizende, jedoch recht traurig wirkende junge Da= me, die glücklich verheiratet war — außer wenn sie an Alphonse dachte. Sie liebte ihren Gatten, und sich selbst haßte sie; und noch weit in= tensiver, jedoch völlig machtlos, haßte sie Alphonse. Da sie ein eigenes kleines Vermögen besaß, konnte sie zahlen — also zahlte sie. Und dann, in einem Anfall von re* voltierender Verzweiflung, schrieb sie ihm: >Dies ist das letzte Ma l . . .< Alphonse war darüber lediglich köstlich amüsiert. Er wartete bis zum September, in dem die nächste >Rate< fällig war, aber sie traf nicht ein. Auch im Oktober oder Novem= ber traf sie nicht ein. Im Dezember schrieb dann er ihr einen seiner Geschäftsbriefen er verspürte nicht

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die mindeste Lust, nach England zu reisen, denn in England war es im Dezember neblig und kalt, und in Ägypten war es so viel netter und wärmer. Aber schließlich — Geschäft ist Geschäft. Sein Brief traf in London ein, als die besagte junge Dame, an die der Brief adressiert war, sich gerade zu Besuch bei ihrer Tante in Long Island befand. Sie war gebürtige Amerikanerin. Alphonse hatte in der Zwischenzeit auf ihren ver= zweifelten Brief nicht mehr geant= wortet; sie fühlte sich in Sicherheit und hatte sich nach New York ein= geschifft.

So kam es, daß ihr Gatte, dessen Vorname zufällig die gleichen An= fangsbuchstaben hatte wie der ihre, den Brief versehentlich öffnete und sehr sorgfältig durchlas. Er war kein Narr. Er betrachtete seine Frau, die er vergötterte, deswegen jetzt nicht etwa als eine Verworfene; was vor ihrer Ehe geschehen war, war ihre Sache — was jetzt geschah, war die seine.

Und er verstand jetzt ihre wild ver= zweifelten Tränenausbrüche, für die scheinbar keinerlei Anlaß vor= banden gewesen war, und er ver= fügte auch über genügend Phanta= sie, sich auszumalen, wie das in Zukunft weitergehen würde. Also fuhr er nach Paris und zog Erkun=

digungen ein; er suchte die Gesell= schaff jener ungeschlachten Männer, die in den Cafes auf der minder vornehmen Seite der Seine Domino spielten, und hörte von ihnen aller= lei äußerst Interessantes. Alphonse traf in London ein und rief von einem Telefonautomaten aus an. Madame war nicht zu Hau= se. Ein mit Schreibmaschine ge= schriebener Brief erreichte ihn und legte eine Verabredung für den darauffolgenden Mittwoch fest, na= türlich, wie sich von selbst versteht, für ein höchst diskretes Rendez= vous. Für Alphonse nahm die Af= färe damit ihren normalen Verlauf. Die Wartezeit bis zu dem bewuß= ten Tag verkürzte er sich in höchst angenehmer Weise. Er kaufte sich einen neuen Spanza mit sämtlichen Extras, arrangierte dessen spätere Überführung nach Paris, und in der Zwischenzeit amüsierte er sich damit, mit dem Wagen in London und Umgebung spazierenzufahren. Zur verabredeten Stunde traf er ein, klopfte an die Tür des Hauses und wurde eingelassen. Riebiera, grün im Gesicht und mit schlotternden Knien, lieferte, ohne es auf einen Kampf ankommen zu lassen, seine beiden reichverzierten Pistolen aus . . .

Am Weihnachtsmorgen, fast auf

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die Sekunde genau um acht Uhr, wurde Superintendent Oakington durch das Telefon aus seinem war-men Bett geholt, und die Nachricht wurde ihm durchgegeben. Ein Milchmann, der durch Chob= ham Common hindurchgefahren war, hatte ein wenig abseits der Straße einen Wagen halbschräg stehen sehen. Offensichtlich han-delte es sich um einen völlig neuen Wagen, der dort die ganze Nacht hindurch gestanden haben mußte. Auf seinem Dach lag drei Zollhoch der Schnee, und unter seiner Ka= rosserie war der nackte graugrüne Erdboden zu sehen. Es war ein Anblick, der selbst einen Milchmann stutzen ließ, der um sieben Uhr früh an einem winter= liehen Morgen eigentlich nichts an-deres im Sinn hatte, als so rasch wie irgend möglich die Aufträge und Wünsche seiner Kunden zu erledi= gen und sich dann schnellstens auf den Weg nach seinem eigenen Zu= hause zu machen, zu dem ihn dort erwartenden, dem Festtag entspre» chenden Mahl und den sonstigen Festlichkeiten.

Er stieg aus dem Ford, mit dem er seine Kundschaft belieferte, und stapfte durch den Schnee hindurch. Er sah einen Mann mit dem Ge= sieht nach unten auf der Erde liegen und in dessen Hand eine Pistole

mit Silber und Elfenbein eingeleg= tem Kolben. Der Mann war tot. Und dann hatte der verblüffte und entsetzte Milchmann den zweiten Toten entdeckt. Auch dessen Ge= sieht war nicht zu erkennen gewe= sen; es war von einer dicken weißen Schneemaske bedeckt gewesen, die den vorspringenden Gesichtszügen dieses zweiten Mannes einen gro= tesken, schauerlichen Ausdruck ver-liehen hatte.

Der Milchmann rannte zu seinem Ford zurück und fuhr schnurstracks zur nächsten Polizeistation. Innerhalb einer Stunde, seit er te» lefonisch verständigt worden war, war Superintendent Oakington am Tatort. Eine Schar von rund einem Dutzend Polizisten stand in kleinen Gruppen um den Wagen und die schneebedeckten toten Gestalten herum; Zeitungsreporter waren — Gott sei Dank — bisher noch nicht aufgetaucht.

Später am Nachmittag rief der Su­perintendent einen Mann an, der ihm bei einem derart rätselhaften und verwirrenden Tatbestand viel= leicht weiterhelfen konnte. Archibald Lenton war der wohl vielversprechendste Rechtsanwalt, den die Gerichte seit Jahren kann­ten. Die Anwaltskammer zog zwar bezüglich Rechtsanwälten, die sich,

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statt ihren Anwaltsangelegenheiten nachzugehen, für Kriminalfälle in-teressierten, ihre höchst empfind-liehe Nase hoch. Archie Lenton je= doch hatte die unausgesprochene Mißbilligung seiner Bruderschaft überlebt und war dennoch ein er= folgreicher Anwalt wie auch eine Autorität für gewisse Spezialfälle von Verbrechen geworden, über die er ein Buch verfaßt hatte, das ge= radezu als Standardwerk galt. Eine Stunde später war er im Zim= mer des Superintendenten in Scot­land Yard und hörte sich die Sache aufmerksam an.

»Wir haben beide Männer identifi­zieren können. Der eine ist ein Aus­länder, ein Mann aus Honduras, und soweit ich es aus seinem Paß ersehen konnte, heißt er Alphonse oder Alphonso Riebiera. Er lebt in Paris und hat sich seit ungefähr einer Woche hier in England auf­gehalten.«

»Finanziell gut gestellt?« »Nun, ich möchte sagen — ja. In seiner Brieftasche haben wir zwei­hundert Pfund gefunden. Er war hier im Nederland Hotel abgestie­gen und hatte sich gerade erst letz­ten Freitag gegen Barzahlung für zwölfhundert Pfund einen Wagen gekauft. Es handelt sich dabei um denselben Wagen, den wir neben der Leiche gefunden haben. Ich

habe mich telefonisch mit Paris in Verbindung gesetzt, und er steht dort unter dem Verdacht, ein berufs­mäßiger Erpresser zu sein. Die Po­lizei dort hat seine Wohnung durchsucht und versiegelt, jedoch keinerlei belastende Unterlagen oder Beweismittel finden können. Offenbar gehörte er zu jener Sorte von Menschen, die ihre Geschäfte unter dem Hut abwickeln, also alles im Kopf haben.«

»Er ist erschossen worden, sagten Sie, nicht wahr? Mit wie vielen Schüssen?« »Mit einem einzigen Schuß durch den Kopf. Der andere Mann ist auf genau dieselbe Weise getötet wor­den. Im Wagen selbst waren ein paar Blutspuren zu finden, sonst aber weiter nichts.« Mr. Lenton machte sich auf einem Schreibblock rasch ein paar kurze Notizen. »Wer war der andere Mann?« fragte er. »Das ist das Merkwürdigste an der ganzen Sache — ein alter Bekannter von Ihnen.«

»Ein alter Bekannter — von mir? Wer um alles in der W e l t . . . ? « »Erinnern Sie sich noch an einen Burschen, den Sie einmal bei einer Anklage wegen Mordes verteidigt haben — Joe Stackett?« »In Exeter? Großer Gott, ja! War das wirklich derselbe Mann?«

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»Wir haben ihn an Hand seiner Fingerabdrücke identifiziert. Das heißt, um genau zu sein, wir waren hinter diesem Joe bereits her — er ist ein erfahrener Autodieb mit langjähriger Praxis, der gerade erst letzte Woche aus dem Gefängnis entlassen worden ist. Er ist uns ge= stern vormittag mit einem Wagen entwischt, den er dann aber nach einer wilden Hetzjagd stehenließ, und zu Fuß den ihn verfolgenden Funkstreifenwagen durch die Fin= ger schlüpfen konnte. Letzte Nacht hat er sich den alten Wagen ei-nes Gebrauchtwagenhändlers ge= schnappt, wurde jedoch, als er an ihm herummanipulierte, entdeckt und später verfolgt. Den Wagen haben wir verlassen inTooting auf-gefunden. Seitdem ist er dann nir-gendwo mehr gesehen worden, bis wir ihn heute in Chobham Com-mon aufgelesen haben.« Archie Lenton lehnte sich in seinem Sessel zurück und blickte nachdenk= lieh zur Decke empor. »Er hat den Spanza gestohlen; des= sen Besitzer hat sich am Türgriff und am Kotflügelende festgeklam-mert; es ist zu einem Kampf ge= kommen —«, begann er, aber der Superintendent schüttelte den Kopf. »Wo hatte er dann die Pistole her? Englische Kriminelle arbeiten ohne Waffen. Und es war keineswegs

eine gewöhnliche Pistole — silber-plattiert, in Elfenbein geschnitzte Mädchenfiguren am Kolben —, und die andere Waffe glich dieser wie ein Ei dem anderen. In Joes Taschen steckten fünfzig Pfund; sie weisen die anschließend fortlaufenden Se= riennummern von denen auf, die wir in Riebieras Brieftasche fanden. Falls er sie ihm gestohlen hatte, würde er doch die gesamte Beute mitgenommen haben und nicht nur diese fünfzig Pfund. Joe würde vor einem Mord keinesfalls zurück-geschreckt haben, das wissen Sie, Mr. Lenton. Es steht fest, daß er damals jenen alten Mann in Exeter umgebracht hat, obwohl er hinter-her wegen Mangels an Beweisen freigesprochen werden mußte. Rie­biera selbst muß es gewesen sein, der ihm die fünfzig . . . « Das Telefon klingelte; der Super­intendent zog den Apparat näher an sich heran und nahm den Hörer ab. Nach einer zehn Minuten dau­ernden Konversation, die sich, was Oakington betraf, auf ein Dutzend kurze knappe Fragen beschränkte, legte er den Hörer wieder auf. »Einer meiner Beamten hat teilwei­se die Fahrten des Spanzas nach­träglich ermitteln können; und zwar ist er gesehen worden, als er vor einem Haus in Tooting geparkt stand. Das war um neun Uhr fünf-

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undvierzig, und ein Postbote war es, der ihn dort gesehen hat. Falls Sie Lust verspüren, den Weih= nachtsabend mit ein wenig Detek» tivarbeit zu verbringen, fahren wir hinüber und sehen uns die Stelle an.« Eine halbe Stunde später hielten sie mit dem Dienstwagen des Super= intendenten vor einem Haus in einer recht vornehmen Wohnge» gend. Die beiden Detektive, die dort auf sie warteten, hatten sich die Schlüssel zu dem Haus besorgt, waren aber nicht hineingegangen. Das Haus war zum Verkauf ausge» schrieben und stand leer. Es gehörte zwei altjüngferlichen Damen, die den Verkaufsauftrag für das Haus und das Grundstück einem Makler übergeben hatten, als sie aus die» sem Bezirk fortgezogen waren. Der vor dem leerstehenden Haus geparkte Wagen hatte das Inter» esse des Postboten wachgerufen. In den Fenstern hatte er nirgendwo Licht gesehen und war zu dem Schluß gekommen, der Wagen müßte einem der Gäste in dem da» nebenstehenden Haus gehören. Oakington öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Merkwür= digerweise hatten die alten Damen nicht den Strom sperren lassen, ob» wohl sie wegen ihrer notorischen Knauserigkeit in der ganzen Nach»

barschaft bekannt gewesen waren. Der Hausgang war kahl und leer bis auf ein Paar verblichener Vor» hänge, die von einer bogenförmi» gen Stütze an der Decke herab» hingen. In dem zur Straße hin gelegenen Raum war nichts Auffälliges zu se= hen. Es war vielmehr in einem der hinteren, im Parterre liegenden kleinen Räumen, in dem sie auf die Spuren eines begangenen Verbre= chens stießen. Auf den kahlen Fuß» bodenplanken war eingetrocknetes Blut zu erkennen, und auf dem Rost des Kamins fanden sie Aschenreste.

»Jemand hat hier Papiere verbrannt — ich roch es sofort, als ich ins Zimmer hereinkam«, sagte Lenton. Er kniete sich vor dem Kaminrost nieder und hob mit aller Vorsicht eine Handvoll feiner Asche auf. »Und dies hier ist so durcheinan» der gerührt und zerkleinert worden, daß kein Aschenfetzen groß genug geblieben ist, um darauf auch nur ein einziges Wort lesen zu können.« Er untersuchte die Blutspuren auf dem Boden, und ebenso sorgfältig suchte er die Wände ab. Das Fen» ster war mit festen Holzläden ver» schlössen.

»Die Läden haben verhindert, daß irgendein Lichtschein herausdrang «, sagte er, »und ebenso der Knall des

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Schusses. Sonst ist hier weiter nichts zu finden.« Der Detektiv=Sergeant, der die an-deren Räume inspiziert hatte, kam mit der Nachricht zurück, daß eines der Küchenfenster gewaltsam auf-gebrochen worden war. Auf dem Küchentisch, der unmittelbar unter dem Fenster stand, fand sich ein verschmierter Fingerabdruck. Of= fensichtlich hatte der Eindringling flüchtig, aber dennoch mit Erfolg versucht, alle verräterischen Finger= abdrücke zu beseitigen. Hinter dem Haus lag ein großer Garten, und an diesen schlössen sich Schrebergär= ten an. Es würde also denkbar leicht gewesen sein, ohne Aufmerksam-keit zu erregen an das Haus heran-zugelangen und in es einzudringen. »Nun gut«, sagte Lenton, »Stackett wurde also von der Polizei gejagt. Aber warum muß denn ausgerech­net er es gewesen sein, der hier drinnen gewesen ist? Warum sollte er überhaupt hierhergekommen sein?«

»Keine zweihundert Meter von hier haben wir seinen Wagen verlassen aufgefunden«, erklärte Oakington. »Vielleicht ist er ganz einfach in der Hoffnung hier eingedrungen, irgend etwas Wertvolles zu finden, und dabei möglicherweise von Riebiera überrascht worden.« Archie Lenton lächelte sanft.

»Da habe ich Ihnen aber eine bes­sere Theorie anzubieten«, sagte er. Und den größten Teil der Nacht verbrachte er damit, an seinem Schreibtisch zu sitzen und sorgfäl­tig und überzeugend die Rekon­struktion des Verbrechens nieder­zuschreiben, bis ins allerkleinste Detail.

Dieser Bericht wird immer noch in den Akten von Scotland Yard auf­bewahrt, und es gibt dort viele ho­he Beamte, die darauf schwören, daß er den Tatsachen entspricht. Und doch hatte sich in jener Nacht des 24. Dezembers etwas ganz, ganz anderes zugetragen . . .

Die Straßen waren schmierig und glatt. Stacketts schon recht schäbi­ger alter Wagen schlidderte und rutschte und versuchte bald nach dieser, bald nach jener Seite auszu­brechen. Zudem war Stackett aus­gesprochen schlechter Laune, als er sich auf die Suche nach einem knackbaren Wagen aufgemacht hatte. Und diese schlechte Laune nahm im Verlauf des Spätnachmit­tags immer mehr zu, als er kein ihm lohnend erscheinendes und greifbares >Objekt< entdecken konnte.

Selbst die breite Vorortstraße wim­melte von Menschen. Zu beiden Seiten hatten die ambulanten Händ-

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ler dicht nebeneinander, in einer fortlaufenden Reihe, ihre primiti-ven Stände errichtet; grüne Stände und rote Stände mit Stechpalmen-girlanden und unordentlich zusam= mengesteckten Büscheln von Mistel= zweigen; Metzgerstände, in denen ungeschlachte Kerle wie Auktionäre riesige Stücke rohen Rindfleisches hochhielten und mit lauten, heise-ren Stimmen ihre Angebote in die Menschenmenge hineinbrüllten; Gemüsestände und Glaswaren= stände, deren Kristallwaren beim Schein der Acetylenlampen nur so glitzerten.

Wiederum rutschte Stacketts Wa= gen zur Seite aus. Ein Krachen folgte und ein Aufschrei. Zerbre= chendes Töpfergeschirr hat nun mal keinen sehr zarten Klang. Wild brüllte der Budenbesitzer hinter ihm her, aber Stackett hatte seinen Wagen bereits wieder abfangen können und wollte davonjagen, in= dem er sich zwischen zwei dicken Lastwagen hindurchzwängte. »He, Sie da!«

Stackett drehte hastig am Lenkrad, hätte den Polizisten, der ihm den Weg versperren wollte, um ein Haar über den Haufen gefahren und schoß, den Gashebel voll durch= getreten, in eine dunkle Seiten-straße hinein. Er bog erst nach rechts, dann nach links und wieder-

um nach rechts in ähnliche finstere Gassen ein. Dann stieß er auf eine breitere, erleuchtete Vorortstraße, in der sich in unsagbar trauriger Monotonie aus rohen Ziegeln er­richtete Mietskasernen, die sich in nichts, aber auch in gar nichts von­einander unterschieden, trist und elend aneinanderreihten; Ziegel­klötze, in denen Männer, Frauen und Kinder lebten, dort geboren wurden, Miete bezahlten und star­ben. Eine Meile weiter stadtaus­wärts kam er am Eingangstor eines Friedhofes vorbei, wo diese Men­schen ihre letzte Ruhe fanden; eine Ruhe, die die höchste Belohnung dafür darstellte, daß sie überhaupt gelebt hatten.

Die schrillen Polizeipfeifen hatten ihn nicht einmal eine Viertelmeile weit verfolgen können. Er war an einem auf diese Pfiffe hin ihm ent­gegeneilenden Polizisten vorbei­gerast — nun, aus plattfüßigen simplen Straßenpolizisten machte sich Stackett, weiß Gott, schon lan­ge nichts mehr. Er hatte sich ledig­lich köstlich darüber amüsiert, wie dieser Plattfußpolizist wild und hilflos mit den Armen gefuchtelt hatte.

Jetzt brachte er den schäbigen, ge­räuschvollen alten Wagen am Bord­steig zum Stehen. Er stieg aus und zündete sich erneut die Zigarette

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an, die er vorher, in dem kritischen Moment in der glitschigen Ver= kaufsstraße, sorgfältig ausge= schnippt hatte. Mit finsterer Miene starrte er auf den verbeulten Kot= flügel hinunter, der nicht zuletzt wegen des unruhig laufenden Mo= tors ständig vibrierte und mitunter sogar laut klapperte. — Durch dieselbe Verkaufsstraße von vorhin fuhr ein bis zum Kinn hin eingemummelter Motorradfahrer, dem eine dicke schwere Schutzbrille am Hals herunterbaumelte. Neben dem dort diensttuenden Polizisten brachte er sein chromblitzendes Zweirad zum Stehen, stützte den einen Fuß auf das schlüpfrige Pfla-ster, um das Gleichgewicht halten zu können, und begann Fragen zu stellen.

»Jawohl, Sergeant«, antwortete der Polizist. »Ich hab' ihn gesehen. In die Richtung dort ist er gefahren. Das heißt, eigentlich wollte ich ihn mir sogar schnappen, weil er hier in halsbrecherischem Tempo durch das Menschengewimmel hindurch-brauste und sogar einen der Ver= kaufsstände halb umriß, aber er konnte mir entwischen.« »Das war er — Joe Stackett«, nickte Sergeant Krengton von CID, dem Criminal Investigation Department. »Ein schmalgesichtiger Mann mit einer vorspringenden Nase?«

Der diensttuende Straßenpolizist hatte das Gesicht hinter der Wind-schutzscheibe nicht erkennen kön­nen; den Wagen hingegen konnte er auf das genaueste beschreiben. »Aus der Elmer-Garage gestohlen. Zumindest wird Elmer das behaup­ten und sich an seine Versicherung wenden, um sich den gestohlenen Wagen sicher noch weit über sei­nem wirklichen Wert bezahlen zu lassen, 'ne alte Sache, den Dreh kennen wir schon lange. In welche Richtung ist dieser Stackett gefah­ren, sagten Sie doch?« Der Polizist deutete mit dem Arm die Richtung an, und der Sergeant trat den Kickstarter durch, erweckte damit den Motor seines chrom­blitzenden Zweiradvehikels zum Leben und brauste mit donnerndem Auspuffdröhnen in die dunkle Sei­tengasse hinein.

Nur durch einen dummen Zufall kam es eigentlich, daß es ihm nicht mehr gelang, Joe Stackett einzu­holen; einen dummen, unglückli­chen Zufall, der sich für alle vom bloßen Pech bis zum Verhängnis entwickeln sollte, einschließlich für Joe Stackett, der gerade eben erst am Beginn seines erstaunlichen Abenteuers stand. Nachdem er den Motor des gestoh­lenen Wagens abgestellt hatte, hatte er seinen Weg zu Fuß fort-

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gesetzt. Ungefähr fünfzig Meter weiter voraus stieß er auf eine breit und vornehm angelegte Seiten-straße, die an äußerlicher Gepflegt­heit alle anderen Seitenstraßen übertraf, an denen er vorbeigefah­ren war. Selbst der düsterste Vorort Londons hat sein vornehmes West-End-Viertel, und hier standen keine Mietskasernen mehr, sondern luxu­riöse Villen, jede auf ihrem eige­nen, zu einem großen Garten ge­stalteten Grundstück; sehr ruhig gelegene Villen also, jede mit einer breiten Veranda davor und mit schmiedeeisernen Verandalampen, seltsam bunten Kachelfenstern, knapp geschorenen Rasenflächen und in die Rasenflächen eingelasse­nen Rosenbeeten, und hier glichen die Villen auch keineswegs einan­der wie Eier aus ein und demselben Korb, sondern jede war in ihrer ganz besonderen Art gebaut und gestaltet worden.

Ganz am hinteren Ende dieser vor­nehmen Seitenstraße sah Stackett das rote Schlußlicht eines Wagens leuchten, und sein Herz tat einen Freudenschlag, hüpfte direkt vor Freude: Weihnachten — schließlich war es ja Weihnachten, mit Feier­tagsbraten, Trinkgelagen und son­stigen Festlichkeiten und Freuden— aber nur für die anderen. Warum sollte ihm, Joe Stackett, zu Weih­

nachten nicht auch eine Freude be­schert werden — in Form eines leicht aufzuknackenden wertvollen Wa­gens? Selbst in der Dunkelheit erkannte er, daß es sich ja in jedem Fall um einen stehlenswerten Wagen han­delte. Neben dem Wagen sah er jemanden stehen, und so verharrte auch er und blieb gleichfalls stehen. Bei der schlechten Beleuchtung ließ sich nur schwer erkennen, ob die Person, die da neben dem Wagen stand, gerade aus diesem ausgestie­gen war oder einsteigen wollte. Er horchte. Aber weder das Zuschla­gen einer Wagentür noch das Auf­jaulen eines Anlassers drang an sein Ohr. Zunächst noch ein wenig scheu und langsam, dann immer schneller ausschreitend, ging er dreist auf den Wagen zu, während seine Augen ruhelos von einer Seite zur anderen glitten, um nach et­waigen Gefahren Ausschau zu hal­ten. All die Häuser, an denen er vorbeikam, waren bewohnt. Helle Lichter erleuchteten von innen her die zugezogenen Fenstervorhänge. Gedämpfter Festtrubel drang her­aus, und aus zwei Häusern hörte er laut aus Radios erklingende Tanz­musik. Aber seine Augen glitten immer wieder, nahezu wie von selbst, zu der auf Hochglanz polier­ten Limousine zurück, die vor dem

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breit nichts mehr zu sehen; Joe Stackett konnte sich dessen plötzli­ches Verschwinden nicht recht er­klären; der Mann mußte wohl, während Joe sich vergewissernd nach beiden Seiten gespäht hatte, in eines der anderen erleuchteten Häuser hineingegangen sein. Joe schlüpfte auf den Fahrersitz, zog neben sich geräuschlos die Wagen­tür zu, und fast ebenso geräuschlos ließ er den Spanza anrollen, wen­dete und fuhr aus der vornehmen Seitenstraße heraus. Fast ohne je­des Aufbrummen des Motors, fast ohne jedes Geräusch oder gar Auf­heulenlassen, das den Besitzer des Wagens aus dem Haus herausge­lockt hätte, hatte Joe dies alles dank seiner jahrelangen Praxis zuwege gebracht.

Es war tatsächlich ein nagelneuer Spanza — wie gesagt, seine glatten hundert Pfund w e r t . . . Nachdem er also mit dem Spanza unbemerkt aus der vornehmen Sackgasse heraus wieder auf die ursprüngliche Straße gelangt war, nahm er Geschwindigkeit auf, bog dann rechts ein und fand sich als­bald in einer anderen Verkaufs­straße wieder. Doch Joe besaß viel zuviel Berufserfahrung, um etwas verkehrt zu machen und mit dem Spanza wieder nach London hinein­zufahren. Er würde mit ihm aufs

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Eingang des letzten Hauses, ganz am Ende dieser vornehmen Seiten-Straße, stand. Keinerlei Lichtschein drang aus dem Haus heraus. Völlig dunkel lag es da, von seinem ver­schnörkelten Giebel bis hinunter zu den Kellerfenstern. Noch mehr beschleunigte er seine Schritte. Es war ein Spanza. Als er das erkannte, tat sein Herz gleich noch ein paar Freudensprünge mehr. Denn ein Spanza war ein Wagen, der äußerst gefragt war und den man daher leicht absetzen konnte. Für einen neuen Spanza konnte man glatte hundert Pfund bekommen. Besonders Eurasier und reiche Hindus waren geradezu scharf auf diesen Wagentyp. Binky Jones, der der beste Auto-Hehler von ganz London war, würde ihm einen Spanza sogar im voraus be­zahlen und ihm keinesfalls weniger als bare sechzig Pfund dafür in die Hand drücken. Innerhalb einer Wo­che würde der Wagen äußerlich völlig umfrisiert sein und sich be­reits auf dem Weg nach Indien be­finden, um dort mit einem höchst ansehnlichen, fetten Profit weiter­verkauft zu werden. Die Wagentür an der Fahrerseite stand weit offen. Er hörte das leise, sanfte Surren des Motors. Von dem Mann, der vorher neben dem Wa­gen gestanden hatte, war weit und

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offene Land hinausfahren, durch Esher hindurch um ganz London herumkutschieren und von einer ganz anderen Richtung her wieder nach London hineinfahren, über Portsmouth Road. Die hohe Kunst des Autodiebstahls besteht näm» lieh darin, den geknackten Wagen so schnell wie irgend möglich aus dem Polizeibezirk herauszuschaffen, in dem man ihn gestohlen hat, wo der Diebstahl vielleicht sofort ge= meldet und damit bekannt wird, und deshalb fährt man den Wagen in einen >fremden< Polizeibezirk, dem die Beschreibung und das Kennzeichen des gestohlenen Wa= gens erfahrungsgemäß erst Stun= den später, wenn nicht gar erst am darauffolgenden Tag, durchgege» ben werden.

Und vielleicht, überlegte Joe, hatte er sich mit diesem luxuriösen Span= za noch allerhand andere zusätz» liehe und finanziell verwertbare Kleinigkeiten aufgelesen. Der Wa= gen besaß einen großen Koffer= räum, und vielleicht würde sich so» gar im Wagen selbst noch etwas Gewinnbringendes finden lassen. Zu einem passenden Zeitpunkt würde er ihn jedenfalls erst einmal in aller Ruhe einer gründlichen Durchsuchung unterziehen. Im Augenblick hielt er vorerst einmal auf Epsom zu, von wo aus er dann

auf die Kingston Road stoßen wür= de, eine Umgehungsstraße, auf der er aus der entgegengesetzten Rich= tung her wieder nach London hin» einfahren würde. Leichtes Schnee» treiben hatte eingesetzt — mehr jedoch eine Art Schneematsch, eine Mischung aus Regen und Schnee. Er schaltete die Scheibenwischer ein und begann leise eine kleine Melo= die vor sich hinzusummen. Die Kingston=Umgehungsstraße lag völlig verlassen da. Es war schließ» lieh Weihnachten, spät abends, und ein viel zu unfreundliches Wetter, als daß viel Verkehr herrschen konnte.

Joe Stackett war gerade am Uber» legen, welches wohl der geeignetste Platz sein würde, um in aller See» lenruhe den Wagen zu durchsuchen, als er plötzlich hinter sich einen un= angenehmen Luftzug verspürte. Er hatte natürlich sofort bemerkt, daß der Wagen mit einem Schiebefen» ster ausgestattet war, das den Fond des Wagens vom Fahrersitz ab» schloß. Vielleicht war dieses Schie» befenster nicht vollständig einge» rastet gewesen und hatte sich durch das Rütteln während der Fahrt von selber aufgeschoben. Er streckte die Hand aus, um es wieder zu schlie» ßen.

»Fahren Sie weiter! Drehen Sie sich nicht um, oder ich jage Ihnen von

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hinten eine Kugel durch den Kopf!« Unwillkürlich wandte er sich den» noch halb um, starrte in die Mün» dung einer 45iger Automatic, und in seinem Schrecken trat er rein in» stinktiv das Bremspedal durch. Der Wagen geriet dadurch ins Schleu» dern, schlidderte von einer Straßen» seite zur anderen, stellte sich halb schräg, aber Joe konnte ihn dank seiner Fahrtüchtigkeit, die man ihm unbedingt lassen mußte, gerade noch unter Kontrolle bringen. »Fahren Sie weiter, habe ich Ihnen gesagt«, ließ sich von hinten wieder die metallisch harte Stimme ver» nehmen. »Wenn Sie auf die Ports» mouth Road stoßen, wenden Sie sich erst nach rechts und biegen dann in die Straße nach Weybridge ein. Falls Sie versuchen sollten, un» terwegs anzuhalten, schieße ich Sie sofort nieder. Ist das klar?« Joe Stackett hatte inzwischen derart mit den Zähnen zu klappern be= gönnen, daß es ihm nicht gelang, ein auch nur halbwegs verstand» liches >Ja< hervorzustottern. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als mit dem Kopf zu nicken. Und noch eine volle halbe Meile fuhr er fort, immer vor sich hinzunicken, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu sein. Erst dann bemerkte er, was er da sinnloserweise eigentlich tat. Von hinten aus dem Fond des Wa»

gens drang kein weiteres Wort an sein Ohr, bis sie die Autobahn von Portsmouth erreichten. Dann gab ihm die metallische Stimme plötzlich eine ganz neue Richtung an: »Biegen Sie nach links ein, in Richtung auf Leatherhead.« Sie kamen zu einem Streckenteil, wo sich die Straße nach beiden Seiten zu einer Art Wiesenrondell verbreiterte. Stackett, der sich in diesem Außenbezirk von London genau auskannte, wußte, wie ein» sam und abgelegen diese unter dem Namen Chobham Common be­kannte Stelle war. »Bremsen Sie ab, fahren Sie nach links 'rüber! Es liegt kein Graben dazwischen. Sie können dabei das Fernlicht einschalten.« Der Wagen rumpelte und holperte über den unebenen Boden hinweg, und seine Räder mahlten sich in die aufgeweichte Erde ein. »Halt!«

Hinter ihm öffnete sich der Wagen» schlag. Der Mann stieg aus. Er riß die Tür neben dem Fahrersitz auf. »Steigen Sie aus!«befahler.»Schal» ten Sie zuerst die Scheinwerfer ab. Haben Sie eine Pistole bei sich?« »Eine Pistole? Warum, zum Teufel, sollte ich eine Pistole bei mir ha» ben?« stammelte der unglückliche Autodieb.

Die ganze Zeit über stand er im

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scharfen Lichtkegel einer sehr hel-len Stablampe, die sein uner= wünschter Fahrgast genau auf sein Gesicht gerichtet hielt. »Sie hat mir die Vorsehung in den Weg geschickt.« Stackett konnte das Gesicht des Sprechers nicht erkennen; er sah nur die Pistole in dessen Hand, die dieser absichtlich und deutlich in den Lichtkegel der Stablampe hielt. »Schauen Sie in den Fond des Wa-gens hinein!«

Stackett blickte hinein und wäre vor Schreck beinahe umgefallen: In der einen Ecke des Rücksitzes lehn« te eine zusammengekauerte Gestalt — die Gestalt eines Mannes. Und er sah noch etwas anderes — ein in den Fond des Wagens hinein«» gezwängtes Fahrrad, dessen quer» gestelltes Vorderrad gegen die Wa­gendecke stieß, das Hinterrad auf dem Boden. Er sah das bleiche Ge­sicht des zusammengekauerten Mannes — tot! Ein schlanker, ziem­lich kleiner Mann mit schwarzem Haar und dunklem Schnurrbart, dem ganzen Typ nach ein Auslän­der. Und dann war da ein kleines rotes Loch in seiner Schläfe. »Ziehen Sie ihn heraus!« komman­dierte die scharfe Stimme. Stackett schrak zurück, doch eine kraftvolle Hand schob ihn wieder auf den Wagen zu.

»Ziehen Sie ihn heraus, habe ich gesagt!« Kalter Angstschweiß stand in Stak» ketts Gesicht, während er dem Be­fehl gehorsam Folge leistete. Er schob die Hände unter die Achseln der leblosen Gestalt, zerrte sie her­aus und ließ sie auf die schmutzige, aufgewühlte Erde fallen. »Er ist tot«, wimmerte er. »Allerdings«, sagte der andere. Plötzlich schaltete dieser seine Stab­lampe aus. Von fern her näherten sich die Scheinwerferlichter eines Wagens, der mit hoher Geschwin­digkeit die Straße entlanggefahren kam. Der Wagen fuhr in Richtung Esher. Er fuhr vorbei. »Ich sah Sie kommen, nachdem ich gerade die Leiche im Wagen ver­staut hatte. Es blieb mir keine Zeit mehr, ins Haus zurückzugelangen. Ich hatte gehofft, Sie wären ein ganz gewöhnlicher Passant. Als ich Sie dann verstohlen in den Wagen stei­gen sah, wußte ich sofort, welchem Gewerbe Sie nachgehen. Wie heißen Sie?«

»Joseph Stackett.« »Stackett?« Die Stablampe blitzte auf, ihm direkt ins Gesicht. »Welch wunderbarer Zufall! Erinnern Sie sich noch an den Mordprozeß in Exeter, bei dem Sie auf der Ankla­gebank saßen? An den alten, ge­brechlichen Mann, den Sie mit

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einem Hammer erschlagen hatten? Ich war es, der Sie damals vertei» digt hat!« Joe riß weit die Augen auf. Er starrte an dem Lichtkegel vorbei, der ihn bisher vollständig geblen» det und sich jetzt ein wenig ge= senkt hatte, und erkannte einen grauen Schatten, den Schatten eines Gesichtes. »Mr. Lenton?« sagte er heiser. »Großer Gott, Sir!« »Sie ermordeten den armen Alten kaltblütig um ein paar lumpiger Shillinge willen, und Sie würden jetzt tot sein, Stackett, wenn ich in der Beweiskette nicht gerade noch eine winzige Lücke hätten klaffen sehen. Sie waren damals doch dar» auf gefaßt, hingerichtet zu werden, nicht wahr? Erinnern Sie sich, wie wir im Untersuchungsgefängnis mehrmals von der Fallklappe spra» chen, die nicht funktionieren woll= te, als man einen anderen Mörder zu hängen versuchte, und später dann an Ihre hämische Genugtu» ung, daß Sie niemals auf dieser gleichen Fallklappe stehen wür» den?«

Joe Stackett grinste unbehaglich. »Ich weiß es ja, Sir, ich gebe es ja zu. Aber ich weiß auch, daß man einen Mann nach dem Gesetz nicht wegen des gleichen Verbrechens ein zweites Mal vor Gericht stel»

len —« Dann ließ er den Blick plötz= lieh zu Boden gleiten, auf den schmächtigen kleinen Mann mit dem schwarzen Schnurrbart und dem roten Loch in der Schläfe, der zu seinen Füßen lag. Lenton beugte sich über den Toten, zog ihm die Brieftasche aus der In= nentasche seines Jacketts und blät= terte seelenruhig zehn Fünfpfund» noten von dem dicken Packen Geld» scheine ab.

»Stecken Sie dies hier in Ihre Та» sehe.«

Stackett gehorchte; verzweifelt über»

legte er, was wohl von ihm sonst noch verlangt werden würde. Und noch verzweifelter überlegte er, warum die Brieftasche mit dem fet» ten Inhalt dem Toten wieder in die Innentasche seines Jacketts gesteckt wurde — was das alles zu bedeuten hatte?

Lenton blickte nach hinten, die Straße entlang. In dicken Flocken hatte jetzt Schnee zu fallen begon» nen, wirklicher Schnee, kein Schnee» matsch mehr. Wenn man die Hand ausstreckte, blieb er binnen Sekun» den als dünne weiße Schicht darauf liegen, und die ganze Landschaft um sie herum schien wie in dich» testen, undurchdringlichsten Nebel gehüllt, der sie beide von jeder Außenwelt abzuschließen schien. »Sie passen mir prächtig in mein

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Konzept — ein Mann, der bereits längst sein Leben verwirkt hat. Bei unserem unvermuteten Zusam= mentreffen scheint da Nemesis, die Göttin der ausgleichenden Gerech= tigkeit, ihre Hand mit im Spiel ge= habt zu haben.«

»Ich versteh' nicht, warum Sie mir jetzt mit dieser Schicksalsgöttin da-herkommen.« Joe Stackett wurde jetzt plötzlich dreist, denn er wußte, er hatte es mit einem Rechtsanwalt und einem Gentleman zu tun, der ihm vielleicht zwar im kriminali­stischen Sinne überlegen sein moch­te, ganz sicher aber nicht im hand­werklichen, kriminellen Sinn, in der langjährigen Erfahrung in der

"Ausführung von Verbrechen. Das Geld hatte er ihm offensichtlich deshalb gegeben, damit er den Mund hielt — Schweigegeld. »Was haben Sie denn da eigentlich angestellt, Mr. Lenton? Ziemlich böse Sache, nicht wahr? Der Kerl da ist tot, und —« Dann blitzte in ihm der Gedanke auf, welcher finanzielle Wert diese Situation eigentlich für ihn darstel­len könnte, und nun wurde er re­gelrecht frech und unverschämt. »Diese Sache, die Sie sich da ge­leistet haben, Mister Anwalt, wird Sie wohl oder übel einige Piepen mehr kosten, als was Sie mir bis­her gezahlt haben«, sagte er und

stemmte die Hände in die Hüften. »Am liebsten wären mir eigentlich laufende, kleinere Zahlungen, die für Sie als bekannten Strafvertei­diger ja kaum mehr als ein kleines Trinkgeld ausmachen . . . « Den roten Flammenstrahl, der aus der Hand des anderen geschossen kam, muß er gerade noch gesehen haben. Gefühlt haben dürfte er hin­gegen nichts mehr, denn er war be­reits tot, noch ehe er über der zu seinen Füßen liegenden Leiche zu­sammenbrach.

Beim Schein seiner Stablampe überprüfte Mr. Archibald Lenton die Pistole, ließ das Magazin her­ausschnappen und schob es wieder hinein. Er bückte sich und legte die Waffe neben die Hand des kleinen Mannes mit dem schwarzen Schnurrbart. Dann hob er den leb­losen Körper Joe Stacketts an, schleifte ihn zum Wagen hinüber und ließ ihn dort niederfallen. Er bückte sich und klammerte die Fin­ger von Joes noch warmer Hand um den Kolben der anderen Pistole. In aller Ruhe holte er das Fahrrad aus dem Fond der Limousine und trug es auf der Achsel zur Straße zurück. Sie war bereits von einem weißen Teppich überdeckt, immer noch fiel der Schnee in dicken Flocken. Mr. Lenton schwang sich auf sein Fahr­rad und radelte davon.

293

Page 295: 13 Kriminalstories

Edgar Wallace

Zwei Stunden später, als er sein

Zuhause erreichte, läuteten die

Glocken der Pfarrkirche gerade

klangvoll und dröhnend die Weih=

nachts=Mitternacht ein.

Drinnen im Briefkasten seines Hau»

ses fand er ein Telegramm seiner

Frau vor.

>FROHE UND FRIEDLICHE W E I H N A C H »

TEN, L I E B L I N G !<

Er freute sich geradezu närrisch,

daß sie daran gedacht hatte, ihm

dieses Telegramm zu schicken,

denn, wie gesagt, er liebte seine

Frau nicht nur, er vergötterte sie

geradezu.

Als Band з in der Reihe HEYNE-ANTHOLOGIEN

erschien

21 WESTERN-STORIES

Die besten Stories, ausgewählt von S. Omar Barker und der »Saturday Even» ing Post«. Deutsche Erstveröffentlichung. Die Autoren: Ernest Haycox, Cliff Farrell, Robert Patrick Wilmot, Morgan Lewis, S. Omar Barker, Alfred Henry Lewis, Bill Burchardt, Peggy Simson Curry, Hai G. Evarts, Norman A. Fox, Ray Gaulden, Donald Hamilton, Dorothy M. Johnson, Ed Montgomery, Stephen Payne, Thomas Thompson, Michael Fessier, Luke Short, Marvin de Vries und Bret Harte.

304 Seiten, DM 4.80

Die Reihe wird fortgesetzt.

Überall im Buchhandel und Bahnhofsbuchhandel erhältlich. Bitte fordern Sie unser ausführliches Gesamtverzeichnis an.

Wilhelm Heyne Verlag, 8 München 2, Nymphenburger Straße 47

Page 296: 13 Kriminalstories

Copyright - Vermerke

Rex Stout, The Affair of the Twisted Scarf

Copyright 1950 by Rex Stout, reprinted by permission of the author

Cornell Woolrich, After=Dinner Story

Copyright 1938 by Cornell Woolrich, reprinted by permission of the author

MacKinley Kantor, Something Like Salmon Copyright 1 9 3 3 by Populär Publications, Inc., Copyright © renewed 1 9 6 1 by MacKinlay Kantor, reprinted by permission of Donald Friede Ellery Queen, N0 Place To Live © 1956 by United Newspapers Magazine Corp., reprinted by permission of the author

Helen McCIoy, Shodk Tactics Copyright 1955 by United Newspapers Magazine Corp., reprinted by permission of the author

Thomas Walsh, Callahan in Buttons Copyright 1936 by Thomas Walsh, reprinted by permission of Littauer & Wilkinson

Roy Vickers, The Meanest Man in Europe Copyright 1944 by The American Mercury, Inc., reprinted by permission of Curtis Brown, Ltd.

Will Scott, Clue in Blue Copyright 1936 by Fiction Parade, Inc., reprinted by permission of Curtis Brown, Ltd.

O. Henry, After Twenty Years from THE FOUR MILLION, reprinted by permission of Doubleday & Company, Inc.

Frederick Irving Anderson, The Half=Way House Copyright 1 9 2 2 by The CrowelbCollier Publishing Company, renewed; reprinted by permission of Harold Ober Associates, Inc.

Rufus King, The Body in the Pool Copyright 1954 by Mercury Publications, Inc., reprinted by permission of Rogers

Terrill Literary Agency

Louis Bromfield, Crime Passionnel Copyright 1944 by The New Yorker Magazine, Inc., reprinted by permission of Jacques Chambrun

Edgar Wallace, The Chobham Affair Copyright 1 9 3 1 by Physical Culture Corporation, Copyright renewed 1959 by Patricia Marion Caldecott Frere, reprinted by permission of Brandt & Brandt

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In gleicher Ausstattung wie das vorliegende Buch erschien in der Reihe der HEYNE-ANTHOLOGIEN als Band 5:

16 SCIENCE FICTION-STORIES

Die zweite Science Fiction-Anthologie von Anthony Boucher. THE BEST FROM FANTASY AND SCIENCE FICTION. Deutsche Erstveröffentlichung.

16 der besten Stories aus dem führenden amerikanischen SF-Magazin »The Magazine of Fantasy and Science Fiction«.

Kemm Bennett Poul Anderson G. C. Edmondson Robert A. Heinlein R. M. McKenna Chad Oliver Fritz Leiber Isaac Asimov Joel Townsley Rogers Daniel Keyes Katherine MacLean Lee Sutton С. M. Kornbluth

Bertram Chandler Alfred Bester Theodore Sturgeon

288 Seiten, DM 4.80

Blick ins All Der Märtyrer Rettung Wer bin ich? Sterben ist nicht leicht! Geplantes Risiko Der große Treck Ein Loch in der Ze i t . . . Wo du auch hingehst Blumen für Algernon Ausgleich? Ein Herz und eine Seele Die tragische Niederschrift eines Verschollenen Der Käfig Der Pi-Mann Verlorene See

Erhältlich überall im Buchhandel und Bahnhofsbuchhandel

WILHELM H E Y N E VERLAG, MÜNCHEN 2

Page 298: 13 Kriminalstories

In gleicher Ausstattung wie das vorliegende Buch erschien in der Reihe HEYNE-ANTHOLOQIEN als Band 6:

1 (Г GRUSEL ^ lü STORIES W

Eine Anthologie mit den besten Horror-Geschichten von Robert Bloch, dem Autor von »Psycho«, dem Meister der Gänsehaut und des Alptraumes. Hier erstmals in deutscher Sprache.

Der Zauberlehrling Das unersättliche Haus Ich küsse deinen Schatten Ihr sehr ergebener Jack the Ripper Mr. Steinway Wachsfigurenkabinett Der zuständige Geist Die süße Puppe Henoch, der Eingeweihte Rückkehr zum Sabbat Der Gott ohne Gesicht Die Axt im Spukhaus Mutter der Schlangen Das Zeichen des Satyrs Die Käfer

304 Seiten, DM 4.80

Erhältlich überall im Buchhandel und Bahnhofsbuchhandel

WILHELM H E Y N E VERLAG, MÜNCHEN 2

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Leseprobe aus der gleichzeitig erschienenen Heyne=Anthologie (Band 5)

1 6 S C I E N C E F I C T I O N = S T O R I E S »THE BEST FROM FANTASY AND SCIENCE FICTION«

Fritz Leiber

Der große Treck

Ich wußte nicht, wie ich an diesen verrückten Ort gekommen war -mit einer Rakete, mit einem Raum= schiff oder mit einer Zeitmaschine - oder vielleicht sogar zu Fuß, denn ich fühlte mich völlig zer= schlagen. Ich erinnerte mich an nichts. Als ich aufwachte, befand ich mich inmitten der Wüste; der graue Himmel schien wie die Decke eines riesigen Raumes auf mich nieder» zusinken. Die Wüste . . . und der große Treck. Und das genügte schon, um mich davon abzuhalten, in meiner Erinnerung zu suchen; statt dessen blickte ich an meinen Hosen hinunter, um mich zu ver= gewissem, daß ich ein Mensch war. Die seltsamen Geschöpfe schlepp» ten sich, immer zu viert neben= einander, in einer gewundenen Reihe dahin, die aus dem Nichts

in das Nichts führte, vorbei an meinem Felsloch. Wo immer sie auch hinwollten, sie schienen von überall her und vielleicht sogar aus allen Zeiten zu kommen. Es waren große und kleine. Ein paar gingen auf zwei Füßen, die meisten aber auf sechs oder acht, sie schlängelten sich, rollten, wälz= ten sich, flatterten und hüpften; ich wußte nicht, was ich von ihnen halten sollte. Manche hatten Schup= pen, andere Federn, glänzende Panzer wie Käfer oder Streifen wie Zebras, und einige ganz wenige trugen durchsichtige Hüllen, in denen Luft oder andere Gase ent= halten waren, Wasser oder andere Flüssigkeiten, obgleich einige die= ser Anzüge für Dutzende von Ten= takeln zugeschnitten waren, und andere wieder für gar keine Beine. Im übrigen aber war ihr Schlurfen

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Der große Treck

- um nur ein Wort für all die ver» schiedenen Arten der Bewegung herauszugreifen - mehr wie ein Tanz als eine Vorwärtsbewegung. Sie unterschieden sich zu sehr von= einander, um eine Armee zu sein, und doch wirkten sie wiederum nicht wie Flüchtlinge, denn Flüch= tende tanzen nicht und machen keine Musik, selbst dann nicht, wenn sie auf mehr als zwei oder vier Füßen vorwärtsschritten und Stimmen und Instrumente ge= brauchten, die so seltsam waren, daß ich nicht sagen konnte, wel= ches Geräusch woher kam. Diese eigenartige Unterschiedlichkeit er= innerte an ein wildes Stampfen und Rennen vor einem furchtbaren Unglück oder an eine Flucht zu einem sicheren Ort, aber ich ver= spürte in ihnen keinerlei Furcht -keinen ernsthaften Grund für ihr Tun. Sie wälzten sich irgendwie zufrieden voran. Und wenn sie eine Zirkusparade darstellten, wie man vielleicht ihrem Aussehen und ihren bunten Kleidern nach schlie= ßen könnte, wer hatte die Show dann aufgezogen, und wo waren die Wachen oder das Publikum, außer mir?

Eigentlich hätte ich mich vor einer solchen Horde von Monstern furch» ten müssen, aber das war nicht der Fall, deshalb erhob ich mich

auch und spähte hinter meinem Felsen hervor, um nachFußabdrük» ken zu suchen, nach den Spuren einer Zeitmaschine oder nach irgendeinem Anzeichen, wie ich hierhergekommen sein könnte, und dann zuckte ich die Schultern und ging auf sie zu. Sie hielten nicht an, und sie liefen auch nicht davon, sie griffen mich nicht an, sie stießen keine Schreie aus, sie kamen nicht auf mich zu, um mich gefangenzunehmen oder um mich zu eskortieren, sie wälz­ten sich ohne Unterbrechung in dem gleichen Rhythmus dahin, aber aus den Enden pendelnder Tentakel oder den Tiefen knochi» ger Höhlen starrten mich Tausende ruhiger Augen an, und als ich näher kam, verlangsamte ein stau= biger, rollender Körper sein Tempo und machte mir Platz. Das nächste, was mir bewußt wurde, war, daß ich mich geruh» sam mit ihnen dahinwälzte, wäh» rend ich mich darüber wunderte, wie sich die rollenden Körper im Gleichgewicht halten konnten, war» um der Polyp seine Beine immer zu dritt bewegte und wieso so viele verschiedene Arten der Be= wegung wie Instrumente in einem Orchester in Einklang gebracht werden konnten. Um mich herum erscholl das Murmeln von Spra»

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Fritz Leiber

chen, die ich nicht verstehen konnte. Farbflecken leuchteten auf und ver» änderten sich, als stellten sie eine Art der Verständigung dar. Ich versuchte, mich ihnen gegen» über mit einem Kauderwelsch ver= ständlich zu machen, an das ich mich von einem Dutzend Planeten her erinneice, aber niemand ant» wortete mir direkt darauf. Fast ver» suchte ich, sie mit der Erdensprache anzureden, aber irgend etwas hielt mich davon ab.

Ein flauschiges, kugelartiges Ding mit einem Gassack, der Teil seines Körpers war, schwebte über mir und ließ sich leicht auf meiner Schulter nieder, es summte leise in mein Ohr, ließ ein paar ver= dächtig aussehende, schwarze Ku= geln fallen und flatterte davon. Ein Wesen auf zwei Füßen von irgend» wo her aus dem Treck wälzte sich an meine Seite und hielt mir ein undefinierbares Etwas entgegen. Das Wesen sah weiblich aus, es war zierlich gebaut und in violette Federn gehüllt, aber anstelle einer Nase und eines Mundes war sein Gesicht zu einem rosigen, kleinen Ring geformt, und anstelle von Brüsten hatte es einen Strauß zart» rosa Blumenblätter. Ich versuchte es noch einmal mit meinem extra» terrestrischen Kauderwelsch. Das Wesen wartete, bis ich schwieg,

dann hob es die Substanz zu sei» nem rosigen Ring, der sich ein wenig öffnete, und dann bot es sie mir wieder an. Ich nahm sie und kostete sie, und sie schmeckte wie würziger, aber milder Käse. Ich nickte, lächelte, und dann vollzog das Wesen mit seinem Kopf einen Kreis und wandte sich ab, um wie» der zu gehen. Fast hätte ich ge= sagt: »Danke, Kleines«, denn das schien mir in diesem Moment das Richtige, aber wieder hielt mich irgend etwas davon ab. Der große Treck hatte mich also akzeptiert, dachte ich, aber wäh» rend der Tag weiter fortschritt (wenn es hier überhaupt Tage gab), verlieh mir dieses Gefühl, aufgenommen zu sein, keine wirk» liehe Sicherheit. Es befriedigte mich nicht, daß ich zu essen be= kommen hatte, anstatt selbst ge= gessen zu werden, und daß ich Teil einer Harmonie war und nicht eines Mißklangs. Ich schätze, ich erwartete zuviel. Oder vielleicht entdeckte ich auch einen geheimen Teil meines Ichs und fürchtete mich vor dieser Entdeckung. Und schließ» lieh ist es auch nicht gerade be= ruhigend, sidi mit intelligenten Tieren zusammen fortzuwälzen, zu denen man nicht sprechen kann, selbst wenn sie sich freundlich be= nehmen, tanzen und hin und wie»

30p

Page 302: 13 Kriminalstories

Der große Treck

der seltsame Melodien von sich geben. Es trug auch nicht gerade zu meiner Beruhigung bei, zu füh= len, daß ich irgendwo war, das mir heimisch vorkam und zu gleicher Zeit eher ein Gefühl der Einsam= keit vermittelte, als befände ich mich allein zwischen den Sternen. Die Wesen ringsum erschienen mir immer seltsamer. Ich gab es auf, die kleinen Dinge, die ihnen etwas Persönliches verliehen, zu sehen, sondern betrachtete nur ihr Äuße= res. Ich verrenkte mir den Hals und versuchte, das kleine Wesen mit den rosigen Blütenblättern zu entdecken, aber es war nicht mehr da. Nach einer Weile konnte ich es nicht mehr ertragen. Ruinen, die wie abgeschlagene Wolkenkratzer aussahen, waren jetzt näherge= rückt; wir wälzten uns dicht an ihnen vorbei, und obgleich der glatte Himmel jetzt noch dunkler geworden zu sein schien und noch niedriger über uns hing und ob= gleich in der Ferne Blitze zu er= kennen waren und das Poltern und Rumoren von Donner, wandte ich mich nach rechts und schritt schnell von dem Treck fort. Niemand hielt mich auf, und sehr bald hatte ich mich zwischen den Ruinen versteckt. Diese kleinen Ruinen wirkten irgendwie beruhi= gend auf mich, und ich hatte das

Gefühl, daß meine Vorfahren sie gebaut hätten. Aber dann kam ich zu den größeren, und sie waren wirklich ehemalige Wolkenkratzer, deren Spitzen wie abgeschnitten aussahen, aber einige waren noch so groß, daß sie in den dunklen, glatten Himmel hineinragten, und einen Augenblick lang meinte ich, ich hörte ein entferntes Quietschen - wie das Rutschen von Kreide über eine riesige, schwarze Tafel, und es lief mir kalt den Rücken entlang. Und dann verging auch das, und ich fragte mich, was diese Wolkenkratzer abgeschnitten hätte und was mit den Menschen ge= schehen wäre, und danach ent= deckte ich dunkle Dinge, die dicht bei mir zwischen den Ruinenwän= den lungerten. Sie waren etwa so groß wie ich, gingen aber auf allen vieren. Sie folgten mir immer dichter und dichter, bewegten sich wie unbeholfene Wölfe. Ich sah, daß ihre Gesichter und ihre Kör= per mit Haaren bedeckt waren und daß ihre Kiefer mahlten. Ich be= eilte mich, weiterzukommen, aber sobald ich das tat, begann ich auch die Geräusche, die sie verursach» ten, zu vermehren. Das schlimm= ste daran war, daß, obgleich die Geräusche ein Mittelding zwischen Bellen und Grollen waren, ich sie verstehen konnte.

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Fritz Leiber

»Hallo, Joe.« »Was weißt du, Joe?« »Stimmt das, Joe?« »Laß uns von hier verschwinden, Joe.« »Komm, Joe, gehen wir, gehen wir, gehen wir!« Und dann wurde mir plötzlich klar, was für einen großen Fehler ich gemacht hatte, hier zu diesen Ruinen zu kommen, und ich drehte mich um und begann den gleichen Weg zurückzulaufen, den ich ge= kommen war; und sie sprangen und hetzten mir nach, versuchten, mich niederzureißen, und das schlimmste war, daß ich wußte, daß sie mich gar nicht töten woll­ten, sondern daß sie mich nur hinunterdrücken wollten, damit ich mit ihnen bellte und grollte und auf allen vieren lief. Die Ruinen wurden kleiner, aber es war jetzt schon sehr dunkel; zu= erst hatte ich Angst, daß ich mich verlaufen würde, und dann fürch= tete ich, daß das Ende des großen Trecks schon vorbei sein konnte; aber plötzlich hellte sich der Him= mel auf, wie am Nachmittag vor dem Sonnenuntergang, und ich sah in der Ferne den großen Treck. Ich lief darauf zu, und die haarigen Wesen ließen von mir ab. Natürlich traf ich nicht auf den gleichen Teil des großen Trecks,

aber er war dem ersten sehr ähn= lieh. Da war ein anderer staubiger, rollender Körper, aber mit blauen Augen, und viel kleiner, so daß er sich schneller herumwälzen mußte, und ein anderer Körper mit vielen Beinen, in einen Wassersack ge= kleidet, und eine fein gebaute Kreatur mit rotem Federbusch auf dem Kopf und orangefarbenen Blütenblättern.

Der Treck verlangsamte sich, der Wechsel im Rhythmus pflanzte sich durch die Reihe fort bis zu mir. Ich blickte nach vorn, und in dem niedrigen Himmel befand sich ein großes, rundes Loch, durch das ich die Sterne sehen konnte. Und die Reihe des Trecks wand sich durch dieses Loch hindurch, und dann stieg jedes Wesen gegen die blinkenden Punkte der Lichter auf. Ich schlurfte zufrieden weiter von= wärts, wenn auch langsamer jetzt, und zu beiden Seiten des Trecks bemerkte ich auf einem Haufen am Wüstenboden Raumanzüge, die auch der seltsamsten Gestalt paßten, um sie alle sicher durch die Leere hindurchzutragen. Nach einer Weile war ich an der Reihe, und ich fand einen Anzug, stieg hinein, zog den Verschluß zu und bemerkte die Kontrollknöpfe in den Handschuhen. Dann blickte ich auf.

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Der große Treck

Aber dann bemerkte ich noch mehr als Kontrollknöpfe in meinen Fin» gern, und als ich einen Blick auf jede Seite warf, stellte ich fest, daß ich an der einen Seite einen Poly» pen bei der Hand gefaßt hatte, der einen achtbeinigen Raumanzug über seiner Wasserhülle trug, und an der anderen Hand führte ich eine kükenartige Kreatur, die einen pechschwarzen Federbusch trug und perlgraue Blütenblätter auf der Brust hatte. Sie führte mit dem Kopf einen Kreis aus; ich tat das gleiche, und der Polyp machte mit einem freien Tentakel einen kleineren Kreis, und plötzlich wußte ich, weshalb ich die Erdensprache nicht benutzt hatte, und daß die haarigen Vier» füßler in den Ruinen einmal Men» sehen gewesen waren und daß ich sie haßte, aber daß diese Wesen an meiner Seite hier zu mir gehör» ten, meine Art des homo stellaris

waren, und daß wir von den Ster» nen gekommen waren, um einen letzten Blick auf die Erde, die Welt unserer Vorfahren, zu werfen, die sich zerstört hatte, und auf die Menschen, die auf der Erde zu­rückgeblieben waren und nicht wie ich weggehen würden - daß ich zurückgekommen war und meine Erinnerung verloren hatte, um den Schock nicht mehr zu verspüren, auf dem erniedrigten Planeten meiner Vorfahren zu sein. Dann ergriffen wir einander fester bei den Händen und drückten die Knöpfe in unseren Handschuhen. Die Düsen zischten nach hinten weg, und wir stiegen zusammen auf - fort von dieser Welt, durch das weiche Rund des Loches, auf die Sterne zu.

Ich bemerkte, daß der Raum nicht leer war und daß all die Licht» punkte in der Schwärze ganz und gar nicht einsam waren.

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Als Heyne-Taschenbücher erscheinen die besten Kriminalstories aus

ELLERY QUEEN'S MYSTERY MAGAZINE

Die Prominenz der internationalen Kriminalautoren schreibt für Ellery Queen's Mystery Magazine, dem bedeutendsten Kriminalmagazin der Welt.

Jeden zweiten Monat erscheint in der Reihe Heyne-Taschen­bücher ein neuer Band.

Verbotene Früchte Kriminalstories von Edward D. Hoch, Jacob Hay, Thomas Walsh, Hugh Pentecost, Margery Allingham, Ed Lacy, Edgar Lustgarten, Patrick Quen-tin, Victor Cannlng. (1088)

Das letzte Wort Kriminalstories von William P. McGivern, Martin Ivory, Agatha Christie, Hugh Pentecost, Erle Stanley Gardner, Clyde Shaffer, Ellery Queen, Pat McGerr, Jane Speed. (1094)

Wie du mir . . . Kriminalstories von Cornell Woolrich, Robert L.Pike, Miriam Allen de Ford, George Harmon Coxe, John D. MacDonald, Edgar Wallace, Victor Can-ning, Richard Curtis, Helen Nielsen, Lloyd Bigglejr., Fredric Brown. (1100)

Einmal und nie wieder Kriminalstories von Hugh Pentecost, Borden Deal, Gary Jennings, Cornell Woolrich, Victor Canning, James Holding. (1106)

Wer andern eine Grube gräbt Kriminalstories von Hugh Pentecost, Patrick Quentin, Richard O. Lewis, Edgar Wallace, Julian Symons, Roy Vickers, Vern Gaudel. (1112)

Der zwielichtige Mr. Caversham Kriminalstories von Hugh Pentecost, Lloyd Biggle jr„ Michael Gilbert, James M. Ullman, Dämon Runyon. (1118)

Neun Krawatten Kriminalstories von Cleveland Moffett, А. A. Milne, Rex Stout, Paul W. Fairman, Richard O. Lewis, Ben Hecht. (1124)

WILHELM HEYNE VERLAG, MÜNCHEN 2


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