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1011 AZM Seite#5 - Haus zum Dolder · PDF filerik gewaschen. Doch der Reihe nach. ... weit...

Date post: 06-Feb-2018
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Beromünster Anzeiger Michelsamt Nr. 45 | 10. November 2016 (2) 5 Münsterer Tagung Wann Bildung die Menschen glücklich macht Die diesjährige Münsterer Tagung widmete sich dem Thema Bildung. «Bildung – Luxus oder Menschen- recht», lautete provokant der Titel der Tagung. Dazu blickten zwei Refe- rentinnen in der Geschichte zurück und der Philosoph Ludwig Hasler gab eine Antwort auf die Frage «Macht Bildung glücklich?». Sandro Portmann Es war eine weise Entscheidung, dass der Philosoph und Publizist Ludwig Hasler als letzter Referent an der Münsterer Tagung zu den Gästen sprach. Nicht nur, weil er mit seinen Gedanken das Thema «Bildung – Lu- xus oder Menschenrecht» philoso- phisch abrunden konnte, sondern auch, weil er es schaffte, das Publikum nach zwei vorangegangenen Referen- ten noch immer zu fesseln. Ludwig Hasler, der in Beromünster zur Schule ging, ist mit allen Wassern der Rheto- rik gewaschen. Doch der Reihe nach. «Alice Müller war immer vergnügt» Das Tagungsthema «Bildung – Luxus oder Menschenrecht» wurde zu ehren der Kanti Beromünster gewählt, die in diesem Jahr ihr 150-jähriges Bestehen feiert. Dies war der Anlass, den Zu- gang zur Bildung im Allgemeinen und insbesondere in den Bereichen Medi- zin und Pflege zu thematisieren. Mit den Ärzten Josef Dolder, Edmund Müller-Dolder und Edmund Müller jun. wohnten und wirkten drei Gene- rationen der Ärztefamilie im Haus zum Dolder. Aber die Familie hatte noch weitere Personen, die der Medi- zin nahe standen. Etwa Schwester Alice Müller, die vier Jahre jüngere Cousine und Arztgehilfin von Ed- mund Müller Junior. Sie mischte Arz- neien nach Rezepturen des Arztes, rollte Mullbinden auf und erfreute Botengänger mit einer Kleinigkeit. «Ich habe Schwester Alice sehr gut gekannt. Sie hatte ein Rackerleben, unglücklich wurde sie dadurch wohl nicht», erinnerte sich Ludwig Hasler zurück. «Immer, wenn ich sie sah – und das war oft – war sie vergnügt. Das wirkte ansteckend. Wenn man bei ihr vorsprach, noch lange vor dem Doktor, fühlte man sich bereits deut- lich besser.» «Sie ging in ihrem Beruf auf» Die Historikerin und Erwachsenen- bildnerin Sabine Braunschweig zeigte den Gästen auf, welchen Herausforde- rungen sich Alice Müller bei der Aus- bildung zur Schwester stellen musste. Wie damals üblich, verbrachte Alice Müller nach der Schulzeit ein Jahr in der Romandie. Anschliessend absol- vierte sie eine Diplomausbildung zur Krankenlehre an der Schweizerischen Pflegerinnenschule mit Frauenspital in Zürich. «Alice genoss dort eine der qualifiziertesten Ausbildungen», sagte Sabine Braunschweig. Aus Briefen von Alice Müller ist heute bekannt, wie ein normaler Arbeitstag von ihr ausgesehen hat. Und der war happig. Er begann um 5.15 Uhr mit der Tag- wache und dem Dienstbeginn um 6 Uhr. Es folgten der Morgen-, Nach- mittag- und Abenddienst, bis schliess- lich um 20.30 Uhr Dienstende war. Lichterlöschen war um 22 Uhr. Ein 10-Stunden-Arbeitstag war also üb- lich. «Man sprach aber nicht von Ar- beitszeit», weiss die Historikerin. Der Beruf, der damals noch nicht vom Bund geregelt wurde, sei eher als Lie- besdienst verstanden worden. «Und Liebesdienste verrechnet man nicht, sie werden nicht mit der Uhr gemes- sen.» Doch trotz der harten Arbeit: Alice Müller mochte ihren Beruf. «Sie ging in ihrem Beruf auf», wusste Sabi- ne Braunschweig. Alice Müller starb am 18. September 1984. Im Internat in Montmirail Mehr gesellschaftliche Hürden musste Marie Heim-Vögtlin, die erste Schwei- zer Medizinstudentin, überwinden. Die Historikerin und Publizistin Vere- na E. Müller gab dem Publikum einen Einblick zu ihrem Werdegang. Marie Heim-Vögtlin kam 1845 in Bözen als Pfarrerstochter zur Welt. «Sie kam als Aargauerin zur Welt, nicht als Schwei- zerin, diese wurde erst drei Jahre spä- ter gegründet», ordnete die Referentin ein. Bözen war ein armes Dorf. Ihr Va- ter, ein strenger, konservativer Mann, lernte sie das Rechnen, ihre Mutter gab ihr Klavierstunden und brachte ihr Französisch bei. Wie es für Pfar- rerstöchter damals üblich war, wurde Marie Heim-Vögtlin nach Montmirail in ein Internat geschickt. Von dort be- richtete sie ihren Eltern mit Postkar- ten von ihrem Aufenthalt. «Die Post- karten schrieb sie immer auf Englisch, damit der Pöstler sie nicht lesen konn- te», erzählt Verena E. Müller und brachte das Publikum zum Lachen. Vater brachte finanzielles Opfer «Ihr Vater war eine Schlüsselfigur. Er liess sie machen und unterstützte sie», erzählte Verena E. Müller. Der Berufs- wunsch Medizinstudentin war als Frau für diese Zeit alles andere als selbstverständlich und löste schweiz- weit eine Welle der Empörung aus. Auch wenn ihr Vater sie unterstützte, für ihn bedeutete das Studium seiner Tochter auch ein grosses finanzielles Opfer. Die Studiengebühr betrug da- mals 2000 Franken – der Pfarrer ver- diente 2800 Franken pro Jahr. Ihr Va- ter brachte ihr also auch ein grosses Vertrauen entgegen. «Wie wir heute wissen, hat es sich gelohnt», sagt Ve- rena E. Müller. 1874 schloss Marie Heim-Vögtlin ihr Studium ab und er- öffnete eine Praxis. Ein Jahr nachdem sie ihren Doktortitel erlangte, heirate- te sie den Geologieprofessor Albert Verena E. Müller erzählte auf frische Art aus dem Leben der ersten Schweizer Medizinstudentin. (Bilder: Sandro Portmann) Heim und hatte mit ihm zwei Kinder, Arnold und Helene. «Jeder hat das Recht auf Bildung» Diese Frauen erlangten unter widrigen Umständen Bildung und mussten da- für kämpfen. Aber macht Bildung auch glücklich? Dieser Frage ging Ludwig Hasler auf den Grund. «Was ich heute feststelle – und das nicht erst seit dem Lehrplan 21 – wir modulari- sieren auf Kompetenzen hin.» Doch letztlich sei es nicht entscheidend, wie viele Kompetenzen man habe, «son- dern, dass ich damit etwas anfangen kann.» Jeder Mensch habe das Recht, so viel wie möglich herauszuholen, was in ihm steckt. Doch: «Selbstver- wirklichung alleine macht nie glück- lich», sagte der Philosoph und gab gleich die Antwort, wann Bildung glücklich macht: «Wenn ich so ausge- bildet bin, dass ich an etwas mitarbei- ten kann, dass grösser ist als ich sel- ber.» Als Beispiel nannte er die Lehrerin, «die an der Bildung ganzer Jahrgänge mitwirkt». Sabine Braunschweig sprach über die Ausbildung der Pflege. Die Sängerin «Pink Spider» unterhielt musikalisch. Ludwig Hasler rundete die Tagung philosophisch ab.
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BeromünsterAnzeiger Michelsamt Nr. 45 | 10. November 2016 (2) 5

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Münsterer Tagung

Wann Bildung die Menschen glücklich machtDie diesjährige Münsterer Tagungwidmete sich dem Thema Bildung.«Bildung – Luxus oder Menschen-recht», lautete provokant der Titelder Tagung. Dazu blickten zwei Refe-rentinnen in der Geschichte zurückund der Philosoph Ludwig Hasler gabeine Antwort auf die Frage «MachtBildung glücklich?».

Sandro Portmann

Es war eine weise Entscheidung, dassder Philosoph und Publizist LudwigHasler als letzter Referent an derMünsterer Tagung zu den Gästensprach. Nicht nur, weil er mit seinenGedanken das Thema «Bildung – Lu-xus oder Menschenrecht» philoso-phisch abrunden konnte, sondernauch, weil er es schaffte, das Publikumnach zwei vorangegangenen Referen-ten noch immer zu fesseln. LudwigHasler, der in Beromünster zur Schuleging, ist mit allen Wassern der Rheto-rik gewaschen. Doch der Reihe nach.

«Alice Müller war immer vergnügt»Das Tagungsthema «Bildung – Luxusoder Menschenrecht» wurde zu ehrender Kanti Beromünster gewählt, die indiesem Jahr ihr 150-jähriges Bestehenfeiert. Dies war der Anlass, den Zu-gang zur Bildung im Allgemeinen undinsbesondere in den Bereichen Medi-zin und Pflege zu thematisieren. Mitden Ärzten Josef Dolder, EdmundMüller-Dolder und Edmund Müllerjun. wohnten und wirkten drei Gene-rationen der Ärztefamilie im Hauszum Dolder. Aber die Familie hattenoch weitere Personen, die der Medi-zin nahe standen. Etwa Schwester Alice Müller, die vier Jahre jüngereCousine und Arztgehilfin von Ed-mund Müller Junior. Sie mischte Arz-neien nach Rezepturen des Arztes,rollte Mullbinden auf und erfreute Botengänger mit einer Kleinigkeit.«Ich habe Schwester Alice sehr gut gekannt. Sie hatte ein Rackerleben,unglücklich wurde sie dadurch wohlnicht», erinnerte sich Ludwig Haslerzurück. «Immer, wenn ich sie sah –und das war oft – war sie vergnügt.Das wirkte ansteckend. Wenn man beiihr vorsprach, noch lange vor demDoktor, fühlte man sich bereits deut-lich besser.»

«Sie ging in ihrem Beruf auf»Die Historikerin und Erwachsenen-bildnerin Sabine Braunschweig zeigteden Gästen auf, welchen Herausforde-rungen sich Alice Müller bei der Aus-bildung zur Schwester stellen musste.

Wie damals üblich, verbrachte AliceMüller nach der Schulzeit ein Jahr inder Romandie. Anschliessend absol-vierte sie eine Diplomausbildung zurKrankenlehre an der SchweizerischenPflegerinnenschule mit Frauenspitalin Zürich. «Alice genoss dort eine derqualifiziertesten Ausbildungen», sagteSabine Braunschweig. Aus Briefenvon Alice Müller ist heute bekannt,wie ein normaler Arbeitstag von ihrausgesehen hat. Und der war happig.Er begann um 5.15 Uhr mit der Tag-wache und dem Dienstbeginn um 6Uhr. Es folgten der Morgen-, Nach-mittag- und Abenddienst, bis schliess-lich um 20.30 Uhr Dienstende war.Lichterlöschen war um 22 Uhr. Ein10-Stunden-Arbeitstag war also üb-lich. «Man sprach aber nicht von Ar-beitszeit», weiss die Historikerin. DerBeruf, der damals noch nicht vomBund geregelt wurde, sei eher als Lie-besdienst verstanden worden. «UndLiebesdienste verrechnet man nicht,sie werden nicht mit der Uhr gemes-sen.» Doch trotz der harten Arbeit:

Alice Müller mochte ihren Beruf. «Sieging in ihrem Beruf auf», wusste Sabi-ne Braunschweig. Alice Müller starbam 18. September 1984.

Im Internat in MontmirailMehr gesellschaftliche Hürden mussteMarie Heim-Vögtlin, die erste Schwei-zer Medizinstudentin, überwinden.Die Historikerin und Publizistin Vere-na E. Müller gab dem Publikum einenEinblick zu ihrem Werdegang. MarieHeim-Vögtlin kam 1845 in Bözen alsPfarrerstochter zur Welt. «Sie kam alsAargauerin zur Welt, nicht als Schwei-zerin, diese wurde erst drei Jahre spä-ter gegründet», ordnete die Referentinein. Bözen war ein armes Dorf. Ihr Va-ter, ein strenger, konservativer Mann,lernte sie das Rechnen, ihre Muttergab ihr Klavierstunden und brachteihr Französisch bei. Wie es für Pfar-rerstöchter damals üblich war, wurdeMarie Heim-Vögtlin nach Montmirailin ein Internat geschickt. Von dort be-richtete sie ihren Eltern mit Postkar-ten von ihrem Aufenthalt. «Die Post-

karten schrieb sie immer auf Englisch,damit der Pöstler sie nicht lesen konn-te», erzählt Verena E. Müller undbrachte das Publikum zum Lachen.

Vater brachte finanzielles Opfer«Ihr Vater war eine Schlüsselfigur. Erliess sie machen und unterstützte sie»,erzählte Verena E. Müller. Der Berufs-wunsch Medizinstudentin war alsFrau für diese Zeit alles andere alsselbstverständlich und löste schweiz -weit eine Welle der Empörung aus.Auch wenn ihr Vater sie unterstützte,für ihn bedeutete das Studium seinerTochter auch ein grosses finanziellesOpfer. Die Studiengebühr betrug da-mals 2000 Franken – der Pfarrer ver-diente 2800 Franken pro Jahr. Ihr Va-ter brachte ihr also auch ein grossesVertrauen entgegen. «Wie wir heutewissen, hat es sich gelohnt», sagt Ve-rena E. Müller. 1874 schloss MarieHeim-Vögtlin ihr Studium ab und er-öffnete eine Praxis. Ein Jahr nachdemsie ihren Doktortitel erlangte, heirate-te sie den Geologieprofessor Albert

Verena E. Müller erzählte auf frische Art aus dem Leben der ersten Schweizer Medizinstudentin. (Bilder: Sandro Portmann)

Heim und hatte mit ihm zwei Kinder,Arnold und Helene.

«Jeder hat das Recht auf Bildung»Diese Frauen erlangten unter widrigenUmständen Bildung und mussten da-für kämpfen. Aber macht Bildungauch glücklich? Dieser Frage gingLudwig Hasler auf den Grund. «Wasich heute feststelle – und das nicht erstseit dem Lehrplan 21 – wir modulari-sieren auf Kompetenzen hin.» Dochletztlich sei es nicht entscheidend, wieviele Kompetenzen man habe, «son-dern, dass ich damit etwas anfangenkann.» Jeder Mensch habe das Recht,so viel wie möglich herauszuholen,was in ihm steckt. Doch: «Selbstver-wirklichung alleine macht nie glück-lich», sagte der Philosoph und gabgleich die Antwort, wann Bildungglücklich macht: «Wenn ich so ausge-bildet bin, dass ich an etwas mitarbei-ten kann, dass grösser ist als ich sel-ber.» Als Beispiel nannte er dieLehrerin, «die an der Bildung ganzerJahrgänge mitwirkt».

Sabine Braunschweig sprach über die Ausbildung der Pflege. Die Sängerin «Pink Spider» unterhielt musikalisch. Ludwig Hasler rundete die Tagung philosophisch ab.

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