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...Rafael Ball, Cornelia Röpke, Willy Vanderpijpen (Hrsg.): Virus – Sicher im Netz? 2....

Date post: 05-Jun-2020
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MITTEILUNGEN DER VEREINIGUNG ÖSTERREICHISCHER BIBLIOTHEKARINNEN & BIBLIOTHEKARE 58 (2005) 4 ISSN 1022-2588 Redaktionsschluß für Heft 1 (2006): 24. Februar 2005
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  • MITTEILUNGEN DER VEREINIGUNG

    ÖSTERREICHISCHER BIBLIOTHEKARINNEN & BIBLIOTHEKARE

    58 (2005) 4

    ISSN 1022-2588

    Redaktionsschluß für Heft 1 (2006): 24. Februar 2005

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 3

    IMPRESSUM

    Medieninhaber, Hersteller und HerausgeberVereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare

    Geschäftssitz: Vorarlberger Landesbibliothek Fluherstraße 4, A-6900 Bregenz

    Tel: +43 / (0)5574 / 511-44099, Fax: +43 / (0)5574 / 511-44095 E-mail: [email protected], [email protected]

    http://voeb.uibk.ac.at/

    Redaktion, Satz & LayoutDr. Josef Pauser

    Bibliothek des VerfassungsgerichtshofsJudenplatz 11, A-1010 Wien

    E-mails betr. VÖB-Mitteilungen an: [email protected]

    Elektronische Ausgabe unter der URL: http://www.univie.ac.at/voeb/php/publikationen/vm/

    DruckSteiger Druck, Lindenweg 37, A-6094 Axams

    Tel.: +43-5234-68105, Fax: +43-5234-68105/11E-mail: [email protected]

    PreiseJahresabonnement der Mitteilungen: 40,– EUR

    Einzelheft: 12,– EURAnzeigenpreise: 1/1 Seite: 360,– EUR (Teile entsprechend)

    Beilage pro 1.000 Stück bzw. Gesamtauflage: pro Heft: 360,– EUR

    Alle in den „Mitteilungen der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen & Bibliothekare“ veröffentlichten Texte stellen die

    Meinung der Verfasser, nicht unbedingt die der Redaktion dar.

    mailto:[email protected]:[email protected]://voeb.uibk.ac.at/mailto:[email protected]://www.univie.ac.at/voeb/php/publikationen/vm/ mailto:[email protected]

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 3

    ———————————— I N H A L T ————————————

    Editorial

    Josef Pauser: Vorsicht, geheim: „Das Heft 4!“ Und sage es keiner dem anderen ... ............................................................................ 7

    Beiträge

    Peter Malina: „Braune Erblast“ im Regal: Restitutions- und Erinnerungsforschung als bibliothekarische Aufgabe ....................... 9

    Peter Vodosek: „Immer schon ein schwieriges Verhältnis“: Politik und Bibliotheken ............................................................................... 28

    Irene Pill: Eine Bibliothek im Paradies – Die Eisenbibliothek ................ 57Josef Pauser: Reuiger Sünder oder Die wunderbare Geschichte einer

    44-jährigen Ausleihfrist ... ............................................................ 64 Madeleine Wolensky: Die Bibliothek des Professors Anton Menger ........ 66

    Aus der Tätigkeit der VÖB

    Ortwin Heim: Die Geschichte der VÖB seit 1946: Das Archiv der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare an der Universitätsbibliothek Wien ............................................... 71

    Aus den Kommissionen

    Margit Sandner: Neues aus der Kommission für Sacherschließung ........ 73

    Berichte

    Sonja Fiala – Eva Kumar: Die Weltkonferenz der Informationsgesellschaft.Interview mit Claudia Lux (zukünftige IFLA-Präsidentin) zum Weltgipfel der Informationsgesellschaft ........................................ 75

    Heimo Gruber: Öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken in Österreich – Netzwerk als Ziel? KRIBIBI-Herbstseminar vom 11. bis 13. November 2005 in Wien ............................................... 79

    Bruno Bauer: Bericht über das 2. Trefffen österreichischer Medizin-bibliothekarinnen und -bibliothekare ........................................... 84

    Barbara Kräuchi: Kongress BBS 2005 ................................................... 89

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 44 Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 5

    Christa Müller: Open Access to Digital Archives and the Open Knowledge Society, Wien 2005 .................................................... 90

    Personalia

    HR Dr. Kubalek 60: Rückblick auf ein gelungenes Symposium ............ 92Prof. Dr. Friedrich Lang (1927–2005) ............................................... 97

    Rezensionen

    Nicholson Baker: Der Eckenknick oder wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen, Reinbek bei Hamburg 2005 (Gerald Kohl) ................................................................................ 98

    Peter Reifsteck: Handbuch Lesungen und Literaturveranstaltungen. Konzeption, Organisation, Öffentlichkeitsarbeit. 3., aktualisierte, überarb. und erw. Aufl. Reutlingen 2005 (Stefan Alker) .................. 103

    Rafael Ball, Cornelia Röpke, Willy Vanderpijpen (Hrsg.): Virus – Sicher im Netz? 2. internationale Konferenz zur virtuellen Bibliothek des Goethe-Instituts Brüssel. Jülich 2005 (Sigrid Reinitzer) .................... 105

    Ute Krauß-Leichert unter Mitarb. von Birte Gerber(Hrsg.): Interkulturelles Online-Lernen: Die Rolle der Frau in Bibliotheken und Informationseinrichtungen. Münster 2005 (Lydia Zellacher) .......................................................................... 108

    Bettina Wagner (Hrsg.): Bibliotheken in Neuburg an der Donau. Sammlungen von Pfalzgrafen, Mönchen und Humanisten. Wiesbaden 2005 (Sigrid Reinitzer) .................................................... 111

    Ulrich Sieber – Thomas Hoeren (Hrsg.): Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft – Anforderungen an das Zweite Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft – Hochschulrektorenkonferenz, Bonn 2005 (Isole Müller) .................. 113

    Christian Enichlmayr (Hrsg.): Bibliotheken – Fundament der Bildung: 28. Österreichischer Bibliothekartag 2004. Weitra 2005 (Josef Pauser) .................................................................................... 114

    Dirk Lewandowski: Web Information Retrieval. Technologien zur Informationssuche im Internet. Frankfurt am Main 2005 (Otto Oberhauser) ............................................................................. 116

    Steger, Gerhard: Erfolgreich führen in der Verwaltung: eine praxisorientierte Steuerungshilfe, Wien 2005 (Madeleine Wolensky) ........................................................................ 120

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 44 Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 5

    Mitteilungen

    Alexandria Manifest über Bibliotheken: die Informationsgesellschaft in Aktion .................................................................................. 121

    Bibliothekare – zwischen Minderleistern und Intriganten? ................ 12440. Tagung der dt.-sprachigen Frauen/Lesbenarchive in Frankfurt/M. .. 126

    Veranstaltungshinweise

    Deutscher Bibliothekartag 2006 (Dresden, 21.–24.03.2006) ............ 128„Berlin 4“ (Golm bei Potsdam, BRD, 29.–31.03.2006) .................... 128Libraries in the Digital Age (LIDA) (Kroatien 20.05.–04.06.2006) .... 128Österreichischer Bibliothekartag 2006 (Bregenz, 19.–22.09.2006 ) ... 128

    ONLINE-MITTEILUNGEN 84 (2005)

    Beiträge

    Mark Buzinkay: Neue Entwicklungen im Web: eSnips, meX, Google Book Search und World Digital Library Project ................. 3*

    Kurzmeldungen

    GBI und Genios gründen GBI-Genios Deutsche Wirtschaftsdatenbank . 8* Auszeichnungen für die EZB ............................................................. 8*US-Verlage klagen Google .............................................................. 10*Brockhaus online ........................................................................... 11*Online-Zeitschriftenarchiv bei SpringerLink ..................................... 12*Wiley übernimmt InfoPOEM .......................................................... 12*Führungswechsel im DIMDI ........................................................... 12*

    Schmunzelecke

    Das literarische Duett (Helmuth Bergmann)........................................ 13*

    Veranstaltungen

    07.–09. Februar 2006, Bielefeld: 8. Internationale Bielefeld Konferenz . 15*09.–11.04.2006, Innsbruck: EUSIDIC Annual Conference 2006 ........ 16*

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 46 Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 7

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  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 46 Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 7

    ——————————— E D I T O R I A L ———————————

    VORSICHT GEHEIM: DAS HEFT 4! UND SAGE ES KEINER DEM ANDEREN ...

    Liebe Kolleginnen und Kollegen!

    Vor Ihnen liegt erstmals seit längerer Zeit wieder einmal ein Heft 4 der VÖB-Mitteilungen. Die Fülle an Zusendungen von Texten aus dem Kreis der Bi-bliothekare machte dies möglich. Auch für das Heft 1/2006 sind schon einige Texte vorhanden. Zögern Sie aber bitte nicht, mir Ihre Aufsätze/Berichte/Rezensionen bzw. Ideen zu solchen zuzusenden. Bei Rezensionen von nicht direkt von der Redaktion vergebenen Werken empfiehlt sich eine kurze Bekanntgabe im Voraus, um Doppelrezensionen zu verhinden.

    Teilnehmer an der VÖB-Mailingliste werden sich an die folgende Ange-legenheit erinnern: Eine Art von locker geschriebener Managementlehre für die Verwaltung eines österreichischen Sektionschefs führte zu Verstimmung unter den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren. Der Autor hatte sich an einer Mitarbeitertypologie versucht und just dort, wo er den Typus des „Geheimniskrämer[s] und Wissensmonopolisierer[s] in Reinkultur“ beschreiben wollte, nicht diese Verhaltenseigenschaften als Etikett verwendet – wie er es sonst im Buch getan hat –, sondern ihn viel mehr und zu allem Überdruss unter der Überschrift „Bibliothekare“ abgehandelt. Inspiriert von Umberto Ecos „Der Name der Rose“ hätte er diese Metapher ersonnen ... allerdings eine schlecht gewählte Metapher, die leider geeignet ist, einen Berufsstand zur Gänze in einem seltsamen Licht erscheinen zu lassen. Was bleibt, ist jedenfalls ein schaler Nachgeschmack. Lesen Sie dazu eine Stellungnahme der KRIBIBI (S. 124–126) und eine Rezension zum fraglichen Buch von Madeleine Wolensky (S. 120).

    Einen Hoffnungsschimmer für die Wiederkehr verschwundener Bücher gibt uns schließlich noch das auf S. 65 abgedruckte Schreiben eines reui-gen Bibliotheksbenützers, der zwei 1914 entlehnte Zeitschriftenjahrgänge schließlich 1958 – also nach 44 Jahren – zurückstellte.

    Mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen für das Neue Jahr

    Josef Pauser

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 9

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  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 9

    ———————————— B E I T R Ä G E ————————————

    „BRAUNE ERBLAST“ IM REGAL: RESTITUTIONS- UND ERINNERUNGSFORSCHUNG ALS BIBLIOTHEKARISCHE AUFGABE

    Von Peter Malina

    Dass „Zeitgeschichte“ nach der in den 50er Jahren entwickelten und im-mer noch praktikablen Definition von Hans Rothfels die Geschichte der Lebenden ist, hat sich in den letzten Jahren mit großer Deutlichkeit gezeigt. Selbst dort, wo man meinte, sich eine Auseinandersetzung mit der jüngs-ten Vergangenheit ersparen zu können, weil ohnedies alles in „Ordnung“ sei, war zur Kenntnis zu nehmen, dass seit 1945 vieles versäumt und vieles verschwiegen worden ist.

    Das gilt auch für die Bibliotheken, die sich nun auch mit ihrer NS-Ge-schichte bewusst konfrontieren müssen. Der Auseinandersetzung mit dem Anteil und der Teilhabe auch von Bibliotheken – das heißt konkret: von Bibliothekaren und Bibliothekarinnen – an dem gigantischen Raubzug, der im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich vor sich ging, kann nicht mehr ausgewichen werden. An Hand von drei kürzlich erschienen Publika-tionen sollen hier einige der damit zusammenhängenden Problemfelder in Form einer resümierenden Rezension dargestellt werden.

    I. Bücher als Beutegut

    „... Dass es keine Hinweise auf Nazi-Raubgut in den Beständen der eigenen Bibliothek gebe, ist schnell gesagt und – wie man-ches Beispiel lehrt – oft auch genau so schnell widerlegt ...“

    Jüdischer Buchbesitz als Beutegut. Eine Veranstaltung des Niedersächsi-schen Landtages und der Niedersächsischen Landesbibliothek. Sympo-sium im Niedersächsischen Landtag am 14. November 2002. Hannover, 2003 (Schriftenreihe des Niedersächsischen Landtages zu Themen, die für die Öffentlichkeit von Interesse sind 50).

    Als auf der Washingtoner „Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust“ Ende 1998 die beteiligten Nationen elf Grundsätze im Um-

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 410 Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 11

    gang mit NS-verfolgungsbedingt verbrachten Kunstwerken festlegte, war – zunächst – von Büchern und Bibliotheksgut sehr wenig die Rede gewesen. Um die öffentliche Debatte um die Auffindung und die Rückgabe jüdischen Kulturguts auch im Bibliotheksbereich zu intensivieren, fand im November 2002 im Niedersächsischen Landtag ein vom Niedersächsischen Landtag und der Niedersächsischen Landesbibliothek organisiertes Symposium zum Thema „Jüdischer Buchbesitz als Beutegut“ statt. Die Referate dieses Sym-posiums sind wenig später (2003) in der „Schriftenreihe des Niedersächsi-schen Landtags“ erschienen. „Restitution“, so der Präsident des Niedersäch-sischen Landtags, Rolf Wernstedt in seinem Vorwort, sollte allerdings nicht nur als „technische Angelegenheit“ begriffen werden. Notwendiger Weise war auch die Rolle der Bibliotheken im NS-System zum Thema zu machen: „Die in dieser Broschüre dokumentierten Beiträge rekonstruieren deshalb mit der Suche nach der Spur der Bücher die historischen Zusammenhänge und handeln damit auch von der Notwendigkeit, sich der eigenen historischen Verantwortung zu stellen“ [S. 5].

    Die Referate des Symposiums haben die verschiedenen Facetten der Aufarbeitung des Problembereichs „Bibliotheken und ihre Beteiligung am N-System“ deutlich gemacht. Dass diese Frage äußerst komplex und noch lange nicht aufgearbeitet ist, hat Anja Heuss an ihrer Skizze des Bücher-raubs in der Zeit des Nationalsozialismus gezeigt, die sich vor allem auf den Zusammenhang zwischen „Akteuren“ und „Strukturen“ bezog, der noch weiterer Untersuchungen bedarf. Insbesondere für die ersten beiden Phasen der „Entziehung“ (im Klartext: des Raubs) 1933 bzw. 1938 stehen begleitende Untersuchungen noch aus. Immerhin lässt sich schon jetzt feststellen, dass schon in dieser Phase Bibliothekare mit ihrem Sachver-stand in den Raub mit einbezogen waren: Für die Schätzung geraubten Bi-bliotheksguts wurden die Direktoren der größeren deutschen Bibliotheken heran gezogen [S. 28].

    Kompliziert wird die Suche nach Büchern für die Restitution noch da-durch, dass auch Antiquare als Sachverständige bzw. bei der Versteigerung eingesetzt wurden, über deren Vermittlung ebenfalls Raubgut in Bibliothe-ken gelangt sein könnte.

    Dazu kommt, dass die öffentliche Diskussion wesentlich durch den medienwirksameren „Kunstraub“ geprägt ist. Deutlich lässt sich dies am Beispiel des geplanten „Führermuseums“ in Linz zeigen. Dass gleichzeitig dort auch eine Bibliothek geplant war, die gegen Kriegsende etwa 60.000 Bände umfasste, ist erst in den letzten Jahren bewusst geworden. Da nach 1945 ein Teil dieses Raubgutes auf deutsche Bibliotheken verteilt wurde, ist es für Restitutionsprojekte wichtig, sich nicht nur auf die Zugangs- und „Er-werbungs“-Listen aus der NS-Zeit zu beschränken: „Auch nach dem Krieg sind

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    Bestände auf deutsche Bibliotheken verteilt worden, deren Provenienz zum Teil zweifel-haft ist. Auch wenn sie von den westlichen Alliierten übergeben worden waren, und die betreffende deutsche Bibliothek überhaupt keine Schuld an der Erwerbung trifft, kann die Provenienz dieser Übergaben aus heutiger Sicht zweifelhaft sein“ [S. 33–34].

    Jürgen Babendreier hat als Einleitung für die Formulierung von „Search- and-find-Indikatoren“ für NS-verfolgungsbedingt entzogenes Bibliotheks-gut ein Zitat aus Sebastian Haffners Erinnerungen „Geschichte eines Deutschen“ vorangestellt, in dem Haffner die Aufhebung der Trennung zwischen Politik und Privatleben anspricht. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung ist es für ihn daher auch müßig, zu fragen, ob wissenschaftliche Bibliotheken vielleicht doch auch „Orte der Zurückgezogenheit“ gewesen sein könnten: „Es gab keine Enklaven, es gab weder individuelle noch institutionelle Schutzzonen, es gab keine Neutralität, und es gab für Bibliotheken keinen ,Status der Immunität‘„ [S. 43].

    Der „Erwerb“ von Büchern aus jüdischem Eigentum gehörte für Biblio-theken damals zu den zeittypischen, gängigen und durchaus üblichen Zu-gangsarten. Ergänzend ist hier allerdings hinzuzufügen, dass damit nicht gemeint sein kann, dass Bibliotheken und ihre Bibliothekare dem NS-Sys-tem bedingungslos passiv ausgeliefert gewesen sind. Tatsächlich hat das Bibliothekspersonal – gewiss mit verschiedner Verantwortung – das Seine zum Funktionieren der NS-Bibliothekspolitik beigetragen und – ein Beispiel dafür ist sicherlich auch die Österreichische Nationalbibliothek und ihr Di-rektor Paul Heigl – aktiv und beschleunigend mitgetan.

    Für die Gegenwart stellt sich allerdings die Frage, wie es möglich ist, das, was in der NS-Zeit „bibliothekarische Praxis“ und aus der Sicht von damals ein durchaus „legaler“ Erwerbungsvorgang war, heute als „Besonderheit“ ausfindig zu machen und als „exemplarisches Unrecht“ zu dokumentieren. Zur Beantwortung dieser Frage formuliert Babendreier in philologischer Vorgangsweise „Interrogativsätzen“, in denen Interrogativpronomen und Interrogativadverbien zur Anwendung gebracht werden: „Was? und Wer?“, „Welche?“, „Wann?“, „Wie? und Wie viele?“ und „Woher?“, „Wo? In der praktischen Recherche wird allerdings deutlich, dass die Beantwortung dieser Fragen abhängig ist von der Quellenlage und den örtlichen Verhält-nissen der jeweiligen Bibliothek: „Je ungünstiger die Bibliotheksüberlieferung, umso aufwendiger, zeit- und personalintensiver sind die Recherchen, umso schwieriger fällt die Beantwortung der gestellten Fragen“ [S. 50]. Restitutionsarbeit wird zur „Bibliotheksarchäologie“: „Titel für Titel, Buch für Buch wären in die Hand und aus dem Regal zu nehmen, abzustauben, aufzublättern, Erscheinungsjahr, Autor, Titel, Thema, Verlag wären abzugleichen mit den zuvor zu erwerbenden historischen Kenntnissen zur Literaturpolitik im Dritten Reich“ [S. 50].

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    Vor jeder „Rückgabe“ geht es darum, zunächst einmal „Geschichte“ zu schreiben und Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit (nach innen wie nach außen) zu leisten: „In den geraubten Büchern wirkt Geschichte nach, lebt unsicht-bar Erinnerung fort, wird historische Verantwortung präsent“ [S. 52]. Voraus-setzung für eine sinn- und verantwortungsvolle Restitutionsforschung im bibliothekarischen Bereich ist jedenfalls der „differenzierte Blick“, denn – so Babendreiers Erfahrungen mit seinem Fragenkatalog – „keine Bibliotheksge-schichte gleicht der anderen“ [S. 51].

    Dass Differenzierung, aber auch aufwendige, arbeitsintensive Aktivitä-ten notwendig sind, hat Bernd Reifenberg in einem „Praxisbericht“ über die Ermittlung von NS-Raubgut in der Universitätsbibliothek Marburg be-schrieben, der einiges von dem vorwegnimmt, was er 2004 dann auch auf dem Bibliothekskongress in Leipzig berichtet hat. Am Beispiel der Univer-sitätsbibliothek Marburg lässt sich zeigen, dass sich restitutionsverdäch-tige Zugänge deutscher Bibliotheken im Wesentlichen aus drei Gruppen zusammensetzten: Zugänge aus der Berliner Staatsbibliothek, der „Reichs-tauschstelle“ bzw. der „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft“; aus den Angeboten des Antiquariatsbuchhandels; aus „Geschenken“ von Institutionen, die mit der Beschlagnahme verbotener Bücher oder der Ver-wertung enteigneten Besitzes zu tun hatten – wie z.B. Polizeidienststellen, Finanzbehörden, Bürgermeisterämter etc. [S. 54–55]. Nicht auszuschlie-ßen ist jedoch auch, dass zumindest ein Teil der verdächtigen Bücher ver-mutlich durchaus regulärer oder rechtmäßiger Herkunft ist. Nach geraub-ten Büchern in Bibliotheken zu forschen ist nach den Erfahrungen an der Universitätsbibliothek Marburg aufwendig, aber letzten Endes doch auch erfolgreich: „Dass es keine Hinweise auf Nazi-Raubgut in den Beständen der eige-nen Bibliothek gebe, ist schnell gesagt (und – wie manches Beispiel lehrt – oft auch genau so schnell widerlegt)“ [S. 58].

    Die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Suche hat Peter Schulze bei der Vorbereitung zu einer Ausstellung enteigneter Bücher („Seligmanns Bücher“) im Stadtarchiv Hannover 1999 erfahren, die er unter dem Titel „Enteignete Bücher als historische Quelle“ zusammengefasst hat. In ihnen enthaltene Hinweise geben Anhaltspunkte auf frühere Besitzer, aber auch auf Familiengeschichte und lokalgeschichtliche Zusammenhänge. Man-ches wird allerdings nicht mehr zu rekonstruieren sein. So hätte Schulze gerne gewusst, wer die im Verborgenen bleibende „Hilde“ gewesen ist, die in einer persönlichen Widmung zum „2-jährigen Jubiläum“ gratulierte, und ob ihr Buchgeschenk an den Beginn einer Freundschaft oder gar ei-ner Liebesbeziehung erinnern sollte. Er tröstete sich aber dann mit der bei historischen Recherchen durchaus angebrachten Bemerkung: „... aber das

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 412 Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 13

    muss man vielleicht auch gar nicht wissen“ [S. 15]. Dort, wo es sich im Zuge der Recherchen herausstellte, dass es sich um enteignete Bücher handelt, ha-ben Bibliotheken allerdings die Verantwortung, dies vor der Öffentlichkeit darzustellen. In diesem Sinne war die Ausstellung auch die Möglichkeit, Bibliotheksgeschichte öffentlich zu machen: „Verfolgung, Vertreibung und Ent-eignung der deutschen Juden lassen sich auch am Beispiel der Geschichte enteigneter Bücher veranschaulichen“ [S. 15].

    II. Das bibliothekarische Gedächtnis

    „... NS-Vergangenheit ist Teil unserer historischen Erfahrung und damit Teil der nationalen und auch der bibliothekarischen Identität. Es gilt, sie nicht abzuwehren, sondern sie sich anzu-eignen ...“

    Sven Kuttner, Bernd Reifenberg (Hrsg.): Das bibliothekarische Ge-dächtnis. Aspekte der Erinnerungskultur an braune Zeiten im deutschen Bibliothekswesen. Marburg, 2004 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 119).

    Als Jürgen Babendreier und Sven Kuttner im Sommer 2003 den Plan fass-ten, auf dem Bibliothekskongress in Leipzig eine Sektion zur Behandlung der Erinnerungskultur an die Zeit der NS-Gewaltherrschaft anzubieten, waren sie sich zunächst nicht sicher, wie ihr Vorschlag in einer zusehends „enthistorisierten“ Bibliotheks-Zunft aufgenommen werden würde. Tat-sächlich war diese Sektion ein großer Erfolg und die Resonanz unter den Kolleginnen und Kollegen beachtlich. In der Schriftenreihe der Universi-tätsbibliothek Marburg liegen nun die Beiträge dieses erstaunlichen Unter-nehmens gedruckt zum Nachlesen, Nachdenken und Nachmachen vor.

    In fünf thematischen Blöcken – von Überlegungen zur Rezeptionsge-schichte bis zum Umgang mit NS-Raubgut in den Bibliotheken nach 1945 – gingen die Referate differenziert den Aspekten der Kultur der Erinnerung an die braunen Zeiten im deutschen Bibliothekswesen nach. Bibliothekare befinden sich – wie Dirk Barth in der Einleitung feststellte – in einer schizo-phrenen Situation: Sie, die von ihrer Profession her geradezu darauf „dres-siert“ sind, den Buchbestand zu erhalten und nach Möglichkeit Verluste zu vermeiden, sind nun angehalten, Bestände aus ihren Bibliotheken abzuge-ben – und dabei noch ihren Sachverstand und ihr professionelles Wissen zur Verfügung zu stellen. In einem Prozess der bibliothekarischen Selbstreflexion

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 414 Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 15

    sei es daher notwendig, sich bewusst zu werden, dass die Ermittlung wie die Rückgabe nicht rechtmäßig in den Besitz von Bibliotheken gelangten Bü-chern nichts anderes ist als ein „Zeichen der Bereitschaft, sich der Vergangenheit zu stellen und die Beteiligung der Bibliotheken am NS-Unrecht zu erforschen“ [S. 7].

    Peter Vodosek hat diese anfängliche Skepsis auch unter Bibliothekskol-legen als Vorsitzender des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheksge-schichte ganz ähnlich erfahren, als er 1985 vorschlug, die 5. Jahrestagung des Arbeitskreises im Jahre 1988 unter das Thema „Die Bibliotheken unter dem Nationalsozialismus“ zu stellen. Nach dieser Tagung konnte niemand mehr behaupten, der Nationalsozialismus habe die Bibliotheken nur am Rande berührt. Peter Vodosek zitiert dazu Michael Knoche, der mit Bezug auf die in Wolfenbüttel vorgelegten Referate in einem Beitrag in der Zeit-schrift „Buchhandelsgeschichte“ 1988 mit Nachdruck in Erinnerung rief: „Nach dieser Tagung kann niemand mehr behaupten, der Nationalsozialismus habe die Bibliotheken nur ganz am Rande berührt. Sie waren keineswegs in einen Dorn-röschenschlaf versunken, sondern haben sich vielfach als erstaunlich brauchbar für die Ziele des NS-Staates erwiesen“ [S. 14].

    Das Aufwachen aus diesem „Dornröschenschlaf“ fiel manchen aus der Bibliothekszunft keineswegs leicht. Jürgen Babendreier hat in seinen Überlegungen zur Aufarbeitung der NS-Geschichte des deutschen Biblio-thekswesens auf einen prinzipiellen, professionell bedingten Widerspruch hingewiesen, der in dieser Verweigerung deutlich wird, sich der institutio-nellen wie auch der eigenen professionell-individuellen Vergangenheit zu stellen: „Anzunehmen wäre, dass Bibliothekare, die berufenen Architekten, Samm-ler und Hüter des kulturellen Gedächtnisses der Menschheit, im eigenen Umgang mit ihrer Geschichte über professionelle Strategien verfügen, Erinnerung wach zu halten, Gedächtnislücken zu schließen und Vergangenheit zu vergegenwärtigen“ [S. 23].

    Der Druck der Öffentlichkeit hat dazu geführt, dass sich Bibliotheken in Deutschland – und auch in Österreich – im Zuge ihrer Restitutionsprojekte auch der NS-Geschichte zuwenden. Auch für die Situation der Bibliothe-ken gilt, dass gegenwärtig – zumindest in den direkt davon betroffenen Bereichen – soviel Erinnerung wie noch nie in den letzten Jahrzehnten anzutreffen ist. Babendreier sieht allerdings auch eine gegenläufige Ent-wicklung: Es sei zu befürchten, dass der bibliothekarische Diskurs über die eigene Geschichte wieder zu versiegen drohe: Mit der Attraktivität der „Modernisierung“ der Bibliotheken und ihrer Integration in die digitalisier-te Informationsgesellschaft tritt die „Vergangenheit“/Geschichte hinter der Berücksichtigung aktueller bibliothekstechnischer und medialer Bedürfnis-se zurück.

    Manfred Komorowski hat – Vodoseks und Babendreiers Befund bestär-

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 414 Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 15

    kend und bestätigend – vor dem Hintergrund der Forschungstendenzen im (bundesdeutschen) Bibliothekswesen seit den 1990er Jahren darauf hin-gewiesen, dass den Akteuren im Bibliothekswesen nach 1945 ein (selbst-)kritisches historisches Bewusstsein weitgehend abging. Für die Generation der Bibliothekare der „Erlebnisgeneration“, also jener, die im NS-System im Bibliothekswesen aktiv gewesen sind, sei lange Zeit festgestanden, dass ihre Arbeit kaum vom Nationalsozialismus beeinflusst oder gar geprägt gewesen ist [S. 55]. Diese Fiktion unpolitischen bibliothekarischen Han-delns ist nicht mehr länger aufrechtzuerhalten. Immer deutlicher wurde in den letzten Jahren, dass vor allem die Geschichte der Bibliotheken in den besetzten Ländern durch die NS-Bibliotheks-„Politik“ geprägt war und zu einem sehr bedeutenden Teil die Geschichte von „Raub und Plünderung von Kulturgut“ gewesen ist [S. 60].

    Gerade in Anbetracht des großen Vergessens und Verschweigens nach 1945 ist es daher notwendig, sich des „bibliothekarischen Gedächtnisses“ und seiner Leistungen und Aufgaben bewusst zu sein. Auch Bibliotheken und Bibliothekare/Bibliothekarinnen haben ihre „Geschichten“, die – ob dies nun bewusst wahrgenommen wird oder nicht – aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreichen. Es sei zwar – so Jürgen Babendreier zu Ende seines Beitrags – gewagt, zwischen der Geschichte der Bibliotheken und der Geschichte der Vernichtung der Juden in der NS-Zeit kausale Ver-flechtungen herzustellen. Das bibliothekarische Gedächtnis ist – so seine herausfordernde Überlegung – durchzogen von eben diesem Faktum der Vernichtung: „NS-Vergangenheit ist Teil unserer historischen Erfahrung und damit Teil der nationalen und auch der bibliothekarischen Identität. Es gilt, sie nicht abzu-wehren, sondern sie sich anzueignen“ [S. 52].

    Die (selbst-)kritische Aneignung der NS-Vergangenheit ist vor allem für das wissenschaftliche/akademische Bibliothekswesen notwendig. Von Bibliothekaren in jenen Einrichtungen wurde – so Babendreiers erste her-ausfordernde These – im Gegensatz zu den Volksbibliothekaren der Natio-nalsozialismus im Hinblick auf seine Konsequenzen für die eigenen Biblio-theken nicht als „Zivilisationsbruch“ wahrgenommen. Im Bewusstsein, als Einrichtung der „Wissenschaft“ mit der „Politik“ nicht zu tun zu haben, wurde im wissenschaftlichen Bibliothekswesen erst relativ spät die Frage nach Schuld und Verantwortung (und nach Restitution und Rückgabe geraubten Gutes) gestellt. Das berufliche Interesse der wissenschaftlichen Bibliothekare – These Nummer zwei – konzentrierte sich bei der Abhand-lung der Folgen des Nationalsozialismus auf die materielle, nicht auf die geistige Zerstörung: „Nicht die Vernichtung von Menschen, sondern von Büchern und Bibliotheksbauten“ [S. 53] rief Erschütterung hervor.

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    Die Geschichte der Bibliotheken und ihrer Bücher im Nationalsozialis-mus ist auch und ganz wesentlich mit der Geschichte der in den Bibliothe-ken tätigen Bibliothekare/Bibliothekarinnen verknüpft. Manfred Komo-rowski hat es daher zu Ende seines Beitrags als ein „spannendes Thema“ be-zeichnet, das Nachkriegsschicksal belasteter Bibliothekare zu untersuchen. Ein Beispiel für einen solchen Versuch ist der Beitrag von Sven Kuttner zur Biographie des 1941 bis 1945 amtierenden NS-Direktors der Universitäts-bibliothek München, Joachim Kirchner, der auf dem Darmstädter Bibli-othekartag 1933 die Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 als „not-wendige Vernichtungsarbeit“ gefeiert hatte [S. 84]. Bemerkenswert und wohl ein Beispiel für den von Vodosek in seinem Beitragstitel angesprochenen „Reflex der Verdrängung“ ist es, dass Kirchner in der aus Anlass ihres 500jäh-rigen Geschehens publizierten Geschichte der Universität München 1972 nicht erwähnt wird. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass – ebenfalls 1972 – der Direktor der Universitätsbibliothek München, Ladislaus Buzas, in einer „Geschichte der Universitätsbibliothek München“ erstaunlich de-tailliert auf die NS-Zeit und die Rolle des Direktors einging – und dies zu einer Zeit, als – wie Kuttner anmerkt – „der für seine innere Konsens- und Har-moniebedürftigkeit bekannte Berufsstand der deutschen Bibliothekare die braunen Flecken in der Geschichte ihrer Einrichtungen nur allzu gerne als ‚unbewältigt‘ auf sich beruhen ließ“ [S. 85–86].

    Mit der Konzentration auf die NS-konforme Haltung des Direktors schien zunächst das übrige Bibliothekspersonal quasi posthum „entna-zifiziert“. Neuere Untersuchungen zur Personalstruktur der Universitäts-bibliothek München in der NS-Zeit haben allerdings gezeigt, dass diese Einschätzung so nicht weiter aufrechtzuerhalten sein wird.

    In seinem Beitrag über den Umgang mit NS-Raubgut nach 1945 hat Bernd Reifenberg auf eine Leerstelle der bibliothekarischen „Erinnerung“ aufmerksam gemacht, die erst in den letzten Jahren im Zuge der Restituti-onsforschungen bewusst geworden ist: Während öffentliche Gedenktage wie zum Beispiel das Gedenken an die Bücherverbrennungen 1933 bereits zu einem Teil der bibliothekarischen Erinnerungskultur gehören, habe sich im deutschen Bibliothekswesen bisher wenig Interesse an den „erin-nerungsträchtigen“ Objekten der NS-Zeit gezeigt, über die Bibliotheken massenhaft verfügen: „Bücher aus dem Besitz von Verfolgten des NS-Regimes, die auf den verschiedensten Wegen in die Magazine von Bibliotheken gelangt sind“ [S. 97]. Die Vernachlässigung dieses Erinnerungsgutes ist für Reiffenberg umso bemerkenswerter, als es in Deutschland wohl kaum eine größere wissenschaftliche Bibliothek gibt, die nicht von den Beutezügen und Un-terdrückungsmaßnahmen in der NS-Zeit profitieren konnte: „Bibliotheken

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    dienten als Sammelstellen für verbotene Literatur, waren Nutznießer von der Enteig-nung der aus rassischen und politischen Gründen verfolgten Personen und erhielten Zuweisungen aus den während des Krieges als Beutegut verschleppten Büchern und Bibliotheken“ [S. 97].

    Nachdem 1998 das Thema auf der Washingtoner Konferenz über Ver-mögenswerte aus der Zeit des Holocaust zur Sprache gebracht worden war, kam es Ende 1999 in Deutschland zu einer „Erklärung zur Auffindung und Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes“, in der Biblio-theken, Kunstsammlungen und Archive aufgefordert wurden, in ihren Be-ständen nach NS-Raubgut zu suchen und dieses an die rechtmäßigen Besit-zer zurückzugeben. Seit 2001 ist an der Universitätsbibliothek Marburg ein Projekt im Gange, mit dem Titel, Signaturen und Lieferanten aller fraglichen Zugänge aus der NS-Zeit festgestellt und die Besitzvermerk erfasst werden sollen. Nach Abschluss des Projekts können dann unrechtmäßig in den Be-sitz der Bibliothek gekommene Bücher an ihre ursprünglichen Besitzer (oder deren Erben) zurückgegeben werden. Dann wird die Bibliothek allerdings auch (wie Bernd Reifenberg an den Büchern der Familien Wolf, De Lorenzi und Alfart zeigt) mit einem Bereich der Erinnerung an die NS-Zeit konfron-tiert sein, dem Bibliotheken in der Regel bisher aus dem Weg gegangen sind: Den ehemaligen Besitzern und ihren Lebensschicksalen [S. 101].

    III. Die „Erwerbungs“-Politik der Österreichischen Nationalbibliothek 1938–1945

    „... Entscheidend ist darüber hinaus, als öffentliche Institution endlich jenes Unrechtsbewusstsein zu entwickeln, und auch öf-fentlich zu zeigen, das Jahrzehnte lang gefehlt hat ...“

    Murray G. Hall, Christina Köstner, Margot Werner (Hrsg.): Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer Vergan-genheit. Wien, 2004.

    Als Folge der öffentlichen Restitutionsdebatte der letzten Jahre zeigte sich, dass auch für die österreichischen Bibliotheken die Zeit der reservierten Zurückhaltung zu Ende sein sollte. Ein Ergebnis dieses Umdenkens und neu Bedenkens der österreichischen bibliothekarischen Zeitgeschichte war die unter dem Titel „Geraubte Bücher“ 2004 eröffnete Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek, in der sich diese prominente Bibli-othek Österreichs erstmals öffentlich ihrer NS-Vergangenheit stellte. Mit

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    der Ausstellung setzte die Nationalbibliothek zugleich auch ein deutliches Signal einer Bewusstseinsänderung. Wie Johanna Rachinger, die Direktorin der Österreichischen Nationalbibliothek, in ihrer Einleitung ausführt, ging es nicht (nur) um die Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung, sondern darum, „als öffentliche Institution endlich jenes Unrechtsbewusstsein zu entwickeln, und auch öffentlich zu zeigen, das Jahrzehnte lang gefehlt hat“ [S. 6]. Ziel der Ausstellung war es daher, „auf einer objektiven, historisch fundierten Basis die Zusammenhänge der persönlichen und politischen Verflechtungen aufzuzeigen, die die Nationalbibliothek zu einer Mittäterin des NS-Regimes werden ließen“ [S. 7].

    Die Ausstellung war auch der Anlass, beispielhaft die Ergebnisse der Provenienzforschung zu präsentieren, die an der Österreichischen Natio-nalbibliothek entsprechend dem Kunstrückgabegesetz 1998 zur Ermitt-lung des in den Beständen der Bibliothek noch befindlichen Raubguts aus der NS-Zeit durchgeführt wurden. Mit dem Endbericht und dem Ausstel-lungskatalog liegen nun zwei gewichtige Veröffentlichungen vor, die Anlass für bibliothekarische Selbstbesinnung und Anstoß für weitere bibliotheka-rische Projekte geben sollten: Nur in der Offenlegung dessen, was war, und im Eingeständnis, dass auch österreichische Bibliotheken in der NS-Zeit ihren Anteil am Unrecht geleistet haben, ist die Voraussetzung für einen redlichen Umgang mit einem wahrlich düsteren Teil der österreichischen Bibliotheksgeschichte gegeben.

    Im Konzept der Ausstellung wie auch im Katalogs werden (und dies könnte auch Vorbild für ähnliche Bibliotheksprojekte sein) im Wesentli-chen drei Bereiche angesprochen:

    — Die detaillierte Untersuchung der fraglichen Bibliotheksbestände und die Dokumentation der Ergebnisse dieser bibliothekarischen Provenienzforschung.

    — Die historische Arbeit am historischen Quellenmaterial, um die Bi-bliotheksarbeit in der NS-Zeit in den historischen und politischen Zusammenhang zu bringen.

    — Die Konkretisierung der historischen Untersuchungen anhand von exemplarischen Fallgeschichten, an denen deutlich wird, was Bü-cher-„Raub“ für die davon Betroffenen bedeutete.

    Ein wesentliches Problem bei der Rückgabe „entzogenen“ Eigentums nach 1945 bestand darin – wie Ernst Bacher, der Leiter der Anfang 1998 eingesetzten „Kommission für Provenienzforschung“, in seinem Beitrag „Warum erst jetzt? Warum so spät?“ ausführt –, dass die in den 1940er und 1950er Jahren erlassenen „Rückstellungsgesetze“ von der Vorausset-zung ausgingen, dass die Geschädigten imstande seien, ihre Ansprüche selbst geltend zu machen. Das war – wie der historische Befund zeigt – nicht

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 418 Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 19

    immer der Fall. Die Aufgabe der Anfang 1998 eingesetzten „Kommission für Provenienzforschung“ war es daher, in den Museen und Sammlungen des Bundes alle Erwerbungen 1938–1945 systematisch zu überprüfen, um noch verbleibende, von ihrer Provenienz her bedenkliche Zugänge festzustellen. Ende 1998 wurde auf Grund der Arbeit der Kommission ein Kunstrückgabegesetz (genauer: „Bundesgesetz über die Rückgabe von Kunstgegenständen aus den österreichischen Bundesmuseen und Samm-lungen vom 4.XII.1998, BGBl Nr. 181/1998“) beschlossen. Dieses Gesetz, das auch für die Bestände in Bibliotheken relevant ist, setzte allerdings eine gründliche und umfassende Provenienzforschung voraus, und Provenienz-forschung ist daher – so Bacher – „als komplementärer Teil dieses Gesetzes an-zusehen“ [S. 57]. In der Praxis geht die Provenienzforschung allerdings weit über diese Aufgabe hinaus: „Damit aber eine korrekte Vorstellung vom Umfang der Aufgabe [der] Provenienzforschung vermittelt wird, ist darauf hinzuweisen, dass es nicht nur um gezielte Recherchen zu einzelnen, im Zusammenhang der generellen Überprüfung als ‚bedenkliche Erwerbungen‘ herausgefilterten Kunstgegenstände geht, sondern um eine zwangsläufig weit darüber hinausgehende systematische Auf-arbeitung des in diesem Zusammenhang vorhandenen archivalischen und historischen Materials. Es wird von der Provenienzforschung in diesem Rahmen eine viel umfassen-dere historische Arbeit geleistet, als dies an den tatsächlichen Restitutionsfällen, die im Netz dieser Überprüfung hängen blieben, sichtbar wird. Es ist ein wichtiges Kapitel Zeitgeschichte, das hier von der Provenienzforschung mit erarbeitet wird“ [S. 58].

    Da in der Nachkriegszeit eine systematische und umfassende Durchsicht der an der Österreichischen Nationalbibliothek befindlichen fraglichen Restbestände aus der NS-Zeit unterblieb, mussten im Zuge der Provenienz-forschungsarbeit – wie Margot Werner in ihrem Beitrag anführt – allein in der Druckschriftensammlung mehr als 150.000 Bände überprüft werden. In dem mehr als 3.000 Seiten umfassenden Endbericht sind 11.373 Signatu-ren Sammlungsobjekte und 14.133 Einzelbände Druckschriften als „bedenk-liche Erwerbungen im Sinne des Kunstrückgabegesetzes“ identifiziert [S. 51–52].

    Was den zeithistorischen Aspekt betrifft, so zeigte sich, dass die Ge-schichte der Österreichischen Nationalbibliothek in der NS-Zeit und ihre Bereitschaft, sich fremdes Bibliotheksgut anzueignen, nur im historischen Kontext der Geschichte der Bibliothek in der Ersten Republik zu verstehen ist. Murray G. Hall (der mit Christina Köstner gegenwärtig an einer Ge-schichte der Österreichischen Nationalbibliothek 1938–1945 arbeitet), geht in einem einleitenden Kapitel diesen Schritt zurück. In seinem Beitrag geht es um die Rolle der Nationalbibliothek bei der Liquidierung sozial-demokratischer Bildungseinrichtungen ab 1934. Dieser Aspekt der öster-reichischen Bibliotheksgeschichte ist (wie übrigens auch die Beteiligung

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    österreichischer Bibliotheken an der Zensur regimekritischen Schrifttums im „Ständestaat“) bisher zu wenig beachtet worden. Zu recht stellt Hall daher fest: „Dass die NB ab 1935 zur größten Verwahrungsstelle bzw. zur wich-tigsten Anlaufstelle der aus hunderten von Arbeiter-, Volks-, Wander- und Kinderbü-chereien im ganzen Bundesstaat Österreich ausgesonderten Bücher wurde, ist bislang bestenfalls andeutungsweise bekannt“ [S. 15].

    In Murray Halls Untersuchung kommt auch Skurriles, für die biblio-thekarische Alltagsgeschichte, aber auch des österreichischen Politischen Systems durchaus Bezeichnendes zur Sprache: so blieb der an der „Sam-melstelle“ der Nationalbibliothek gelagerte konfiszierte Bestand österreichi-scher Arbeiterbibliotheken bis zum März 1938 unbearbeitet, da niemand die Kosten dafür tragen wollte und die „Sichtungsarbeiten“ in Räumen vorgenommen werden mussten, die im Winter nicht beheizt waren. Als die Gestapo nach der deutschen Okkupation Österreichs auf diesen Bestand zugreifen wollte, gab es keinen Widerstand. Das Unterrichtsministerium wies lediglich darauf hin, dass die im Zuge der Sichtung bisher gefüllten Kar-teikästen Eigentum der Österreichischen „Staatsbibliothek“ seien [S. 26].

    Mit der Einrichtung der „Bücherverwertungsstelle“ mit 1. September 1938 – über deren Entstehung und Arbeitsweise Grit Nitzsche in Wei-terführung ihrer früheren Arbeiten zu diesem Thema für den Katalog berichtet – sollte eine Stelle zur Kontrolle der spontanen und privaten Bücher-„Beschaffungen“, zur Verbesserung der Bücher-„Verwertung“ und zur Beschleunigung der Vernichtung regimekritischer, nicht genehmer Lite-ratur geschaffen werden. Mit ihrer Leitung wurde Albert Paust, der Leiter der Erwerbung der Deutschen Bücherei Leipzig, betraut. Ursprünglich war daran gedacht, die neu geschaffene Einrichtung als „Zentralerfassungsstel-le“ zu bezeichnen. Paust hat sich – und dies ist für das bibliothekarische Selbstverständnis doch bezeichnend – gegen diesen Begriff mit folgender Begründung ausgesprochen: „Inzwischen ist aus den primitiven Anfängen schon so etwas wie eine Bibliothek geworden. An sich ist es ja gar keine, da die Bestände sämtlich weitergegeben werden. Ich habe deshalb die Bezeichnung ‚Bücherverwer-tungsstelle‘ gewählt“ [62–63].

    Paust unterschied nach „Unerwünschtem“ und „allgemein Verwertbarem“ und ließ die Bücher nach bibliothekarischen Gesichtspunkten aufstellen. Er tat dies „planvoll“ und „mit Umsicht“. Unter welchen Umständen die Bü-chermassen zustande kamen, die seinem bibliothekarischen Sachverstand in so großer Menge zur Verfügung standen, war ihm kein Problem: „An keiner Stelle reflektierte er jedoch über die Quellen, aus denen die Bücher stammten“ [S. 67]. Von den bis Herbst 1938 zusammengeraubten etwa 400.00 Bän-den stand Paust allerdings nur ein geringer Teil (etwa 100.000) für die Ver-

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    teilung zur Verfügung, da sich bereits andere (Partei-)Dienststellen und die Gestapo bedient hatten. Immerhin – so Nitzsches Befund – durften auch „die NB Wien, die UB Wien sowie der Sicherheitsdienst [ ... ] aus den Beständen das für sie in Frage kommende Material auswählen und mitnehmen“ [64].

    In der NS-Zeit hat sich die Nationalbibliothek als Akteur und Profiteur bei der größten Bücherraub- und Büchervernichtungsaktion in der öster-reichischen Geschichte kontinuierlich und massiv bereichert. Nach dem Überfall auf Jugoslawien im Frühjahr 1941 war Heigl auch mit der Verant-wortung für die wissenschaftlichen Bibliotheken des Südostens betraut. Beschlagnahmte Bücher fanden als „Tauschexemplare“ ebenso Eingang in die Nationalbibliothek (und andere Bibliotheken) wie die aus der Beute des Verlagslagers bzw. der Privatbibliothek Geca Kons in Belgrad stammenden Buchbestände [S. 12]. Ab September 1943 organisierte Heigl, unterstützt von Ernst Trenkler, die Aufteilung der in Triest und Umgebung geraubten jüdischen Bibliotheken, die teilweise dann auch an die Nationalbibliothek gelangten. In einigen Fällen jedoch waren – wie Christina Köstner in ihrer Darstellung der Erwerbungspolitik der Nationalbibliothek 1938–1945 im Detail ausführt – auch seiner bibliothekarischen Begehrlichkeit Grenzen gesetzt: Die Bibliotheken des Stiftes Klosterneuburg, des Theresianums in Wien und die Bibliothek von Max Reinhard auf Schloss Leopoldskron (auf die ihn der Leiter der Theatersammlung, Dr. Joseph Gregor, aufmerksam gemacht hatte) blieben vor seinem Zugriff sicher.

    Mit einer aus heutiger Sicht erschreckenden Selbstverständlichkeit grif-fen die beteiligten Bibliothekare auf fremdes Gut zu. Murray G. Hall: „Eines wird man in den vielen Verwaltungsakten allerdings nicht finden: ein Unrechtsbe-wusstsein bzw. die leiseste Spur davon, dass man hier eigentlich mit unredlich angeeig-netem Vermögen zu tun hatte, indem man es post festum zu ‚volks- und staatsfeindli-chem Vermögen‘ erklärte. Im Gegenteil: mit einer verblüffenden Indifferenz wird mit ‚Judenbeständen‘ umgegangen“ [S. 11].

    Für Murray G. Hall bietet der bibliothekarische Berufsalltag ein ganz besonderes Bild, das nicht so recht mit dem Bild des unpolitischen, dem Kulturgut Buch sein Leben widmenden Bibliothekars übereinstimmt: „Überfliegt man den Zeitraum eines knappen Jahrzehnts, gewinnt man den Eindruck, dass Bibliothekare der NB – und beileibe nicht nur sie – primär und pausenlos damit beschäftigt waren, Bücherregale ein- und auszuräumen, und dann wieder einzuräu-men, Listen und Karteien anzufertigen, auszuscheiden, wegzusperren [ ... ], je nach politischer Windrichtung. Dass dadurch hunderttausende Bücher – einmal ‚nichta-rische‘ Schriften, einmal nationalsozialistische Literatur – der Vernichtung zugeführt wurden, ist auch Teil dieser auf weiten Strecken noch nicht erzählten Geschichte“ [S. 12].

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    Manche der Mitarbeiter der Nationalbibliothek brachten es im Laufe ihrer Bibliothekskarriere zu einer beachtlichen Menge von Loyalitätserklä-rungen zu jeweils sehr verschiedenen politischen Systemen wie Erste Re-publik, „Ständestaat“, „NS-Deutschland“, Republik Österreich [S. 8]. Sie verfügten über „Sekundärtugenden“ (Fleiß, Verlässlichkeit, Arbeitsbereit-schaft ...), die auch in unterschiedlichen politischen Systemen einsetzbar waren. Sie haben durchwegs „gute“ Arbeit geleistet und ihre professio-nellen Fähigkeiten auch nach 1945 zum Wiederaufbau des Bibliotheks-wesens einsetzen können, zu dessen Korrumpierung sie selbst vor 1945 beigetragen hatten. Dazu kam, dass bis in die jüngste Gegenwart hinein ihr bibliothekarisches Handeln hinter einer sprachlichen Nebelwand verdeckt blieb. In einem Postskriptum zu ihrer 2003 erschienen Untersuchung des Bücherraubs in der NS-Zeit hat Evelyn Adunka [„Der Raub der Bücher“. Wien, 2002, S. 240] eine Auswahl jener Begriffe präsentiert, mit denen der NS-Bücherraub über die Zeiten hinweg verschleiert wurde. Da ist die Rede von „sicherstellen“, „beschlagnahmen“, „entdecken“, „verwerten“, „sammeln“, „zuweisen“ und „erfassen“. Nicht aber davon, worum es tat-sächlich ging: um „stehlen“, „rauben“ und „plündern“.

    Die Nationalbibliothek ist – was bisher in seinem ganzen Umfang so nicht wahrgenommen wurde, jetzt aber mit der Veröffentlichung des Aus-stellungskatalogs nicht mehr zu übersehen ist – im NS-System eine Dreh-scheibe gewesen, wo Bücher „erworben“, teils für die Bibliothek selbst genutzt, teils an andere Bibliotheken und interessierte Institutionen wei-tergegeben wurden. Auch nach 1945 war ihr neuerlich eine Sortierungs- und Verteilungsfunktion zugedacht: Wiederum wurden Bücher – diesmal aus der Verlassenschaft des NS-Regimes – sortiert, teils in den Bestand aufgenommen, teils an andere Bibliotheken verteilt. Der Rest verblieb als „Altbestand“ in der Bibliothek und wurde nach und nach gesichtet und dann ausgeschieden oder in den Bestand der Bibliothek aufgenommen.

    Nun zeigte sich auch mit aller Deutlichkeit, welchen Umgang der von Bibliotheken mitorganisierte Bücherraub im Nationalsozialismus ange-nommen hatte. In den Ausstellungskatalog sind dazu zwei Beiträge aufge-nommen worden. Evelyn Adunka beschreibt in ihrem Beitrag die Geschich-te der Zentralbibliothek der „Hohen Schule“ der NSDAP in Tanzenberg/Kärnten, und Ingo Zechner dokumentiert am Beispiel der Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde Wien den Weg von der „Entziehung“ zur „Restitution“. In beiden Geschichten ist ein direkter Zusammenhang zur Österreichischen Nationalbibliothek gegeben.

    1950 war an der Nationalbibliothek unter der Leitung von Alois Jesinger (des 1945 aus dem Dienst entlassenen Direktors der Universitätsbibliothek

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    Wien 1938–1945!) eine „Büchersortierungsstelle“ eingerichtet worden, de-ren Aufgabe es war, aus den Restbeständen der in der NS-Zeit enteigneten Bücher diejenigen herauszusuchen, die zur Restitution vorzusehen waren. Ein Problem bildete das sogenannte herrenlose Gut – Bücher also, deren Eigentümer nicht mehr festzustellen waren. Nach dem Abschlußbericht über die „Büchersichtung in der Neuen Hofburg“ vom November 1951 waren etwas mehr als 230.000 Bücher bearbeitet worden. Knapp 186.000 wurden österreichischen Bibliotheken und Büchereien überlassen – davon etwa 151.000 der Universitätsbibliothek Wien und etwas mehr als 23.000 der Österreichischen Nationalbibliothek. Der Rest war zu restituieren bzw. für die Restitution vorgesehen. Den Beteiligten konnte/musste allerdings schon klar gewesen sein, dass die Eigentumsrechte an den Büchern, de-ren Vorbesitzer nicht festgestellt werden konnten, zweifelhaft waren. Die Bibliotheken hatten deshalb bei der Übernahme dieser Bücher auch eine Erklärung zu unterzeichnen, wonach sie diese bis zur Klärung der Eigen-tumsfrage bzw. der endgültigen Zuweisung zunächst nur in „treuhändige Verwahrung“ übernahmen [S. 95].

    Dass hinter der NS-Politik des Bücherraubs konkrete Lebensschicksale standen, wird in jenem Teil des Katalogs deutlich, in dem an einigen aus-gewählten Beispielen die Geschichte der geraubten Bibliotheken und ihrer Besitzer dargestellt wird. Gegenstände dieser detaillierten und fundierten Spezialstudien sind: die Spezialbibliothek des Albanologen und Bibliothe-kars Norbert Jokl, die die Begehrlichkeit nicht nur seiner Fachkollegen an der Universität, sondern auch die des Direktors der Nationalbibliothek erregt hatte; die einzigartige Fotosammlung Raoul Kortys, deren Rückstel-lung nach 1945 am mangelnden Entgegenkommen der Österreichischen Nationalbibliothek und der Verkennung ihrer Mittäterschaft in der NS-Zeit scheiterte; die unter fragwürdigen Umständen von der Nationalbibliothek „erworbene“ Autografensammlung der Sprachwissenschaftlerin und Ro-manistin Elise Richter und ihrer Schwester Helene; die Mitte 1938 von der Gestapo beschlagnahmte und zur Gänze an die Nationalbibliothek überstellte Bibliothek Oscar C. Ladners; Handschriften und Inkunabeln aus der Bibliothek Hugo Friedmanns, die ungeachtet ihrer Exlibris, die den Bearbeitern zu denken hätten geben können, 1948 an der Österreichischen Nationalbibliothek mit dem lapidaren Vermerk inventarisiert wurden „aus altem Bestand, während der Kriegszeit 1939–1945 der Handschriftensammlung zugewiesen“; die Bibliothek von Stefan Auspitz, die sich die Nationalbibli-othek 1943 unter günstigen Kaufbedingungen durch eine Intervention bei der Gestapoleitstelle Wien sicherte. Die Geschichte dieser Büchersamm-lungen konnte im Zuge der Provenienzforschung nun zum großen Teil

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    geklärt und noch notwendige Rückstellungen in die Wege geleitet werden. Auch das Schicksal ihrer Besitzer/Besitzerinnen ist nun bekannt: Norbert Jokl wurde im Mai 1942 in die Nähe von Minsk, Elise und Helene Richter und Hugo Friedmann im Oktober 1942 in das Konzentrationslager There-sienstadt deportiert. Sie haben nicht überlebt. Stefan Auspitz, der 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde, ist Ende 1945 in Wien an den Folgen seiner Haft gestorben. Oskar L. Ladner gelang es, sich 1938 nach Kanada zu retten.

    Die Provenienzforschung an der Österreichischen Nationalbibliothek und ihre Ergebnisse zeigen deutlich: Wer von Bücherraub in der NS-Zeit redet, der muss auch von den Opfern bibliophiler und bibliothekarischer Begehrlichkeiten sprechen.

    *

    Nachbemerkung: Die österreichische Nationalbibliothek war wohl der aktivs-te, aber sicher nicht der einzige Profiteur der NS-Bücherraubs. Ohne den zu erwartenden Ergebnissen detaillierter Forschungsarbeiten vorzugreifen, kann schon jetzt festgehalten werden, dass das gesamte österreichische Bibliothekswesen, sicherlich mit je verschiedener Intensität und Verant-wortung, die Angebote des NS-Systems genutzt und gewiss auch zum Teil aktiv unterstützt hat. Sicherheit kann hier nur die konkrete und aufwendige Provenienzforschung bieten. An der Universitätsbibliothek Wien ist derzeit ein Projekt in Arbeit, das die Erwerbungen der Bibliothek 1938 bis 1945 einer genauen Bestandsaufnahme unterziehen soll. Der Abschluss des Pro-jekts und ein Endbericht sind für 2006 vorgesehen. Für den Bereich „Tan-zenberg“ liegen bereits erste Ergebnisse vor. Im Rahmen einer Projektarbeit für den „Interuniversitären Universitätslehrgang Master of Science (MSc) Library and Information Studies“ wurden in einer Stichprobe bisher etwa 250 Bücher erfasst. Sie sind im OPAC der UB Wien im Suchformular mit der Eingabe „Tanzenberg“ leicht zu recherchieren. Dort finden sich auch weitere Hinweise auf das Projekt. Seit Dezember 2005 ist an der Universi-tätsbibliothek Wien auch eine Projektgruppe eingerichtet, die sich speziell den Problemen der Provenienzforschung und der Restitution im dezentra-len Bereich der Bibliothek widmen wird.

    Dr. Peter MalinaProjektleiter „Erwerbungen aus der Zeit

    1938–1945 in der Universitätsbibliothek Wien“c/o Universität Wien – Bibliotheks- und Archivwesen

    Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 424 Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 25

    Anlage 1Jüdischer Buchbesitz als Beutegut. Eine Veranstaltung des Niedersächsischen Landtages und der Niedersächsischen Landesbibliothek. Symposium im Nie-dersächsischen Landtag am 14. Novem-ber 2002. Hannover, 2003 (Schriftenrei-he des Niedersächsischen Landtages zu Themen, die für die Öffentlichkeit von Interesse sind 50).

    Peter Schulze, Die Ausstellung „Seligmanns Bücher“. Enteignete Bücher als histori-sche Quellen (11–16)

    Klaus-Dieter Lehmann, Restitution jüdischen Kulturgutes als Aufgabe der deutschen Kulturpolitik (17–24)

    Anja Heuss, Bücherraub in der Zeit des Na-tionalsozialismus – Akteure und Struk-turen (25–34)

    Veronika Albrink, Wille oder Postulat? Die „Handreichung zur Auffindung NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes“ (35–42)

    Jürgen Babendreier, „... wissenschaftlich fast ausnahmslos wertlos“. Search-and-find-Indikatoren für NS-verfolgungsbedingt entzogenes Biblio-theksgut (43–52)

    Bernd Reifenberg, Die Ermittlung von NS-Raubgut in der Universitätsbiblio-thek Marburg. Ein Praxisbericht (53–58)

    Ingo Toussaint, „Judenbücher“. Über den Umgang mit fremdem Eigentum in wissenschaftlichen Bibliotheken der Nazizeit. Beispiele aus Baden (59–65)

    Berndt von Egidy, Fund und Restitution der Bibliothek Cäsar Hirsch (66–70)„Hannoverscher Appell“ des Symposiums „Jüdischer Buchbesitz als Beute-

    gut“ vom 14. November 2002 (71) Antrag der Fraktion von SPD, CDU und der Grünen im Niedersächsischen

    Landtag „Jüdischer Buchbesitz als Raubgut“ in öffentlichen Bibliothe-ken Niedersachsens (72–73)

    Auszug aus dem Stenographischen Bericht über die Beratungen zu dem Antrag in der Plenarsitzung des Niedersächsischen Landtags vom 24.01.2003 (74–78)

    Literaturauswahl (79–82)

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 426 Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 27

    Anlage 2Sven Kuttner, Bernd Reifenberg (Hrsg.): Das bibliothekarische Ge-dächtnis. Aspekte der Erinnerungskultur an braune Zeiten im deutschen Bibliothekswesen. Marburg, 2004 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 119).

    Peter Vodosek, „Reflex der Verdrängung“. Zur Rezeptionsgeschichte eines schwierigen Themas (10–22)

    Jürgen Babendreier, Kollektives Schweigen? Die Aufarbeitung der NS-Ge-schichte im deutschen Bibliothekswesen (23–53)

    Manfred Komorowski, Wissenschaftliche Bibliothekare in der NS-Zeit. For-schungstendenzen der letzten 15 Jahre (54–65)

    Auswahlbibliographie (65–83) Sven Kuttner, Der Bibliothekar, die Universität und die Vergangenheit: Joa-

    chim Kirchner und die Universitätsbibliothek München (84–96)Bernd Reifenberg, Braune Erblast im Regal. Zum Umgang mit NS-Raubgut

    (97–110)

    Anlage 3Murray G. Hall, Christina Köstner, Margot Werner (Hrsg.): Geraubte Bücher. Die Österreichische Natio-nalbibliothek stellt sich ihrer Vergangenheit. Wien, 2004.

    Christina Köstner, „Für Jürgens bleiben auf jeden Fall Mas-sen“. Die Erwerbungspolitik der Nationalbibliothek zwi-schen 1938-45 (30–41)

    Margot Werner, Der Umgang der ÖNB mit ihrer NS-Ver-gangenheit (42–53)

    Ernst Bacher, Warum erst jetzt? Warum so spät? Proveni-enzforschung und Restituti-on seit 1998 (54–60)

    Grit Nitzsche, Die Bücherverwer-tungsstelle Wien (61–70)

  • Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 426 Mitteilungen der VÖB 58 (2005) Nr. 4 27

    Evelyn Adunka, Die Zentralbibliothek der Hohen Schule in Tanzenberg (71–81)

    Ingo Zechner, Die Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Ent-stehung – Entziehung – Restitution und so genannte „herrenlose“ Bü-cher (82–103)

    Mechthild Yvon, Der jüdische Albanologe Norbert Jokl und seine Biblio-thek. Spielball zwischen Begehrlichkeit und akademischer Solidarität? (104–117)

    Margot Werner, Raoul Korty – „Der Mann, der in drei Zimmern die Weltge-schichte eingefangen hat“ (118–127)

    Thierry Elsen – Robert Tanzmeister, In Sachen Elise und Helene Richter. Die Chronologie eines „Bibliotheksverkaufs“ (128–138)

    Sophie Lillie, „... eine traurige, lange Geschichte ...“. Die Enteignung der Bibliothek und Kunstsammlung Oscar L. Ladner (139–148)

    Margot Werner, „Ex Biblioteca Hugo Friedmann Vindobonensis“ – Eine Spu-rensuche (149–158)

    Michael Wladika, Der Raub der Bibliothek von Stefan Auspitz (159–169)Verzeichnis der ausgestellten Objekte (170–179)

    Ergänzende Hinweise

    Die Ergebnisse der 5. Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte 1988 sind publiziert unter: Peter Vodosek – Man-fred Komorowski (Hrsg.): Bibliotheken während des Nationalsozialismus. 1.2. Wiesbaden, 1889-1992 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens. 16).

    Der Langfassung des Endberichts der Österreichischen Nationalbibliothek ist auf CD-ROM dokumentiert. Die Österreichische Nationalbibliothek ist gerne bereit, alle in diesem Zusammenhang gestellten Anfragen zu vermissten bzw. entzogenen Bibliotheken zu beantworten. Kontakt: Mag. Margot Werner. E-Mail: [email protected].

    Die Grundsätze der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden sind in der „Lost-Art-Intern-Database“ (Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste: Turmschan-zenstraße 32 – 39114 Magdeburg) zu finden: http://www.lostart.de/stelle/grundsaetzewashington.php3?lang=german. Dort auch eine umfangreiche Literaturliste zum Problemkomplex „Raub- und Beutekunst“).

    mailto:[email protected]://www.lostart.de/stelle/grundsaetzewashington.php3?lang=germanhttp://www.lostart.de/stelle/grundsaetzewashington.php3?lang=german

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    „IMMER SCHON EIN SCHWIERIGES VERHÄLTNIS“: POLITIK UND BIBLIOTHEKEN

    Von Peter Vodosek

    „... so wird es nunmehr darauf ankommen, ... vor allem durch die fortgesetzte Beeinflussung der öffentlichen Meinung prakti-sche Kulturpolitik zu treiben“.1

    Vorbemerkung

    Wenn* die Veranstalter einer Tagung mit dem hochaktuellen Thema „Politik und Bibliotheken“ einen Historiker einladen, das Auftaktreferat zu halten, sind sie entweder Nietzsche-Jünger – „Vom Nutzen und Nachteil der Histo-rie für das Leben“ – oder sie wollen einen Beitrag zum Schiller-Jahr leisten – „Was heißt und zu welchem Ende studiert man [Bibliotheks]Geschichte“. Heimo Gruber hat mir in seiner Anfrage geschrieben: „Für den Historiker allein ist die Materie ,Politik und Bibliotheken‘ unerschöpflich“. Wie hat schon Thomas Mann seinen Roman „Joseph und seine Brüder“ begonnen? „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ Ich kann ihm nur in aller Bescheidenheit beipflichten, weshalb ich aber befürchte, nur an der Oberfläche bleiben zu können.

    Ich werde meinen Beitrag in vier bis fünf Blöcke gliedern:1. Einige Überlegungen zum Begriff „Bibliothekspolitik“2. Eine knapper Rückblick, nicht gerade bis Adam und Eva, aber bis in

    die Antike3. Zur Entwicklung in Deutschland nach 19454. Bibliothekspolitik soweit ich sie selbst beobachtet, betrieben und

    – pathetisch ausgedrückt – erlitten habe. Dabei werde ich den Ak-zent auf Baden-Württemberg, den geographischen Schwerpunkt meiner Berufstätigkeit, legen.

    5. Bibliothekspolitik – ein eindeutiger Begriff?

    1. Bibliothekspolitik

    Zunächst sollten wir uns klar darüber werden, was wir unter Bibliotheks-politik überhaupt verstehen wollen. Der gelernte Auskunftsbibliothekar greift naheliegender Weise zu einem Nachschlagewerk. Aber weder die spärlich gesäten deutschsprachigen Lexika zum Bibliothekswesen noch die

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    englischsprachigen Fachenzyklopädien wie die monumentale vielbändige „Encyclopedia of Library and Information Science“ (ELIS) oder die ein-bändigen „World Encyclopedia of Library and Information Science“ und „International Encyclopedia of Library and Information Science“ kennen ein entsprechendes Stichwort, obwohl in einschlägigen Fachwörterbüchern wenigstens „library politics“ zu finden ist. Am ehesten werden wir fündig, wenn wir uns mit „Bibliotheksplanung“ oder „Büchereiplanung“ zufrieden geben. „Amerika, du hast es besser, als unser Kontinent der alte“ – par-don, es muß natürlich DDR heißen! In der 2. Auflage des „Lexikons des Bibliothekswesens“ von 1974 erfahren wir von Gotthard Rückl Folgendes über „Bibliotheksplanung“, ein Terminus, der in der DDR synonym für Bi-bliothekspolitik gebraucht wurde: „Planung im Sozialismus beruht auf wis-senschaftlich begründeter Vorausschau, ist ein grundlegender Bestandteil sozialistischer Leitungstätigkeit zur auf dem Prinzip der gesetzmäßigen Ein-heit von Ökonomie, Politik, Ideologie und Kultur beruhenden planmäßigen proportionalen Entwicklung des sozialistischen Reproduktionsprozesses und aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. In der kapitalistischen Ge-sellschaft, unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen, fehlt die reale Basis für eine gesamtgesellschaftlich orientierte Bibliotheksplanung“.2 Ist vielleicht das die Begründung dafür, warum bei uns immer wieder Defizite beim bibliothekspolitischen Handeln beklagt werden? Bleibt zur Auskunft noch das Internet. Am 10. Mai 2005 wies „Google“ 518 Websites nach, in denen das Stichwort „Bibliothekspolitik“ vorkam. Ein Beitrag, der sich grundsätzlich mit dem Problem befaßte, war nicht darunter.

    Dabei steht am Anfang des modernen öffentlichen Bibliothekswesens ein Buch, welches das Wort „Politik“ programmatisch sogar in seinem Titel trägt: „Politik der Bücherei“ von Paul Ladewig, 1912 das erste Mal er-schienen.3 Wilhelm Brambach, einer der bedeutenden Altvorderen unserer Branche, leitete das erste Kapitel ein wie folgt: „Die Bezeichnung ‚Politik‘ umfaßt begrifflich eine schöpferische Kunst. Hier ist es die der Wegführung zu einem bedeutsamen Problem der Tat, zu dem der geistigen Hochführung des Staatsbürgers im Interesse der Staatsgemeinschaft durch das Mittel des Buches. […] Erst dann wird die Bücherei ein politisches Instrument, wenn sie auf der ganzen Linie im Sinne einheitlich verfolgt wird.“ „Geistige Hochführung des Staatsbürgers im Interesse der Staatsgemeinschaft“, in zeitgemäßes Deutsch übersetzt, könnte heißen „lebenslanges Lernen und kritischer Umgang mit Information“.

    „Politik der Bücherei“ meint aber nur eine Seite der Medaille: Welche Politik verfolgt die Bibliothek, welche Aktivitäten entfaltet sie, um die Rea-lisierung ihrer Ziele mit Hilfe politischer Strategien zu erreichen. Die andere

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    Seite, die es auch noch zu berücksichtigen gilt, wird gerne übersehen: Wie hat die Politik die Bibliotheken dazu benutzt, i h r e Ziele durchzusetzen? Davon soll am Anfang des nächsten Abschnitts die Rede sein und zwar anhand einiger Beispiele.

    2. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“ – Rückblick

    Die erste Bibliothek, von der wir reichlich Zeugnis besitzen, ist die um 300 v. Chr. gegründete Bibliothek von Alexandria. Historiker sehen in ihrer Grün-dung nicht nur eine kulturpolitische Maßnahme zur Sicherung der Herr-schaft der Ptolemäer, sondern sogar den Versuch, die nie erreichte politische Einheit der hellenistischen Staaten durch eine kulturelle wettzumachen.4

    Ein Jahrtausend später könnte man eine vergleichbare Intention der Schul- und Bildungsinitiative Karls des Großen einschließlich seiner För-derung der Buch- und Bibliothekskultur unterstellen, die zu einer religiös-kirchlichen „Reichskultur“ führen sollte.5

    Springen wir noch einmal ein Jahrtausend weiter! Um dem Genius loci zu huldigen, soll wenigstens kurz an die Mariatheresianische Bibliotheksreform erinnert werden, die mit dem Hofdekret vom 30. April 1778 ihren Abschluss gefunden hat und europaweit die erste für alle in staatlicher Trägerschaft befindlichen Bibliotheken geltende Instruktion gewesen ist, eine bibliotheks-politische Maßnahme, die sich bis in die jüngste Vergangenheit ausgewirkt hat.6 Nur wenige Jahre später: Als die Revolutionsheere der Französischen Republik die Grenzen überschritten, begann der erste und leider nicht der letzte systematische, politisch begründete Kulturraub der Geschichte, von dem in großem Umfang auch Bibliotheken betroffen waren. Und wie lau-tete die ideologische Rechtfertigungsdoktrin vom „patrimoine libéré“, vom „befreiten Kulturerbe“? Kunst und Kultur seien ein Produkt der Freiheit. Sie müßten vom Joch der Unterdrückung befreit werden und im Lande der Frei-heit, Frankreich, zum Wohle der Menschheit ihre Heimstatt finden.7

    Wenn wir nun zu der Frage übergehen, wann die ersten bibliotheks-politischen Ansätze von seiten der Betroffenen – oder wollen wir in Zeiten patriarchalischer Fürsorge eher f ü r die Betroffenen sagen? – einsetzen, könnte man mit der Aufklärung beginnen. Um aber nicht zu enzyklopä-disch zu verfahren, setzen wir gleich in der Mitte des 19. Jahrhunderts fort und wollen uns dabei auf Deutschland beschränken. Im Umfeld der Revolution von 1848 ist es die Arbeiterbewegung, die zum ersten Mal bi-bliothekspolitische Forderungen an den Staat heranträgt: in Leipzig der sächsische und in Nürnberg der bayerische Arbeiterkongreß sowie das

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    „Centralkomitee für Arbeiter“ in Berlin verlangen die unentgeltliche Errich-tung von Volksbibliotheken.8

    In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts beobachten wir dann eine neue Entwicklung. Nunmehr gehen die bibliothekspolitischen Aktivitäten nicht direkt von den Betroffenen oder vom Staat bzw. der öffentlichen Hand aus. Vielmehr engagiert sich das staatstragende Bürgertum im Sinne einer „Appeasement-Politik“, um auf dem Umweg über eine verbesserte Volks-bildung radikaleren Forderungen nach gesellschaftlicher Umgestaltung entgegenzuwirken.9

    In Deutschland wird dies im Gründungsaufruf für eine „Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung“ vom Juli 1871 manifest, die später zur Hauptinitiatorin, Förderin und Trägerin kleinerer Volksbibliotheken gewor-den ist. Der Aufruf sieht die Notwendigkeit einer Verbesserung der Volks-bildung sowohl angesichts staatsgefährdender „sozialistischer Bestrebun-gen“ als auch in dem zunehmenden politischen Einfluß „ultramontaner“, also katholischer, Machtansprüche im neuen Kaiserreich.10 Noch 25 Jahre danach glaubte der sonst so verdiente Constantin Nörrenberg, einer der Gründerväter der Bücherhallenbewegung und damit eines modernen öf-fentlichen Bibliothekswesens, in dieses politische Horn stoßen zu müssen. Er schrieb: „Gar nicht ernst zu nehmen ist der Vorwurf, dass eine solche Bibliothek die Sozialdemokratie fördere. […] Man beachte doch die schla-gende Thatsache: England und Amerika haben seit Jahrzehnten viele und gute Volksbibliotheken und fast gar keine Sozialdemokraten; Deutschland hat wenig und kärgliche Volksbibliotheken und viele Sozialdemokraten“.11

    Mit der Ausrufung der Republik 1918 schienen für das Bibliotheks-wesen politisch bessere Zeiten anzubrechen. Dank des Engagements des damaligen Direktors der Universitätsbibliothek Bonn, Wilhelm Ermann, gelang es, in die Weimarer Verfassung vom 14. August 1919 einen Artikel 10 aufzunehmen, der vorsah, dass das Reich „im Wege der Gesetzgebung Grundsätze aufstellen“ dürfe, „auch für das wissenschaftliche Büchereiwe-sen [!]“. Mit dem Vorschlag, „die Einwirkung der Reichsgesetzgebung auf das volkstümliche Bibliothekswesen auszudehnen“, ist er aber bei der Nati-onalversammlung nicht durchgedrungen.12 Der Artikel 148 der Verfassung sprach ferner allgemein davon, dass „das Volksbildungswesen […] von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert“ werden solle. Die noch 1927 von einigen Volksbildnern gehegte optimistische Einschätzung „Volksrecht bedingt Volksbildung, Massenherrschaft bedingt Massenhebung. Das Reich hat dies erkannt und durch Verfassungsvorschrift die Bildungspflege sich ebenso wie den Ländern und Gemeinden zur Pflicht gemacht“, blieb mangels Mittel illusorisch.13

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    Dass das NS-Regime das Bibliothekswesen politisch sofort vereinnahm-te, braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Weniger bekannt dürfte allerdings sein, dass die Volksbibliothekare die Gunst der Stunde nutzen wollten, um sich einen lang gehegten Traum zu erfüllen und ein Reichsbü-chereigesetz auf den Weg zu bringen. Zunächst leitete Johannes Langfeldt, damals Direktor der Stadtbücherei Mülheim an der Ruhr, auf Veranlas-sung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler dem Reichsminister des Innern und dem Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung einen entsprechenden Gesetzentwurf zu. Kurze Zeit später beschäftigte sich der Direktor der Berliner Stadtbibliothek und als Vorsit-zender des Verbandes Deutscher Volksbibliothekare „Führer der deutschen Volksbibliothekare“, Wilhelm Schuster, mit dem Entwurf eines Rahmen-gesetzes.14 Es ist am Widerstand der Gemeinden gescheitert, welche die damit auf sie zukommenden Kosten nicht übernehmen wollten. Hier lagen also auch die Grenzen einer Diktatur!

    Bevor wir uns der jüngeren Entwicklung zuwenden, wollen wir als Zwi-schenergebnis festhalten, dass es in den hinter uns liegenden 100 Jahren keineswegs an Vertretern unseres Berufsstandes gefehlt hat, die biblio-thekspolitisch dachten und handelten. Wie erfolgreich sie damit waren, steht auf einem ganz anderen Blatt. Dass sie in ihrem Engagement für die Sache vereinzelt auch über das Ziel hinaus schossen, zeigt eine Persön-lichkeit wie Walter Hofmann, der 1918 wie 1933 und noch nach 194515 ernsthaft glaubte, die jeweils Herrschenden vor den Karren seiner Büche-reiideologie spannen zu können.

    3. Nachhaltige Bibliothekspolitik nach 1945?

    Wirft man einen Blick auf die Vielzahl von Empfehlungen, Leitsätzen, Gutachten, Richtlinien und Plänen für das Bibliothekswesen, die zwischen 1948 und heute vorgelegt worden sind,16 möchte man ob der nicht auf-gegriffenen Anregungen, gescheiterten Initiativen und vertanen Chancen zunächst mutlos werden. „Nachhaltig“ waren wohl überwiegend die Be-mühungen, weniger die Erfolge. Aber es gibt, wie einmal klug bemerkt worden ist, eine Realität unterhalb der bibliothekspolitischen Theorien. Vergleicht man den Stand des deutschen Bibliothekswesens in verschie-denen Stichjahren, zum Beispiel 1914 – 1919 – 1933 – 1945 – 1965 und heute, muß man zu dem Schluss gelangen, dass die Entwicklung insgesamt so negativ nicht zu beurteilen ist. Das gilt gleichermaßen für öffentliche wie für wissenschaftliche Bibliotheken, wobei wir uns hier auf die öffentlichen

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    beschränken wollen. „Haben die Öffentlichen Bibliotheken in den vergan-genen Jahren nicht einen beachtlichen Entwicklungsstand und als öffent-liche Informationseinrichtungen eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung erreicht?“ hat jüngst erst die Zeitschrift „BuB. Forum für Bibliothek und Information“ gefragt.17 Woher also das Gefühl des Ungenügens? Hat man die Messlatte immer zu hoch angelegt?

    Wie wir bereits festgestellt haben, hat in bibliothekarischen Kreisen ein Bibliotheksgesetz immer als das oberste Ziel aller politischen Bemühungen gegolten, weil man sich, die Erfolge in Ländern mit entsprechenden Re-gelungen vor Augen, eine Verbesserung der eigenen Situation versprach.18 1950 forderten die Teilnehmer des Heidelberger Volksbüchereitages in ei-ner Entschließung ein „Büchereigesetz für Deutschland“.19 Einem Bundes-gesetz standen aber allein schon verfassungsrechtliche Gründe im Wege, da der Bund durch die grundgesetzlich garantierte Kulturhoheit der Länder auf diesem Gebiet über keine Gesetzgebungskompetenz verfügte und ver-fügt. Der immer wieder zur Begründung entsprechender bibliothekarischer Forderungen herangezogene Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz „Jeder Mensch hat das Recht […] sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“ beinhaltet nach der Auslegung führender Verfassungsjuris-ten weder die Verpflichtung des Staates, Bibliotheken zu finanzieren noch bietet sie Handhabe, daraus gar den Anspruch auf gebührenfreie Benut-zung abzuleiten.

    Obwohl also der Schwarze Peter bei den Ländern lag, scheute man in der Bundesrepublik vor entsprechenden Gesetzesinitiativen zurück. In der DDR wurden zwar Büchereigesetze in den Ländern vorbereitet und in Sachsen am 4. Februar 1949 ein „Gesetz zur Demokratisierung des Büche-reiwesens“ sogar verabschiedet20, doch machte die Auflösung der Länder 1952 diese Maßnahme obsolet. Für den nunmehr zentralistisch organi-sierten „Arbeiter- und Bauernstaat“ traten an die Stelle eines Gesetzes die sogenannten „Kulturverordnungen“ und schließlich die „Verordnung über die Aufgaben des Bibliothekssystems bei der Gestaltung des industriellen gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der Deutschen Demokrati-schen Republik“ vom 31. Mai 1968.21

    Der Deutsche Büchereiverband (DBV) ergriff 1970 noch einmal die Initiative und erarbeitete „Grundsätze und Normen für die Büchereigesetz-gebung in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland“, aber nur ein Bundesland, nämlich Baden-Württemberg, entschloss sich 1971, ein Ge-setz auf den Weg zu bringen. Jüngst schließlich hat das Strategiekonzept „Bibliothek 2007“ ein Bildungs- und Informationsgesetz als „langfristig die richtige Lösung“ vorgeschlagen, doch davon später.

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    Dass die Bibliothekare mit diesem Zustand nicht zufrieden sein konnten, liegt auf der Hand. Offenbar empfand aber auch die politische Gegenseite das Unbefriedigende der Situation. Anders ist die Vielzahl von offiziellen und offiziösen Verlautbarungen nicht zu erklären. Die KMK (die Ständige Konferenz der Kultusminister), einzelne Kultusministerien, die Kommuna-len Spitzenverbände wie Deutscher Städtetag und Deutscher Städtebund und die Parteien CDU, CSU und SPD sowie sonstige Berufene und Unberu-fene verabschiedeten in schöner Regelmäßigkeit Empfehlungen, Entschlie-ßungen, Leitsätze, Richtlinien und schrieben sie sogar ebenso regelmäßig fort. Sie alle hatten etwas gemeinsam: ihre Unverbindlichkeit, was die Um-setzung betraf und was schon die Begrifflichkeit zum Ausdruck brachte.

    Von bibliothekarischer Seite versuchte man mit Papieren wie den Bibli-otheksplänen von 1969 und 1973 bibliothekspolitische und regionalpla-nerische Impulse zu setzen sowie Normen und Standards vorzugeben. Lei-der zeichneten sie sich durch die gleiche Unverbindlichkeit aus. In Verbin-dung mit den Gutachten „Kommunale Öffentliche Bücherei“ (1964) und „Öffentliche Bibliothek“ (1973) der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) hatten die Vertreter der Öffentlichen Bibliotheken immerhin Instrumente in der Hand, die sie gegenüber ihren Kommunen als Argumentationshilfe einsetzen konnten. Die Gemeinden trauten der KGSt als einer von ihnen und für sie geschaffenen neutralen Einrichtung natürlich eher als dem Lobbyismus der bibliothekarischen Verbände. So waren vor Ort, wenn auch nur endemisch, durchaus Erfolge, teilweise beachtliche Erfolge, zu erzielen.22

    Ausnahmen bestätigen die Regel: einzig in zwei Stadtstaaten, nämlich in der Freien und Hansestadt Hamburg und im Land Berlin, kam es zu effektiven, quasi-legislativen Regelungen. Der Aufbauplan Hamburg vom 8. März 1955 und der Aufbauplan für das Berliner Büchereiwesen vom 31. März 1955, das sogenannte Berliner Büchereigesetz, verschafften den Bibliotheken in beiden Ländern einen erheblichen Vorsprung gegenüber den Flächenstaaten, der aber bedauerlicherweise mit dem Auslaufen der von vornherein befristeten Förderung nach einigen Jahren wieder verloren-ging.23

    4. Zeitzeuge der Bibliothekspolitik

    Die nachfolgenden Ausführungen betrachten die Bibliothekspolitik durch eine subjektiv eingefärbte Brille: Bibliothekspolitik soweit ich selbst in sie involviert war.

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    Meine Berufung an das ehemalige Süddeutsche Bibliothekar-Lehrinsti-tut in Stuttgart zum Wintersemester 1969/70 fällt mit der Vorgeschichte des baden-württembergischen Gesetzes zur Förderung der Weiterbildung und des Bibliothekswesens zusammen. 1964 hatte der Pädagoge Georg Picht die deutsche Bildungskatastrophe proklamiert. Als Folge gab das Kultusministerium Baden-Württemberg das sogenannte „Picht-Gutach-ten“ in Auftrag, das im Mai 1968 veröffentlicht wurde.24 Es sah ein koope-ratives System der Erwachsenenbildung vor, in dem auch das öffentliche Bibliothekswesen seinen Platz fand. Auf dieser Grundlage kündigte der da-malige Ministerpräsident Hans Filbinger in einer Regierungserklärung vom 16. September 1970 ein Gesetz zur Förderung der Erwachsenenbildung an. Im April 1971 lag ein Referentenentwurf auf meinem Schreibtisch, der ein geradezu atemberaubendes Engagement des Landes vorsah:

    – Gemeinden über 10.000 Einwohner sollten verpflichtet werden, eine örtliche Bibliothek einzurichten.

    – Das Land sagte die Übernahme von 40% der Personalkosten für das bibliothekarische Personal zu.

    – Für die Anschaffung, Ergänzung und Erneuerung des Sollbestandes sollten auf Antrag Zuschüsse in Höhe von 50 % gewährt werden.

    – Im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel wurden freiwillige Zu-wendungen für Bibliotheksbau, -einrichtung, für technische Ausstat-tung und für Fahrbibliotheken in Aussicht gestellt.

    Von da an, vom endgültigen Entwurf vom 2. Juli 1971, vom zur Anhö-rung verschickten Entwurf vom 15. April 1973, von der Verabschiedung des Gesetzes im Landtag am 11. Dezember 1975 und der Durchführungs-verordnung von Ende 1978 wurde der Inhalt peu à peu zur „Kenntlichkeit“ entstellt. Übrig blieb die Verheißung, dass das Land Zuschüsse zu den für notwendig erkannten Sachkosten nach Maßgabe des Staatshaushaltspla-nes leisten würde. Doch auch das erschien der Politik noch zu üppig. In einer Gesetzesnovelle vom 20. März 1980 wurde festgehalten, dass die laufenden Aufwendungen kommunaler Bibliotheken durch die Transfer-leistungen im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs abgegolten sei-en. Anlässlich verschiedener Sitzungen und Tagungen habe ich gegen diese besondere Art von „Abschiedssymphonie“ polemisiert. Die Reaktionen auf das schließlich verabschiedete Gesetz will ich nicht vorenthalten. Von bibli-othekarischer Seite übte man sich zum Teil in Bescheidenheit und meinte, dass das Gesetz trotz aller Einschränkungen seinen Wert besäße, weil man nun „einen Fuß in der Türe habe“ – dort ist er auch steckengeblieben –; von ministerieller Seite kam der Hinweis, dass man das Bibliothekswesen durch die Trägerschaft der Staatlichen Fachstellen für das öffentliche

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    Bibliothekswesen und der Fachhochschule für Bibliothekswesen Stutt-gart hinlänglich fördere.25 Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen wird vielleicht meine Skepsis jeglichem Gesetz gegenüber verständlich. Es sei unbestritten, dass ein Bibliotheksgesetz in Zeiten finanzieller Stabilität eine bedeutende Dynamik auslösen kann. In rezessiven Phasen bietet es hinge-gen kaum Schutz, insbesondere dann nicht, wenn zwischen Bibliothekaren und Politikern kein Konsens darüber besteht, wann ein Bibliothekswesen als ausgebaut zu betrachten ist. In einem Gesetz vorgegebene Normen und Standards hingegen bleiben Papier, wenn die Ressourcen zu ihrer Realisie-rung fehlen. Sie haben eine weitere zu beachtende Konsequenz: sind sie zu nieder angesetzt, besteht die Gefahr, dass sich die Träger mit dem untersten Level zufrieden gegen. Sind sie zu hoch bemessen, werden sie von den Trä-gern nicht akzeptiert.

    Nichtsdestoweniger lassen sich auch dem baden-württembergischen Gesetz positive Aspekte abgewinnen, wenn man sich die Förderung nicht in klingender Münze erwartet hat, sondern Auswirkungen, sagen wir in atmosphärischer Hinsicht, als Erfolg verbucht. Es hat durch seine schiere Existenz Impulse ausgelöst, zweifellos auch weil die Zeit dafür günstig war. Der Bauboom der 1980er Jahre wäre möglicherweise ohne den Einfluß des Gesetzes so nicht zu verzeichnen gewesen. Immerhin entstanden seither „Leuchttürme“, wenn auch keine Tilgung sämtlicher weißer Flecken auf der Bibliothekslandkarte erfolgt ist.

    Von den zahlreichen bibliothekspolitischen Aktivitäten, an denen ich be-teiligt war, und die meist in Zusammenhang mit Fragen der bibliothekari-schen Ausbildung, der Forschung und der Lehre an einer Hochschule für In-formationsberufe standen,26 möchte ich als Beispiel meine Erfahrungen im Landesverband Baden-Württemberg des Deutschen Bibliotheksverbandes (dbv) herausgreifen, dessen Vorstand ich von 1996 bis 2002 angehörte.

    Der Landesverband ist wie sein Mutterverband auch ein Institutionen-verband. Seine zur Zeit 112 Mitglieder sind 86 Öffentliche Bibliotheken, die 4 Staatlichen Fachstellen für das öffentlichen Bibliothekswesen, die beiden Landesbibliotheken, die Mehrzahl der Universitäts- und Fachhoch-schulbibliotheken sowie einige Spezialbibliotheken und Informationsein-richtungen der Wirtschaft. Der Vorstand besteht in


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