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Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung?
Was ist (individuelle) mathematische Begriffsbildung?
Florian Schacht 17.12.2013
Eine fachdidaktische Perspektive auf mathematischen Sprachgebrauch im Unterricht am Beispiel der
Differentialrechnung
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung?
Struktur: 1. Motivation zum Vortrag 2. Eine Diskussion um mathematische Begriffe – am Beispiel der
Differentialrechnung 3. Fachdidaktische Konsequenzen 4. Forschungsinteressen 5. Ausblick - Fazit
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Motivation
Fachsprache im Mathema8kunterricht zum Thema
Zufall
Individuelle Begriffsbildung beim Variablenbegriff
Fach-‐ und Werkzeugsprache im Mathema8kunterricht (Differen8alrechnung)
BeschäMigung mit mathema8schen Begriffen Diskussionsanlässe aus mathema8kdidak8scher und mathema8scher Perspek8ve
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung?
Struktur: 1. Motivation zum Vortrag 2. Eine Diskussion um mathematische Begriffe – am Beispiel der
Differentialrechnung 3. Fachdidaktische Konsequenzen 4. Forschungsinteressen 5. Ausblick - Fazit
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Mathematische Begriffe am Beispiel der Differentialrechnung
Die Schüler durchdenken hier ein uraltes epistemologisches Problem (Grenzwertbegriff).
Gibt es überhaupt eine Momentangeschwindigkeit?
Gibt es in einem gewissen Punkt einer Kurve eine Tangente und – wenn ja – wie groß ist ihre Steigung?
Gottfried Wilhelm Leibniz Isaac Newton
Physikalische Herangehensweise: Problem der Momentangeschwindigkeit
1687
1684 Geometrische Herangehensweise: Tangentenproblem
Inkommensurabilität (Pythagoreer, etwa 500 v.Chr.)
Exhaustion (Ausschöpfen durch endlich viele n-Ecke)
„Das nützlichste und allgemeinste Problem“ (Descartes, zit. nach Heuser 1986)
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Mathematische Begriffe am Beispiel der Differentialrechnung
Leibniz
• Entwicklung eines leistungsfähigen Kalküls
• Analytische Präzisierung • Mathematisierung beliebig kleiner Größen • Grundlagen für den Grenzwertbegriff Newton
ε-δ-Definition von Karl Weierstraß
• Zusammenhänge von Differential- und Integralrechnung
Eine präzise Definition des Grenzwerts...
...am Ende eines über 2000 Jahre andauernden Aushandlungsprozesses.
Differen8alrechnung „ermögliche der Mi_elmäßigkeit, Probleme anzugreifen, die bisher nur den Hochbegabten zugänglich gewesen seien“ (Leibniz, zit. nach Heuser 1986, S. 670)
limh→0
f (x0 + h)− f (x0 )h
Präzise Formulierung der Ableitung
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Mathematische Begriffe am Beispiel der Differentialrechnung
Eine Funktion heißt differenzierbar an der Stelle , falls der Grenzwert f : D→ x0 ∈
limh→0
f (x0 + h)− f (x0 )h
existiert. Dieser Grenzwert heißt Ableitung von f nach x in x0.
Beispiel eines mathematischen Begriffsbildungsprozesses.
Lösung eines wichtigen epistemologischen Problems.
limh→0
f (x0 + h)− f (x0 )h
Werkzeug theoretisches Objekt
Zur besonderen Natur mathematischer Begriffe (Sfard 1991)
Ableitung ist praktisch, - zur Bestimmung von
Momentangeschwindikeiten - zur Berechnung von Flugbahnen - zur Bestimmung von Änderungsraten i.A. - zur Bestimmung eines Flächenintegrals
über die Rotation eines Vektorfeldes (Integralsatz von Stokes)
- ...
• Quantifizierung von Änderungsprozessen
• Bestimmung physikalisch nicht messbarer Phänomene (z.B. Momentangeschwindigkeit)
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Mathematische Begriffe am Beispiel der Differentialrechnung
Mathematische Begriffe
„There is a deep ontological gap betweeen operational and structural conceptions“ Anna Sfard (1991)
„Concepts can be tools and objects.“ Gérard Vergnaud (1992)
operationaler Charakter
Algorithmen Prozesse Kalküle
Euklidischer Algorithmus zur Ermittlung des ggT
Dijkstra Algorithmus zum Finden kürzester Wege
Gauß-Verfahren zum Lösen linearer Gleichungssysteme
Ableitungsregeln ...
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Mathematische Begriffe am Beispiel der Differentialrechnung
Mathematische Begriffe
„There is a deep ontological gap betweeen operational and structural conceptions“ Anna Sfard (1991)
„Concepts can be tools and objects.“ Gérard Vergnaud (1992)
operationaler Charakter
Algorithmen Prozesse Kalküle
struktureller Charakter
Beschreibung von Strukturen Existenzaussagen und Zusammenhänge
Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung
Terme zur Beschreibung mathematischer Strukturen
Eigenschaften geometrischer Formen Eulerscher Polyedersatz: E+F-K=2
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Mathematische Begriffe am Beispiel der Differentialrechnung
Mathematische Begriffe
„There is a deep ontological gap betweeen operational and structural conceptions“ Anna Sfard (1991)
„Concepts can be tools and objects.“ Gérard Vergnaud (1992)
operationaler Charakter
struktureller Charakter
Propädeu8k der Ableitung
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Mathematische Begriffe am Beispiel der Differentialrechnung
Mathematische Begriffe
operationaler Charakter
struktureller Charakter
Propädeu8k der Ableitung
Fazit
Bedeutung des Grenzwertes kann in der Schule auf beiden Ebenen – als theoretisches Objekt und als praktisches Werkzeug – auch schon auf propädeutischem Niveau erfahren werden.
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung?
Struktur: 1. Motivation zum Vortrag 2. Eine Diskussion um mathematische Begriffe – am Beispiel der
Differentialrechnung 3. Fachdidaktische Konsequenzen 4. Forschungsinteressen 5. Ausblick - Fazit
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Fachdidaktisches Konsequenzen
Dimensionen der Beschäftigung mit mathematischen Begriffen
1) Ontologie mathematischer Begriffe
Begriff als Werkzeug
Begriff als theoretisches Objekt
2) Genese mathematischer Begriffe
Begriff als Produkt
Begriff als Prozess
3) Strukturierung mathematischer Begriffe
Rolle der Logik
inferentielle Struktur
Klärung der Dimensionen Konsequenzen aus fachdidaktischer Sicht
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Fachdidaktisches Konsequenzen
2) Genese mathematischer Begriffe Begriff als Produkt
Begriff als Prozess
• Mathematische Begriffe sind nicht apriori gegeben • Mathematik entwickelt sich ständig weiter
• Mathematische Fachkultur als Kultur „mit eigenen Werten, Entwicklungsgesetzmäßigkeiten, sozialen Institutionen“ (Prediger 2004, vgl. auch Hersh 1997)
• Mathematische Begriffe entstehen (i.d.R.) in langen Aushandlungsprozessen
• Mathematische Forschung ist auf Austausch angewiesen und geschieht i.d.R. nicht allein hinter verschlossener Türe.
limh→0
f (x0 + h)− f (x0 )h
Mathematik als dynamisches System, das sich ständig weiterentwickelt
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Fachdidaktisches Konsequenzen
2) Genese mathematischer Begriffe Begriff als Produkt
Begriff als Prozess
• (heutige) Mathematik als kulturelles Produkt • Konkrete Probleme als Anlässe für die Entstehung neuer Mathematik
• Mathematik als wichtiger Teil der Gesellschaft (Mathematisierung)
limh→0
f (x0 + h)− f (x0 )h
Mathematik als kulturelles Produkt, dass unser gesellschaftliches Leben (mit) prägt.
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Fachdidaktisches Konsequenzen
• fundamentale Rolle der Logik für den Aufbau mathematischer Systeme • Mathematische Argumentations- und Begründungsweisen sind logisch gegliedert
• Mit Hilfe des logischen Vokabulars werden Relationen zwischen Begriffen beschrieben
• Logisches Vokabular ermöglicht es, inferentielle Relationen zwischen math. Begriffen explizit zu machen
limh→0
f (x0 + h)− f (x0 )h
Rolle der Logik 3) Strukturierung mathematischer Begriffe inferentielle Struktur
Wenn in existiert, dann ist die Funktion f in x0 differenzierbar.
Unvollständigkeitssatz (Gödel): Jedes hinreichend mächtige, rekursiv aufzählbare formale System ist entweder widersprüchlich oder unvollständig.
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Fachdidaktisches Konsequenzen
• Mathematische Zusammenhänge lassen sich inferentiell gliedern
• Mathematische Begriffe sind (über ihre Eigenschaften) eingebettet in eine inferentielle Struktur.
limh→0
f (x0 + h)− f (x0 )h
= 0
Rolle der Logik 3) Strukturierung mathematischer Begriffe inferentielle Struktur
Wenn f in x0 einen Hochpunkt hat, dann ist
Differen8alquo8ent
Satz über lokale Extrema
Mi_elwertsatz
Satz von Rolle
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Fachdidaktisches Konsequenzen
Wichtige (und heikle) Fragen nach fachdidaktischen Konsequenzen aus der Beschäftigung mit Begriffen
• Inwiefern kann der Doppelcharakter mathematischer Begriffe (Werkzeug und theoretisches Objekt) in der Schule erfahren werden?
• Was bedeutet es für die Relevanz mathematischer Gegenstände und das Mathematikbild der Schüler, sie an der Erfahrung teilhaben zu lassen, dass Mathematik historisch gewachsen ist und sich ständig weiterentwickelt?
Zahlentheorie: Satz von Fermat
Diskrete Mathematik
• Inwiefern lässt sich mathematische Fachkultur eigentlich in redlicher Weise in der Schule erfahren?
• Inwiefern kann die inferentielle Struktur von Mathematik in der Schule zum Thema werden?
Digitale Werkzeuge
Relevante Fragen für Fachdidak8ker und Fachmathema8ker!
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung?
Struktur: 1. Motivation zum Vortrag 2. Eine Diskussion um mathematische Begriffe – am Beispiel der
Differentialrechnung 3. Fachdidaktische Konsequenzen 4. Forschungsinteressen 5. Ausblick - Fazit
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Forschungsinteressen
1) Ontologie mathematischer Begriffe
Begriff als Werkzeug
Begriff als theoretisches Objekt
2) Genese mathematischer Begriffe
Begriff als Produkt
Begriff als Prozess 3) Strukturierung mathematischer Begriffe
Rolle der Logik
inferentielle Struktur
(Persönliche) Forschungsinteressen, die sich aus der Beschäftigung mit math. Begriffen ergeben
Normative Ebene
Konstruktive Ebene
Rekonstruktive Ebene
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Forschungsinteressen
(Persönliche) Forschungsinteressen, die sich aus der Beschäftigung mit math. Begriffen ergeben
Normative Ebene Inwiefern verändern sich die mathematischen Gegenstände des Mathematikunterrichts in Zeiten digitaler Medien im Unterricht?
Diskussionspunkt Funktionsuntersuchung
AuMräge: -‐ Beschreibe Zusammenhänge
zwischen einzelnen Punkten und den Tangenten.
-‐ ...
- Entlastung von Umformungen und Rechnungen, aber nicht von der Mathematik (Elschenbroich 2003)
- Wechsel zw. Repräsentationsebenen - Erfahrung von Dynamik
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Forschungsinteressen
(Persönliche) Forschungsinteressen, die sich aus der Beschäftigung mit math. Begriffen ergeben
Normative Ebene Das Verhältnis von Fach- und Werkzeugsprache in einem CAS-gestützten MU
Inwiefern sollten Schüler die Problembearbeitung dokumentieren?
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Forschungsinteressen
(Persönliche) Forschungsinteressen, die sich aus der Beschäftigung mit math. Begriffen ergeben
Kriterien für eine abgestimmte Verwendung von Fach- und Werkzeugsprache
2 Argumente
Produkt (Ergebnisse) und Prozess (Lösungsweg) muss sichtbar werden Formulierung von Standards für die Nutzung von Fach- und Werkzeugsprache
1) Es kann nicht sein, dass eine Lösung einer zentral gestellten Klausuraufgabe für einen Korrektor nur dann verständlich ist, wenn er ein bestimmtes Gerät besitzt. Die Lösung muss allgemein verständlich sein.
2) Schüler müssen ihren Lösungsweg dokumentieren. Wenn sie ein CAS nutzen, müssen sie das auch schriftlich entsprechend fixieren.
Normative Ebene Das Verhältnis von Fach- und Werkzeugsprache in einem CAS-gestützten MU
Inwiefern sollten Schüler die Problembearbeitung dokumentieren?
solve(x2=4, x) ergibt x1=2 und x2=-2 Angemessen?
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Forschungsinteressen
(Persönliche) Forschungsinteressen, die sich aus der Beschäftigung mit math. Begriffen ergeben
Konstruktive Ebene
Welche Konsequenzen ergeben sich für die Konstruktion von Unterrichtsdesigns?
Authentisches Bild mathematischen Tuns
„Roter Kasten“ am Anfang?
Doppelnatur mathematischer Begriffe
Genetische Perspektive auf Mathematik
Bigalke / Köhler (2010): Mathematik. Einführungsphase. Berlin: Cornelsen. S. 117
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung?
Struktur: 1. Motivation zum Vortrag 2. Eine Diskussion um mathematische Begriffe – am Beispiel der
Differentialrechnung 3. Fachdidaktische Konsequenzen 4. Forschungsinteressen 5. Ausblick - Fazit
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung? Forschungsinteressen
1) Ontologie mathematischer Begriffe
Begriff als Werkzeug
Begriff als theoretisches Objekt
2) Genese mathematischer Begriffe
Begriff als Produkt
Begriff als Prozess 3) Strukturierung mathematischer Begriffe
Rolle der Logik
inferentielle Struktur
(Persönliche) Forschungsinteressen, die sich aus der Beschäftigung mit math. Begriffen ergeben
Normative Ebene
Konstruktive Ebene
Rekonstruktive Ebene
Faszina8on Begriff
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung?
Mathematische Begriffe in Schule und Universität
Inwiefern sind mathematische Begriffe an Schule und Universität als Produkt und als Prozess erfahrbar?
Inwiefern kann gelingt es uns, Mathematik(treiben) und mathematische Fachkultur authentisch erfahrbar werden zu lassen?
Interessant aus der Perspek8ve der Mathema8k und der Mathema8kdidak8k!!!
Welche Auswirkungen hat der Einsatz digitaler Werkzeuge auf die zu erlernenden mathematische Begriffe?
- spannende aktuelle mathematische Fragestellungen - Kreativität im Arbeitsprozess
Vielen Dank!
Florian Schacht Was ist mathematische Begriffsbildung?
Literatur: Ableitinger, Christoph / Heitzer, Johanna (2013): Grenzwerte unterrichten. Propädeutische Erfahrungen und Präzisierungen. In: mathematik lehren 180. S. 2-11. Bigalke / Köhler (2010): Mathematik. Einführungsphase. Berlin: Cornelsen. Elschenbroich, Hans-Jürgen (2003): Unterrichtsgestaltung mit Computerunterstützung. In: Leuders, Timo (Hrsg.): Mathematik-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen. S. 212-233. Foster, Otto (62001): Analysis 1. Differential- und Integralrechnung einer Veränderlichen. Braunschweig / Wiesbaden. Hersh, Reuben: What is Mathematics, really? Jonathan Cape, London 1997. Heuser, Harro (31986): Ein historischer tour d‘horizon. In: Ders.: Lehrbuch der Analysis. Teil 2. Stuttgart. S. 634-700. Prediger, Susanne (2004): Mathematiklernen in interkultureller Perspektive. Mathematikphilosophische, deskriptive und präskriptive Betrachtungen. München, Wien: Profil (Klagenfurter Beiträge zur Didaktik der Mathematik; 6). Sfard, Anna (1991): On the Dual Nature of Mathematical Conceptions: Reflections on Processes and Objects as Different Sides of the Same Coin. In: Educational Studies in Mathematics 22, S. 1-36. Vergnaud, Gérard (1992): Conceptual Fields, Problem-Solving and Intelligent Computer-Tools. In: De Corte, Erik / Linn, Marcia / Mandl, Heinz / Verschaffel, Lieven (Hrsg): Comptuter-based learning environments and problem-solving. Berlin: Springer, S. 287-208.