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Staatsbürgerschaft in der postmigrantischen
Schweiz
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Dr. des. Rohit Jain, Universität Zürich / ZHdK
Forum Integration, 11. Mai 2017, Aarau
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„Die bedenkliche Erscheinung, dass zufolge der letzten Volkszählung
[von 1888, R.J.] in der Schweiz rund eine Viertelmillion Ausländer
dauernd sich aufhalten und dass, zumal in den Grenzstädten, die
ausländische Bevölkerung die einheimische nachgerade zu überflügeln
drohe, lasse auf Mittel und Wege zur Abhülfe denken. [...] Das einzige
zulässige und zweckmässige Mittel zur Abhülfe sei wohl das, durch
Erleichterung der Bürgerrechtsaufnahme die sich dazu überhaupt
eignenden Elemente der schweizerischen Nation zu assimilieren. Man
sollte insbesondere danach trachten, in der Schweiz geborene Kinder
von Ausländern zu naturalisieren [...]“ (Bundesrat 1899:438f.)
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„Man will in Zukunft, wenn ich so sagen darf, den Ausländer, bevor er
sich in unserem Land niederlässt, daraufhin prüfen können, ob er
‚anpassungsfähig’ ist. [...] Wir müssen den fremden Ankömmling auf
Herz und Nieren prüfen können. Reiht er sich in unser politisches,
wirtschaftliches, soziales Gefüge? Ist er hygienisch akzeptabel?
Überschreitet seine ethnische Struktur das Mass zulässiger
Inadäquanz? Die Antwort wird von Fall zu Fall verschieden lauten; doch
wird sie wieder generell Angehörigen gewisser uns stärker homogener
Rassen, uns geistig und nachbarlich naher Bevölkerungskreise
günstiger sein als jenen anderen Milieus, die uns in Rasse, Religion,
Sitte ferner stehen. Es wird notwendig sein zu unterscheiden!“ (Delaquis
1921:17f.)
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„Eine Assimilation der ausländischen Kinder durch die Schule setzt
jedoch voraus, dass sich die Eltern ihrerseits unseren Verhältnissen
anpassen, damit die Kinder nach Beendigung des Schulunterrichts nicht
stets wieder in die andersartige und für uns fremde Umgebung ihrer
Eltern zurückkehren und sich damit die für die Einbürgerung
erforderliche Assimilation erst in der dritten Generation vollzieht.“
(Bundesrat 1967:103)
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„Bei der gezielten Assimilationsförderung dürfen wir deshalb nur
psychologisch geschickt vorgehen und nicht einen so starken Druck
ausüben, dass der Ausländer glauben muss, seine mitgebrachte
Eigenart sei nichts wert. Sie soll nicht gewaltsam zerstört werden,
sondern durch unsere überblendet werden“ (Marc Virot, 1968).
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3 Thesen
1. Staatsbürgerschaft und Grenzen sind Technologien, um die
normative Konstitution der Bevölkerung, Wirtschaftswachstum und
Wohlfahrt auszubalancieren.
2. In der Schweiz hat der Migrationskomplex das sogenannte
Integrationsproblem selbst geschaffen.
3. Die assimilatorische politische Kultur behindert nachhaltig die
politische Identifikation für einen grossen Teil der
Migrationsbevölkerung.
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3. Mobilität & Pluralisierung von Staatsbürgerschaft
- Urban Citizenship
- Multiple Staatsbürgerschaft
- Post-Liberale Staatsbürgerschaft
- Inklusive Staatsbürgerschaft
- Migration vs. Mobility
- Geburtslotterie und Recht auf Mobilität
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3. Mobilität & Pluralisierung von Staatsbürgerschaft
- Urban Citizenship
- Multiple Staatsbürgerschaft
- Post-Liberale Staatsbürgerschaft
- Inklusive Staatsbürgerschaft
- Migration vs. Mobility
- Geburtslotterie und Recht auf Mobilität
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Urban Citizenship
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Urban Citizenship
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3. Mobilität & Pluralisierung von Staatsbürgerschaft
-> Neue Funktion: Staatsbürgerschaft als ungleich verteiltes
Verfügungsrecht über Mobilität. Akteure nutzen
Staatsbürherschaft als Ressourcen.
-> Trend: Pluralisierung/Flexibilisierung der
nationalstaatlichen Souveränität von Staatsbürgerschaft
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Fazit: Institutioneller Wandel, Cultural Citizenship und
politische Transformation
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3 Thesen
1. Im aktuellen Kontext von Globaliserung ist Staatsbürgerschaft noch
stärker zu einem umkämpften Feld geworden.
2. Staatsbürgerschaft in der postmigrantischen Gesellschaft muss sich
der realen und transnationalen Vielfalt orientieren, um das
Demokratiedefizit beheben zu können.
3. Eine Transformation der postmigrantischen Demokratie erfordert ein
anderes Wir/Sie – öffentliche Bilder und Narrative, die
Mehrfachzugehörigkeit und transnationale Lebenswelten abbilden.
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Es geht dabei nicht nur darum, Minderheiten in bestehende
Institutionen einzugliedern oder einfach neue Politiken zu den
bestehenden hinzuzuaddieren. Es gilt vielmehr, den Kern der
Institutionen daraufhin abzuklopfen, ob ihre Räume, die Leitideen,
die Regeln, die Routinen, die Führungsstile, die
Ressourcenverteilungen sowie die Kommunikation im Hinblick auf
die Vielheit gerecht und effektiv sind. Die Vielheit ist eine Tatsache;
warum also sollte man nicht versuchen, aus der Vielheit das Beste
zu machen, sie als Quelle der Erneuerung zu nutzen?
(Mark Terkessidis, Interkultur, 2013)
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Verfügt diese Schweiz über Narrative, Imaginationen, Bilder, Ästhetiken
und Identitäten, d.h. das kulturelle Repertoire sowie über die
Infrastruktur, um die (postmigrantische) Transformation der Gesellschaft
anzuerkennen und zu verhandeln?
(Will sie es? Und: Wer entscheidet darüber?)
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir freuen uns auf die Diskussion!