Post on 30-Aug-2019
transcript
Smarter Medicine in der
Geriatrie
Marion Baumann
LAe Geriatrie Spital Limmattal
14.12.2017
Medienpräsenz
19.12.2017 / 2
«Smarter Medicine»
- Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin
SGAIM
- Schweizerische Akademie der
Medizinischen Wissenschaften SAMW
- Dachverband der Patientenstellen DVSP
- Schweizerischer Verband der
Berufsorganisationen im
Gesundheitswesen
- Stiftung Konsumentenschutz
-> Choosing Wisely
«Reduce to the max»
Ziele: • Förderung der Ausarbeitung weiterer Top-5-Listen durch
med. Fachgesellschaften
• Erhöhung der Verbindlichkeit der Empfehlungen
• Einbezug anderer Gesundheitsberufe -
interprofessioneller Ansatz
• Sensibilisierung der Bevölkerung für das Anliegen/
Befähigung für den Dialog mit den Behandelnden
• Förderung der öffentlichen Diskussion über
Behandlungsqualität
• Etablierung der Behandlungsqualität als Teil der med.
Weiter- und Fortbildung
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Weniger Medizin kann mehr sein
• Smarter Medicine- Choosing Wisely
Switzerland:
• Keine Vereinnahmung durch die
Gesundheitsökonomie
• Verbesserung der Behandlungsqualität unter
dem Motto: weniger kann mehr sein
• Damit einhergehende Kostendämpfung zwar
wünschenswert, nicht aber primäres Ziel
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Prävalenz von Multimorbidität im Alter
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Definition Überdiagnose
Diagnose einer Krankheit bei asymptomatischem
Patienten, welche nicht zu Symptomen oder Tod führt
• Unnötige und potentiell schädliche Folgeabklärungen
• Überbehandlung (fehlender Benefit, allenfalls NW)
• Unnötige Kosten
Überdiagnose ungleich diagnostischer Fehler
Überdiagnose ungleich falsch-positives Resultat
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Faktoren, die Überdiagnose fördern
• Technologischer Fortschritt
- sensitivere diagnostische Tests
- Entdeckung von diskreteren «Abnormalitäten»
- Zufallsbefunde
• Intuitiver Glaube an Früherkennung /Screening
- Unerschütterlicher Glaube an medizinische Technologie
- Kulturelle Norm des «mehr ist besser»
• Anreize, Unter- nicht aber Überdiagnose zu «sanktionieren»
• Finanzielle Interessen
- Ausweitung von Krankheitsdefinitionen
- Ausweitung des Gesundheitsmarkts (Diagnostik und Therapie)
- Vergrösserung des Patientenpools in gewissen Spezialfächern - Moynihan, BMJ 2012; Schweiz Med Forum 2013
Zunehmende Spezialisierung in der Medizin
• Fragmentierung der Gesundheitsversorgung
• Ausrichtung der medizinischen Aus- und Weiterbildung
auf die adäquate Behandlung einzelner Krankheiten
• Evidenzbasierte Richtlinien nicht mit polymorbiden
Patienten erarbeitet
• Individuelle patientenzentrierte Therapie als
Herausforderung dem Allgemeinpraktiker überlassen
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Ursachen der Polypharmazie
• Nullrisiko-Mentalität
• Erwartungen (Patient)
• Zeitmangel
• Glaube an Wirksamkeit (Arzt)
• Guidelines, Spezialisierung
• Pharmaindustrie
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Problematik der Guidelines
• Behandlungsempfehlungen basieren meist auf
klinischen Studien, welche sich an Einzelerkrankung
orientieren
• Negative Auswirkungen auf andere Erkrankungen
bleiben unberücksichtigt
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Strategien gegen Polypharmazie
• Medikamentenliste erfassen
- banal, zentral, zeitintensiv
• Gab oder gibt es noch für jedes Medikament eine
Indikation?
• Ziele readjustieren
- Diabetes mellitus, art. Hypertonie
• Priorisierung
- Welches sind die Hauptprobleme?
- Interaktionen?
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Was sagt die Pharmaindustrie ?
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Thematik auch fürs Unispital
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Top- 5- Liste Geriatrie
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1. PEG
• Vermeidung einer perkutanen Magensonde
(PEG) bei Patienten mit fortgeschrittener
Demenz
• Stattdessen Angebot einer assistierten oralen
Ernährung
• im Hinblick auf Sterblichkeitsrisiko, Gefahr einer
Aspirationspneumonie, funktionellen Status und
Patientenkomfort keine Nachteile feststellbar
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Vermeidung einer perkutanen Magensonde (PEG)
• Sondenernährung einhergehend mit
Unruhezuständen, vermehrtem Einsatz von
Fixierungen/ medikamentöser Ruhigstellung
und konsekutiv Dekubitusgefahr
• Urteilsfähigkeit bezüglich Nahrungs-
/Flüssigkeitsaufnahme darf auch bei schwerer
Demenz vorausgesetzt werden
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2. Neuroleptika bei Verhaltensstörungen
• Neuroleptika sind nicht Mittel der Wahl bei
Verhaltensauffälligkeiten und psychischen
Symptomen bei Demenz
• Aggressives oder störendes Verhalten sowie
Widerstand gegenüber Pflege bei Demenz
häufig
• Neuroleptika mit nur begrenzter und
unzuverlässiger Wirkung
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Neuroleptika bei Verhaltensstörungen
• Risiko der Übersedierung und der kognitiven
Verschlechterung
• Erhöhtes Risiko von Stürzen, kardiovaskulären
Nebenwirkungen (Rhythmusstörungen, CVI)
• Medikamentöse Behandlung von Verhaltensauffällig-
keiten nur bei Versagen nichtmedikamentöser
Massnahmen und/oder bei unmittelbarer Gefahr für den
Betroffenen selbst oder sein Umfeld
• Therapie potentieller Ursachen (Infekte, Obstipation,
Dehydratation ...) kann die psychopharmakologische
Behandlung ersetzen
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3. Moderate Blutzucker- Einstellung
• Vermeiden von HbA1c- Werten < 7,5% bei
polymorbiden älteren Menschen
• Bevorzugung von Metformin (cave NI)
• Moderate Blutzuckerkontrolle anstreben, keine
Hinweise auf positiven Effekt einer straffen BZ-
Kontrolle, jedoch vermehrte Gefahr von
Hypoglykämien
• Berücksichtigung von Lebenserwartung,
Gesundheitszustand und Patientenzielen bei
BZ- Einstellung
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Moderate Blutzucker- Einstellung
• Empfehlungen bez. HbA1c- Werten im Alter:
- 7,0- 7,5% bei gesunden älteren Patienten mit langer
Lebenserwartung
- 7,5- 8,0% bei Patienten mit moderater Anzahl
Begleiterkrankungen und Lebenserwartung von < 10
Jahren
- 8,0- 9,0% bei Patienten mit Mehrfacherkrankungen
und kürzerer Lebenserwartung
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4. Einsatz von Benzodiazepinen
• Benzodiazepine und andere sedativ-
hypnotische Medikamente nicht Mittel der
Wahl bei Schlaflosigkeit, Unruhe oder
Verwirrtheit
• Risiko für Verkehrsunfälle, Stürze, Hüftfrakturen
sowie für Hospitalisation oder Tod mehr als
verdoppelt
• Anwendung von Benzodiazepinen beschränkt
auf Alkoholentzug/Delirium tremens oder
schwere generalisierte Angststörung ohne
Ansprechen auf andere Therapien (Psychiater)
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5. Einsatz von Antbiotika bei Bakteriurie
• Keine antibiotische Behandlung bei
Bakteriurie beim alten Menschen, ausser es
liegen spezifische Harnwegssymptome vor
• Kohortenstudien ohne Nachweis von negativen
Auswirkungen einer asymptomatischen Bakteriurie bei
älteren Frauen und Männern
• Antibiotische Behandlung ohne Vorteile, jedoch mit
vermehrten unerwünschten Nebenwirkungen im Alter
• Im Vorfeld urologischer Eingriffe mit dem Risiko von
Schleimhautblutungen empfiehlt sich eine Untersuchung
auf asymptomatische Bakteriurie und deren Behandlung
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Polymedikation- Abwehrstrategien: Kriterienlisten
• BEERS criteria (USA 1991, adaptiert 2003 und 2012)
- Erste weit verbreitete Kriterienliste: Liste von ca 100 in der
Geriatrie «verbotenen» Substanzen/ Substanzgruppen
• PRISCUS-Liste (Deutschland 2010) • Liste mit (ursprünglich) 83 in der Geriatrie «verbotenen»
Arzneistoffen aus 18 Stoffklassen, inkl. Angabe möglicher
Alternativen: Regelmässige Aktualisierungen finden sich unter:
www.priscus.net
• STOP and START criteria (Irland 2008)
- Screening Tool of Older Persons’ potentially inappropriate
Prescriptions and Screening Tool to Alert doctors to Right
Treatment: Letzteres liefert auch Informationen, welche
Therapien trotz hohem Alter eine positive Benefit-Risk-Ratio
aufweisen
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Beers-Liste
• Instrument zur Optimierung der
Arzneimitteltherapie geriatrischer Patienten
• Aktuelle Beers-Liste zweiteilig:
- 1. Teil: Generell zu vermeidende Arzneimittel
bei Patienten > 65 Jahren
- 2. Teil: Bei bestimmten Krankheiten zu vermeidende
Medikamente
http://www.bcp.fu-
berlin.de/pharmazie/klinische_pharmazie/arbeitsgr
uppe_kloft/materialien/Beers-Liste.pdf
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Priscus-Liste
• Die Priscus-Liste enthält 83 Medikamenten-
Wirkstoffe, die für Senioren nicht geeignet sind
oder deren Medikamenten-Dosis angepasst
werden muss. Dazu enthält die Priscus-Liste
Vorschläge zu besser verträglichen Mitteln
sowie weitere nützliche Empfehlungen.
http://priscus.net/download/PRISCUS-
Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf
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Abwehrstrategien: Algorithmen
• Medication Appropriateness Index MAI
- Indikation vorhanden?
- Wirksamkeit? Nutzen-Risiko-Verhältnis?
- Dosierung korrekt?
- Einnahmevorschriften korrekt?
- Interaktion mit anderen Medikamenten?
- Interaktion mit Begleiterkrankungen?
- Applikationsweg praktikabel?
- Doppelverschreibungen vorhanden?
- Behandlungsdauer adäquat?
- Kostengünstigere Alternative vorhanden?
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Welche Medikamente braucht mein Patient wirklich?
«Good palliative geriatric practice» Algorithmus (Israel 2007)
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Anwendung des GP-GP Algorithmus im Studiensetting
• GP-GP angewandt bei einer Kohorte von 70 zu Hause lebenden Betagten in Israel,
Durchschnittsalter 83 Jahre, 62% hatten 3 oder mehr Erkrankungen, 71% hatten
mindestens 5 geriatrische Syndrome (Demenz, Stürze, Inkontinenz, etc.),
Beobachtungsdauer durchschnittlich 19 Monate.
• Teilnehmende nahmen zu Studienbeginn im Schnitt 7.7 Medikamente ein. Basierend
auf dem GP-GP wurde das Absetzen von insgesamt 311 Medikamenten bei 64
Patienten empfohlen.
• 265 Medikamente (82%) wurden tatsächlich abgesetzt.
• 6 der 265 abgesetzten Arzneimittel mussten wieder angesetzt werden. In einem Fall
kam es zu einer Thrombose nach Absetzen von Warfarin. In keinem einzigen Fall
kam es zu einem AE (significant adverse event) oder Todesfall infolge der
Medikamentenabsetzung.
• 88% der Patienten mit erfolgter Medikamentenreduktion berichteten von einer
Verbesserung ihres Allgemeinzustandes und insbesondere ihrer Kognition
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Stufenplan «deprescribing»
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Wichtige Rolle der Pflege
Gut geschultes Pflegepersonal ist in
der Umsetzung der Empfehlungen
absolut entscheidend, aber natürlich
auch die Gewährleistung der
entsprechenden pflegerischen Ressourcen
durch die Institutionen
Tipps und Tricks aus dem Alltag
• Geriater sollten nicht nur die Wirkungen, sondern insbesondere auch die
Nebenwirkungen der Medikamente gut kennen.
• Bei besonders störender Polymedikation NW aktiv erfragen und ggf als
Absetzhilfe verwenden: z.B. gezielt nach Oberschenkel-/Wadenschmerzen
fragen bei Statinen etc.
• Bei Polymedikation ggf jedes zusätzliche Verschreiben eines
Medikamentes mit dem Absetzen eines anderen kombinieren («1 plus, 1
minus»).
• Klagen eines Patienten allenfalls als mögliche medikamentöse
Nebenwirkung zu verstehen suchen («minus 1 statt plus 1»).
• Verordnungskaskaden unbedingt vermeiden (zB Agitiertheit wegen SSRI->
Therapie mit niedrigpot. Neuroleptikum-> EPNW-> Verschreibung von L-
Dopa).
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Tipps und Tricks aus dem Alltag
• Systematisches, evtl. gegenseitiges Peer review unserer
polymedizierten Patienten unter Kollegen etablieren (braucht Mut
und Selbstbewusstsein).
Speziell bei Pflegeheimpatienten:
• Symptomlindernde Medikamente (Schmerz, Atemnot, Psyche)
haben in der End-of-Life-Stuation einen höheren Stellenwert als
Therapien zur Verhinderung von Langzeitschäden (Statine?
Antihypertensiva? ACE-Hemmer?)
• Spezifische Medikamentenreduktions-Visiten etablieren (dabei
Anwesenheit einer informierten kompetenten Pflegefachperson
zwingend).
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Besonderheiten der Betreuung betagter Menschen
• Langfristige Betreuung, an Intensität zunehmend
• Häufige Inanspruchnahme
• Schwerwiegende und existenziell bedrohliche Erkrankungen
• Verflechtung von krankheits- und lebensbezogener Beratung
• Zunahme sozialer Verluste
• Evtl. eingeschränkte Kognition/Urteilsfähigkeit
Seidel G. et al. Patientengerechte Gesundheitsversorgung für Hochbetagte; Verlag W. Kohlhammer 2013
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Gemeinsame Entscheidungsfindung
• Entscheidungsbeteiligung bei Behandlungen in Abhängigkeit vom Alter der
Befragten (n=139)
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Was erwarten hochbetagte Menschen von ihrem Arzt
Befragung von 152 PatientInnen, Durchschnittsalter 85 Jahre:
• Regelmässige Konsultationen/Hausbesuche
• Ehrliche Information über Krankheiten
• Gemeinsame Entscheidungsfindung
• Guter Kontakt zu den Patienten und deren Angehörigen
• Er muss mit seinen Patienten sprechen können
• Er sollte eine richtige Diagnose stellen können
• Seidel G. et al. Patientengerechte Gesundheitsversorgung für Hochbetagte; Verlag W. Kohlhammer 2013
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Danke für Ihre Aufmerksamkeit
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