Newsletter - Artikel November 2017 - borderline-europe.de · da Zuccaro nicht einmal willens ist,...

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“Stopnow,now,now!!!”Die Zustände in libyschen Gefängnissen werdenimmer bekannter, jede Woche erscheinen neueBerichte, Artikel und Petitionen über Misshand-lungen von Migrant*innen in dem nordafrikani-schenLand.Niemand redet dabei über die Situation der liby-schenBevölkerung,derestäglichschlechtergeht.Ist es überhaupt noch möglich, mit demWissenum die Zustände in dem zersplitterten Land ander Abschottungs- und Kriminalisierungspolitikfestzuhalten?

Eine Momentaufnahme aus Italien von JudithGleitze,borderline-europe,Palermo.

Am6.November fandeinederbisheraufsehen-erregendsten Seenotrettungseinsätze in diesemJahrstatt:dasSchiffderSeenotrettungsorganisa-tionSeaWatch,dieSeaWatch3,wurdevonderitalienischen Seenotrettungszentrale MRCC anden Unglücksort beordert, wo sich neben ihnenauch noch ein Schiff der französischen Marine(Eunavfor Med), ein italienischer Marinehub-schrauber und ein „libysches Küstenwachschiff“1befanden. Die Einsatzleitung der Rettungsopera-tion war der Sea Watch 3 übertragen worden,doch das libysche Schiff reagierte nicht auf dieEinsatzorder.

1DaeskeineeindeutigelibyscheKüstenwachegibt,sonderndiesesichausdiversenSektionenzusammensetzt,diezumTeilmitMilizenzusammenarbeitenwirdderBegriff„libyscheKüstenwache“inAn-führungsstrichegesetzt.

Letztendlichverlorenca.50Menschen ihrLebenbeidemvonder„libyschenKüstenwache“verur-sachtenChaosinderRettungsoperation.In denMedienwurde breit über denVorfall be-richtet, vor allem, weil das libysche Schiff plötz-lichlosfuhr,obwohlnocheinGeflüchteteranderRettungsleiteraußenbordshing.DieRufedesita-lienischenMarinehelikopters„STOPNOW,NOW,NOW!“gingenumdieWelt.SeaWatchselberhatin einemhalbstündigenVideo dasGescheheno-derdieGeschehnissezusammengeschnitten.Doch die sogenannte libysche Küstenwache ver-suchtedenSpießumzudrehenunddieSchuldderSea Watch 3 in die Schuhe zu schieben – auchwenn die Videoaufnahmen keinen Zweifel zulas-sen. Die italienische Tageszeitung „Il Giornale“übernahm die Version der Libyer. Schon langesind dem eher rechtsgerichteten Blatt die Ret-tungs-NGOseinDorn imAuge.Esveröffentlichteam 10. November einen Artikelmit drei Videos,dieklarzeigensollen,dassdieLibyerdieRettungsehrwohl imGriffhattenundnurdurchdieAn-kunft der Sea Watch Chaos ausgebrochen sei.Dumm nur, dass die drei von der TageszeitungveröffentlichtenVideos nur zumTeil echt sind –dasmittlere Video, in demdieGeflüchtetenmitSchwimmwestenaufihremSchlaubootlängsseitseines libyschen Schiffes zu sehen sind, ist nichtvom6.November,wieMitarbeiterderSeaWatchbestätigen.DieGeflüchteten hatten zum großenTeil überhaupt keine Schwimmwesten, die Seewarunruhigerunddas imHintergrundzusehen-de Rettungsboot ist nicht von der Sea Watch.Kurz:die„LibyscheKüstenwache“hateinfalschesVideo lanciert, umdie SeaWatch zu diskreditie-renundrechteitalienischeMediensindsichnichtzuschade,diese„fakenews“aufzugreifen.„NGO-Jäger“ Zuccaro meldet sich wieder zuWortDashatleiderauchdenschonbekanntenStaats-anwalt Carmelo Zuccaro ausCataniadazuermu-tigt,sichmalwiederzuäußern.DieserhatteseitBeginn des Jahres immer wieder die Arbeit der

Bildquelle:sea-watch.org:„BeweismaterialfürunverantwortlichesVerhaltenderLibyschenKüstenwache“,8.11.2017.

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Rettungs-NGOs in Frage gestellt und ihnen Zu-sammenarbeit mit libyschen Schleppern vorge-worfen.DieMaßnahmenvonInnenministerMin-niti seien nützlich, so Zuccaro eineWoche nachdem Vorfall des 6. November auf einer Tagung.Gemeint ist das fragwürdige Memorandum ofUnderstanding vom Februar 2017 zwischen deritalienischen Regierung und der libyschen al-Serradsch Regierung. Auf die Nachfrage, ob dasdenn aufgrund der unsagbar schlechten Bedin-gungen der Geflüchteten in Libyen tragbar seimeinteZuccaro,erwolle,dassdieVereintenNa-tionen die Kontrolle über die libyschen Zentrenübernehmen.Wichtigseiabervorallem,dieAb-fahrtenzustoppen.BeieinerKonferenzinderka-tholischen Universität von Mailand äußerte ersich positiv über die libysche Küstenwache: „Dielibysche Küstenwache in Tripolis setzt sich ausPersonenzusammen,diedasRechtrespektieren,mit al-Serradsch zu verhandeln bedeutet nichtKomplize zu werden, sondern es hilft, denSchleppern der Migrant*innen Einhalt zu gebie-ten.“DieSchlepperseiendieMonster,formulier-teer,denenmandasHandwerklegenmüsse,ge-nauso wie es die Antimafia-Richter Falcone undBorsellinoinden90erJahrengehandhabthatten.Somit sei alles, was Geflüchtete dazu bewegenkönnte,nachEuropazugelangen,zuunterbinden–alsoauchdieArbeitderRettungs-NGOs.Weni-geMeilenvorderlibyschenKüsteaufSeezuwar-tenseieinVerbrechen,keineHilfe.Zuccarogehtnochweiter:MillionenvonarmenMenschenver-suchten abzufahren. Das könne nicht bedeuten,dassItaliendiesealleaufnehmenmüsse.DasRo-teKreuzhabeunsgelehrt,dassmansicherstumdie eigene Sicherheit kümmern müsse, bevormananderenhelfe.UNO,MEDUundASGIklagenanZum Glück vergessen nicht alle OrganisationendieMenschen,umdieeshiereigentlichgeht.Am14.NovemberkritisiertederHochkommissarfürMenschenrechte,derjordanischePrinzZeidRaadal-Hussein, die europäische und italienische Kol-laboration mit der libyschen al-Serradsch Regie-

rung. „DiePolitikderEuropäischenUnion,die li-byscheKüstenwachedarin zuunterstützen,Mig-rant*innen im Mittelmeer abzufangen und zu-rückzuschiebenist inhuman“,soal-Hussein.MankönnedieAugennichtmehrvordemunvorstell-barenHorror,der sich in libyschenGefängnissenabspiele, verschließen. Interessant indiesemZu-sammenhang auch, dass die italienische Staats-anwaltschaft inPalermomitsiebenGeflüchtetenzusammenarbeitet,dieausdemberüchtigtenGe-fängnis in Sabha entkommen sind und nun dieZustände dort mit Handyfotos belegen können.Hier scheinen die Meinungen der Staatsanwalt-schaften auf Sizilien doch auseinanderzugehen,daZuccaronichteinmalwillensist,überdiekata-strophalenHaftbedingungenzudiskutieren.DochdiesewerdenauchvonderÄrzteorganisati-onMEDU(Ärzte fürMenschenrechte)angeklagt.SiehatsichineinemöffentlichenBriefandenita-lienischen Innenministergewandt:ManhabebeiderArbeit imHotspotvonPozzallo sowie indenZentrenderUmgebungunddemCARA inMineoinden letztenvier Jahren2.600ZeugenaussagenüberdieSituationinLibyengesammelt.DieSitua-tionhabe sich seitdenAuseinandersetzungen inSabrathanochverschärft.

DieletztenZeugenaussagenstammten,soMEDU,von der Ankunft am23. November in Pozzallo:294Personen,krank,traumatisiert,unterernährt,darunter auch 100 unbegleitete minderjährigeGeflüchteteundeinneunMonatealtesKleinkind,dasimHelikopterinsKrankenhausgebrachtwer-

Bildquelle:BorderlineSicilia:„Oxfam,BorderlineSicilia,MEDU:Abu-si,tortureedetenzioniillegalinell'infernolibico”,6.07.2017.

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denmusste.MEDUbittet den Innenminister umeinTreffen,umKlarheitüberdieitalienischeundeuropäische Linie in Bezug auf diese andauern-denMisshandlungenundMenschenrechtsverlet-zungeninLibyenzuerhalten.AbernichtnurdieUNOundMEDUklagendieita-lienischeundeuropäischePolitikan,derenZielesist,dieAnkunftvonGeflüchtetenumjedenPreiszu verhindern. Der italienische AnwaltsvereinASGIhatrechtlicheMaßnahmenergriffenundam14.November2017vordemVerwaltungsgerichtLazioKlageeingereicht.MitdemDekret4110/47hattedasitalienischeAußenministeriumimFrüh-jahrdieses Jahresu.a.2,5MillionenEuroandasInnenministeriumübergeben.MitdiesenMittelnsollendievierderzeitnichtnutzbarenSchiffe,diedie italienische Regierung den libyschen Behör-den übergeben hatte, repariert werden. DieseSchiffe sollendieGeflüchtetenabfangenundzu-rücknachLibyenbefördern.DochdieMittel,diedasAußenministeriumnun freigegebenhat, sindTeil des „Africa Fund“ (200Millionen Euro), dervom italienischen Parlament eingerichtetwurde,umKooperationenundDialogemitafrikanischenLändernzuführen.EsseiabsolutinFragezustel-len,obeinesogroßeSummeaneinvölliginstabi-lesLandgegebenwerdenkönnen.WennmitdenMitteln die Schiffe repariert und dann Mig-rant*innen erneut in nicht zumutbare libyscheGefängnisse überstellt werden sei dies eineZweckentfremdung eines Fonds, der nicht dazudiene, militärische Ausrüstungen zu verbessern,sondern humanitäre Krisen zu bewältigen. IndemDekretwerdenauchGelderfürdasTrainingunddieAusrüstungderlibyschenKüstenwache(3Mio Dollars) und fürweitere libyscheGrenzkon-trollprojekte(12MioDollars)festgelegt,wieZachCampbellineinemausführlichenIntercept–Arti-kelüberdieEuropäischenPläne,dieSeegrenzezuschließen,beschreibt.

Rommacht sichnichtdieHändeschmutzigunddelegiertanLibyenDieseAbschottungzeigtsichbestensanderletz-tenRettungsaktionder„Aquarius“(SOSMéditer-ranéemitÄrzteohneGrenzen).DasSchiffmachtam24.11.kurznacheinanderzweiSchlauchbootein Gefahr aus, doch die italienische Seenotret-tungsleitzentraleMRCCinRomlässtsienichtret-ten – so müssen die Geflüchteten bei immerschlechterwerdendemWettervierlangeStundenausharren, um dann von der libyschen Marineund der „libyschen Küstenwache“ nach Tripoliszurückgebracht zuwerden.MSF klagt dasMRCCan, eine Zurückschiebung nach Libyen nicht nurzuzulassen, sondern quasi anzuordnen– ein bis-hersonochnichtdagewesenerFall.EinedirekteZurückschiebung durch Italien ist rechtlich nichtzulässig, doch Rom macht sich nicht selber dieHändeschmutzig,sondernlässtdasdieLibyerer-ledigen. „Refoulement“ über Bande gespielt. In-nenministerMinnitihingegenbetonterneut, Ita-lien mache nicht zu, man nehme doch auf, dieHäfenseiengeöffnet.Leiderscheintesjedochei-neLotteriezusein;wergewinnt,darf inden„si-cherenHafen“,wernichtgehezurückaufLos.In LibyenhingegendrohtderSprecherder „liby-schenKüstenwache“malwieder,dass siePerso-nalundMittel imnächsten Jahr reduzierenwer-den, das Geld reiche beiweitemnicht, umMig-rant*innen zu stoppen,dieNGOs störtenunderschließenichtaus,dasmanauchCrewmitgliederverhaftenkönne.WiewerdenItalienundEuropa,aufdieseerneuteDrohungreagieren?NochmehrGeldzahlenan„man–weiß–nicht–wen“?Palermo,1.12.2017.