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Newsletter - Artikel November 2017 - borderline-europe.de · da Zuccaro nicht einmal willens ist,...

Date post: 28-Oct-2019
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1 “Stop now, now, now!!!” Die Zustände in libyschen Gefängnissen werden immer bekannter, jede Woche erscheinen neue Berichte, Artikel und Petitionen über Misshand- lungen von Migrant*innen in dem nordafrikani- schen Land. Niemand redet dabei über die Situation der liby- schen Bevölkerung, der es täglich schlechter geht. Ist es überhaupt noch möglich, mit dem Wissen um die Zustände in dem zersplitterten Land an der Abschottungs- und Kriminalisierungspolitik festzuhalten? Eine Momentaufnahme aus Italien von Judith Gleitze, borderline-europe, Palermo. Am 6. November fand eine der bisher aufsehen- erregendsten Seenotrettungseinsätze in diesem Jahr statt: das Schiff der Seenotrettungsorganisa- tion Sea Watch, die Sea Watch 3, wurde von der italienischen Seenotrettungszentrale MRCC an den Unglücksort beordert, wo sich neben ihnen auch noch ein Schiff der französischen Marine (Eunavfor Med), ein italienischer Marinehub- schrauber und ein „libysches Küstenwachschiff“ 1 befanden. Die Einsatzleitung der Rettungsopera- tion war der Sea Watch 3 übertragen worden, doch das libysche Schiff reagierte nicht auf die Einsatzorder. 1 Da es keine eindeutige libysche Küstenwache gibt, sondern diese sich aus diversen Sektionen zusammensetzt, die zum Teil mit Milizen zusammenarbeiten wird der Begriff „libysche Küstenwache“ in An- führungsstriche gesetzt. Letztendlich verloren ca. 50 Menschen ihr Leben bei dem von der „libyschen Küstenwache“ verur- sachten Chaos in der Rettungsoperation. In den Medien wurde breit über den Vorfall be- richtet, vor allem, weil das libysche Schiff plötz- lich losfuhr, obwohl noch ein Geflüchteter an der Rettungsleiter außenbords hing. Die Rufe des ita- lienischen Marinehelikopters „STOP NOW, NOW, NOW!“ gingen um die Welt. Sea Watch selber hat in einem halbstündigen Video das Geschehen o- der die Geschehnisse zusammengeschnitten. Doch die sogenannte libysche Küstenwache ver- suchte den Spieß umzudrehen und die Schuld der Sea Watch 3 in die Schuhe zu schieben – auch wenn die Videoaufnahmen keinen Zweifel zulas- sen. Die italienische Tageszeitung „Il Giornale“ übernahm die Version der Libyer. Schon lange sind dem eher rechtsgerichteten Blatt die Ret- tungs-NGOs ein Dorn im Auge. Es veröffentlichte am 10. November einen Artikel mit drei Videos, die klar zeigen sollen, dass die Libyer die Rettung sehr wohl im Griff hatten und nur durch die An- kunft der Sea Watch Chaos ausgebrochen sei. Dumm nur, dass die drei von der Tageszeitung veröffentlichten Videos nur zum Teil echt sind – das mittlere Video, in dem die Geflüchteten mit Schwimmwesten auf ihrem Schlauboot längsseits eines libyschen Schiffes zu sehen sind, ist nicht vom 6. November, wie Mitarbeiter der Sea Watch bestätigen. Die Geflüchteten hatten zum großen Teil überhaupt keine Schwimmwesten, die See war unruhiger und das im Hintergrund zu sehen- de Rettungsboot ist nicht von der Sea Watch. Kurz: die „Libysche Küstenwache“ hat ein falsches Video lanciert, um die Sea Watch zu diskreditie- ren und rechte italienische Medien sind sich nicht zu schade, diese „fake news“ aufzugreifen. „NGO-Jäger“ Zuccaro meldet sich wieder zu Wort Das hat leider auch den schon bekannten Staats- anwalt Carmelo Zuccaro aus Catania dazu ermu- tigt, sich mal wieder zu äußern. Dieser hatte seit Beginn des Jahres immer wieder die Arbeit der Bildquelle: sea-watch.org: „Beweismaterial für unverantwortliches Verhalten der Libyschen Küstenwache“, 8.11.2017.
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Page 1: Newsletter - Artikel November 2017 - borderline-europe.de · da Zuccaro nicht einmal willens ist, über die kata-strophalen Haftbedingungen zu diskutieren. Doch diese werden auch

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“Stopnow,now,now!!!”Die Zustände in libyschen Gefängnissen werdenimmer bekannter, jede Woche erscheinen neueBerichte, Artikel und Petitionen über Misshand-lungen von Migrant*innen in dem nordafrikani-schenLand.Niemand redet dabei über die Situation der liby-schenBevölkerung,derestäglichschlechtergeht.Ist es überhaupt noch möglich, mit demWissenum die Zustände in dem zersplitterten Land ander Abschottungs- und Kriminalisierungspolitikfestzuhalten?

Eine Momentaufnahme aus Italien von JudithGleitze,borderline-europe,Palermo.

Am6.November fandeinederbisheraufsehen-erregendsten Seenotrettungseinsätze in diesemJahrstatt:dasSchiffderSeenotrettungsorganisa-tionSeaWatch,dieSeaWatch3,wurdevonderitalienischen Seenotrettungszentrale MRCC anden Unglücksort beordert, wo sich neben ihnenauch noch ein Schiff der französischen Marine(Eunavfor Med), ein italienischer Marinehub-schrauber und ein „libysches Küstenwachschiff“1befanden. Die Einsatzleitung der Rettungsopera-tion war der Sea Watch 3 übertragen worden,doch das libysche Schiff reagierte nicht auf dieEinsatzorder.

1DaeskeineeindeutigelibyscheKüstenwachegibt,sonderndiesesichausdiversenSektionenzusammensetzt,diezumTeilmitMilizenzusammenarbeitenwirdderBegriff„libyscheKüstenwache“inAn-führungsstrichegesetzt.

Letztendlichverlorenca.50Menschen ihrLebenbeidemvonder„libyschenKüstenwache“verur-sachtenChaosinderRettungsoperation.In denMedienwurde breit über denVorfall be-richtet, vor allem, weil das libysche Schiff plötz-lichlosfuhr,obwohlnocheinGeflüchteteranderRettungsleiteraußenbordshing.DieRufedesita-lienischenMarinehelikopters„STOPNOW,NOW,NOW!“gingenumdieWelt.SeaWatchselberhatin einemhalbstündigenVideo dasGescheheno-derdieGeschehnissezusammengeschnitten.Doch die sogenannte libysche Küstenwache ver-suchtedenSpießumzudrehenunddieSchuldderSea Watch 3 in die Schuhe zu schieben – auchwenn die Videoaufnahmen keinen Zweifel zulas-sen. Die italienische Tageszeitung „Il Giornale“übernahm die Version der Libyer. Schon langesind dem eher rechtsgerichteten Blatt die Ret-tungs-NGOseinDorn imAuge.Esveröffentlichteam 10. November einen Artikelmit drei Videos,dieklarzeigensollen,dassdieLibyerdieRettungsehrwohl imGriffhattenundnurdurchdieAn-kunft der Sea Watch Chaos ausgebrochen sei.Dumm nur, dass die drei von der TageszeitungveröffentlichtenVideos nur zumTeil echt sind –dasmittlere Video, in demdieGeflüchtetenmitSchwimmwestenaufihremSchlaubootlängsseitseines libyschen Schiffes zu sehen sind, ist nichtvom6.November,wieMitarbeiterderSeaWatchbestätigen.DieGeflüchteten hatten zum großenTeil überhaupt keine Schwimmwesten, die Seewarunruhigerunddas imHintergrundzusehen-de Rettungsboot ist nicht von der Sea Watch.Kurz:die„LibyscheKüstenwache“hateinfalschesVideo lanciert, umdie SeaWatch zu diskreditie-renundrechteitalienischeMediensindsichnichtzuschade,diese„fakenews“aufzugreifen.„NGO-Jäger“ Zuccaro meldet sich wieder zuWortDashatleiderauchdenschonbekanntenStaats-anwalt Carmelo Zuccaro ausCataniadazuermu-tigt,sichmalwiederzuäußern.DieserhatteseitBeginn des Jahres immer wieder die Arbeit der

Bildquelle:sea-watch.org:„BeweismaterialfürunverantwortlichesVerhaltenderLibyschenKüstenwache“,8.11.2017.

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Rettungs-NGOs in Frage gestellt und ihnen Zu-sammenarbeit mit libyschen Schleppern vorge-worfen.DieMaßnahmenvonInnenministerMin-niti seien nützlich, so Zuccaro eineWoche nachdem Vorfall des 6. November auf einer Tagung.Gemeint ist das fragwürdige Memorandum ofUnderstanding vom Februar 2017 zwischen deritalienischen Regierung und der libyschen al-Serradsch Regierung. Auf die Nachfrage, ob dasdenn aufgrund der unsagbar schlechten Bedin-gungen der Geflüchteten in Libyen tragbar seimeinteZuccaro,erwolle,dassdieVereintenNa-tionen die Kontrolle über die libyschen Zentrenübernehmen.Wichtigseiabervorallem,dieAb-fahrtenzustoppen.BeieinerKonferenzinderka-tholischen Universität von Mailand äußerte ersich positiv über die libysche Küstenwache: „Dielibysche Küstenwache in Tripolis setzt sich ausPersonenzusammen,diedasRechtrespektieren,mit al-Serradsch zu verhandeln bedeutet nichtKomplize zu werden, sondern es hilft, denSchleppern der Migrant*innen Einhalt zu gebie-ten.“DieSchlepperseiendieMonster,formulier-teer,denenmandasHandwerklegenmüsse,ge-nauso wie es die Antimafia-Richter Falcone undBorsellinoinden90erJahrengehandhabthatten.Somit sei alles, was Geflüchtete dazu bewegenkönnte,nachEuropazugelangen,zuunterbinden–alsoauchdieArbeitderRettungs-NGOs.Weni-geMeilenvorderlibyschenKüsteaufSeezuwar-tenseieinVerbrechen,keineHilfe.Zuccarogehtnochweiter:MillionenvonarmenMenschenver-suchten abzufahren. Das könne nicht bedeuten,dassItaliendiesealleaufnehmenmüsse.DasRo-teKreuzhabeunsgelehrt,dassmansicherstumdie eigene Sicherheit kümmern müsse, bevormananderenhelfe.UNO,MEDUundASGIklagenanZum Glück vergessen nicht alle OrganisationendieMenschen,umdieeshiereigentlichgeht.Am14.NovemberkritisiertederHochkommissarfürMenschenrechte,derjordanischePrinzZeidRaadal-Hussein, die europäische und italienische Kol-laboration mit der libyschen al-Serradsch Regie-

rung. „DiePolitikderEuropäischenUnion,die li-byscheKüstenwachedarin zuunterstützen,Mig-rant*innen im Mittelmeer abzufangen und zu-rückzuschiebenist inhuman“,soal-Hussein.MankönnedieAugennichtmehrvordemunvorstell-barenHorror,der sich in libyschenGefängnissenabspiele, verschließen. Interessant indiesemZu-sammenhang auch, dass die italienische Staats-anwaltschaft inPalermomitsiebenGeflüchtetenzusammenarbeitet,dieausdemberüchtigtenGe-fängnis in Sabha entkommen sind und nun dieZustände dort mit Handyfotos belegen können.Hier scheinen die Meinungen der Staatsanwalt-schaften auf Sizilien doch auseinanderzugehen,daZuccaronichteinmalwillensist,überdiekata-strophalenHaftbedingungenzudiskutieren.DochdiesewerdenauchvonderÄrzteorganisati-onMEDU(Ärzte fürMenschenrechte)angeklagt.SiehatsichineinemöffentlichenBriefandenita-lienischen Innenministergewandt:ManhabebeiderArbeit imHotspotvonPozzallo sowie indenZentrenderUmgebungunddemCARA inMineoinden letztenvier Jahren2.600ZeugenaussagenüberdieSituationinLibyengesammelt.DieSitua-tionhabe sich seitdenAuseinandersetzungen inSabrathanochverschärft.

DieletztenZeugenaussagenstammten,soMEDU,von der Ankunft am23. November in Pozzallo:294Personen,krank,traumatisiert,unterernährt,darunter auch 100 unbegleitete minderjährigeGeflüchteteundeinneunMonatealtesKleinkind,dasimHelikopterinsKrankenhausgebrachtwer-

Bildquelle:BorderlineSicilia:„Oxfam,BorderlineSicilia,MEDU:Abu-si,tortureedetenzioniillegalinell'infernolibico”,6.07.2017.

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denmusste.MEDUbittet den Innenminister umeinTreffen,umKlarheitüberdieitalienischeundeuropäische Linie in Bezug auf diese andauern-denMisshandlungenundMenschenrechtsverlet-zungeninLibyenzuerhalten.AbernichtnurdieUNOundMEDUklagendieita-lienischeundeuropäischePolitikan,derenZielesist,dieAnkunftvonGeflüchtetenumjedenPreiszu verhindern. Der italienische AnwaltsvereinASGIhatrechtlicheMaßnahmenergriffenundam14.November2017vordemVerwaltungsgerichtLazioKlageeingereicht.MitdemDekret4110/47hattedasitalienischeAußenministeriumimFrüh-jahrdieses Jahresu.a.2,5MillionenEuroandasInnenministeriumübergeben.MitdiesenMittelnsollendievierderzeitnichtnutzbarenSchiffe,diedie italienische Regierung den libyschen Behör-den übergeben hatte, repariert werden. DieseSchiffe sollendieGeflüchtetenabfangenundzu-rücknachLibyenbefördern.DochdieMittel,diedasAußenministeriumnun freigegebenhat, sindTeil des „Africa Fund“ (200Millionen Euro), dervom italienischen Parlament eingerichtetwurde,umKooperationenundDialogemitafrikanischenLändernzuführen.EsseiabsolutinFragezustel-len,obeinesogroßeSummeaneinvölliginstabi-lesLandgegebenwerdenkönnen.WennmitdenMitteln die Schiffe repariert und dann Mig-rant*innen erneut in nicht zumutbare libyscheGefängnisse überstellt werden sei dies eineZweckentfremdung eines Fonds, der nicht dazudiene, militärische Ausrüstungen zu verbessern,sondern humanitäre Krisen zu bewältigen. IndemDekretwerdenauchGelderfürdasTrainingunddieAusrüstungderlibyschenKüstenwache(3Mio Dollars) und fürweitere libyscheGrenzkon-trollprojekte(12MioDollars)festgelegt,wieZachCampbellineinemausführlichenIntercept–Arti-kelüberdieEuropäischenPläne,dieSeegrenzezuschließen,beschreibt.

Rommacht sichnichtdieHändeschmutzigunddelegiertanLibyenDieseAbschottungzeigtsichbestensanderletz-tenRettungsaktionder„Aquarius“(SOSMéditer-ranéemitÄrzteohneGrenzen).DasSchiffmachtam24.11.kurznacheinanderzweiSchlauchbootein Gefahr aus, doch die italienische Seenotret-tungsleitzentraleMRCCinRomlässtsienichtret-ten – so müssen die Geflüchteten bei immerschlechterwerdendemWettervierlangeStundenausharren, um dann von der libyschen Marineund der „libyschen Küstenwache“ nach Tripoliszurückgebracht zuwerden.MSF klagt dasMRCCan, eine Zurückschiebung nach Libyen nicht nurzuzulassen, sondern quasi anzuordnen– ein bis-hersonochnichtdagewesenerFall.EinedirekteZurückschiebung durch Italien ist rechtlich nichtzulässig, doch Rom macht sich nicht selber dieHändeschmutzig,sondernlässtdasdieLibyerer-ledigen. „Refoulement“ über Bande gespielt. In-nenministerMinnitihingegenbetonterneut, Ita-lien mache nicht zu, man nehme doch auf, dieHäfenseiengeöffnet.Leiderscheintesjedochei-neLotteriezusein;wergewinnt,darf inden„si-cherenHafen“,wernichtgehezurückaufLos.In LibyenhingegendrohtderSprecherder „liby-schenKüstenwache“malwieder,dass siePerso-nalundMittel imnächsten Jahr reduzierenwer-den, das Geld reiche beiweitemnicht, umMig-rant*innen zu stoppen,dieNGOs störtenunderschließenichtaus,dasmanauchCrewmitgliederverhaftenkönne.WiewerdenItalienundEuropa,aufdieseerneuteDrohungreagieren?NochmehrGeldzahlenan„man–weiß–nicht–wen“?Palermo,1.12.2017.


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