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Prof. Dr. Simone Seitz Kassel, Juli 2015
Inklusion kann gelernt werden –
Anregungen zur Professionalisierung von LehrkräEen für inklusive Schulpraxis
Prof. Dr. Simone Seitz Kassel, Juli 2015
Gliederung
1. Inklusion und Exklusion im Schulsystem
2. Inklusion lernen – Anregungen zur Professionalisierung von LehrkräBen für die inklusive Schule
Prof. Dr. Simone Seitz Kassel, Juli 2015
1. Inklusion -‐ Exklusion
Inklusion ist nicht neu.
Teilhabe an Bildung und Erziehung in InsGtuGonen = Inklusion in Bezug auf Erziehungs-‐ und Bildungssystem
è Recht auf Kitaplatz, Schulpflicht usw. è effekGve Umsetzung (vgl. SGchweh 2009; 2013; Seitz 2014)
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1. Inklusion -‐ Exklusion
Inklusion ist nicht neu.
Teilhabe an Bildung und Erziehung in InsGtuGonen = Inklusion in Bezug auf Erziehungs-‐ und Bildungssystem
Aber: Exklusion durch OrganisaGonen è „inkludierende Exklusion“ (vgl. SGchweh 2009; Seitz 2014)
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Beispiele für inkludierende Exklusion Höhere Töchterschule (Kassel, 1870)
Hilfsschule (Köln, 1886) hap://presse.uni-‐oldenburg.de/25074.html
è Höhere Mädchenbildung im 19. Jhdt.:
• Reduzierte Curricula • Keine HochschulberechGgung
è Auhau von Hilfsschulen nach 1900:
• Reduzierte Curricula • Sonderschulabschlüsse • „Schule der Armen“
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Menschenrecht auf Bildung (Generalversammlung der UNO; Paris, 10. Dezember 1948)
(...) ArGkel 26 1. Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch.
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Prof. Dr. Simone Seitz Kassel, Juli 2015 (Abb.: Betril: IntegraGon 1995,entnommen: Roebke/Hüwe/Rosenberger 2000, S. 211)
• Mehrgliedrigkeit: wurde in (West)Deutschland auch nach NS-‐Zeit beibehalten
• KMK-‐Empfehlung 1960: Anerkennung von Bildungsfähigkeit -‐ 12 Arten von Sonderschulen!
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Seit 40 Jahren erfolgreiche integraGve Praxis in Schulen
Dennoch: Fast allen Akteur/innen in BildungspoliGk und Lehramtsausbildung/-‐weiterbildung fehlen aktuell biografische Erfahrungen mit inklusiver Schulpraxis.
(Abb. entnommen: Schöler, Jutta 1993)
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... immer noch fehlen vielen LehrkräBen berufsbiografische Erfahrungen. Seit UN-‐BRK: Vielfach Erfahrungen unter problemaGschen Rahmenbedingungen (Dual Track)
hap://www.bodelschwinghschule-‐bonn.de/
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UN-‐BehindertenrechtskonvenTon (2006)
ArGkel 24 (1):
Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung.
Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen …
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Europäische Agentur für Entwicklungen im Bereich der sonderpädagogischen Förderung, Länderdaten 2010
Nachholbedarf ...
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Klassifizierungen: Besonders gefährdet bezüglich
… Zuschreibung von sonderp. Förderbedarf: • Jungen • Angehörige von Minderheiten • Kinder aus Familien mit geringem kulturellen Kapital (Powell/Wagner 2002; Koamann 2006; Wocken 2006; Werning/Lütje-‐Klose 2012)
… Nicht-‐Erkennung von Hochbegabung bzw. underachievement: • Mädchen • Angehörige von Minderheiten • Kinder aus Familien mit geringem kulturellen Kapital (Stamm 2007; 2009) è InsGtuGonelle und personale Diskriminierung in einem
hierarchischen Bildungssystem (Gomolla/Radtke 2002; 2007; Racherbäumer et al. 2013)
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Knackpunkt im deutschen Schulsystem
è Diskriminierungsfreier Zugang zu Bildung ist kaum mit hierarchischem Schulsystem vereinbar:
Die Verpflichtung zum Umbau des Schulsystem berührt die tradierten Herstellungspraxen sozialer Ordnung über Klassifizierung und Platzierung im (Sonder-‐)Schulsystem (Seitz et al. 2012)
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Sonderschulsystem = pfadabhängige, eigendynamische Entwicklung und Trägheit (vgl. DiMaggio/Powell 2009; Powell 2012)
è DidakGsche Konzepte sind zumeist wenig anschlussfähig (notwendige DefizitperspekGve) èProfessionen und Fachdiskurse unverbunden, Bestandsinteressen der Sonderpädagogik
http://fauna.startbilder.de/name/einzelbild/number/3533/kategorie/saeugetiere~zahnarme-saeugetiere~faultier.html
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Gliederung
1. Inklusion und Exklusion im Schulsystem
2. Inklusion lernen – Anregungen zur Professionalisierung von LehrkräBen für die inklusive Schule
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è Was bislang fast ausschließlich auf organisaGonaler Ebene bearbeitet wurde, muss nun auf der Mikroebene gelöst werden:
„inklusionstaugliche“ pädagogisch-‐didakGsche Konzepte
è alle Lehramtsprofessionen müssen zentrale Aufgabenfelder in das Professionsbild re-‐integrieren
è berührt hierarchische Berufsordnung der Lehramtsprofessionen / Bestandsinteressen der sonderpädagogischen Profession
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Reformnotwendigkeiten:
è Inklusion als (selbstverständliche) Querstruktur in allen Lehramtsstudiengängen (HRK & KMK 2015)
è Abschied von vollständig abgetrennter Sonderpädagogikausbildung:
• KurzfrisGg: Doppelqualifizierungen (Bremen & Bielefeld; vgl. Seitz 2011; Lütje-‐Klose/Miller 2014)
• LangfrisGg: Entwicklung neuer Profile „quer“ zu tradierten Berufsbildern
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(nds 2/2002)
„weil die arbeiten nicht so viel, die Koop-‐Kinder. (...) das wäre vielleicht zu viel für die (...) aber wir müssen ja halt arbeiten“
Zitat aus: Pohl 2011
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è KlassifizierungsprakGken wirken weiterhin diskriminierend
è Verstellen den Blick auf Begabungen und Verschiedenheiten der Lebenslagen aller Kinder u. Jugendlicher
è Differenzierungen unterliegen DefizitperspekGve (vgl. Seitz 2005; 2012; Korff 2013; 2015).
Probleme:
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Gleichbe
rechGg
ung
Barrierefreiheit
Recht auf Bildung
parTcipaTon
achievement
„Herausforderung in sozialer Eingebundenheit“
(Seitz/Scheidt 2012)
I Inklusive DidakGk – müssen LehrkräBe eine spezifische DidakGk lernen?
Inklusiver Unterricht ist guter Unterricht
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Zentrale Idee inklusiven Unterrichts:
Komplexe Aufgaben zu grundlegenden Fragen. (vgl. Seitz 2005; 2006)
„Wo wäre ich jetzt, wenn ich noch nicht auf dieser Welt leben würde?“
(Krenz 2009)
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Anerkennung: „Das sind meine Schüler. Es sind die Besten. Andere hab ich nicht“ (eine Grundschullehrerin) Differenzierungen: ... natürlich ... als Enrichment (Seitz et al. 2015)
hap://www.ard.de/zukunB/kinder-‐sind-‐zukunB/kinder-‐sind-‐zukunB/die-‐ideale-‐schule/-‐
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Hohe Erwartungen an jede und jeden Einzelnen fördern ParGzipaGon und achievement.
• Hohe AkGvierung
• Hohes Maß an Selbststeuerung
• Anerkennende, konstrukGve und transparente Rückmeldepraxen
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Inklusiver Unterricht: ein Kleaergarten
Dialog auf ungleichen Wegen (vgl. Seitz 2006; 2008)
hap://www.lyra-‐schmiden.de/jug_berichte/2007/kleaergarten/kleaergarten.htm hap://www.alegria-‐event.de/FlashHome/Beispiele/beispiele.html
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I Unterricht
è LehrkräBe müssen keine gänzlich „neue“ Form des Unterrichtens erlernen.
Besser: Einbinden in die Weiterentwicklung guten schülerzentrierten differenzierten Unterrichts (z.B. Lernlandkarten ...).
Aus-‐/Weiterbildung: Professionalisierungsmoment steckt im Aushalten von Ungewissheit, nicht in der Aneignung von Handwerkszeug, dass einen fehlerfreien Ablauf des Unterrichts verspricht
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II Keine Überraschung:
Aufgaben der KooperaGon und Teamarbeit (intra-‐ und interpersonell) gewinnen an Bedeutung (vgl. u.a. Krämer-‐Kilic 2014)
-‐ Teamarbeit erfordert Abschied vom „alten“ Berufsbild mit hoher Autonomie (Öffentlichkeit des pädagogischen Handelns)
-‐ Abschied von „Meine – Kinder; Deine Kinder“
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Ein dialogischer Austausch unter Ungleichen zwischen Kindern fällt leichter, wenn dies auch zwischen Lehrkräften stattfindet
Gelingende Teamprozesse sind wesentlich für inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung
Abb.: http://www.alegria-event.de/FlashHome/Beispiele/beispiele.html
LeiGdee: Ko-‐KonstrukGon auf der Basis von Vertrauen und Wertschätzung (Gräsel/Fußangel 2007; Lütje-‐Klose/Urban 2014)
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II Team
è Das Unterrichten im Team sollte selbstverständlicher Bestandteil universitärer Lehramtsausbildung werden
Eine StudenGn: Ich bin von dieser Art zu unterrichten sehr angetan, obgleich besonders in der Planung ein höherer Zeitaufwand damit verbunden war. (...) die Tatsache, dass die Ergebnisse mich mehr überzeugten als die Ideen die ich alleine mitgebracht häae, führen für mich zu der Einschätzung, dass das Team-‐Teaching für mich eine sehr gute AlternaGve ist.
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III Unterrichtsentwicklung ist Kern von Schulentwicklung: • Interessengeleitetes Lernen im Schulleben, z.B. Projektzeiten für Forschendes Lernen ...
• Inklusive Schulentwicklung ist kein Spezialprogramm, sondern Teil von demokraGscher Schulentwicklung
• „Hohe Erwartungen an Schüler zu stellen, hält die Eltern im Boot und holt die Eltern ins Boot“ (Schulleiterin GS)
è Schulleitungen sind als Change Agents gefragt
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Frau C: (...), und man bekommt halt immer wieder die Rückmeldung: Alles gut. Alles prima. Wir kriegen das in den Griff. Wir finden das prima, dass ChrisGan hier ist.(...) Weil in den anderen Schulen, da haben sie einem ein schlechtes Gewissen versucht einzureden, dass man so ein Kind hat und dass man das Kind in die Schule schickt und dass sie sich da nun gerade drum kümmern müssen. Und das gibt es da gar nicht, überhaupt nicht. Man wird höflich begrüßt.
Fallbeispiel – Mu_er von ChrisTan
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III Schulentwicklung
è Zum Professionsbild aller LehrkräBe sollte die akGve Mitarbeit an Schulentwicklungsprozessen gehören
Dies beinhaltet auch:
• reflexives Wissen über Vorurteile und Klassifizierungen
• Aneignung reflexiven kulturellen Wissens sowie Wissen über Kinderarmut und prekäre Lebenslagen (etwa Kinder mit Fluchterfahrungen), z.B. Fallarbeit
• Grundwissen zur Schule als InsGtuGon / Ideen von BildungsgerechGgkeit
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I Unterricht
II Team und KooperaGon
III Schulentwicklung
è In Formaten Forschenden Lernens in Zusammenarbeit mit Schulen angehen
è Die vielen offenen Fragen der Schulen als Potenzial für praxisrelevante Forschungsformate nutzen
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Beispiel aus Lehr-‐Forschungsprojekt
Impuls der Schule Wir sollen Modellschule Inklusion werden – wie stehen wir im Schulentwicklungsprozess da und wie können wir den Unterricht verbessern?
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Beispiel: Unterrichtsbeobachtungen und Befragungen an inklusiver Grundschule -‐ TEAM
„Das ist so ein Geben und Nehmen. Das klappt wirklich gut. Das finde ich auch ganz toll hier an der Schule. Und ich glaube, nur deshalb können wir die Arbeit hier auch wuppen, weil wir so gut zusammen sind.“ (LehrkraB)
„Man kriegt nicht immer alles so mit. […] Das ist ja nur, dass man ja das bei den Hausaufgaben
mitbekommt, oder wenn ich mal Material für die Vertretungsstunden bekomme. […] Wir sehen uns
dann eben auf Dienstversammlungen oder Gesamtkonferenzen.“ (Päd. Mit.)
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Unterrichtsbeobachtungen und Befragungen an inklusiver Grundschule -‐ UNTERRICHT LehrkraB: Ja, und dann beginnt ab zwanzig nach acht der richGge Unterricht, so dass die Kinder selbstständig arbeiten. Da auch noch interessenorienGert, die nehmen sie sich einen Arbeitsplan, Mathe oder Deutsch und arbeiten sehr selbstständig und auf ihrem Leistungsniveau. (EE/5/119-‐124)
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Kinderbefragung mit Material Erzählimpuls: An was hast du gerade gearbeitet? Magst du es einmal zeigen/beschreiben? ... "Ja, und was findest du denn gut da dran [Arbeitsplan]?“ • "Also, was ich arbeiten muss, ferGg zu kriegen." (Interview Susann, Z. 45) • "Dass ich ferGg bin." (Interview Geheimagent, Z. 29)
è raGonelle Planerfüllung im Format Arbeits-‐/ Wochenplan (vgl. Huf/Breidenstein 2009)
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Inklusion kann gelernt werden –
Anregungen zur Professionalisierung von LehrkräEen für inklusive Schulpraxis
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Ausgewählte Literatur der ReferenTn zum Thema (siehe auch: upb.de/seitz) Seitz, Simone et al. (2015): Hochbegabung inklusive. Inklusion als Impuls für Begabungsförderung an Schulen. Weinheim: Beltz (im Druck) Seitz, Simone/ Haas, Benjamin (2015): Inklusion kann gelernt werden! Weiterbildung von LehrkräBen für die Inklusive Schule. in VierteljahreszeitschriB für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete. 84. Jg., HeB 1, S. 9-‐20 . Seitz, Simone (2014): Inklusion in der Grundschule. In: Franz, Eva-‐KrisGna; Trumpa, Silke; Esslinger-‐Hinz, Ilona (2014): Inklusion – Eine Herausforderung für die Grundschulpädagogik. Ein Studienbuch zu grundlegenden Themenfeldern der Pädagogik. Band 11. Hohengehren: Schneider, S. 21-‐29. Seitz, Simone (2012): Inklusive DidakGk. Der Reichtum geht von den Kindern aus. In: PÄDAGOGIK, Serie zum Thema "Inklusion", HeB 10, S. 44-‐47. Seitz, Simone (2011): Was Inklusion für die Qualifizierung von LehrkräBen bedeutet. Gewinn für LehrerInnen und SchülerInnen. in: Journal für LehrerInnenbildung, HeB 3, S. 50-‐54. Seitz, Simone (2011): Eigentlich nichts Besonderes -‐ LehrkräBe für die inklusive Schule ausbilden. In: ZeitschriB für Inklusion. Online-‐Magazin. HeB 3. hap://www.inklusion-‐online.net/index.php/inklusion-‐online/arGcle/view/83/83