Die Schweizer Gemeinden – Exkurs: Size and Local Democracy Prof. Andreas Ladner FHS St. Gallen...

Post on 06-Apr-2015

109 views 0 download

transcript

Die Schweizer Gemeinden – Exkurs: Size and Local DemocracyProf. Andreas Ladner

FHS St. Gallen

6./7. November 2014

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Dahl/Tufte (1973): Size and Democracy:

Zusammenhang zwischen

„Demokratie“ und „Grösse“?

Wie gross muss ein politisches

System sein, damit eine Kontrolle

durch die Bürgerschaft erleichtert

wird?

Vor- und Nachteile unterschiedlich

grosser politischer Systeme?

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Aktualität vor 30 Jahren:

Bevölkerungsexplosion, Urbanisierungsprozess

Kleine europäische Demokratien -> föderatives

Europa

Grass roots democracy, grössere Bürgernähe

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Aktualität heute

Gemeindefusionen

Regionsmodelle

Agglomerationen

Kantonsfusionen

EU

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Platon (427-347 v. Chr.)

Die Vereinigung der Bürgerschaft soll so gross sein,

dass alle einander kennen und sich möglichst freundlich

gesinnt sind.

Optimale Zahl: 5040 Familienoberhäupter.

Laws, in The Dialogues of Plato. Vol. II: V, 738, 742; VI 771

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Aristoteles (384-322 v. Chr.)

Optimale Grösse der Polis:

Mindestens so gross, dass sich die Bevölkerung selbst versorgen kann. Höchstens so gross, dass die Leute den Charakter der anderen noch kennen.

Zudem sollte sich alle auf einem Platz versammeln können und den Sprecher noch hören.

Politics, p. 292

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Rousseau (1712-1778)

Für Rousseau variieren die Möglichkeiten der Bürger sich effektiv an der Politik zu beteiligen umgekehrt mit der Grösse.

Je mehr Bürger, desto kleiner wird der Anteil des Einzelnen an der Entscheidung. Gleichheit, Beteiligung, Kontrolle über die Regierung, politische Rationalität, Freundlichkeit und bürgerlicher Konsens gehen zurück, wenn die Bevölkerung und das Territorium eines Staates grösser werden.

„Du Contrat social“, versch. Passagen

Andreas Ladner
Vertreter der radikalen Volkssouveränitätslehre, Gegenpol zu den frühliberal, verfassungsstaatlichen Modellen in Montesquieus Theorie und den später entworfenen, klassisch-liberalen Demokratietheorie von Mill. Rousseau griff den Gedanken der Direktdemokratie auf und entwickelte ihn zur radikalen Volkssourveränität, er kann aber nicht vollumfänglich als Verfechter der Direktdemokratie betrachtet werden (Schmidt 2000: 32)

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Montesquieu (1689-1755)

“Si une république est petite, elle est détruite par une

force étrangère; si elle est grande, elle se détruit par

vice intérieur.”

De l’Esprit des lois, Livre IX, Chapitre 1.

Andreas Ladner
Untersuchte Einfluss von natürlichen und geographischen Gegebenheiten auf die Staatsformen. Für konstitutionelle Monarchie à la England. Vater der Gewaltenteilung. Lettres persanes -> Kulturrelativismus.

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

John Stuart Mill (1806-1873):

„But since all cannot, in a community exceeding a

single small town, participate personally in any but

very minor portions of the public business, it

follows, that the ideal type of a government must

be representative.“

“Representative Government”

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Critical juncture: Herausbildung der Nationalstaaten

Der Stadt-Staat entspricht je länger je weniger der

Wirklichkeit.

Der Ort der Demokratie verlagerte sich von den

kleineren Einheiten zum Nationalstaat.

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Korrektive Elemente wie...

Repräsentationsprinzip

Gewaltenteilung

Föderalismus

verhelfen den „grossen“ Demokratien zum

Durchbruch

vgl. Federalist Papers/Tocqueville/Montesquieu/Mill

Andreas Ladner
Schmidt (2002: 32) spricht von der liberal-konstitutionellen und föderalistischen Zügelung der Demokratie im Flächenstaat.

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Aber:

Die klassische Vorstellung der alten Griechen und von

Rousseau von der „wahren“ Demokratie, und damit

auch von den Vorteilen der Kleinheit, ist nie ganz

verschwunden.

Sie findet sich bei den Gegnern einer Zentralisierung,

den Anhängern autonomer lokalen Einheiten, den

Anhängern der partizipatorischen, grass-roots

Demokratie.

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Theoretische Grundlagen (1)

Define and measure democracy without being

normative? (vgl. Problem Demokratiebarometer)

Democracy: Input vs. Output orientation

System capacity vs. Citizens effectiveness

(democratic dilemma, Dahl and others)

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Theoretische Grundlagen (2) Erklärung auf der Kontextebene - zwei theoretische Modelle:

Decline of Community

Politische Mobilisierung

Verba and Nie (1978: 270 f.)

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Wie kann die „Qualität der Demokratie“ operationalisiert werden?

Zufriedenheit der BürgerInnen und Bürger ihr politisches Interesse Kenntnisse über die politischen Zusammenhänge, persönliche Voraussetzungen zur Politikbeteiligung wahrgenommene Möglichkeiten zur Politikbeteiligung Mobilisierungs- und Organisationsmöglichkeiten Partizipation.

Aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger!

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Einflussfaktoren für Ausprägung und Qualität lokaler Demokratie

Soziale Integration

Interesse

Kompetenz

Vertrauen

Zufriedenheit

Politische Beteiligung

Qualität lokaler D

emokratie

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Kurze Vorbemerkung

Unterschiede zwischen grossen und kleinen Gemeinden heisst nicht zwingend, dass die Gemeindegrösse einen Einfluss hat.

Zwei Analysemöglichkeiten

A): Gibt es Unterschiede zwischen grossen und kleinen Gemeinden?

B): Erklärt die Gemeindegrösse diese Unterschiede?

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Interesse an lokaler, nationaler und internationaler Politik (nach Ländern)

62.5

45.9

53.858.0

77.0

59.1

70.367.6

73.8

45.9

52.9

46.3

0.0

10.0

20.0

30.0

40.0

50.0

60.0

70.0

80.0

90.0

100.0

Schweiz Norwegen Dnemark Niederlande

Lokale Politik Nationale Politik Internationale Politik

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Interesse an lokaler, nationaler und inter-nationaler Politik (nach Gemeindegrösse)

0.0

10.0

20.0

30.0

40.0

50.0

60.0

70.0

80.0

90.0

100.0

bis 500 501 bis 1000 1001 bis2500

2501 bis5000

5001 bis7500

7501 bis15000

mehr als15000

Lokale Politik Nationale Politik Internationale Politik

Lokale Politik, Pearson corr =.028, sig. = .838, N = 56; nationale Politik, Pearson corr =.339*, sig. = .011, N = 56; internationale Politik, Pearson corr =.293*, sig. = .028, N = 56.

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Interesse: Multilevelanalyse Kontextdaten

Erklärungsgrössen Interesse an

lokaler Politik Interesse an

nationaler Politik

Interesse an internationaler

Politik Konstante 1.06* 1.63* 1.55* Ebene der Gemeinde Grösse der Gemeinde .36 .85* 1) .63* Kulturelles Umfeld Konfession .06 -.09 -.09 Sprache .14* .30* .21* Demographische Konfliktpotential Rentneranteil .10 .20 .24 Einkommensverteilung -.51 -.37 -.18 Politisches Wettbewerbspotential Beteiligungstradition .43* -.28 -.24 Polarisierung -.22 .11 .24 Institutionelles Umfeld Wahlverfahren -.04 -.03 -.11 Exekutivgrösse -.30 -.50* -.49* Gemeindeversammlung -.11 .03 .07 Wirtschaftliche Problemlage Steuereinnahmen pro Kopf .11 .24 .17

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Wissen: Name des Gemeinde-/Stadtpräsidenten (int. Vergleich)

63.273.1 75.3

59.2

36.826.9 24.7

40.8

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

CH N DK NL

Antwort richtig Antwort falsch

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Wissen: Name des Gemeindepräsidenten und Gemeindegrösse

79.683.4

69.3

48.8

60.9 59.4

68.0

0.0

10.0

20.0

30.0

40.0

50.0

60.0

70.0

80.0

90.0

100.0

bis 500 501 - 1000 1001 - 2500 2501 - 5000 5001 - 7500 7501 -15000

15000 undmehr

Name des Gemeindeprsidenten bekannt

Ungewichtete Werte, signifikanter negativer Zusammenhang zwischen Gemeindegrösse und Anteil richtiger Antworten (pearson corr = -.338*, sig. = .011, N = 56)

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Durchschnittliche Wahlbeteiligung auf den drei Ebenen nach Gemeindegrösse

Quelle: Gemeindeschreiberbefragung 2005

0

10

20

30

40

50

60

70

-499 500-999 1000-1999

2000-4999

5000-9999

10000-19999

20000-49999

50000-99999

100000-

Gemeinde Kanton Bund

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Wahlbereitschaft und Gemeindegrösse (SLD)

70.066.9 67.8

63.659.1

67.0

58.4

0.0

10.0

20.0

30.0

40.0

50.0

60.0

70.0

80.0

90.0

100.0

bis 500 501 - 1000 1001 - 2500 2501 - 5000 5001 - 7500 7501 -15000

15000 undmehr

Lokale Wahlen

Signifikanter negativer Zusammenhang zwischen der Gemeindegrösse und dem Anteil an Personen, die sich fast immer oder immer an lokalen Wahlen beteiligen (pearson corr = -.264*, sig. = .050, N = 56), ungewichtete Werte.

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Multilevelanalyse Kontextdaten: Wahlbereitschaft Lokale Wahlen

MLA OLS MLA OLSSwitzerland Norway Denmarkthe Netherlands

SIZE

Size (log ) bivariate ? 0.02 0.00 -0.03 0.00

Size(log) ? 0.10 0.03 -0.01 0.10

MUNICIPAL ENVIRONMENTDensity 0 0.00 0.00 0.00 0.00Percentage non-western 0 0.00 0.00 0.00 0.00Effective number of parties (+) -0.03 -0.03 0.01 0.04Unemployment rate 0 0.00 0.00 0.00 0.00Dependent population 0 0.00 0.00 0.00 0.00Percent with low education (-) 0.00 0.00 0.00 0.00(Type of system in CH) - 0.00

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Multilevelanalyse Individualdaten: Wahlbereitschaft Lokale Wahlen (1)

MLA OLS MLA OLSSwitzerland Norway Denmarkthe Netherlands

INDIVIDUAL CHARACTERISTICSGender ? -0.06 0.04 -0.03 0.06Age ? 0.05 0.09 0.09 -0.10Education ? 0.14 0.05 0.02 0.04Civil status ? 0.11 0.05 0.01 -0.03Single parent with child ? 0.05 -0.04 -0.02 0.00Percent life lived in municipality ? 0.12 -0.03 0.01 -0.06Property owner ? 0.03 -0.03 0.01 -0.02Commuter ? 0.09 0.00 -0.03 -0.06Employed ? -0.05 0.08 -0.01 -0.02Public employee ? 0.03 0.00 -0.02 0.06Religious participation ? 0.07 -0.01 0.02 0.04

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Multilevelanalyse Individualdaten: Wahlbereitschaft Lokale Wahlen (2)

MLA OLS MLA OLSSwitzerland Norway Denmarkthe Netherlands

SOCIAL EMBEDDEDNESSAssociation membership + 0.04 0.07 0.03 0.16Neighbourhood integration + -0.02 0.05 0.02 -0.01Social trust 0 0.00 0.00 0.00 0.00Local attachment + 0.11 -0.01 0.04 0.15

COMPETENCIES AND POLITICAL ORIENTATIONSPolitical interests (+) 0.08 0.10 0.16 0.24Knowledge - combined index (+) 0.14 0.10 0.11 0.14Internal efficacy - combined index (+) 0.18 0.13 0.08 -0.12Political confidence ? 0.10 0.02 0.08 0.06Performance satisfaction ? -0.02 0.02 -0.06 0.04Local elections decisive (+) 0.10 0.05 0.04 -0.01Voting is civic duty (+) 0.15 0.25 0.13 0.08Strength party identification (+) 0.02 0.13 -0.03 0.09

N 632 1263 1372 462

Pseudo R2 (individual) 37.5 22.2 13.6 20.1

Pseudo R2 (municipal) -159.7 HESS 27.4 HESS

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Zusammenfassung und Schlussfolgerung

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Auswirkung Gemeindegrösse auf einzelne Indikatoren der Demokratiequalität

Indikator Aspekt Einfluss der Grösse

Gesamteinfluss

Nachbarschaftsbindung – Vereinsmitgliedschaft X Parteimitgliedschaft +

Soziale Integration

Gemeindebindung –

Interesse an lokaler Politik X Interesse an nationaler Politik ++ Interesse Interesse an internationaler Politik ++

+ (X)a)

Lokalpolitisches Wissen – Kompetenz Einschätzung eigene Kompetenz – –

Beurteilung Kompetenz / Integrität – – Beurteilung Responsivität – Vertrauen Vertrauen in die lokale Regierung – –

– –

Lebenszufriedenheit + Zufriedenheit mit lokaler Regierung – Zufriedenheit mit Dienstleistungen – Zufriedenheit mit Einrichtungen +

Zufriedenheit

Zufriedenheit mit lokaler Demokratie X

X (+/–)

Partizipation bei lokalen Wahlen – Partizipation bei Nationalratswahlen X Amtübernahmebereitschaft – Kontaktaufnahme mit Lokalpolitikern – – Einreichen von Beschwerden –

Partizipation

Unterstützung/Lancierung Initiativen ++

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Fazit (1)

Es gibt den kommunalen Sonderfall Schweiz, zumindest teilweise:

– Lokalpolitik geringe Bedeutung (!),

– Interesse hoch,

– Wissen tief,

– Vertrauen in Gemeinderat hoch,

– Zufriedenheit mit den Dienstleistungen hoch,

– Wahlbeteiligung tief.

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Fazit (2)

„Decline of Community“ Modell hat die besseren

Karten

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Vermutung

Size

Democracy

Decline of Community

Mobilization

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

Fazit (3) - Transfer

Grössere Gemeinden und Kantone führen (ceteris

paribus) nicht uneingeschränkt zu einer

Verbesserung der Demokratiequalität.

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

| ©IDHEAP – Andreas.Ladner@idheap.unil.ch | | 11/04/23 |

And finally!