Die RepoRtage Montag, 29. November 2010 Lang, kalt, hart · kasus-gebirge, in der Re-publik...

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Die RepoRtage Montag, 29. November 20100 Eßlinger Zeitung16

azau liegt im russischen Kau-kasus-gebirge, in der Re-publik Kabardino-Balka-rien. es ist die letzte Sied-

lung im Baksan-tal. Bis zur grenzenach georgien sind es elf Kilometer,bis zum Kaspischen Meer fünf auto-stunden. Das auswärtige amt rät,nicht in den Kaukasus zu fahren. esgibt auch keinen Marco-polo-Reise-führer. Über was sollte man da auchschreiben? Über Bombenanschläge,bewaffnete Übergriffe und entführun-gen? Die Bronx in New York ist ver-mutlich sicherer.einen guten grund gibt es trotzdem,Ferien in azau zu machen. Über demDorf türmt sich der 5642 Meter ho-he Mount elbrus auf. Da die gren-ze nach asien ein paar Kilometerweiter südlich verläuft, ist der elb-rus der höchste Berg europas und ei-ner der „Seven Summits“, Das sinddie jeweils höchsten gipfel von sie-ben Kontinenten. 2007 haben wirmit dem Kilimandscharo höchstenBerg afrikas bestiegen, 2009 habenwir uns am aconcagua in Südameri-ka versucht. es wird Zeit, an dieserListe zu arbeiten. Wir müssen alsonach azau.ein airbus der aeroflot bringt unsnach Moskau. Umsteigen. Der Flug-hafen der Hauptstadt ist wie ein gro-ßer Laufsteg. Westlicher Chic an al-len ecken. Die Frauen tragen Hèr-mes und prada in Konfektionsgröße34, es gibt Shops von gucci, HugoBoss, Ray-Ban, Rolex. Die Mieten inder russischen Metropole haben sichin den letzten Jahren verdreifacht.Moskau ist teurer als London undsteht an der Spitze europas. amFlughafen sind selbst die toilettenmit Marmor gefliest.Mit einer klapprigen tupolew ausden 60er-Jahren geht es weiter in dieKaukasus-Region. Hier gibt esplumpsklos. azau besteht aus einpaar Hotels und pensionen, einemKrämerladen und einer Hand vollKneipen. Vor den Häusern rauchendie grills, auf dem Markt wird Strick-ware angeboten, Katzen streunenumher. Der ort ist doppelt so großwie der esslinger Marktplatz. aufdem Weg dorthin gerät man immerwieder in Militärkontrollen. ein paareuro halten die Milizen bei Laune,die Kalaschnikows bleiben unten.Man kann die alte Sowjetunion förm-lich riechen.Wir bestellen Schaschlik und Bierund fragen uns: Was liegt zwischenden Designer-WCs in Moskau undden plumpsklos am Fuße des elbrus?offensichtlich wenig. Russland istschwerreich an Rohstoffen. Doch eshat in weiten teilen die infrastruk-tur eines entwicklungslands. 25 pro-zent der erwachsenen haben keinBankkonto. Hunderte entlegenerDörfer sind ohne Stromanschluss undwarmes Wasser. Die Straßen erwei-sen sich als Schlaglochpisten, mansieht zerbombte Häuser, zerfalleneFabriken, verlasse-ne Siedlungen. inRussland fehlt diebreite Mittel-schicht. eine gene-ration, die bei ikeaeinkauft. Nur jedervierte ist in der La-ge, langlebige Kon-sumgüter wie autos, Fernseher,Waschmaschinen oder Billy-Regaleanzuschaffen. Doch das wäre die Ba-sis echter Modernisierung, realer De-mokratie – und sozialer gerechtig-keit.Wir treffen Lisa, eine sportlicheBlondine mit pferdeschwanz. Sie istin Deutschland geboren und lebt seit17 Jahren in Russland. ihre Brötchenverdient sie als Bergführerin. Keinausländer war öfter auf dem elbrusals sie. Lisa haben wir im internet er-googelt. Sie ist unsere Rückversiche-rung, falls die Dinge in der gipfel-nacht hoch oben am Berg aus demRuder laufen sollten.Der elbrus kann ein ganz übler Bur-sche sein. er gehört zu den gefähr-lichsten Bergen der Welt. in man-chen Jahren lassen hier mehr Men-schen ihr Leben als am Mount eve-rest. in der Woche vor unserer an-kunft hatte es am gipfel minus 32grad und 100 km/h Windgeschwin-digkeit. Das ist orkanstärke. Das ist,als würde man mit einer Kawasakiüber den Nordpol brettern. Beißen-de Kälte, blitzartige Wetterum-schwünge und gletscherspalten sogroß wie U-Bahnhöfe können denelbrus zu einem heiklen Unterfan-

gen machen. Wer im Schneesturmdie orientierung verliert, hat einmassives problem. Mehr als 70 glet-scher fließen von den Hängen hinab.Die eiskuppe ist drei Mal so groß wieesslingen. Das Risiko eines Spalten-sturzes steigt mit jedem Schritt.am Fuße des gletschers beziehenwir unser Basislager. Wir sind auf4000 Metern Höhe, 2000 Meteroberhalb von azau. Die meistenBergsteiger übernachten in verros-teten Ölfässern. Sie liegen nebenei-nander, jeweils acht Leute passen hi-nein. ein paar kleine bunte Zelte set-zen einen Farbtupfer in dieser öden,kargen Welt. Man stolpert über ver-rosteten Schrott, auf dem gletscherliegen Benzinkanister, hier und dastehen kaputte Notstromaggregateherum, altöl wird im gletscherwas-ser entsorgt. 50 Meter abseits woll-te man eine Berghütte für touristen

bauen. irgend-wann ging dasgeld aus. imobergeschossdes Rohbaus ste-hen jetzt zweiKlohäuschen –ohne Kloschüs-sel. in die Boden-

platte wurden Löcher in der größevon Fußabstreifern geschlagen.Wenn man so will, fliegen die Fäka-lien vom Schlafzimmer insWohnzimmer.Wir leben in Baucontainern.Dort gibt es Stockbetten ohneMatratzen. Wir werfen dieSchlafsäcke auf eine dünneHolzplatte und fertig. Die Kü-che befindet sich in einem eige-nen Container. tamara umsorgtuns hier wie ihre eigenen Kin-der. es gibt Rühreier, leckereSuppen, frisches gemüse, gu-lasch, Salate, Kaffee und tee,Wurst und Käse, Fisch undFleisch. Fünf Liter trinken amtag sind pflicht. Wir sitzen imKüchen-Container an der Bier-tischgarnitur und genießen dieZeit. Von hier aus sind es noch1600 Höhenmeter zum gipfel.Die absolute Streckenlänge zumhöchsten punkt und wieder zu-rück beträgt 20 Kilometer. Da-für braucht man 12 bis 16 Stun-den. tamara schält Kartoffeln,die töpfe dampfen, es ist molligwarm. Wir spielen Karten.in den folgenden tagen machenwir touren in immer höhere Re-

gionen. geschlafen wird im Basisla-ger. „Climb high, sleep low“ heißtdas Motto der Höhenanpassung. aufdem gipfel des elbrus beträgt derSauerstoffpartialdruck nur noch dieHälfte. Man verliert 50 prozent derLeistungsfähigkeit, körperlich undgeistig. Wer hier ei-ne Stunde rastet,verbrennt mehrenergie als bei ei-ner Stunde Dauer-lauf.Langsam dämmertuns: Der elbruswird uns viel mehrabverlangen als der Kilimandscharo.Der gipfelgang ist länger, kälter undhärter. Der Kili ist das Lächeln afri-kas, der elbrus ist das eisige gesichtRusslands. Wir haben unseren letz-ten Ruhetag vor dem gipfelversuch.Wir liegen in der Sonne, vertrödelndie Zeit. Der Countdown läuft. eskribbelt. Haben wir genug trainiert?Wir packen. in den Rucksack kommtnur das allernötigste: Drei Liter Was-ser, erste-Hilfe-Set, power-gels, zehnaspirin, eine Dose Red Bull, Schoko-lade, Sonnencreme, eispickel, Digi-talkamera, ersatzakku.es ist drei Uhr nachts. Wir habenschlecht bis gar nicht geschlafen. esist gespenstisch. Wir tragen zwei La-gen Skiunterwäsche, drei Jacken,

Bergstiefel mit thermo-innenschu-hen, Steigeisen, Sturmhaube, Müt-ze, Skibrille, Stirnlampe und Höhen-messer. Das thermometer zeigt mi-nus fünf grad, die Wetterprognoseist gut. ein letzter Schluck tee, einletztes Schulterklopfen. Lisa geht

vorneweg, ihrrussischer gehil-fe geht hinten. erist unser Sicher-heitspuffer, fallsjemand umdre-hen muss. DieSteigeisen schla-gen Funken, als

wir durch das steinige Basislagerstaksen.Nach kurzer Zeit stehen wir am Fußdes gletschers. Das ist der schlimms-te Moment überhaupt. Man betet, ei-ne halbwegs gute tagesform zu er-wischen. Nur wer jetzt seine physi-sche und psychische Kraft auf denpunkt bringt, hat eine Chance. Diegletscherflanke ist hart wie Beton.perfekt. Die Steigeisen beißen sichfest wie Krokodilzähne. Wir steigenim Zeitlupentempo auf. Wer am an-fang hetzt, bricht am ende ein. es isteine abenteuerliche Stille. Man hörtnur die tiefen atemzüge der Freun-de, das Knirschen der Steigeisen unddas Klimpern der Karabiner am Klet-tergurt. Die Stirnlampen schweifen

durch die Nacht, die eiskristalle tan-zen auf dem gletscher.4900 Meter. Unterhalb des ostgip-fels queren wir eine steile Flanke.Der pfad ist etwa so schmal wie einBiertisch. Links fällt die Wand 1000Meter steil ab. Das Herz hämmert,die Lungen glühen, der Schweißrinnt. Wie blöd muss man sein, sichdas freiwillig anzutun? Die Querungnimmt kein ende. es ist eine tortur.Wir fluchen. Und schnaufen. Und flu-chen. Und schnaufen.gegen halb acht erreichen wir denSattel. 5200 Meter. Von hier geht eszwei Kilometer durch ein eisiges tal,rechts der ostgipfel, links der etwashöhere Westgipfel. Wir stehen vordem letzten aufschwung, 45 gradsteil, blankes eis. Der Höhenmesserzeigt 5300 Meter. Noch zwei Stun-den bis zum gipfel. Die Hälfte alleraspiranten bricht hier ab. Wir ma-chen pause. Die Do-se Red Bull soll Flü-gel verleihen, einpaar aspirin sollendie höllischen Kopf-schmerzen lindern.Wir nicken immerwieder kurz ein.Die Müdigkeit frisstsich im Körper fest, wir kommen nurschwer auf die Beine. es ist neunUhr, die Sonne strahlt. auf das Wet-

ter können wir es nicht schie-ben.Markus ist jetzt im tiefroten Be-reich. Wir fixieren seinen Ruck-sack mit einem eispickel undwollen ihn auf dem Rückwegwieder mitnehmen. Schritt fürSchritt quälen wir uns höher.Man hat das gefühl, als hätteman einen trockenen Waschlap-pen im Mund. Wir erreichen denKraterrand. 5540 Meter. ge-schafft? Schön wär’s. ganz hin-ten, am anderen ende des Kra-ters, etwa zehn Fußballfelderentfernt, sehen wir den höchs-ten punkt. Zum Heulen.20 Minuten später stehen wirauf dem Dach europas. allein.es ist 11.15 Uhr. Jubelgeschrei.Vergessen ist die anstrengungder letzten Stunden. Wir hüp-fen wie kleine Kinder. Dieglückshormone sprudeln, wirumarmen uns, es kullern einpaar tränen. Das sind die Mo-mente, die man ein Leben langnicht vergisst. ein Steinblockmarkiert den höchsten punkt.

Wir lassen ein paar andenken da,Ketten, glücksbringer. Die dünneLuft ist glasklar. Wir blicken in Rich-tung türkei, nach georgien, in dierussische Steppe. Warum gibt es dortunten Krieg und Hungersnot? Wirsehen die erdkrümmung. Was dieLiebsten zu Hause jetzt wohl ma-chen?Die meisten Unglücksfälle passierenbeim abstieg. Nach 30 Minuten bre-chen wir auf. ein letzter Blick zu-rück. Markus schwankt wie HaraldJuhnke. Lisa nimmt ihn ans kurzeSeil. Das Risiko, an den steilen Flan-ken abzustürzen, ist zu groß. DieSonne hat den gletscher aufge-weicht, wir sinken ein bis zu den Kni-en. immer wieder lassen wir uns ein-fach in den Schnee fallen. Um 15 Uhrtorkeln wir ins Basislager. tamara.Heißer tee. Das erste Bier seit einerWoche.

Zurück in azauchecken wir imHotel alpinaein. Der Chefsieht aus wie einKirmesboxer,kahler Schädel,die Hände großwie Baseball-

Handschuhe. er trägt einen schwar-zen adidas-Jogging-anzug und fährteinen 5er-BMW mit 20-Zoll-alufel-gen. auf den ersten Blick könnte seinHotel in Kitzbühel stehen. auf denzweiten Blick nicht. Die Betten sindaus pressspanplatten zusammenge-leimt, die treppengeländer wackeln,die Balkone neigen sich nach vorn,die Wellness-Dusche spuckt bitter-kaltes Wasser aus.Wer nach azau fährt, darf keinenwestlichen Standard erwarten. Wernach azau fährt, erlebt Russland. Je-de Wette, dass die 70 Dollar fürsDoppelzimmer direkt in die Jogging-hose des Chefs wandern. Kein Fi-nanzminister wird jemals auch nureinen teil dieses geldes sehen. Dochwenn die öffentlichen Kassen leersind, kommen bitter nötige infra-strukturmaßnahmen nur schleppendvoran. am ende lebt jeder nur fürsich. Die einen fahren 5er-BMW undsind Hotelbesitzer, die anderen hau-sen zu acht in einer Zwei-Zimmer-Wohnung und werfen den Müll ausdem Fenster. Beide wohnen Seite anSeite. Russland ist ein armes, reichesLand. Wir sind froh, dass wir da wa-ren. Und wir sind froh, dass wir wie-der weg sind.

Lang, kalt, hartDas Auswärtige Amt rät von Reisen ins russische Kaukasus-Gebiet „dringend ab“. Ziemlich töricht ist, wer trotzdem hinfährt.

Doch die Besteigung des 5642 Meter hohen Mount Elbrus – der höchste Berg Europas und einer der „Seven Summits“ – ist einfach zu verlockend.Eine Zeitreise durch ein armes, reiches Land.

Von Thorsten Jacobs

Fröhliche Männer auf dem Gipfel: Matthias Kral, Thorsten Jacobs, Frank Naruhnund Markus Ottmayer (von links) – alle aus dem Esslinger Raum – haben dieStrapazen von eben schon vergessen.

Ein paar Euro halten die Mi-lizen bei Laune, die Kalasch-nikows bleiben unten. DieSowjetunion lässt grüßen.

Ganz hinten, etwa zehnFuß-ballfelder entfernt, sehenwir den höchsten Punkt.Zum Heulen.

Die Eiskuppe ist drei Malso groß wie Esslingen. DasRisiko eines Spaltensturzessteigt mit jedem Schritt.

Majestätisch ruht der Mount Elbrus im Kaukasus: Er ist das eisige Gesicht Russlands. Fotos: Jacobs