Post on 18-Mar-2016
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architheseEine Suche in Kunst, Leben und Architektur
Wie das Neue in die Welt kommt
Sou Fujimoto
From convergence to emergence
27 Gedanken zum Thema Serendipity
Die Karriere des Aleatorischen
raumlaborberlin
The curse of the surge towards authenticity
weichlbauer / ortis
Plädoyer für eine nicht-totalitäre Ästhetik
Brutalism as found
Philippe Schmit Villa Vauban
Stefan Zwicky Restaurant uniTurm
Karl Moser Special
Interview Gigon / Guyer
6.2010
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
International thematic review for architecture
Zufall
Randomness
Leserdienst 103
4 archithese 6.2010
E D I T O R I A L
Zufall
«Allein durch Unbestimmtheit, Zufall und Unfall lässt sich die Zukunft erkennen».
Enric Ruiz Geli, Cloud 9
Wer das Jahresprogramm der archithese für 2010 sorgfältig studierte, wird fest-
stellen, dass sich das vorliegende Heft als Ersatz für das angekündigte Heft über
Emigration eingeschlichen hat. Der Zufall wollte es – und wurde sogleich zum Thema.
Anfänglich motiviert durch die zunehmende Kultivierung einer zufälligen Ästhe-
tik, wie im VitraHaus von Herzog & de Meuron beispielhaft vorgeführt, stellte sich
heraus, dass der Zufall grundlegendste Konzepte des architektonischen Entwer-
fens berührt – denn Inspiration und Einfall sind letztlich nicht vorhersehbare und
dem Kontingenzgedanken folgend auf Zufälligkeit beruhende Ereignisse. Selbst
die klassizistisch-deterministische Entwurfshaltung ist in ihrer Ablehnung eine
vermeintlich ordnende Reaktion auf die Zufälligkeit der Welt. Diese, ihr Entstehen
wie auch das umgebende Universum werden spätestens seit dem Aufkommen der
Quantenphysik als vom Zufall bestimmt verstanden. Während jedoch in der Kunst
des 20. Jahrhunderts der Zufall zum entscheidenden Werkzeug avancierte, haftete
dem Zufall in der Architektur lange der Makel des Unkontrollierten, Vagen und allzu
Spontanen an. Der Dekonstruktivismus schliesslich ikonisierte just diese Eigen-
schaften, zeigte jedoch gleichsam die Herausforderung auf, den Zufall im langwie-
rigen Prozess des Bauens zu erhalten. Heutzutage wird der Zufall in der Architektur
vor allem dort vermutet, wo sich nicht auf den ersten Blick eine übergeordnete
Struktur erkennen lässt und diskrete Kräfte, manchmal die des Computers, walten.
Dass sich der Zufall nicht leicht bestimmen lässt, zeigt auch die im Heft vorge-
stellte Vielfalt verwandter oder ursprünglicher Begriffe: Kontingenz, Serendipität,
Stochastik, Aleatorik, randomness, accident und hazard. Sie unterstreicht die Reich-
haltigkeit des Zufalls und seiner Bedeutung für unser Leben, unsere Zukunft und für
das Entstehen sowie die Weiterentwicklung von Architektur. Der Zufall – er steht
für das Werdende in unserer Welt, für die Offenheit, sich auf das Neue einzulassen.
Ausserdem im Heft: Ein Special zu Karl Moser (1860 –1934), dem das Kunsthaus
Zürich eine umfangreiche Retrospektive widmet (Karl Moser – Architektur und
Kunst, 17.12.2010 – 27.02.2011). Die Beiträge über Moser entstanden in Kooperation
mit dem Institut gta der ETH Zürich.
Hingewiesen sei überdies auf die aktuelle Ausstellung des Schweizerischen
Architekturmuseums S AM in Basel: Im Raum und aus der Zeit. Anna Viebrock
– Bühnenbild als Architektur (04.12.2010 – 06.03.2011). Auch hier wird das Thema
des Zufalls behandelt.
Redaktion
Jackson Pollock:
P. P. S., Ausschnitt.
Metropolitan
Museum of Art
(Foto:Christian Gänshirt)
14 archithese 6.2010
A R C H I T E K T U R A K T U E L L
Zwischen Villa und Park
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PHILIPPE SCHMIT ARCHITECTS: VILLA VAUBAN –
MUSÉE D’ART DE LA VILLE DE LUXEMBOURG
Das in einer neobarocken Villa ansässige
Kunstmuseum der Stadt Luxemburg wurde
mit einem rückwärtigen Anbau grosszügig
erweitert. Das Projekt inszeniert auf ge-
schickte Weise die Schnittstelle zwischen
dem Garten der Villa und dem anschliessen-
den öffentlichen Park.
Der 11. Mai 1867 bedeutete einen wesentlichen Ein-
schnitt für die neuzeitliche Geschichte des Gross-
herzogtums Luxemburg: Gemäss dem Londoner
Vertrag wurde der Staat in die ewige Neutralität ent-
lassen – und das bedeutete für die Stadt den Abzug
der preussischen Garnison und die Schleifung der
über Jahrhunderte gewachsenen Festung, aufgrund
der Luxemburg zum «Gibraltar des Nordens» avan-
ciert war (vgl. archithese 4’2009). Besonders stark
befestigt war die nicht von tief eingeschnittenen
Fluss tälern umgebene Westseite der Stadt. Hier kam
der durch den Pariser Parc des Buttes-Chaumont
bekannte französische Landschaftsarchitekt Édou-
ard André zum Zuge, der – anschliessend an den
die Kernstadt begrenzenden Boulevard du Prince
Henri – im Bereich des früheren Festungsglacis
zwischen 1871 und 1878 einen Park im englischen
Stil anlegte – mit ondulierender Wegeführung und
langen Sichtachsen.
Wie Einsprengsel wurden in diesen öffentlichen
Anlagen einzelne Privatvillen errichtet – so die Villa
Vauban, welche von der die Parkanlage in west-
östlicher Richtung querenden Avenue Emile Reuter
aus erschlossen wird; die Gestaltung des Gartens
übernahm ebenfalls André.
Den Namen bezog die Villa vom Fort Vauban,
über dessen geschleiften Substruktionen sie errichtet
worden war. Zwar hatte der französische Festungs-
baumeister selbst Teile der Festung Luxemburg er-
richtet, doch das Fort Vauban war erst 1739 unter
österreichischer Herrschaft erbaut worden. In einer
Auktion des Jahres 1868 hatten der Handschuh-
macher Gabriel Mayer und dessen Frau Stéphanie
Levy das Grundstück erworben und 1871– 1873
durch den französischen Architekten Jean-François
Eydt eine zweigeschossige Villa in der Formenspra-
che des Neobarock errichten lassen. Schon 1874
wurden allerdings Park und Grundstück an den
aus Lothringen stammenden, im Hüttenwesen reich
gewordenen Baron Charles Joseph de Gargan und
dessen Gattin Emilie Pescatore – Tochter des luxem-
burgischen Montanunternehmers Pierre-Antoine
Pescatore – verkauft. Die Villa blieb im Besitz der
Familie, bis 1940 die NS-Besatzungsmacht das
Grundstück beschlagnahmte. Nach der Rücküber-
tragung versteigerten die Erben der Familie de Gar-
gan zunächst das Mobiliar und dann Grundstück
und Haus selbst. Am 20. Januar 1949 wurde die
Stadt Luxemburg neue Eigentümerin des Anwesens.
Doch die Idee, hier eine städtische Kunstgalerie
einzurichten, scheiterte zu einer Zeit, da die Commu-
nauté Européenne du Charbon et de l’Acier – Vorläu-
ferorganisation der EU – in Luxemburg Platzbedarf
3
4
1 Hauptansicht der Villa
mit rückwärtigem Anbau
(Fotos: Lukas Roth)
2 Ansicht Parkseite
3 Situation und Grundriss
Erdgeschoss
4 Grundriss Untergeschoss
50 archithese 6.2010
Sou Fujimoto: Kinderzentrum für psychiatrische Reha-bilitierung, Hokkaido 2006
FEINJUSTIERTER ZUFALL
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Text: Hannes Mayer
Das Kinderzentrum war der letzte einer Reihe von Bauten
für eine psychiatrische Einrichtung auf Fujimotos nordjapa-
nischer Heimatinsel Hokkaido. 24 doppelgeschossige Wür -
fel lassen in loser Anordnung und keinem übergeordneten
System folgend eine Abfolge von offenen Innenräumen
entstehen, die lediglich durch Fensterelemente in Gebäu-
dehöhe vom Aussenraum abgetrennt sind. Gearbeitet und
geschlafen wird in den geschlossenen Kuben, während das
Leben, Mahlzeiten und Aufenthalt in den grosszügigeren
Freibereichen stattfinden und von dort in die dichteren Zwi-
schenzonen einsickern. Drei schlichte Holzemporen erschlies -
sen den oberen Stock der Würfel.
Das Kinderzentrum ist ein Zeichen der Skepsis Fujimotos
gegenüber starr-totalitären Gitter- und Ordnungssystemen
auf Basis kartesischer Koordinaten und linearer Notation.
Stattdessen ist es die klare Umsetzung eines zumindest
während der Entwurfsphase dynamischen Ökosystems im
ursprünglichen Sinne, eines Haushalts, dessen einzelne
Bestandteile miteinander in Beziehung stehen, voneinan-
der abhängig sind und in vielen Iterationen einer Balance
entgegenstreben. Obwohl, wie schon im Tokyo Apartment,
die Grundformen elementar sind, erhält das Projekt seine
Spannung aus der Entstehungsphase. Unterstützt durch die
detail- und gewichtslose Gestaltung der Wandflächen und
der, angesichts der Raumhöhe, bescheidenen Wandmasse
lösen sich die geschlossenen Volumen beim Umherwandeln
in Winkel und Wände auf, die wie abstrakte Elemente einer
Theaterbühne parallele Handlungen begrenzen.
Unmöglich ist es, diese Zustände in einem Wort zu be-
schreiben, und dennoch herrscht weder Chaos noch Unord-
nung. Es ist ein Projekt von minimalistischer Anmut, des-
sen Grundspannung dadurch erzeugt wird, dass der eigene
menschliche Körper und die Wahrnehmung sich stetig neu
in Beziehung zu den umliegenden Baukörpern setzen, der
graduellen Kompression und Expansion eines Raumkontinu-
ums ausgesetzt sind. Bei Erschöpfung bieten die «festen»
Volumina Zuflucht.
1 Aus Zufall wird
diskrete Ordnung –
Sou Fujimoto:
Entwurfsmodell
(Sou FujimotoArchitects)
2 Ansicht
von Westen
(Fotos 2–4:Daici Ano)
3 + 4 Blick in den
Essbereich
5 + 6 Grundrisse
Erd- und Ober-
geschoss
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60 archithese 6.2010
The curse of the surge towards authenticity Architects are forever battling it out in
the field of international competitions and their designs are increasingly selected
for their promotional marketing value. The expectation, that good Architecture de livers
beacons of idiosyncratic sincerity has inextricably bound the image of the celebrity
Architect to the force of his works’ impact. With Architecture as the vehicle for the
Archi tect’s ego, originality has turned into a key measure of authenticity. Creating
something verifiably unique or verifiably ‘me’, has long become since a central
ambition in the design process. Architects nervously guard their unbuilt or unpublished
new designs as if awaiting a patent and willing to sue each other for plagiarism.
FORM FOLLOWS FAME
Text: Fenna Haakma Wagenaar / Photos: Charlie Koolhaas
In 1999 star Architects Jacques Herzog and Rem Koolhaas,
both weary of this never ending competitive playing field,
tired of their own stardom expectations, sick of always being
on the same competition shortlist and always second guess-
ing what the other one would do, decided to work together. It
was Jacques who convinced Ian Schrager that this collabora-
tion could turn his new Manhattan Hotel into something more
unique and unexpected than anything done before. What
followed I remember as a ridiculously unpredictable design
process, which resulted in an extremely awkward project,
mocking the sensibilities typical of an Architect – honesty,
simplicity, lightness and elegance.
“Protect us from what we want”, seemed Jacques and Rem’s
collective motto and the Architects rejected an insane amount
of proposals; too Mies, too beautiful, too SMLXL, too sexy, NO
blobs, too expensive, too big, too Manhattan, too Herzog & de
Meuron, too OMA, too Architecture, you know we don’t want
Architecture. The design team, of which I was part, confused
by the Architects’ increasingly scatterbrained instructions,
decided to just fool around. It was an incredible messy zone
in the tidy Herzog & de Meuron office. We did everything to
lose control of all our own preconceptions, set models on fire,
played cadavre exquis with rejected schemes, made pictures
of our spaghetti dinners, turned old models upside down and
let glue dissolve styrofoam models. One day we sprayed a
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66 archithese 6.2010
Für eine nicht-totalitäre Ästhetik Im Umgang mit dem Zufall
in der Architektur lassen sich zwei Ansätze beobachten:
Der eine ist bestrebt, durch strenge Ordnung, Geometrie und Wieder-
holung den Zufall im Ausdruck zu unterdrücken, der andere
bezieht sich auf Vorgefundenes und schafft daraus ein Einzelwerk.
MIT DEM ZUFALL ENTWERFEN
Text: Christian Gänshirt
Die Welt ist alles, was der Fall ist. Aber was ist der Fall?
Vieles scheint tatsächlich Zufall zu sein, und zwar zu-
nächst einmal im negativen Sinn – wie Vorfall, Abfall, Unfall,
Überfall, Verfall, Zerfall. Hasard, das französische Wort für
Zufall, bedeutet zugleich Unglück; der deutsche Begriff wie -
derum ist eine Lehnübersetzung des lateinischen accidens,
was in vielen europäischen Sprachen Unfall heisst. Seiner
Definition nach bezeichnet das Wort Zufall «diejenigen Er-
eignisse, die sich weder als gesetzmässige Folge eines ob-
jektiven Kausalzusammenhangs noch als intendierte Folge
subjektiv-rationaler Planung erklären lassen» (Jörg Hardy).
Subjektiv-rationale Planung, das Entwerfen also, und Zufall
werden in dieser Definition als Gegensätze vorgestellt.
Stimmt das? Auf den ersten Blick scheinen Zufall und
Architektur tatsächlich Widersprüche zu sein. Das Zufäl-
lige gilt als das Formlose, Ungeformte. Es steht im Gegen-
satz zur kunstvollen, unter grossem Aufwand erarbeiteten
und hergestellten architektonischen Form. Vergleicht man
indessen die Ergebnisse eines Architekturwettbewerbs,
stellt sich nicht selten die Frage, welche Zufälle wohl zu den
höchst unterschiedlichen Entwürfen geführt haben mögen.
Auch wenn alle Teilnehmer versuchen, dieselbe Aufgabe
zu lösen, und bestimmte Lösungsansätze sich regelmässig
wiederholen, wird bei Wettbewerben meist ein breites
Spektrum verschiedener Lösungen eingereicht. Ist das
glückliche Entwerfen letzten Endes etwa doch dem Zufall
zuzuschreiben? Eingang in die Architektur fand der Zufall so -
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zusagen an höchster Stelle – durch den griechischen Architek-
ten Kallimachos, der, wie Vitruv berichtet, im Vorübergehen
auf dem Grab eines Mädchens einen mit einem Ziegelstein
abgedeckten Korb bemerkte, der zufällig auf eine Bären-
klauwurzel gesetzt war, «und, bezaubert von der Art und
Neuigkeit der Form, schuf er nach diesem Vorbild die Säulen
bei den Korinthern […]» (Vitruv IV, 1, 9 –10, nach der Überset-
zung von Curt Fensterbusch). Dieser Bericht kann als eine
Parabel über das architektonische Entwerfen gelesen wer-
den. Dies versteht sich hier nicht als eine genialische creatio
ex nihilo, auch nicht als das Realisieren vorgegebener, pla-
tonisch reiner Ideen. Vitruv vermittelt hier eine Auffassung
des Entwerfens als eine Tätigkeit in zwei Schritten: erstens
das Erkennen und zweitens das schöpferische Übertragen
von strukturellen Zusammenhängen aus dem Bereich des
Todes (Grab, Korb mit Grabbeigaben) in das Leben (Akan-
thusblätter, Architektur). Vorraussetzung sind die hohe ge-
stalterische Kompetenz, die Vitruv Kallimachos zuschreibt,
und dessen Fähigkeit, sich von einer zufällig vorgefundenen
Situation bezaubern zu lassen. Doch statt sich die Strategie
des schöpferischen Übertragens zu eigen zu machen, hat die
Nachwelt das von Kallimachos entworfene Kapitell zum Sym-
bol erhoben und endlos wiederholt.
Grenzen des Entwerfens
Alle Versuche, das Entwerfen in Methoden zu fassen, sind
daran gescheitert, dass der Moment des glücklichen Einfalls,
der oft zum entscheidenden Qualitätssprung in einem Ent-
1 Kallimachos,
aus: Roland Fréart
1650: Parallèle
de l’architecture
antique avec la mo-
derne. Paris, 1650,
zitiert nach Laugier
1753, S. 83
2 Tristesse nicht
nur im Herbst:
Bauten von
David Chipperfield
(links im Bild) und
Hilmer & Sattler am
Potsdamer Platz
(Fotos 2 – 4: Carsten Krohn)
3 Max Dudler:
«Grim» Zentrum
Berlin
4 «Entwerfen hat
weniger mit Erfin-
den als mit dem
Neukombinieren
von gespeicherten
architektonischen
Erinnerungen zu
tun» (Hilmer & Satt-
ler); Ritz Carlton
von Hilmer & Sattler
(links im Bild) und
Gebäude von
Hans Kollhoff am
Potsdamer Platz
72 archithese 6.2010
Text: Florian Dreher
Woran mag es liegen, dass der New Brutalism auf so viel
Unverständnis stösst? In Fachkreisen gilt er seit jeher als
Insidertipp, und in der allgemeinen Wahrnehmung tritt stets
grosse Skepsis gepaart mit völliger Ablehnung zutage. Der
New Brutalism verträgt sich anscheinend nicht mit Jeder-
manns Geschmack und schlägt hart aufs Gemüt. Betrachtet
man seine theoretische und baugeschichtliche Entwicklung,
mag darin der Keim der Verwirrung sowie der Schlüssel zur
Erkenntnis enthalten sein.
New Brutalism versus New Empiricism
Wenn wir mit der Begriffsherleitung anfangen, so stolpern
wir bereits zu Beginn über unterschiedliche Definitionen, die
New Brutalism as found Seit einigen Jahren geniesst der New Brutalism eine differenzierte
mediale Präsenz: latente Faszination in den Fachblättern und verzerrter Abgesang in den Massen-
medien. Sein Comeback steht aber nicht im Zusammenhang mit den aktuellen Auseinander-
setzungen zur Nachkriegsmoderne, noch liegt es an seiner gestiegenen Popularität, bezeichnet
doch der New Brutalism den Wendepunkt in der Nachkriegsmoderne und Grossbritanniens
Wiedereinstieg in die internationale Architekturdiskussion. Das Augenmerk richtet sich vielmehr
auf die anhaltenden Abrissdiskussionen, so über Alison und Peter Smithsons Robin Hood
Gardens oder Andrew Derbyshires Castle Market in Sheffield.
FUNDSTÜCKE DES ALLTÄGLICHEN
sich über die Jahre hinweg mehr oder weniger verfestigt ha-
ben oder zum Mythos aufstiegen. Alison und Peter Smithson
verwenden den Begriff 1953 erstmals in Zusammenhang mit
ihrem nicht realisierten Entwurf für ein Haus in Soho. In die-
sem Entwurf manifestieren sich die Grundgedanken eines
New Brutalism, und wäre es gebaut worden, so ein Kommen-
tar der Architekten, wäre es das erste Haus in England in des-
sen Sinn geworden. Die Gesamterscheinung sollte im Inneren
wie im Äusseren einer gewünschten «Lagerhausästhetik»
mit gewöhnlichen, rohen Backsteinmauerwerken und klar
sichtbaren Betonträgerstrukturen entsprechen, gepaart mit
einer Aufhebung der traditionellen Raumdisposition, die sich
nun nach den sozialen Erfordernissen einer zeitgemässen
Wohnumwelt orientieren möge. Es mag Reyner Banhams
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1 Independent
Group, Group Six
(Henderson, Pao-
lozzi, Smithsons),
Installation Patio
and Pavilion,
Ausstellung This is
Tomorrow, London,
1956 (Abb. 1 – 3 aus: David Robbins, The Independet Group: Postwar Britain and the Aesthetics of Plenty, Cambridge /Massachusetts /London 1990)
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Verdienst gewesen sein, dass er 1955 mit seinem Artikel
«The New Brutalism» in der Architectural Review die Ideen
und Ansätze einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte
und damit den Begriff medial lancierte. Er opportunierte mit
seinem Artikel gegen die damaligen Postulate eines New
Empiricism – Skandinaviens romantischer Beitrag zu einer
pittoresken Moderne –, und positionierte den New Brutalism
als legitimen bzw. wahren Vertreter seiner Zeit. Dem Kanon
legte er eine ethische Haltung zugrunde und fasste diesen
mit der Sichtbarkeit und Ablesbarkeit von Grundriss und
Konstruktion («image») sowie der Materialauswahl nach «as
found»-Qualitäten zusammen. In seiner späteren Publikation
New Brutalism: Ethics or Aesthetics? von 1966 zieht er dann
jedoch neue, anderweitige Traditionslinien zur Begriffsent-
wicklung auf. Unter der Herausgeberschaft von Jürgen Joedi-
cke erschien eine deutsche Fassung des Banham-Klassikers
Brutalismus in der Architektur. Banham verfolgt darin die
Spur nach Skandinavien und kommt auf einen Brief von Hans
Asplund an Eric de Maré zu sprechen, welcher behauptet,
dass er 1950 beim Besuch eines Kollegen diesen als «Neobru-
talisten» bezeichnete. Danach soll sich der Begriff nach Gross-
britannien ausgebreitet haben und von jungen Londoner
Architekten vereinnahmt worden sein.
Die Smithsons hingegen widersprachen 1966 Banhams
Sicht in ihrer Buchbesprechung von Banhams Bumper Book
on Brutalism im Architects Journal. Demnach bezieht sich
der Begriff, basierend auf einer Kritik über die Unité in
Marseille, auf die grobe Materialbeschaffenheit eines bé-
ton brut im Sinne Le Corbusiers. Sollten aber die Smithsons
für ihre Argumentation erst zu diesem Zeitpunkt auf ein
Verdikt Le Corbusiers der Zwanzigerjahre zurückgreifen ha-
ben müssen?
Im Lauf der Zeit hat sich dennoch die letztere Interpreta-
tion durchgesetzt – wahrscheinlich auch deshalb, weil die
Bezüge der Heroischen Moderne (Alison Smithson) eines
Mies van der Rohe oder Le Corbusier im Werk der Smithsons
so offenkundig nachzuweisen sind. Man denke an Entwürfe
wie für Golden Lane Estate mit einer Revision der Unité oder
an das Economist Group Building mit seiner Verneigung vor
der Mies’schen Interpretation eines modernen Klassizismus.
2 Eduardo Paolozzi,
Real gold, 1949
3 Eduardo Paolozzi,
Dr. Pepper, 1948