Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017
Friedrich
Wilhelm
Nietzsche
(1844 – 1900)
Zwischen Idealismus und
Existenzphilosophie:
3. Vom Nutzen und Nachteil
der Historie für das Leben
F
W
N
1. Teil, Abschnitt 1 – 3
• Verhältnis Vergangenheitserkenntnis zur Gegenwart
• Verhältnis Geschichtsbewusstsein und Geschichtsvollzug
Abschnitt 1:
• Die anthropologische Grundlage des Geschichtsbewusstseins
unter positiven und negativen Aspekten
Abschnitt 2 und 3:
• Die drei Arten der Historie: fördernd und hemmend
• Der Unterschied der drei Arten, das Prinzip der Unterscheidung
• Die Bedeutung der drei verschiedenen Aspekte
• Der eigene geschichtliche Zusammenhang der drei Arten
untereinander
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche: 3. Historie, Teil 2
Einteilung der Historienschrift
Einteilung der Historienschrift
2. Teil, Abschnitt 4 – 9
• Moderne Form der Historie
Abschnitt 4 und 5
Wissenschaftskritik
Abschnitt 6 – 9
Zeitkritik
1. Abschnitt: Tier – Mensch – Kind als drei Daseinsformen,
unhistorisch-historisch = negativer Befund für den Menschen
Pflock des Augenblicks – Kette der Geschichte
„Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet, sie weiß nicht, was gestern, was
heute ist, spring umher, frisst, ruht, verdaut, spring wieder und so von morgen bis
zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden, mit ihrer Lust und Unlust,
nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch
überdrüssig. Dies zu sehen, geht den Menschen hart an, weil er seines
Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke
eifersüchtig hinblickt...Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: Warum redest du mir
nicht von deinem Glücke und siehst mich nicht an? Das Tier will auch antworten
und sagen: Das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen
wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg, so dass der
Mensch sich darob verwunderte.“
(I, 248)
ERSTER TEIL, Abschnitt 1 und 3
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Frage nach seiner Identität: nicht nur Leben in der Gegenwart
Tier ist in jedem Augenblick gegenwärtig, Glück des Tieres und des Kindes,
wir sind keine Tiere und keine Kinder mehr, wir können nicht mehr unhistorisch
empfinden.
„Er wundert sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können
und immerfort am Vergangenen zu hängen: Mag er noch so weit, noch so schnell
laufen, die Kette läuft mit... Dann sagt der Mensch: Ich erinnere mich und beneidet
das Tier, welches sofort vergisst und jeden Augenblick wirklich sterben, in Nebel
und Nacht zurücksinken und auf immer verlöschen sieht. So lebt das Tier
unhistorisch: Denn es geht auf in der Gegenwart wie eine Zahl, ohne dass ein
wunderlicher Bruch übrig bleibt, es weiß sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und
erscheint in jedem Momente ganz und gar als das, was er ist, kann also gar nicht
anders sein als ehrlich. Der Mensch stemmt sich aber gegen die immer große und
immer größere Last des Vergangenen.“
(I, 248)
Wann ist der Mensch?
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Zeit als „schlechte Vergänglichkeit“
Abschiednehmen, ein „es war“ =
ein nie zu vollendendes Imperfektum (I, 249)=
„ein ununterbrochenes Gewesensein“ (I, 249)
Positiver Befund für den Menschen:
Es gibt eine andere Art des Glückes, nicht nach zeitlicher Dauer
gemessen = erfüllter Augenblick
„wodurch Glück zum Glücke wird“ (I, 250):
das Vergessen-können oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen,
während einer Dauer unhistorisch zu empfinden.
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Dialektik zwischen Vergessen und Erinnern
„Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben
alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel
gehört. Davon, dass man ebenso gut zur rechten Zeit zu
vergessen weiß, als man sich zur rechten Zeit erinnert.“
(I, 250)
= Verbindung von Unhistorischem und Historischem
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
„Wie groß die plastische Kraft eines Menschen, eines
Volkes, einer Kultur ist; ich meine jene Kraft, aus sich
heraus einzigartig zu wachsen, Vergangenes und
Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wundern
auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene
Formen aus sich nachzuformen.“
(I, 251)
(I, 251) = das Schöpferische, der Horizont (vgl. I, 298)
Die plastische Kraft
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3, Historie, Teil 2
• „Und dies ist eine allgemeines Gesetz: jedes
Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes
gesund, stark und fruchtbar werden; ist er
unvermögend einen Horizont um sich zu ziehen und
zu selbstisch, innerhalb eines Fremden den eigenen
Blick einzuschließen so siecht es matt oder
überhastig zum seitigen Untergang dahin.“ (I, 251)
= Was von vornherein, von einem Punkt aus, sichtbar
wird – wandert immer mit uns mit - Hinaussehen
können - Verhältnis Nähe-Ferne - es gibt niemals
einen geschlossenen Horizont - Verschiebung
Der Horizont
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
• Heidegger: Begegnenlassen
• Husserl: Erfahrungsbereich
• Gadamer:
Vorverständnis
Vorgang der Horizontverschmelzung
Der Horizont
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2. ABSCHNITT: Drei Arten der Historie
Monumentalische Geschichtsschreibung
„Die Geschichte gehört vor allem dem Tätigen und
Mächtigen, dem, der einen großen Kampf kämpft, der
Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie unter seinen
Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag.“
(I, 259)
Anthropologischer Sinn: Nachahmung
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Antiquarische Geschichtsschreibung
„Die Geschichte gehört dem Bewahrenden und
Verehrenden – dem, der mit Treue und Liebe dorthin
zurückblickt, woher er kommt, worin er geworden ist.“
(I, 262)
Anthropologischer Sinn: Verwurzelung
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Kritische Geschichtsschreibung
„Er muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine
Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen und leben zu können...
Jede Vergangenheit aber ist wert verurteilt zu werden – denn so steht es
nun einmal mit den menschlichen Dingen: immer ist in ihnen
menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen. Es ist nicht die
Gerechtigkeit die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade,
die hier das Urtheil verkündet; sondern das Leben allein jene, dunkle,
treibende, unersättliche sich selbst begehrende Macht.“
(I, 269)
Es gibt keine wahre Natur
= Umschreibung des Lebens
Leben nie als Urtext zu erfassen
Der Künstler hat Vorrang vor dem Geschichtsschreiber
(vgl. I, 296)
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Es kommt auf das jeweilige Verhältnis an:
„Jeder Mensch und jedes Volk braucht je nach seinen Zielen, Kräften und
Nöten, eine gewisse Kenntnis der Vergangenheit als monumentalische,
bald als antiquarische, bald als kritische Historie.“
(I, 271)
Zusammenhang der drei Arten der positiven Geschichtsschreibung:
• Jeweiligkeit, Situationsbezogenheit
• Entscheidend ist das richtige Maß
Der Zusammenhang der drei Arten
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
• 3 Arten der Historie = 3 Arten des Horizontes
• Kein zugrundeliegendes Wesen, eine OUSIA
des Menschen = keine Treue zum
vorgegebenen Entwurf
• Sich a posteriori eine neue Vergangenheit
geben
• Das Vergangene ist nie abgeschlossen, offen
auf die Zukunft
• es gibt immer in ihr Unabgegoltenes, neue
Beurteilung
Der Mensch als „Dichter seines Lebens“
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
• Das „Erfinden“= Verdichten von
Lebensentwürfen = Freilegen des
Lebensstromes (mitunter Zerbrechen von
Formen)
• Leben als Kunstwerk
• Das Schreiben der eigenen
Lebensgeschichte = Kohärenz des Lebens
Wir sind „Dichter unseres Lebens“
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
• Aristoteles:
Übereinstimmung mit sich selbst =
Eudämonia
• Nietzsche:
Integrität des Selbst = „Leben der starken
Persönlichkeit = ohne Ressentiment
• Foucault:
„Technologien des Selbst“
=„Widerständigkeit gegen Vereinnahmung“
Wir sind „Dichter unseres Lebens“
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Kritik an der modernen wissenschaftlichen Historie:
Kernsatz I, 271/272:
„(...) die Konstellation ist wirklich verändert - durch die Wissenschaft,
durch die Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll.
Jetzt regiert nicht mehr allein das Leben und bändigt
das Wissen um die Vergangenheit: sondern alle Grenzpfähle sind
umgerissen und alles, was einmal war, stürzt auf den Menschen ein.“
2. TEIL: Nietzsches Wissenschaftskritik
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Art der Geschichtsschreibung
Wie sieht diese Art der Geschichtsschreibung aus?
Sie darf nicht „reine Wissenschaft“ (I, 257) sein und muss „im Dienste
des Lebens“ (I, 257) stehen, das richtige Verhältnis ist entscheidend,
Menschliche Aufgabe: zwischen Historie und Unhistorischem zu
vermitteln:
„Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein
Erkenntnisphänomen ausgelöst, ist für den, der es erkannt hat, todt: (...)
Die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän
geworden, wäre eine Art von Lebens-Abschluss und Abrechnung für die
für die Menschheit.….“ (I, 257)
„Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste
einer unhistorischen Macht und wird deshalb nie, in dieser
Unterordnung, reine Wissenschaft etwa wie die Mathematik es ist,
werden können und sollen.“ (I, 257)Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
„Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das
Vergangene deuten:
Nur in der stärksten Anspannung eurer edelsten Eigenschaften
werdet ihr erraten, was in dem Vergangenen wissens- und
bewahrenswürdig und groß ist. (...) Sonst zieht ihr das Vergangene zu euch
nieder.“ (I, 293/4)
„Die Geschichte wird nur von starken Persönlichkeiten ertragen,
die Schwachen löscht sie vollends aus.“
(I, 283)
Nietzsches Ausweg
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
5. ABSCHNITT der Historienschrift
Nietzsches Kulturkritik:
5 negative Arten der Geschichtsbetrachtung = „... scheint mir die
Übersättigung einer Zeit in Historie dem Leben feindlich und gefährlich zu
sein...“ (I, 279) =
Lähmung und schließliche Zerstörung der Lebenskräfte
1. Kontrast Innen-außen – Schwächung der Persönlichkeit
2. Einbildung, Tugend der Gerechtigkeit in besitzen
3. Instinktes des Volkes gestört und Verhinderung des Reifwerdens
4. Glaube an das Alter der Menschheit, Glaube, Spätling zu sein
5. Gefährliche Stimmung der Ironie (I, 279)
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
-> folgenlose Wahrheit =
reine Beliebigkeit =
Wille zur Objektivität und Gerechtigkeit
-> Grenzenloses Verstehen =
sich selbst zu verleugnen =
Geschichtsdeuter haben Bewußtsein, ein Produkt der Spätzeit zu sein =
-> Kein Handeln mehr, nur Bezug auf frühere Zeiten, Durchmarsch
durch Geschichte wie durch Kunstkammern =
Überdruss und Ekel an der historischen Kenntnis
Auswirkungen des Historismus
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Auswirkungen des Historismus
• Sieg der Methode über die Wissenschaft (I, 300)
• Historisierung als Neutralisierung: „Geschichte als ein Neutrum“ (I, 294)
= Enthistorisierung = Unverbindlichkeit:
„Nehmen wir an, es beschäftigt sich Einer mit Demokrit, so liegt mir immer die Frage auf den
Lippen: warum nicht Heraklit? Oder Philo? Oder Bacon? Oder Descartes und so beliebig
weiter. Und dann: warum denn ein Philosoph? Warum nicht ein Dichter, ein Redner?“
(I, 283)
• Kalte, folgenlose Wahrheit = „Objektivität“:
„ Es vermag nichts mehr auf sie zu wirken“ (I, 284)
= „Nackte Bewunderung des Erfolgs“ (I, 309) = „Götzendienst am
Thatsächlichen“ (I, 309)
• Vorherrschaft des Erkenntnissubjekt über der zu erkennenden Sache
• Vereinnahmung der Dinge (I, 299)
• Distanz zu Dingen und Charakter der AbgeschlossenheitProf. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Auswirkungen des Historismus
• Keine Anerkennung der Andersartigkeit, der Fremdheit
• Dinge werden in Bekanntes übersetzt – Befremdung verloren, kein Erstaunen, „wie ein
Lauf durch die Kunstkammern“ (I, 299)
• Einzig Maßstab des Erfolgs (I, 301)
• Geschichte ist nicht Entfaltung eines Prinzips (Prozess), sondern immer Interpretation =
Zurechtmachung
• Es fehlt Bereitschaft, das eigenen Denken zu ändern
• Es fehlt Wirkung auf das eigene Handeln und Leben (I, 285) = Lähmung des
Handlungsbewußtsein
• Leben zu Fall gebracht, entwurzelt, wenn es seziert wird
• Heimatlosigkeit des Menschen (I, 299)
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
• Hat nicht verstanden, dass er auch immer
schon Fakten deutet, interpretiert-
KONTEXTE-Horizont
1) Alle Fakten sind immer schon Sehhorizonte
2) Zusammenhang der Fakten
= poetische Leistung der Historie
Kritik am Historismus
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
FAZIT:
= kritisch
• Was ist noch lebendig, was ist museal, was
ist abzustoßen?
= Bedeutung für unser Leben
= Selbstfindung
= Ort finden, in dem mich Tradition bestimmt
Was ist Geschichtswissenschaft?
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Riss zwischen innen und außen (I, 272)
Unsere Zeit ist gekennzeichnet durch:
„den merkwürdigen Gegensatz eines Inneren, dem
kein Aeusseres, eines Aeusseren, dem kein Inneres
entspricht, einen Gegensatz, den die alten Völker
nicht kennen“.
(I, 272)
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Im Gegensatz zu den Griechen:
„.. das Volk, dem man eine Kultur zuspricht, soll nur in aller
Wirklichkeit etwas lebendig Eines sein und nicht so elend in
Inneres und Äußeres, in Inhalt und Form auseinander zu fallen.“
„... sichtbare Tat ist nicht die Gesammttat und Selbstoffenbarung
dieses Inneren ist (...) die Unfähigkeit, Motive des Daseins
umzusetzen, den Lebensvorstellungen Gestalt zu geben.“
(I, 276)
Riss zwischen innen und außen (I, 278)
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Riss zwischen innen und außen (I, 278)
• Für das Innere kein äußeres Äquivalent mehr
• Prävention, Verlust von Echtheit, von authentischem Sein (I, 273, 275)
• Bezug von Außen und Innen= Gegensatz Wahrheit; Wirklichkeit und Illusion, Schein und
Unwirklichkeit
• Außen =nur noch Konvention, Verkleidung
• Wir sind Schauspieler (I, 275, 277)
• Ästhetisierung, Oberflächenphänomene ohne Inneres, ohne Tiefe
• wandelnder Enzyklopädisten (I, 274) - Informationsbetrieb statt echter Begebenheit
• Sprache nur noch zur Phrase entkerntes Wortgebilde, die „großen Worte“, Floskeln,
Hüllen, Täuschungen
• Sprache zu Gespensterarmen (Wagner in Bayreuth 329)
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Riss zwischen innen und außen (I, 278)
2 Folgen:
1. Das Innere formt sich nicht mehr, keine Verwirklichung des
individuellen Seins. Empfindung ist „gefärbt und gefälscht“.
2. Außen ist nicht mehr Äußerung einer kulturellen Einheit, steht
nicht mehr in Korrespondenz mit dem Inneren, nur noch
Funktionalität und Zweckmäßigkeit.
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Riss zwischen innen und außen (I, 278)
• Nietzsches Diagnose erlangt Gültigkeit durch Treffsicherheit, mit
der Erfahrung eines ganzen Jahrhunderts zum Ausdruck kommt.
(Hofmannsthal, Rilke)
• „Die Leute sind es nämlich müde, reden zu hören. Sie haben
einen tiefen Ekel vor den Worten: Denn die Worte haben sich vor
die Dinge gestellt. Das Hörensagen hat die Welt verschluckt.“
Hugo von Hofmannsthal, Prosa 1, S. 228
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Riss zwischen innen und außen (I, 278)
• Sprachkritik als Kulturkritik: Begriffe als
Konventionen, als Schablonen, die nichts mehr
besagen.
• Begriffe stellen sich vor die Dinge.
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Über Wahrheit und Lüge im
außermoralischen Sinne (I, 875 – 890)• Wahrheit nicht als Übereinstimmung mit der Sache
(intellectus adequatio rei)
• Erfindung von Begriffen, als nur Wiedergabe einer „subjektiven
Reizung“ mithilfe der Metaphern (I, 878)
• Metapher
= Reich der Intuition, Gefühlsregung
• Dann aber „Hart- und Starr-Werden“ (I, 883) der Metaphern
= Abstrakter Begriff (Herrschaft der Abstraktionen, I 881)
• Mensch hat vergessen, dass er Urheber dieser Sprache ist (I, 878)
„Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie
welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind,
Münzen, die ihr Bild verloren haben, und nun als Metall, nicht mehr als
Münzen in Betracht kommen.“ (I, 881)
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Über Wahrheit und Lüge im
außermoralischen Sinne (I, 875 – 890)
• Wissenschaft = „Columbarium der Begriffe, der
Begräbnisstätte der Anschauung“ (I, 886)
• N will Reaktivierung des intuitiven Menschen (I, 89)
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie, Teil 2
Über Wahrheit und Lüge im
außermoralischen Sinne (I, 875 – 890)• Vergleiche Hofmannsthal-Chandos-Briefs und Briefe eines Zurückgekehrten
als Dokument einer Sprach- und dann Erkenntniskrise
• Es fehlt der vereinfachende Blick der Gewohnheit
• Begriffe versagen beim Benennen wollen
„Ich wusste, dass sie mich an Bäume erinnerten..., keine Bäume waren... Wie ein
Hauch, ein so unbeschreibliches Anwehen des ewigen Nichts, des ewigen
Nirgends, ein Atem, nicht des Todes, sondern des Nicht-Lebens.
Unbeschreiblich.“ (S. 182)
• Worte sind ungeeignet, Individuelles zu erfassen. Dadurch kann Welt nicht
mehr wahrgenommen werden.
• Konsequenz: Verstummen der Sprache
• Epiphanie als Ausweg – außen und innen = Eins (S. 188)
Lösungsmöglichkeiten:
Das geschichtliche Denken Nietzsches
1. „Der Ursprung der historischen Bildung muss selbst wieder
historisch erkannt werden.“
= Genealogie der Historie
= Erkennen der historischen Verfassung
= jede Geschichtswiss. hat selber ihre Geschichte
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Zusammenfassung
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Zusammenfassung
Was macht das Jeweils Eigene einer Zeit aus?
= Geschichte steht immer schon in einem jeweils eigenen Raum,
das heißt in einem für den Betrachter anderen Raum
= den jeweilige Zeitbezug bedenken
= geschichtliche Differenz mitbedenken
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Zusammenfassung
2. „Das Wissen muss seinen Stachel gegen sich selber kehren“
Das Andere wird nur erkannt, in dem seine Fremdheit angenommen
wird
= Erkennen der Andersartigkeit
= Bereitschaft auch die eigene Denkweise durch das Fremde
ändern zu lassen
= Sich Herausarbeiten aus dem Kategorien seiner Zeit, um in einen
angemessenes Verhältnis zum Vergangenen zu kommen
Nietzsche als Psychologe (siehe sein späteres
Werk):
= das Aufdeckung und Enthüllung / Entlarvung von
Handlungsmotiven, die dem Handelnden selbst
nicht mehr bewusst sind.
Gerade dadurch erst gewinnen sie Macht über das
Handeln.
= Das Aufdecken der „Lüge“
Zusammenfassung
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
• Befreiung von unkritisch akzeptierten Vorurteilen der
Zeit
• Herausarbeiten auf den in einer Zeit vorherrschenden
Paradigmen
• Permanente Aufgabe der Philosophie:
Abkehr vom „Strom der Zeit“
- Dogmatisierungen erkennen
- dazu ist Distanz notwendig
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Was ist unzeitgemäß?
1. Kritik am damals anerkannten Werten
= Abkehr von Zeitgeschehen
2. Nicht außer- und überzeitlich, bleibt auf Zeit
bezogen
3. Gefahr der eignen Zeit erkennen
4. „Die vier Unzeitgemäßen sind durchaus
kriegerisch.“ (Ecce homo)
Wiederholung:
Was ist „unzeitgemäß“ für Nietzsche?
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
1) Polemik gegen die Zeit:
„Unzeitgemäß ist auch diese Betrachtung, weil ich
etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre
historische Bildung erst einmal als Schaden, Geberste
und Mangel der Zeit zu verstehen versuche, weil ich
sogar glaube, dass wir alle an einem verzehrenden
historischen Fieber leiden, und mindestens erkennen
sollten, dass wir daran leiden.“
(I, 246)
„Unzeitgemäß“ in der Historienschrift
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
2) Woher Maßstab nehmen?
Aus der Kenntnis der Antike
„ (...) und, dass ich nur, sofern ich Zögling älterer Zeiten,
zumal der griechischen, bin, über mich als ein Kind dieser
jetzigen Zeit zu so unzeitgemäßen Erfahrungen komme.“
(I, 247)
„Unzeitgemäß“ in der Historienschrift
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
3) zugunsten einer kommenden Zeit
****Vorwort in der HS;
Gegen die Zeit, auf die Zeit, zugunsten einer
kommenden Zeit
„Soviel muss ich mir aber selbst on Berufswegen als
klassischer Philologe zugestehen dürfen: denn ich wüsste
nicht, was die klassische Philologie in unserer Zeit für einen
Sinn hätte, wenn ich den in ihr unzeitgemäß – das heißt gegen
die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten
einer kommenden Zeit – zu wirken.“
(I, 247)
„Unzeitgemäß“ in der Historienschrift
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
• Nietzsche: Diktat der Ökonomisierung
• „Der Wille zum Gewinn“: alles als „courante Münze“
nehmen einschließlich der Bildung
• Jakob Burckhardt: Der Erwerbsinn und das
Sekuritätsbedürfnis
Was ist „unsere Zeitkrankheit“?
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
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Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie
Was ist das Klassische?
• Eine Sache wird mit besonders hohem Rang und
Dignitätsanspruch vor anderem ausgezeichnet
• Zugleich vergangen aber noch nicht vergangen
• Zeitliche Entfernung und aktueller Anspruch
• Keine Erfindung einer späteren Zeit, sondern etwas kommt
durch Zeitenabstand ans Licht
• Grundzug des Diskontinuität
Das Klassische für Nietzsche:
Bändigung / Überwindung / Befreiung
Synthese zweier ursprungsverschiedener Elemente
Augenblick von der Spannung zur Erfüllung
Augenblick der Vollendung = Das Transzendente wird
erfahrbar, kann nicht bewahrt werden
Das Zeitlose in der Verhüllung der Zeit
Das Klassische = zeitlos?
Prof. Dr. Renate Breuninger, Sommersemester 2017, Nietzsche 3. Historie