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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?
AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“
WAS IST WIRKLICH?ZUGÄNGE ZUR WIRKLICHKEIT IN NATURWISSENSCHAFTEN UND RELIGION
Eine didaktische Kursstruktur ausgehend von E2.4
Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Diese Fragestellung und damit das Themenfeld „Wirklichkeit wahrnehmen“ (E2.4) wird im folgenden didaktischen Konzept als Einstieg ins Kurshalbjahr der E2 gewählt.
Es gehört zwar nicht zu den verbindlichen Themenfeldern, bietet aber eine sehr gute Möglichkeit, die Schülerinnen und Schüler für die Frage nach unterschiedlichen Zugängen zur Wirklichkeit (in Naturwissenschaften und Theologie) zu sensibilisieren. Die Einsicht, dass in die Wahrnehmung von Wirklichkeit immer auch subjektive Perspektiven und Konstruktionen mit eingehen und es keine völlige Objektivität gibt, macht es leichter verständlich und nachvollziehbar, dass auch die naturwissenschaftliche Beschreibung nicht die Wirklichkeit als ganze erfasst, sondern nur einen spezifischen Modus der Weltbegegnung darstellt.
E2.4 Wirklichkeit wahrnehmen. Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
� Wahrnehmung von Wirklichkeit (z. B. Ist alles wahr, was ich wahrnehme? Was ist Wirklichkeit? Was ist Wahrheit?)
� unterschiedliche Wissenschaften als konkurrierende und komplementäre Sichtweisen auf die Welt
Die Abbildung verdeutlicht den Aufbau des hier vorgestellten Entwurfs. Nach einem Einstieg über Fragen der Wirklichkeitserkenntnis werden die Besonderheiten und Spezifika eines naturwissenschaftlichen und eines religiösen Zugangs zur Wirklichkeit herausgearbeitet und miteinander ins Gespräch
Jochen Walldorf
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WAS IST WIRKLICH?
„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS
Bedeutung biblischer Texte im bisherigen Kursverlauf eher punktuell zur Sprache kamen (z. B. in der Beschäftigung mit biblischen Schöpfungstexten).
1. Wirklichkeit wahrnehmen
Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können zwischen verschiedenen Wirklichkeitsvorstellungen und der Wirklichkeit an sich unterscheiden und erläutern, was für sie „wirklich“ ist; sie können verschiedene Modelle menschlichen Erkennens (naiver Realismus, Konstrukti-vismus, kritischer Realismus) in Grundzügen beschreiben und dazu Stellung nehmen.
Was ist wirklich?
Der Einstieg erfolgt über einen Lernimpuls zu einem Bild des Surrealisten René Magritte (18981967), Schlüssel der Felder (M1). Es kreist um ein Problem, mit dem sich der Künstler in vielen seiner Bilder beschäftigt: unsere Wahrnehmung (unser Bild von der Wirklichkeit) und die Wirklichkeit sind nicht dasselbe. Im genannten Gemälde wird dieser Umstand, dass wirkliche und wahrgenommene Wirklichkeit auseinanderfallen (können), besonders eindrücklich dadurch, dass wir das Fenster in Glasscherben zerbersten sehen. Die Auseinandersetzung mit dem Bild kann darin münden, dass die Jugendlichen aus der Sicht des Malers eine Antwort auf die Frage formulieren: Sehen wir die Wirklichkeit so wie sie wirklich ist? Weitere Bilder Magrittes (z. B. Hellsehen, 1936; Das ist kein Apfel, 1964) können die Bildbetrachtung ergänzen oder vertiefen.1
Ein alternativer, spielerischer Einstieg ins Thema ist die Beschäftigung mit dem Phänomen optischer Täuschungen, Kippbildern usw. Zahlreiche Beispiele und Hinweise dazu finden sich in Unterrichtswerken,2 aber auch in kurzen Filmen wie z. B. „Was sieht Auge und Gehirn“ (9 Min., u.a. bei youtube).
Ausgehend von der Erkenntnis, dass Wirklichkeitsvorstellungen täuschen können, selektiv sind und von der eigenen Perspektive und dem persönlichen Lebenshintergrund abhängen, überlegen die Schülerinnen und Schüler, was sie als „wirklich“ bezeichnen würden. Dazu bilden sie Partnergruppen, wählen eine der folgenden Thesen aus und diskutieren diese; anschließend werden neue Gruppen gebildet, eine weitere These ausgewählt, etc.3
1. Wahrnehmung von Wirklichkeit: Was ist wirklich?
2. Theologie und Naturwissenschaften – unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit
Theologie (Religion) und Naturwissenschaft als komplementäre Zugänge zur Wirklichkeit
3. Schöpfung und Evolution – gegensätzliche oder komplementäre Perspektiven auf das Leben?
Wie sieht ein Naturwis-senschaftler die Welt? Welchen Erklärungsan-spruch haben naturwis-senschaftliche Theorien?
Wie sieht ein religiöser Mensch die Welt?
Was kennzeichnet die Sprache des Glaubens?
Biblische Schöpfungs-texte (Gen 1; Ps 8):
die Welt und der Mensch als Schöpfung
Gottes
Evolutionstheorie: das Leben und der
Mensch als Folge einer natür lichen Entwicklung
Gemeinsam ein vollständigeres Bild: Schöpfung und Evolution
4. Die Bibel – zentraler Bezugspunkt für christlichen Glauben und Theologie
gebracht (E2.1). Anschließend werden diese Zusammenhänge auf ein für den Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie (Religion) zentrales Beispiel angewandt: das Verhältnis von Schöpfungsglauben und biologischer Evolutionstheorie. Dabei kommen beide „Perspektiven“ in ihrer jeweiligen Eigenart zur Sprache, bevor danach gefragt wird, ob und inwiefern sie sich ergänzen können. Anthropologische Aspekte (E2.2) sind dabei durchgehend präsent. Zum Schluss wird das Thema „Bibel verstehen“ (E2.3) noch einmal zusammenhängend aufgegriffen, nachdem Fragen der Auslegung und
1 Zu den Bildern Magrittes und ihrer Verwendung im Unterricht vgl. B. Bosold, Das Geheimnis sichtbar machen. Philosophisch- theologische Spaziergänge mit R. Magritte, Materialbrief RU Sekundar, 1/2011.
2 Vgl. z. B. Zugänge zur Philosophie, Einführungsphase, Berlin 2010, S. 32-38.
3 Nach: Vernünftig glauben, Arbeitsbuch für den katholischen RU Oberstufe, Paderborn 2011, S. 11.
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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?
AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“
Wirklich ist, was uns durch andere überliefert wird.
Liebe und Treue sind Wirklichkeit.
Wirklich ist nur das, was wir sehen und messen können.
Es gibt nicht die Wirklichkeit. Wirklichkeit ist nur eine Konstruktion in unserem Kopf.
Wirklich ist das, was wir durch unsere Lebenspraxis erfahren.
Wirklichkeit ist für jeden etwas anderes.
Wenn ich das Vertrauen eines Freundes missbrauche, dann habe ich wirklich Schuld auf mich geladen.
Zahlen und mathematische Gesetze werden zwar vom menschlichen Geist entwickelt, dennoch „gibt“ es sie wirklich.
Mein Verstand ist Realität – sonst könnte ich nicht über diese Aussage nachdenken und sie beurteilen.
Gerechtigkeit, Menschenwürde und Demokratie sind genauso wirklich wie der Boden, auf dem ich stehe.
Tagsüber ist es in Frankfurt wirklich hell.
Gott ist kein Gegenstand in Raum und Zeit, aber er ist dennoch wirklich.
Träume sind nur Schäume.
Interessant an diesen Thesen ist u.a., dass darin für sehr unterschiedliche „Dinge“ Wirklichkeit beansprucht wird: materielle Gegebenheiten, ethische Werte, existentielle Erfahrungen, mathematische Konstrukte, rationallogische Prozesse, eine transzendente Macht. Darauf kann im weiteren Unterrichtsverlauf zurückgegriffen werden.
Abschließend setzen sich die Jugendlichen mit einem Text von H. von Ditfurth auseinander (M2). Darin wird am Beispiel der HellDunkelWahrnehmung (vgl. dazu eine der obigen Aussagen) verdeutlicht, dass unsere Sinnesorgane die Welt nicht einfach abbilden, wie sie ist, sondern auslegen und interpretieren. Ein „naiver Realismus“ ist nicht haltbar. Alternativ kann in diesem Zusammenhang auch das „Höhlengleichnis“ von Platon aufgegriffen werden.
Ist die Wirklichkeit nur (m)eine „Erfindung“?
Aus den Überlegungen von Ditfurths ergibt sich unmittelbar die Frage, ob wir mit Hilfe unseres Erkenntnisapparats überhaupt ein wahres Bild der Welt erhalten können – oder ob die Welt nur unsere Konstruktion („Erfindung“) ist. Der unterrichtliche Einstieg erfolgt über den Videoclip „Fisch ist Fisch (Frederik)“ (3:40 Min., u.a. bei youtube), in dem ein aus einer Kaulquappe herangewachsener Frosch einem befreundeten Fisch von der Welt an Land erzählt. Der Fisch kann sich aber
z. B. Vögel nur als „große, gefiederte Fische“ vorstellen. Sein Lebenshintergrund – die Welt im Wasser – prägt sein Denken und Erkennen. Für die im Clip dargestellten verschiedenen Perspektiven auf die Welt können leicht weitere Beispiele gefunden werden (z. B. Fußballfans unterschiedlicher Mannschaften, die das gleiche Spiel erleben).
Der Begriff des radikalen Konstruktivismus wird von der Lehrkraft eingeführt und erläutert. Dies kann durch einen geeigneten Text z. B. von E. von Glasersfeld oder P. Watzlawick vertieft werden (vgl. die Religions und Philosophiebücher für die Sek II). Für eine kritische Diskussion des konstruktivistischen Modells sind folgende Fragen hilfreich: Wenn jeder seine eigene „Wirklichkeit“ und „Wahrheit“ konstruiert, sind dann alle Sichtweisen gleichberechtigt und gleich gültig (vielleicht sogar gleichgültig)? Gilt dies auch für wahnhafte Vorstellungen von psychisch kranken Menschen – oder für Extremisten? Wie ist Kommunikation und Verständigung möglich?
In einem weiteren Schritt kann hier noch einmal das Bild von R. Magritte ins Spiel gebracht werden: Wirklichkeitsbilder und Konstruktionen können auch scheitern und zerbrechen! Wodurch kommt es zu solchen Erfahrungen? Die Schülerinnen und Schüler erhalten die Aufgabe ausgehend von dem Bild Situationen zu entwickeln, in denen eine bestimmte Sichtweise, Überzeugung, Einstellung zerbricht, in Frage gestellt oder auch erweitert wird. Folgende Personen werden vorgegeben: eine Medizinerin, ein Historiker, eine Politikerin, ein Ethiker, eine Glaubende/ein Atheist.
Die Arbeitsergebnisse werden verglichen und ins Gespräch gebracht mit einem Text des Philosophen H. G. Frankfurt (M3), der radikal konstruktivistische (postmoderne) Positionen kritisiert und anhand konkreter Beispiele (Brückenbau, Medizin, Geschichtsforschung) dafür argumentiert, dass die Wirklichkeit – und eine darauf bezogene Wahrheit – menschlichem Erkennen begrenzt zugänglich ist. Kontrovers kann diskutiert werden, ob es sich auch bei ethischen Werten wie der Menschenwürde um etwas „Wirkliches“ handelt, das vom Menschen „entdeckt“ – oder nur von ihm „erfunden“ bzw. konstruiert wird.
Rückblickend werden drei Modelle menschlichen Erkennens definiert und vergleichend diskutiert: Naiver Realismus – radikaler Konstruktivismus – kritischer Realismus (vgl. M4). Die Position von Ditfurths wird diesen Modellen zugeordnet. Zu den erkenntnistheoretischen Modellen vgl. auch den Grundsatzartikel in diesem Heft, S. 911.
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WAS IST WIRKLICH?
„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS
2. Zugänge zur Wirklichkeit in Naturwissenschaften und Theologie (Religion)
Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können den naturwissenschaftlichen Zugang zur Welt in seiner Eigenart und seinen Grenzen beschreiben und zwischen „Naturbild“ und „Weltbild“ unterscheiden; sie können das Besondere eines religiösen Weltzugangs erläutern, nach seinen Quellen fragen und ihn in Relation setzen zu einem naturwissenschaftlichen Blick auf die Welt. Sie können unterschiedliche Erkenntnisebenen benennen und sich argumentativ mit Fragen der Wirklichkeitsdeutung aus-einandersetzen.
Wie sieht ein Naturwissenschaftler, eine Naturwissenschaftlerin die Welt?
Als Anforderungssituation kann ein Zitat des Evolutionsbiologen und bekennenden Atheisten Richard Dawkins gewählt werden, in dem er u.a. die Ansicht vertritt, dass es „nichts außerhalb der natürlichen, physikalischen Welt gibt“. Ein Beleg für diese Position wird nicht zuletzt in dem großen Erfolg der Naturwissenschaften bei der Entdeckung und Erklärung natürlicher Phänomene gesehen.
Der Biologe Richard Dawkins schreibt in seinem Buch „Der Gotteswahn“ (2008, S. 25f): „Gedanken und Ge-fühle der Menschen erwachsen aus den äußerst kompli-zierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn. Ein Atheist oder philosophischer Naturalist in diesem Sinn vertritt also die Ansicht, dass es nichts außerhalb der na-türlichen, physikalischen Welt gibt: keine übernatürliche kreative Intelligenz, die hinter dem beobachtbaren Uni-versum lauert, keine Seele, die den Körper überdauert, und keine Wunder außer in dem Sinn, dass es Naturphä-nomene gibt, die wir noch nicht verstehen. Wenn etwas
außerhalb der natürlichen Welt zu liegen scheint, die wir nur unvollkommen begreifen, so hoffen wir darauf, es eines Tages zu verstehen und in den Bereich des Na-türlichen einzuschließen. Und wie immer, wenn wir einen Regenbogen entzaubern, wird er dadurch nicht weniger staunenswert. Wenn große Naturwissenschaftler unserer Zeit religiös zu sein scheinen, so stellt sich bei näherer Betrachtung ihrer Überzeugungen in der Regel heraus, dass sie es nicht sind“.
Die Jugendlichen äußern sich zu diesem Zitat in einer individuellen Schreibmeditation: „Laut Dawkins kann ein Naturwissenschaftler nicht wirklich religiös sein. Nehmen Sie dazu Stellung!“ Anschließend wird gemeinsam überlegt, welche Kenntnisse erforderlich sind, um die Aussage von Dawkins sachgemäß beurteilen zu können (z. B. Kenntnisse über die Arbeitsweise der Naturwissenschaften und ihren Geltungsbereich) und es wird ggf. ein Arbeitsplan erstellt. Mögliche Leitfragen: Wie sieht ein naturwissenschaftlich Forschender die Welt? Was sieht er gut, was vielleicht nur schlecht oder auch gar nicht? Aus welchem Blickwinkel heraus nimmt er die Wirklichkeit wahr?
Eine vergleichbare Anforderungssituation ist der Roman des BestsellerAutors Dan Brown, Origin (2017), in dem es – am Beispiel der Frage nach dem Ursprung des (menschlichen) Lebens – gezielt um den Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft geht. Der Autor selbst ist dabei der Meinung, dass „kein Gott die Wissenschaft überlebt“.4
Nun wird die Arbeitsweise der Naturwissenschaften näher in den Blick genommen. Dabei ist es sinnvoll, zunächst nach den konkreten Arbeitsschritten bzw. Methoden zu fragen, die Schülerinnen und Schüler können dabei auf die Erstellung von Verlaufsprotokollen im naturwissenschaftlichen Unterricht zurück
Voraussetzungen der NaturwissenschaftenExistenz von Natur und Materie; Erkennbarkeit der Natur mithilfe der Mathematik; der Mensch als erkenntnisfähige Person (Zuverlässigkeit der sinnlichen Wahrnehmung und der logischen Regeln des Denkens)
Interesse der NaturwissenschaftenErforschung der Natur und der in ihr vorfindlichen Phänomene; Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten, die mathematisch exakt beschreibbar sind
Anspruch der Naturwissenschaften„Objektive Aussagen“ über die Natur treffen, das heißt: Aussagen, die unabhängig vom jeweiligen Beobachter sind und jederzeit unter denselben Bedingungen nachgeprüft werden können
Arbeitsschritte/ Methoden der Naturwissenschaften
1. Beobachten und Beschreiben von natürlichen Phänomenen; 2. Aufstellung von Hypothesen (induktives Verfahren); 3. Bestätigung oder Widerlegung der Hypothesen durch Experimente; 4. Ist die Hypothese bestätigt, kann ein Gesetz formuliert werden, evtl. als Teil einer größeren Theorie oder eines Modells
4 Um die Voreinstellungen der Jugendlichen sichtbar zu machen, kann alternativ zu den geschilderten Anforderungssituationen auch ein Rollenspiel durchgeführt werden zu der Frage, „welches Schul-fach der Wahrheit über Welt und Mensch am nächsten steht“ und auf das Leben am besten vorbereitet (vgl. dazu den Entwurf von U. Reinhardt, S. 60).
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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?
AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“
greifen. Die Ergebnisse werden durch das Schaubild und ggf. auch den erläuternden Text (P. Kliemann) in M5a vertieft und gesichert. Davon ausgehend überlegen die Jugendlichen, was Voraussetzungen eines solchen Verfahrens sind und welches Interesse bzw. welcher Anspruch damit verbunden ist (vgl. Tabelle). Es sollte deutlich werden, dass auch ein Naturwissenschaftler zuerst etwas glauben muss, bevor er etwas wissen kann.
In Unterrichtswerken finden sich verschiedene Texte, die in ähnlicher Weise die Frage nach Voraussetzungen, Anspruch und Arbeitsweise der Naturwissenschaften aufgreifen.5
In einem weiteren Schritt soll nach der Reichweite naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gefragt werden. Dies könnte schon an dieser Stelle vorbereitet werden, indem den Kursmitgliedern eine Aussage des Philosophen L. Wittgenstein (18891951) vorgelegt wird, zu der sie ebenfalls (schriftlich) Stellung nehmen: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind“. Es fällt nicht schwer, Beispiele für derartige „Lebensprobleme“ zu finden (Umgang mit Scheitern, Einschränkungen und Leid; ethische Konflikte; Wahl eines Partners oder von Freunden; usw.).
Wie weit reicht der Erklärungsanspruch der Naturwissenschaften?
Am Anfang kann eine Beschäftigung mit dem Lied „Romanze“ der Wise Guys (CD „Radio“, Nr. 11) stehen (vgl. den Entwurf von H. Dam, M1). Als Ergebnis sollte festgehalten werden, dass beide Sichtweisen, die darin – verkörpert durch das verliebte Paar – vorkommen, notwendig sind, um die Wirklichkeit angemessen zu beschreiben: die wissenschaftlichdistanzierte („objektivierende“) und die existentiellpersönliche. Diese Folgerung wird in dem Lied zwar nicht explizit gezogen, aber doch nahegelegt: Es endet fatal, wenn man nur noch einen Blickwinkel auf die Wirklichkeit zulässt und alles andere als „unwirklich“ ansieht.
Dieser Zusammenhang soll vertieft und weiter geklärt werden mit einem Text des Physikers Peter C. Hägele (M6a/ M6b). Er eignet sich für den Unterricht, da er einerseits mit klaren, hilfreichen Begriffen arbeitet (Naturbild – Weltbild), und andererseits ein anschauliches Beispiel verwendet, um den begrenzten Geltungsbereich der Naturwissenschaften zu verdeutlichen. Bei der Auswertung der Textarbeit sollte darauf geachtet werden, dass die im Text erwähnte „Mehrdeutigkeit der Welt“ keineswegs eine Beliebigkeit im Blick auf weltanschauliche Deutungen (Weltbilder) bedeutet. So kann man durchaus fragen, in welches Wirklichkeitsverständnis die oben genannten Voraussetzungen der Wissenschaft sinnvoll integriert werden können (vgl. dazu den Grundsatzartikel in
diesem Heft). Dies spricht dafür, das Verhältnis von Naturwissenschaften und Theologie nicht im Sinne eines Unabhängigkeits, sondern eines Dialogmodells zu verstehen.6
Alternativ kann auch gut mit dem Text von H.P. Dürr, Das Netz des Physikers (vgl. den Entwurf von H. Dam, M6) oder – für weniger lernstarke Schüler – mit einer Erweiterung des KliemannTextes (M5b) gearbeitet werden.
Wie sieht ein religiöser Mensch die Welt?
Zu Beginn steht die Aufgabe, in arbeitsteiligen Gruppen aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven Texte zur Geburt eines Kindes zu formulieren:
� die Hebamme schreibt einen Bericht zum Verlauf der Geburt,
� der Arzt erstellt einen medizinischwissenschaftlichen Befund zum neugeborenen Säugling (z. B. Blutwerte, Organfunktionen)
� eine Patin formuliert ein Dankgebet für den Taufgottesdienst des Kindes,
� die Eltern schreiben einen Text für die Geburtsanzeige, in dem sie ihre Dankbarkeit und Freude ausdrücken,
� der 8jährige Bruder notiert in sein Tagebuch, was ihm angesichts der Geburt durch den Kopf geht und was er befürchtet (Verzicht auf die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern),
� die Abrechnungsstelle des Krankenhauses erstellt eine Rechnung über die Kosten der Geburt und der stationären Behandlung von Mutter und Kind; im Jahresabschluss des Krankenhauses wird der erwirtschaftete Gewinn der Geburtsstation ausgewiesen.7
Die Texte werden präsentiert, die Kursmitglieder erraten, wer hier jeweils aus welcher Perspektive heraus über die Geburt und das Neugeborene spricht. In der Auswertung sollte einerseits die Vielzahl berechtigter Perspektiven auf die Wirk
5 Z. B. Kursbuch Religion Oberstufe, Stuttgart/Braunschweig 2004, S. 28; vgl. auch U. Reinhardt, M6a/b/c
6 Zu den verschiedenen Modellen (Konflikt, Unabhängigkeit, Dialog, Integration) vgl. Ian G. Barbour, Naturwissenschaft trifft Religion. Gegner, Fremde, Partner? Göttingen 2010.
7 Anstelle der Geburt eines Kindes können auch die unterschiedli-chen Wahrnehmungsperspektiven des Frühlings (vgl. U. Reinhardt) oder einer Rose bzw. Tulpe als Beispiel gewählt werden (vgl. H. Dam, M9).
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WAS IST WIRKLICH?
„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS
lichkeit deutlich werden, andererseits aber auch nach dem Besonderen der religiösen Perspektive gefragt werden.
Dieses Besondere der Glaubensperspektive wird im Folgenden exemplarisch in der Auseinandersetzung mit Texten des jüdischen Theologen Abraham Heschel und des christlichen Religionspädagogen Rainer Oberthür (M7) herausgearbeitet. In beiden Texten spielt das existentielle Staunen und das Fragen nach dem Geheimnis hinter den „Tatsachen“ dieser Welt eine zentrale Rolle. Die gewonnenen Einsichten können anschließend in Zusammenhang gebracht werden mit verschiedenen Bibeltexten.
Was sind die Quellen des Glaubens?
Wie kommt ein Mensch aber nun dazu, die Wirklichkeit im Licht des Glaubens zu sehen? Was sind die Quellen, aus denen der Glaube entsteht? In welcher „Umgebung“ kann religiöser Glaube wachsen und sich entwickeln – im Vergleich zum naturwissenschaftlichen Wissen, das z. B. im Labor entsteht? Diesen Fragen wird in einem 4EckenGespräch nachgegangen. Die Lehrkraft stellt dazu folgende vier Thesen, die sich an einem Text von G. Theißen orientieren8, vor und hängt jede in einer Ecke des Raumes auf:
� Für den Glauben ist die Bibel eine wichtige Quelle und Orientierungshilfe. Sie enthält ganz unterschiedliche Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht haben und die auch heute noch von Bedeutung sein können.
� Die frühen Christen haben den Glauben nicht für sich behalten, sondern weitergegeben. So ist – von Generation zu Generation – eine lange Glaubensgeschichte und Glaubensüberlieferung (Tradition) entstanden. Ein lebendiger und auch kritischer Dialog über den Glauben, der sich immer wieder erneuert hat und bis heute Menschen prägt.
� Der Glaube lebt von der Erfahrung. Dabei ist es sehr unterschiedlich, wie Menschen Gott und seinem Wirken begegnen: Manche erfahren Gott in der Stille und im Gebet, andere in der Natur oder in einem Gottesdienst, wieder andere im Erleben von Liebe und Vertrauen – oder in der Kraft, schwere Situationen zu durchstehen. Wo Menschen Gott erfahren, gewinnt der Glaube Tiefe und Überzeugungskraft.
� Der Glaube braucht die Vernunft, um sich selbst und die Bibel besser zu verstehen und sich vor Einseitigkeiten zu bewahren. Es ist wichtig, das, was man glaubt und was einem weitergegeben wurde, auch zu prüfen, zu durchdenken. So entsteht ein aufgeklärter, mündiger Glaube.
Die Schülerinnen und Schüler beziehen (im wahrsten Sinne des Wortes!) Stellung und ordnen sich einer Ecke zu: „Was ist Ihrer Meinung nach für den Glauben besonders wichtig, förderlich oder tragend?“ Die verschiedenen „Ecken“ kommen miteinander ins Gespräch und erläutern ihre Position. Dabei geht es auch darum, ob und inwiefern die genannten GlaubensQuellen miteinander verknüpft sind und zusammengehören.
Ein Interview mit dem Theologen J. Moltmann, in dem er von seinem persönlichen Glaubens und Lebensweg berichtet (M8), führt das Gespräch weiter und vermittelt zusätzliche Impulse. Die Jugendlichen arbeiten u.a. heraus, wie hier von
Erfahrung
� „ich erfahre im Gebet, wie meine Sinne geöffnet werden für das Leben“
� Überleben des Bombenangriffs als Beginn der Suche nach Gott: „Wo bist du?“
� „Gefühl, dass Gott mich zieht/schon gefunden hat“
� Wachsende Gewissheit beim Lesen der Passionsgeschichte: „Da ist jemand, der dich versteht,“, neuer Lebensmut
Bibel
� „Klagepsalmen sprachen mir aus der Seele“
� Lesen der Passionsgeschichte im MkEvangelium/Todesschrei Jesu wachsende Gewissheit: „Da ist jemand, der dich versteht, der die gleiche Verlassenheit gefühlt hat“
� Exoduserfahrung des Volkes Israel; Zeugnis von Jesus und seinem Wirken („Treueereignis Gottes“)
Tradition
� „Mit Menschen erleben wir die Wirklichkeit ... menschliches Leben ist auf Kommunikation angewiesen ... Leben ist Beziehung und Austausch“
� Verteilung von Bibeln im Kriegsgefangenenlager durch andere Menschen
� Menschliche Zeugen stärken die Zuversicht auf die Aussagen/Verheißungen der Bibel
Vernunft
� „Gefühl, dass ich Gott nicht suchen würde, wenn er mich nicht ziehen würde oder nicht schon gefunden hätte“ (Argument gegen Illusionsverdacht)
� Menschliche Zeugen stärken die Zuversicht auf die Aussagen/Verheißungen der Bibel
� Professor für Systematische Theologie: Glaube + Vernunft im Gespräch
8 G. Theißen, Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus, Gütersloh 2012, S. 19f (Frage 5: „Was sind die Grundlagen des Glaubens?“). Auch dieser Text könnte im Unterricht Verwendung finden.
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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?
AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“
Erfahrung, Bibel, Tradition und Vernunft gesprochen wird und welche Bedeutung ihnen zukommt. Eine Stärke des Textes liegt darin, dass der Glaube sehr authentisch in einem (spannenden) Lebenszeugnis zur Sprache kommt.
Denkbar ist es auch, anstelle des Interviews mit vier unterschiedlichen Texten zu arbeiten, die jeweils eine „Glaubensquelle“ näher veranschaulichen (arbeitsteilige Gruppenarbeit, anschließend Austausch der Ergebnisse im Gruppenpuzzle).
Theologie und Naturwissenschaften als komplementäre Zugänge zur Wirklichkeit
Diese Sequenz kann als Bündelung der vorangegangenen Stunden verstanden werden, sie kann unter Umständen auch entfallen oder andere Bausteine ersetzen.
Nach einer Bildbetrachtung zu einem Landschaftsgemälde von Vincent van Gogh aus seiner Zeit in Arles oder SaintRémy (z. B. „Landschaft mit gepflügten Feldern“, 1889) erhalten die Jugendlichen die Aufgabe, aus verschiedenen Perspektiven heraus mögliche Fragen zum Bild zu formulieren. Eine Gruppe formuliert Fragen eines Naturwissenschaftlers bzw. Chemikers (z. B. „Welche Substanzen bringen die Farben hervor?“), eine zweite Gruppe Fragen eines Kunstgeschichtlers (z. B. „Was gab van Gogh den Anstoß für dieses Bild?“), ein dritte Gruppe Fragen eines Betrachters oder Interpreten, der die Bedeutung des Bildes verstehen möchte (z. B. „Was versucht van Gogh mit den Farben auszudrücken?“).
In einem Text von G. Lohfink (M9) wird dieses Beispiel aufgegriffen und auf das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie (Glaube) als komplementären Zugangsweisen zur Wirklichkeit übertragen. Wenn Lohfink zusammenfassend davon spricht, dass „wahre Wissenschaft für verschiedene Erkenntnisebenen offen ist“ (vgl. M9, Aufgabe 3), dann lässt sich dabei nicht nur an religiöse Erfahrungen denken, sondern auch an ethischmoralische Einsichten und Urteile (z. B. von der Würde eines jeden Menschen, die mich und mein Handeln in Anspruch nimmt), an ästhetische Erlebnisse und Wertungen (Musik, Kunst) oder an elementare Erfahrungen von Liebe, Treue und Freiheit. Aus dem Bereich der Philosophie ist das Problem der „Qualia“ bekannt: Die sog. ErstePersonPerspektive, die Innensicht eines Menschen, seine subjektiven Erlebnisse und Absichten sind naturwissenschaftlich nicht angemessen erfassbar, aber dennoch einzigartige Zugänge zur Welt.
Um diese „verschiedenen Erkenntnisebenen“ bzw. die Mehrdimensionalität der Wirklichkeit zu thematisieren, kann auch auf die Thesen aus der ersten Doppelstunde („Was ist wirklich?“, S. 34) zurückgegriffen werden. Ein Schaubild (M10) verdeutlicht und festigt den erarbeiteten Zusammenhang.
Sinnvoll wäre es, die Komplementarität von Naturwissenschaften und Theologie nun auch auf ein aktuelles Beispiel zu beziehen bzw. anzuwenden. So können die Jugendlichen (evtl. als Hausaufgabe) den Auftrag erhalten, am Thema
Klonen oder PID zu erörtern, wie Naturwissenschaften und Theologie zusammenarbeiten können und füreinander anschlussfähig sind. Für lernstarke Schüler ist die Frage nach der Freiheit und Determination des Menschen, die im Gespräch mit der Hirnforschung eine wichtige Rolle spielt, ein reizvolles Thema.9
3. Schöpfung und Evolution – gegensätzliche oder komplementäre Sichtweisen auf das Leben?
Kompetenzen: Die Schülerinnen und Schüler können die Schöpfungserzählung in Gen 1 aus ihrem zeitgeschichtli-chen Kontext heraus erschließen und einen Schöpfungs-psalm kreativ gestalten. Sie können Grundzüge der Evolu-tionstheorie und ihrer Entstehung erläutern und nach ihrer Reichweite fragen. Sie können den biblisch-christlichen Schöpfungsglauben von einer kreationistischen Position unterscheiden und als eigenständige Sichtweise von Welt und Mensch, die die biologische Perspektive ergänzt und erweitert, ins Gespräch bringen.
„Am Anfang schuf Gott …“ – Die jüngere Schöpfungserzählung in Gen 1
Das Kinder und Jugendbuch von M. SchmidtSalomon „Susi Neunmalklug erklärt die Evolution“ (2009), das auch als Videoclip vorliegt (3:45 Min., u.a. youtube), stellt eine aktuelle Anforderungssituation dar. Darin wird aus Sicht des „Neuen Atheismus“ die biblische Schöpfungserzählung in Gen 1 in plakativer Form als falsch und überholt dargestellt. Erste Schüleräußerungen zum Video lassen vorhandene Voreinstellungen sichtbar werden. Eine mögliche Aufgabenstellung, die am Ende der Unterrichtssequenz zu Schöpfung und Evolution bearbeitet werden soll, aber hier schon vorgestellt wird: „Deine 13jährige Cousine hat das Buch zum Geburtstag geschenkt bekommen. Sie fragt dich, was du davon hältst. Du schreibst ihr eine (längere) Mail“.
Die folgenden Unterrichtsschritte vermitteln den Schülerinnen und Schülern wichtige Voraussetzungen, um diese Aufgabe kompetent und reflektiert bewältigen zu können. Alternativ zum beschriebenen Vorgehen ist es auch möglich, eine sog. Lernaufgabe zu formulieren, die ebenfalls auf die Anfertigung einer Mail an die Cousine als Produkt abzielt, die dafür erforderlichen Lernschritte und inhaltlichen Klärungen aber stärker der individuellen Bearbeitung (oder der Bearbeitung in Kleingruppen) zuweist. Der Vorteil dieser Arbeitsweise liegt darin, dass die Schüler – entsprechend ihrer Voraussetzungen – auf
9 Vgl. dazu z. B. Kursbuch Religion Sekundarstufe II, Stuttgart/Braunschweig 2014, S. 72f; Vernünftig glauben, aaO, S. 71-73; Moment mal!, Evangelische Religion Oberstufe, Stuttgart 2016, S. 118f, sowie die aktuelle Filmdokumentation „Mehr als mein Gehirn – Eine Reise zum Ich“ (iguw 2017).
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WAS IST WIRKLICH?
„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS
unterschiedlichen Niveaus arbeiten können und ihren Lernweg sehr eigenverantwortlich gestalten.10
In jedem Fall wirft die Auseinandersetzung mit dem Kinderbuch die Frage nach einem angemessenen Verständnis der biblischen Schöpfungserzählung in Gen 1 auf: In welchem Kontext ist sie entstanden und welche Bedeutung hatte sie für die Menschen in Israel zur damaligen Zeit? Eine Lehrererzählung kann zunächst in die bedrängende Situation des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert v. Chr. und der Zeit danach einführen.11 Anschließend erhalten die Schülerinnen und Schüler die Aufgabe, den für die babylonische Religion zentralen Schöpfungsmythos „Enuma Elisch“ mit der biblischen Schöpfungserzählung in Gen 1 zu vergleichen und jeweils Kernaussagen herauszuarbeiten (dazu M4 im Entwurf von H. Dam, S. 23, das gemeinsam entwickelt wurde).
Aufgabenstellung zu M4 (Entwurf Dam)
1. Vergleichen Sie den babylonischen Schöpfungsmythos Enuma Elisch mit der Schöpfungserzählung in Gen 1,12,4a. Wie wird darin jeweils gesprochen a) über Gott bzw. Götter, ihr Wesen, ihr Handeln und ihre Absichten, b) über die Welt (Himmel und Erde) und ihre Entstehung,
c) über die Gestirne und ihre Funktion und d) über den Menschen und seine Bedeutung? – Halten Sie Ihre Ergebnisse schriftlich in einer Tabelle fest!
2. Im babylonischen Exil waren für die Juden tragende Säulen ihres Glaubens (Land, Königtum, Tempel) weggebrochen. Welche Bedeutung kann in dieser Situation die in Gen 1 überlieferte Schöpfungserzählung für sie haben? Welche Botschaft vermittelt sie der resignierten und verunsicherten jüdischen Gemeinde?
3. Kann der biblische Text auch heute noch Sinnperspektiven erschließen – angesichts einer Gesellschaft, in der Leistung, Effektivität und Selbstoptimierung dominieren?
In der gemeinsamen Auswertung wird Gen 1 als Gegenentwurf zum babylonischen Schöpfungsmythos verständlich, der ein neues Selbst und Weltverständnis ermöglicht (wobei Himmel, Erde und Sterne „radikal entgöttert werden“) und den Gott Israels als Schöpfer der ganzen Welt erkennbar macht. Es geht nicht um die Frage, wie die Welt und der Mensch im Einzelnen entstanden sind, sondern darum, wozu sie da sind und welche schöpferische Macht hinter allem steht. Entscheidend ist deshalb nicht das naturkundliche „Wissen“ (Weltbild) in Gen 1, sondern das Schöpferwirken Gottes, das mit Hilfe dieses Wissens veranschaulicht und ausgesagt wird. Deshalb ist der Glaube frei, das jeweils aktuelle naturwissenschaftliche Wissen aufzugreifen und mit dem Schöpfungsglauben zu verbinden.
10 Vgl. dazu den Artikel von C. Terno, Lernen mit Lernaufgaben in der Oberstufe, in: RPI-Impulse 2/2018, S. 27-29 (mit zusätzlichen Onlinematerialien).
11 Vgl. J. Zink, Schöpfungsglaube, Stuttgart 2006, S. 51-58.
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WAS IST WIRKLICH? WAS IST WIRKLICH?
AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“
Eine sehr gelungene Alternative zum Kinderbuch von M. SchmidtSalomon ist „Das Buch vom Anfang von allem“ (2015, ab 8 Jahren) von R. Oberthür. Darin werden die biblischen Schöpfungstexte und die naturwissenschaftliche Sicht von der Geschichte des Universums als unterschiedliche, sich ergänzende Erzählungen dargestellt. Bei Interesse können Lernende dieses Buch am Ende der Sequenz zu Schöpfung und Evolution in einer Präsentation vorstellen.
„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Einen Schöpfungspsalm sprachlichklanglich gestalten
Die Beschäftigung mit Gen 1 hat verdeutlicht: Für Verständnis und Auslegung biblischer Texte ist es wesentlich darauf zu achten, um welche Textgattung es sich handelt. Es können – neben der Schöpfungserzählung bzw. dem Schöpfungsmythos – mit den Kursmitgliedern weitere biblische Textarten (Geschichtserzählung, Gleichnis, Brief, Gesetzestext, Psalm/Gebet ...) gesammelt werden.
Der Fokus soll im Folgenden auf den Psalmen liegen. Nach einer knappen Einführung durch die Lehrkraft (in der z. B. die Unterscheidung zwischen Dank, Klage, Lob, Vertrauens, Buß, Schöpfungspsalmen vorgestellt werden kann) wird Psalm 8 – ein Schöpfungspsalm – in Gruppen näher betrachtet und in Form eines Texttheaters kreativ gestaltet. Eine Anleitung dazu findet sich in M11. Auf diesem Weg lernen die Jugendlichen auch einen kreativen Zugang zu biblischen Texten kennen. Sollte die Gestaltung eines Texttheaters in der Lerngruppe nur schwer umsetzbar sein, sind auch andere Arbeitsformen denkbar: einen eigenen Schöpfungspsalm schreiben, ein Schöpfungsbild zu Ps 8 malen, Standbilder entwickeln, etc.
Die Evolutionstheorie Darwins
Mit dieser Stunde wird ein Wechsel hin zur biologischen Perspektive vollzogen. Eine gute Möglichkeit, die Evolutionstheorie und ihre Entstehung zu erschließen, bietet die Ar
Enuma Elisch/babylonische Religion Genesis 1
Gott/Götter zerstrittene, eigensinnige Götterschar der eine Gott JHWH, den Israel in seiner Geschichte (z. B. im Exodus) erfahren hat und der Schöpfer der ganzen Welt ist
Welt zufälliges Produkt eines gewaltsamen Götterkampfs, instabile Weltordnung
gewollte und sinnvoll geordnete Schöpfung Gottes als Lebensraum für Mensch und Tier; selbst nicht göttlich
Gestirne Sonne, Mond und Sterne als Sitz bestimmter Götter; Sternkonstellationen etc. als Zeichen der Götter
Lichter am Himmel, die Gott geschaffen hat, um Tag und Nacht voneinander zu trennen ...
Mensch Geschaffen aus dem Blut des Gottes Kingu, um die Götter von ihrer Arbeit zu entlasten
Geschaffen zum „Ebenbild“ und verantwortlichen Partner Gottes, mit dem Auftrag die Welt zu gestalten
beit mit der Filmdokumentation „Gottes Werk und Darwins Beitrag“ (kfw 2009). In Kapitel 14 und 6 (ca. 20 Min.) werden Darwins Lebensweg, die Grundzüge der Evolutionstheorie (Mutation und Selektion) sowie deren Rezeption in der Zeit nach Darwin anschaulich vorgestellt.
Alternativ können auch freiwillige Präsentationen einzelner Schülerinnen und Schüler (mit Interesse an biologischen Fragen) ins Thema einführen.
Ein Beobachtungsbogen zur Erarbeitung der Filmabschnitte kann folgende Impulse enthalten:
1. Wie sah Darwins Kindheit, Jugend und Studienzeit aus? Welche Interessen hatte er?
2. Die Reise auf der „Beagle“ veränderte Darwins Leben. Wie verlief diese Reise und womit befasste sich Darwin in dieser Zeit?
3. Nach fünf Jahren kehrte die „Beagle“ 1836 nach England zurück. Was kennzeichnete Darwins weitere Arbeit als Naturforscher?
4. Notieren Sie die Kernthesen der Evolutionstheorie Darwins! Wodurch kommt es zum Artenwandel bei den Lebewesen?
5. Die Evolutionstheorie Darwins sorgte für „Zündstoff“. Wie wurde sie im 19. Jahrhundert aufgenommen?
6. Welche Haltung hatte Darwin selbst zur Religion?
7. Im Film werden auch heutige Wissenschaftler vorgestellt (z. B. Prof. Treitler, Theologe; Prof. Wuketits, Evolutionstheoretiker; Pater Gaus, Priester und Lehrer für Chemie und Biologie). Was erfahren wir über sie und ihre Ansichten?
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WAS IST WIRKLICH?
„WAS IST EIGENTLICH WAHR?“ AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS
Fragen an die Evolutionsbiologie
Die Bedeutung und Reichweite der Evolutionstheorie war und ist bis heute immer wieder umstritten. Was folgt aus dieser biologischen Theorie für unsere Sicht der Welt und des Menschen, für unser Selbstverständnis? Die Schülerinnen und Schüler diskutieren folgende Fragen an die Evolutionsbiologie oder eine Auswahl daraus.12 Dabei achten sie darauf, was leicht und was schwer fällt, welche Fragen man auf der biologischen Ebene (teilweise) beantworten kann, welche eher nicht, usw. Es sollte deutlich werden, dass die Evolutionstheorie vor allem Einblicke in kausale Entwicklungszusammenhänge ermöglicht, aber keine umfassende Weltdeutung („Weltbild“) und kein hinreichendes Menschenbild bietet.
Was ist von dieser Welt zu halten?
Warum gibt es den Menschen?
Wie ist es zu erklären, dass in der Evolution des Lebens ein Wesen entsteht, das die Evolution erkennen kann?
Welche Rolle spielt der einzelne Mensch in der Evolution?
Was kann mich in Leid und Not trösten?
Ist alles sinnlos oder gibt es einen Sinn in der Evolution?
Was kommt auf uns zu?
Was ist gut und was ist böse?
Ist alles das Wirken von Mutation und Selektion?
Kann der Mensch ein Geschöpf Gottes und das Ergebnis einer natürlichen Entwicklung sein?
Ausgehend von diesen Fragen können sich die Lernenden z. B. mit einem Interview mit dem atheistischen Philosophen D. Dennett auseinandersetzen, in dem dieser die These aufstellt, der Atheismus sei eine naheliegende Konsequenz aus der Evolutionstheorie.13
Schöpfungsglaube, Evolutionstheorie und Kreationismus
Es gibt nicht nur eine Kritik am Schöpfungsglauben aufgrund eines bestimmten (überhöhten) Verständnisses der Evolutionstheorie, sondern auch eine Kritik an der Evolutionstheorie aufgrund eines bestimmten Verständnisses der Bibel. Dies soll nun aufgegriffen werden – und damit auch eine weitere Form der Bibelauslegung, nämlich die fundamentalistische.
Zur Einführung werden weitere Teile des Films „Gottes Werk und Darwins Beitrag“ (Kapitel 910 oder 11, ca. 9 bzw. 13 Min.) verwendet,14 ebenso denkbar sind freiwillige Schülerreferate zu Kreationismus und Intelligent Design. Impulsfragen zu den genannten Filmabschnitten:
1. Was ist der „Kreationismus“? Welche Auffassungen und Forderungen vertreten Kreationisten?
2. Wo liegen Probleme eines wörtlichen Verständnisses der biblischen Schöpfungserzählungen?
3. Was verbirgt sich hinter der Bewegung des „Intelligent Design“?
4. Welche kritischen Anfragen stellen sich an dieses Konzept?
5. Beurteilen Sie folgende Aussage von Prof. Haszprunar, die dieser im Film macht: „Es ist der falsche Ansatz, den Allmächtigen [Gott] dort zu suchen, wo man etwas nicht weiß. Es wäre viel sinnvoller, ihn dort zu ergründen, wo man etwas weiß“!
Zur inhaltlichen Vertiefung kann auf eine Vielzahl geeigneter Texte zurückgegriffen werden, hier wird ein Text von G. Lohfink (M12) vorgeschlagen. Darin kritisiert der Autor einerseits ein fundamentalistisches Bibelverständnis und eine von daher motivierte Kritik an der Evolutionstheorie, und entfaltet andererseits ein positives Verständnis der Komplementarität von Schöpfungsglaube und Evolution.
Der Text kann ergänzt werden durch die Interpretation einer Abbildung, die auf dem Cover des Buches „Und Gott schuf Darwins Welt“ von H. Hemminger (Brunnen 2009) zu sehen ist (s. rechts). Dort sind zwei bekannte Motive miteinander verwoben: die Erschaffung des Menschen nach Michelangelo und die stufenweise Entwicklung des Menschen aus dem Tierreich.15
12 In: Kursbuch Religion Sek II, aaO, S. 71.
13 Der Textauszug aus einem SPIEGEL-Interview findet sich in: entwurf 4/2008, S. 54.
14 Empfehlenswert zu diesem Thema ist auch die Dokumentation „Adam, Eva und die Evolution – Kreationismus auf dem Vor-marsch“ (SWR 2009, 28 Min.).
15 Eine dazu passende, kurze moderne Schöpfungserzählung („Gott wollte den Menschen“) hat M. Fischer formuliert; sie findet sich z. B. in: Kursbuch Religion Sek II, aaO, S. 71.
WAS IST WIRKLICH?
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WAS IST WIRKLICH?
AUS DER PRAXIS FÜR DIE PRAXIS „WAS IST EIGENTLICH WAHR?“
4. Die Bibel – zentraler Bezugspunkt für christlichen Glauben und Theologie
Das Themenfeld „Bibel verstehen“ kam im bisherigen Kursverlauf schon an verschiedenen Stellen und in unterschiedlicher Weise zur Sprache, diese „losen Fäden“ werden nun noch einmal aufgegriffen und miteinander verbunden. Dies ist auch deshalb wichtig, weil die biblische Überlieferung einen wesentlichen Bezugspunkt für die Sichtweise des christlichen Glaubens auf die Welt und das Leben darstellt.
Mögliche thematische und vertiefende Aspekte:
� Zugänge zur Bibel (historischkritisch, feministisch, tiefenpsychologisch, fundamentalistisch, kreativ, etc.). Ausgehend von der kennengelernten Auslegung zu Gen 1 (historischkritisch), dem Bibelverständnis im Kreationismus (fundamentalistisch) und dem Texttheater zu Ps 8 (kreativ) werden verschiedene Zugänge zu biblischen Texten erschlossen und miteinander ins Gespräch gebracht.
� Gattungen in der Bibel. Dabei kann ebenfalls von den Erkenntnissen ausgegangen werden, die in der Beschäftigung mit Gen 1 und Ps 8 gewonnen wurden.
� Der hermeneutische Zirkel (vgl. das didaktische Konzept von H. Dam)
� Entstehung und/oder Aufbau der Bibel. Um einen Überblick über die Bibel zu vermitteln, können Gruppen gebildet werden, die jeweils für einen „Raum“ der Bibel zuständig sind (Mosebücher/Tora; Prophetenbücher; Lehrbücher: Psalmen, Sprüche; Evangelien und Apostelgeschichte;
Briefe). Jede Gruppe erstellt passende Materialien für eine Stationenarbeit, die anschließend durchgeführt wird.
� Die Bibel – ein Märchenbuch? Hier kann das in der Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften und Theologie (Religion) erarbeitete mehrdimensionale Wirklichkeits und Wahrheitsverständnis auf biblische Zusammenhänge übertragen werden.
� (Begleitende) Lektüre einer Ganzschrift, z. B. des Buches Jona
� Bibel und Koran. Die Beschäftigung mit biblischen Schöpfungstexten kann vertieft werden durch Korantexte zum Thema Schöpfung und Mensch. Ausgehend davon können Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Schriftverständnis zwischen Christen und Muslimen erarbeitet werden. Möglich ist eine Behandlung dieses Themas auch im Kontext der Christologie (Q1): Jesus Christus bzw. der Koran als Wort und Offenbarung Gottes.
Materialien zu diesen und weiteren Themen sind in allen relevanten Unterrichtswerken, Arbeitshilfen usw. zu finden, dabei können auch bisherige Unterrichtskonzepte – soweit sinnvoll – berücksichtigt werden.
Literatur:
� H. Kessler, Evolution und Schöpfung in neuer Sicht, Kevelaer 2009
� H. Küng, Der Anfang aller Dinge. Naturwissenschaft und Religion, München 2005
� P. Hägele/R. Mayer, Warum glauben – wenn Wissenschaft doch Wissen schafft?, Wuppertal 2003
� B. Drossel, Und Augustinus traute dem Verstand. Warum Naturwissenschaft und Glaube keine Gegensätze sind, Gießen 2013
� R. Oberthür, Das Buch vom Anfang von allem. Bibel, Naturwissenschaft und das Geheimnis unseres Universums, München 2015
� U. Lüke, Das Säugetier von Gottes Gnaden. Evolution – Bewusstsein – Freiheit, Freiburg 2016
� H. Hemminger, Und Gott schuf Darwins Welt, Gießen 2009
� Entwurf 4/2008, Heftthema „Schöpfung“ � Oberstufe Religion, Heft 1, Wirklichkeit, hg. von V.J.
Dieterich, Stuttgart 2006 � Unterrichten in der Oberstufe. Materialien und Anre
gungen für den Ev. RU in der Jg. 11: „Was ist wahr? – Wahrnehmung und Wirklichkeit“, hg. von der Gymnasialpäd. Materialstelle der Ev.Lutherischen Kirche in Bayern