Zeitempfinden im Alltag und Lebenslauf
1. Zeitperspektive (=Zeiterleben und Zeitbewusstsein) aus biologischer, psychologischer und soziologischer Sicht
2. Entwicklung des Zeitempfindens und Zeitbewusstsein von der Wiege bis zur Bahre
Begriffsklärung: Was verstehen wir unter ZEIT?
Umgangssprachlich und im Alltag (nächste Folien)
Fachterminologische Annäherungen (nächste Folien)
ZEIT in Physik und Biologie (nächste Folien) ZEIT als Forschungsgegenstand von
Psychologie, Pädagogik und anderen Sozialwissenschaften (nächste Folien)
Alltagssprachliche Begriffsklärung – fachliche
Präzisierungen Alltagssprachliche Abgrenzungen: Zeitempfinden (emotional – Zeitwahrnehmung (kognitiv) – Zeitbewusstsein (kognitiv) – Zeiterleben (ganzheitlich) – Umgang mit Zeit (handeln) – Zeitintervalle schätzen (kognitiv) – Zeitlosigkeit
Fachliche Präzisierungen: drei Dimensionen des Zeiterlebens: Zeitperspektive (incl. –bewusstsein, -wahrnehmung, -schätzung: kognitiv), Zeitempfinden, incl. –gefühl: emotional), Umgang mit Zeit (konativ)
ZEIT als Forschungsgegenstand in
den Human- und Sozialwissenschaften
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Philosophie: Subjektiv wahrgenommene Abfolge von Ereignissen
Soziologie: Gesellschaftliche Aspekte Psychologie: Individuelle Aspekte von Zeit Pädagogik/Erziehung: Verantwortungsvoller
Umgang mit Zeit
Zeit in der Physik und Biologie
Physik: eindeutig messbare Größe, vollzieht sich immer in einer Richtung (nach vorn), Kausalitätsprinzip: Wirkung geht der Ursache voraus
Quantenphysik: Gleichzeitigsein eines Quants an zwei Orten, Raum-Zeit-Kontinuum in der Relativitätstheorie, Zeitdilatation (Dehnung) mit zunehmender Geschwindigkeit, Geschwindigkeit des Lichts, ca. 300000 km/sec als Konstante)
Schwarze Löcher und Supernovas mit eigenen Zeitstrukturen und –gesetzen; Urknall oder ewiger Kosmos
Biologie: zeitgebende (z. B. zirkadiane) Strukturen (im suprachiasmatischen Kern) und zeitnehmende Strukturen
Zeitgebundenheit biologischer Phänomene: Reizweiterleitung im Gehirn (msec), Herzschlag (sec), Lebensdauer von Körperzellen (Tage bis Wochen), weiblicher Zyklus (28 Tage), Schwangerschaft (9 Mon.)
Biologische Grundlagen unserer Zeitwahrnehmung
Zeit: ein Hirngespinst (kognitives Konstrukt)?
Zeit: biologisch in jeder Zelle, jedem Organ angelegt?
Zeitphänomene bei optischen Täuschun-gen (Drei-Sekunden-Fenster)
Zeitliche Ungenauigkeit des Gehirns
Biologische Grundlagen unserer Zeitwahrnehmung
(2) Biologisch bedingte Störungen des Zeitbewusstseins (in der Wahrnehmung von MS-Patienten verlangsamt sich die Zeit, weil die Reizweiterleitung zu zentralen Verarbeitungsstellen verzögert verläuft)
Alle Reize, die innerhalb eines Zeitfensters von 30-40 msec eintreffen, werden als gleichzeitig behandelt (Fusionsschwelle)
Subjektive Gegenwart umfasst jeweils Zeitintervalle von 2-3 sec Dauer (Beispiele)
Weitere Belege für die subjektive JETZT-Zeit
Genauigkeit bei der Schätzung der Dauer von Zeitintervallen
Binokulare Rivalität (grünes+rotes Gitter-Brillenglas) Zeitliche Gliederung der gesprochenen Sprache Dauer von Begrüßungen Länge von Verszeilen und musikalischen Motiven Umfang des Ultrakurzzeit- o. Arbeitsgedächtnisses Semantisches Verkleben von Drei-Sekunden-
Abschnitten (neuronaler Integrationsmechanismus) zu umfassenderen Einheiten
Langweilige und kurzweilige Zeiten in der Erinnerung
Langeweile (die Zeit dehnt sich, wenn in unsere Drei-Sekunden-Fenster immer nur wenige, monotone, längst bekannte Informationen gelangen)
Abwechslung (wir bemerken gar, wie die Zeit vergeht, wenn in unsere Drei-Sekunden-Fenster immer wieder neuartige, unsere Aufmerksamkeit voll beanspruchende Reizkonfigurationen gelangen)
Zeitlosigkeit erleben im Flow
Hoch- und niederfrequente Zeitgeber im Gehirn
Niederfrequente Zeitgeber im Gehirn (die z. B. Stundentakte und Tag-Nacht-Rhythmus vorgeben) sind vermutlich im Bereich des Hypothalamus (Zwischenhirn) lokalisiert
Hochfrequente Zeitgeber im Gehirn sind vermutlich der Sprachregion in der dominanten Hirnhälfte lokalisiert
Für die gefühlsmäßige Tönung unseres Zeiterlebens scheint das limbische System (im Zwischenhirn) verantwortlich zu sein
Äußere Zeitgeber und unsere innere Uhr
Unsere innere, biologisch und hirnphysio-logisch fundierte Tagesperiodik erweist sich äußeren Zeitgebern gegenüber als relativ resistent.
Beispiele: Umstellung der inneren Uhr nach Transkontinentalflügen
Desynchronisation der inneren Uhr bei Schichtarbeitern (ausgeprägt dann, wenn drei Schichten im wöchentlichen Wechsel gefordert werden)
Schätzung der Dauer von Zeitintervallen
Die Dauer relativ kurzer (unter 3 sec) Intervalle wird in der Regel überschätzt
Leere kürzere Intervalle werden genauer geschätzt als gefüllte längere Intervalle
Sinnvoll gefüllte längere Intervalle werden genauer geschätzt als sinnlos gefüllte
Einsatz von Erfahrungswissen: „Einundzwanzig“ sagen dauert ungefähr eine Sekunde
Zenit der Schätzgenauigkeit um die Lebensmitte herum
Entwicklung des Zeitempfindens und
Zeitbewusstsein über die Lebensspanne
Wie kommt die Zeit in den Menschen, wie gelangen wir zu unseren Vorstellungen von Zeit?
Biologische Zeiten und Rhythmen bestimmen unseren Werdegang von Anfang an (vom Zeitpunkt der Zeugung). Sie sind genetisch verankert und folgen einem von innen gesteuerten Reifungsprogramm.
Aber auch Sozialisation und Erziehung sind mitverantwortlich bei der Ausbildung unseres Verständnisses von Zeit.
Und wir selbst – jeder einzelne von uns – sind mitverantwortlich, können unser Leben selektiv beschleunigen oder entschleunigen!
Zeitliche Rhythmen im Verhalten von Föten und
Säuglingen Zyklische, periodische Bewegungsabläufe bei 5 Monate alten Föten (Dauer ca. 90 sec)
Schlafzyklen (anfangs nur 8 Minuten lang) und Aktivitätszyklen bei 8 Monate alten Föten
4 Wochen alte Säuglinge zeigen schon über 40 spontane Bewegungsmuster mit jeweils typischer Zeitdauer
Vokalisationen zwischen Baby und Mutter weisen spezifische Zeitstruktur auf
Lernen von Zeitstrukturen in den ersten sechs
Lebensjahren Zeitliche Synchronisation und Feinabstim-mung der Interaktionen mit der Mutter im 1. Lebensjahr
Lernen zeitlicher Information (Wenn ich rüttle, setzt sich das Mobile in Bewegung)
Vom 18. Lebensmonat an (Reifungsschub im Stirnhirn) allmähliche Lockerung des im Hier-und-Jetzt-Eingebundenseins
Vom 24. Lebensmonat an Differenzierung zwischen Sprech- und Ereigniszeit
Lernen von Zeitstrukturen in den ersten sechs Lebensjahren (2) Vom vollendeten 3. Lebensjahr an wird im „Hier und
Jetzt“ (in der Sprechzeit) immer häufiger von „gestern“ und „morgen“ gesprochen
Erst 4jährige können dann auch Temporal-präpositionen, wie „vorher“, „nachher“, „früher“, „später“ korrekt, d. h. unabhängig von Sprechzeit und Ereigniszeit verwenden
In den nächsten zwei Jahren wächst das Verständ-nis für die komplizierten Zusammenhänge zwischen Zeit(dauer), Entfernung und Geschwindigkeit (Piagets bahnbrechende Experimente)
Fortschritte in den folgenden Jahren (7. bis 12.
Lebensjahr) Lernen der Uhrzeit und des Umgehens mit dem Kalender
Zwei kognitive Konzepte von Zeit entwickeln sich parallel nebeneinander:
Beziehung zwischen Entfernung und Geschwindigkeit
Dauer, die vergeht, während sich ein Ereignis vollzieht
Ers 12jährigen gelingt es, gleichzeitig Entfernung und Geschwindigkeit im Auge zu behalten, wenn sie Zeitdauern abschätzen solle
Jugend, junges und mittleres Erwachsenenalter
Vergangenheits- und Zukunftsperspektive differenzieren sich immer weiter aus
Wenn keine Bewältigungsressourcen zur Verfügung stehen, verengen Kritische Lebensereignisse die Zukunftsperspektive und nehmen der Gegenwart den Sinn
Wenn sie erfolgreich bewältigt werden, weitet sich die Zukunftsperspektive wieder und die Gegenwart füllt sich mit Sinn
Mittleres und späteres Erwachsenenalter (bis 65 Jahre) und höheres Alter Verkürzung der Reichweite der Zukunftsperspektive
Intensivere Besetzung der Gegenwart und näheren Zukunft
Bei Frauen zwischen 40 und 50 (Klimakterium), bei Männern zwischen 50 und 65: Einengung und Verdüsterung der Zukunftsperspektive
Erlebte Endlichkeit der eigenen zeitlichen Existenz im Alter (stark abhängig vom Lebensschicksal)
Furcht vor dem Tod und dem eigenen Sterben (bei 60 Prozent der Hochbetagten)
Entscheidende Bedeutung hat dabei die Qualität der gegenwärtigen Lebenssituation
Zeitbewusstsein in der Gegenwart – kulturelle und gesellschaftliche
Unterschiede Zeitbewusstsein in der Krise: ZEIT IST GELD. Bestän-
dige Beschleunigung und Linearisierung von Zeit Interne (z. B. Alter, Geschlecht) und externe Faktoren
(Beruf, Wohnort) bestimmen das individuelle und gesellschaftliche Lebenstempo
Gesellschaftliche Unterschiede im Lebenstempo, ermittelt durch Gehgeschwindigkeit von Fußgängern, Genauigkeit öffentlicher Uhren, Arbeitstempo von Postbediensteten (Schweiz/Zürich am Anfang, kleine südostasiatische Länder am Schluss der Tabelle)
Lebenstempo und Hilfsbereitschaft
Zeitbewusstsein in vergangenen Epochen
Von Zyklen und Wiederholungen geprägt Erst mit dem Siedlungs- und Städtebau setzt
sich immer mehr ein lineares Zeitbewusstsein durch
Innerhalb der Städte: fremdbestimmter Umgang mit Zeit (bereits in der Antike)
Auf dem Lande: selbstbestimmter Umgang mit Zeit
Zeitbewusstsein und Zeitperspektive in den
Weltreligionen Zeitgebundene Rituale bestimmen das orthodoxe Judentum (Sabbat: von Gott geschenkte freie Zeit)
Zeitgebundene Rituale bestimmen auch heute noch das Leben in christlichen Klöstern und bei tief gläubigen Christen; ansonsten setzte sich das lineare Zeitbewusstsein im Christentum immer stärker durch
Im Buddhismus und Hinduismus ist die Zeit unbegrenzt; zentrale Bedeutung besitzt das SEIN; ein Ende aller Zeiten, einen jüngsten Tag gibt es nicht
Im orthodoxen Islam liegt die Zukunft in Allahs Hand; gläubige, auf dem Land lebende Moslems sind eingebettet in ein in sich geschlossenes, zyklisches Gebäude von Zeit
Veränderung des Zeitbewusstseins in
besonderen Lebenssituationen
Langzeitarbeitslose stehen oft vor dem Problem, die ihnen im Überfluss zur Verfügung stehende Zeit sinnvoll zu füllen
Fließbandarbeiter stehen oft unter Zeitdruck, müssen trotz zuweilen monotoner Tätigkeit immer mit höchster Aufmerksamkeit arbeiten
Wartende empfinden die Wartezeit oft als unangenehm, lästig und stressreich; Warte-zeiten korrelieren mit dem Sozialstatus
Weiterentwicklungen des linearen Zeitbewusstsein -
Ein Ausblick Weitere Schrumpfung der Gegenwart durch anhaltenden Beschleunigungstrend, der Technik, Kultur, Mode, Musik umfasst: Was heute mega-in ist, ist morgen schon mega-out
Progressive Musealisierung der kulturellen Gegenwart als Gegenbewegung: Wenige Jahre alten Produkten wird Kult-Status verliehen
Aufrechterhaltung der eigenen und der kulturellen Identität durch Historisierung der jüngsten Vergangenheit
Die Zukunft wird immer undurchschaubarer, weil immer mehr Einflussgrößen geschaffen werden, deren Auswirkungen und Folgen nicht mehr abschätzbar sind
Einstellungen, die überdacht und korrigiert werden sollten Fortschrittsgläubigkeit Vertrauen in den freien Markt Machbarkeitsgläubigkeit Wachstumsgläubigkeit Glaube, das eingesparte Zeit FREIE
Zeit ist
Sinnvoller und verantwortungsvoller
Umgang mit Zeit - Visionen Partielle Entschleunigungen Zulassen von „Timescapes“, in denen sich
lineare und zyklische Zeit vereinen Temporale Muster nutzen: Jede Tätigkeit hat
ihre eigene Zeitstruktur (dabei kommt es auf die optimale Sequenzierung an)
Utopische Chronien: (1) Schlaraffenland der Vollzeit, (2) Befreiung vom Leiden an der Arbeitszeit, (3) Gestaltung neuer individueller Zeitstrukturen