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Page 1: Wolf Markus...Spionagechef im geheimen Krieg

Markus Wolf

Spionagechef im geheimen Krieg

Erinnerungen

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Jahrzehntelang nannte man ihn den »Mann ohne Gesicht«. Jetzt erzählt Markus Wolf, der legendäre Leiter der DDR-Auslandsaufklärung, erstmals seine persönliche Geschichte und die seines Dienstes: ein Buch, das zu den Klassikern der Spionageliteratur zählt.

ISBN 3-471-79158-2 Original: The Man Without a Face

1997 by List Verlag GmbH, München

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Spionagechef im geheimen Krieg ist eine erweiterte und bearbeitete Fassung der englischsprachigen Originalausgabe.

Für Andrea

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Inhalt

Einleitung ............................................................................. 4 Prolog................................................................................... 7 1 Vom Neckar an die Moskwa ........................................... 25 2 Der Einstieg..................................................................... 45 3 Learning by doing ........................................................... 64 4 Schicksalsjahr 1956 ......................................................... 99 5 Die Betonlösung............................................................ 123 6 Spionage aus Liebe........................................................ 144 7 Der deutschdeutsche Dschungel.................................... 156 8 Herbert Wehner............................................................. 190 9 Der heiße Sommer von 1968......................................... 215 10 Wandel durch Annäherung.......................................... 229 11 Des Kanzlers Schatten................................................. 258 12 Das Gift des Verrats .................................................... 290 13 Ein neues 1914? .......................................................... 316 14 Aktive Massnahmen.................................................... 341 15 Die Entdeckung der dritten Welt................................. 356 16. Der ferne Kontinent.................................................... 382 17 Der Ausstieg................................................................ 418 18. Der menschliche Faktor ............................................. 451 19 Glanz und Elend der Spionage .................................... 469 Epilog............................................................................... 480 Danksagung...................................................................... 486 Transkription der Tagebucheintragungen ........................ 487 Glossar.............................................................................. 493

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Einleitung

Dieses Buch ist ein Wagnis. Als erfolgreicher Geheimdienstchef zur Symbolfigur abgestempelt, muß ich mit hohen Erwartungen der Leser rechnen.

Die einen werden eine Enzyklopädie dieses Zweitältesten Gewerbes erwarten, die anderen etwas in der Art eines James-Bond-Films oder Spionagethrillers. Nur haben die Helden solcher Filme und Bücher mit den realen Akteuren der Nachrichtendienste nicht mehr Ähnlichkeit als die Märchentiere Walt Disneys mit der Tierwelt der Wälder, Steppen und Savannen. Die Nerven des Chefs eines Dienstes werden in der Wirklichkeit wesentlich mehr strapaziert als die der Filmhelden, und von ihm angeregte Aktionen laufen im Idealfall lautlos und weitgehend unbemerkt ab.

Für welchen Leser wähle ich aus der Fülle der Erinnerungen und Gedanken, aus der Vielfalt des für mich alltäglich Gewesenen das Erzählenswerte? Manches, was vor Jahren die größte Aufregung verursachte, erscheint nach der Prüfung durch die Zeit fast banal. Umgekehrt erhalten Informationen und Vorgänge, die zum Alltagsgeschäft gehörten, und mit ihnen die Menschen, die viel aufs Spiel setzten, oft erst im Rückblick ihre wahre Bedeutung.

Die Personen der Begebenheiten meines Buches leben zum großen Teil noch. Ihnen galt und gilt mein besonderes Interesse. Nicht das sich täglich auf dem Schreibtisch häufende Papier, sondern die Begegnung mit für ihre gefährliche Tätigkeit ganz unterschiedlich motivierten Menschen, das Kennenlernen so verschiedener Charaktere machte für mich den Reiz der Arbeit aus. Die moralische Verantwortung gegenüber diesen Menschen besteht fort. Vielen drohen noch Verfahren, viele sind in ihrer bürgerlichen Existenz gefährdet. Andere haben sich nach dem Verbüßen ihrer Haftstrafe ein neues Leben aufgebaut. Dies habe

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ich beim Erzählen zu berücksichtigen. Deshalb muß ich meine Leser um Verständnis bitten, wenn ich viele Namen nicht nenne, in manchen Belangen Zurückhaltung übe und einiges noch ganz mit Schweigen übergehe. Begriffe, die manchem Leser wie Fachchinesisch vorkommen mögen, sind im Anhang in einem Glossar erläutert.

Die Erfolge des von mir geleiteten Dienstes markierten Höhepunkte des kalten Krieges. Diese Zeit prägte schroffe und unversöhnliche Feindbilder auf beiden Seiten. Wir sahen in unserem Widersacher den »imperialistischen Aggressor« und verkörperten selbst für viele Menschen der anderen Seite das »Reich des Bösen«. Über Jahrzehnte hinweg verfestigte Klischees wirken nach, auch heute noch. Gleichzeitig rücken die Jahre des erbitterten kalten Krieges im Bewußtsein vieler allzu schnell in die Vergangenheit. Die Geschichte dieser von mir erlebten Zeit so zu erzählen, daß sie auch jenseits des verschwundenen Eisernen Vorhangs verstanden wird, ist nicht leicht.

Und zuletzt: Nach der kläglichen Auflösung eines Staates über Erfolge eines Nachrichtendienstes zu schreiben, der nicht mehr existiert, mag anmaßend erscheinen. Doch gerade im Zusammenbruch des gesamten Systems, in das mein Land eingebunden war, liegt für mich die Herausforderung. Was sind die Ursachen, wann und wo lassen sie sich festmachen?

Etwa ein Jahrzehnt vor der Wende des Herbstes 1989 erfaßten mich Beunruhigung und der Drang, über Symptome und Ursachen der immer sichtbarer werdenden Krankheit des Systems nachzudenken, das wir für den Sozialismus hielten. Ich begann zu schreiben – damals noch im Glauben an eine mögliche Heilung. Deshalb beantragte ich 1983 meine Pensionierung, und seitdem lebt dieses Buch in mir.

Ich habe die Tatsachen ungeschminkt zu erzählen versucht. Leser, Kritiker und Historiker mögen sie prüfen, sie bestätigen oder bestreiten. Im vereinigten Deutschland wurde und wird

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versucht, mit Hilfe der Justiz und auf anderen Wegen bei der Aufarbeitung der Geschichte Rechnungen zu begleichen, damit am Ende nur eine Sicht übrig bleibt. Ich meine aber, daß nach dem erklärten Ende des kalten Krieges Inventur auf beiden Seiten der ehemaligen Fronten zu machen ist und daß eine Geschichtsschreibung, die diesen Namen verdient, nicht nur von den Gewinnern verfaßt werden darf.

Geschichte ist nur aus der erlebten Geschichte zu verstehen. Zu solchem Verstehen einer Zeit voller Widersprüche möchte ich durch mein subjektives Zeugnis beitragen.

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Prolog

Der Tag war gekommen, an den keiner meiner Angehörigen und Freunde hatte glauben wollen. Bekannte und Unbekannte, alte Freunde in Moskau und neue Freunde in Wien, französische und schwedische Schriftsteller, der Rabbiner aus Jerusalem und ein ehemaliger Leiter des Mossad aus Tel Aviv, Senatoren und Juristen aus den USA, keiner war auf einen Prozeß gegen mich gefaßt – keiner außer mir.

In Begleitung meiner Frau und meiner beiden Verteidiger ging ich auf das wenige hundert Meter vom Rhein entfernte Gebäude des Oberlandesgerichts in Düsseldorf zu, an dessen Turm als Wappentier des Deutschen Reiches ein Adler seine Schwingen ausbreitet. Im Blitzlichtgewitter tauchte für einen Augenblick das Gesicht jenes Fotografen auf, der in gewisser Weise zum Chronisten der Turbulenzen meiner vorangegangenen Jahre geworden war. Noch zu DDR-Zeiten hatte er mich in der Bildunterschrift einer Aufnahme als »Hoffnungsträger« bezeichnet. Schon anders sah es bei seinem Foto von den großen Protestdemonstrationen am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz aus; da war ich plötzlich der »Stasi-General«. Wie sah man mich wohl jetzt?

Der Raum, in dem die Verhandlung stattfinden sollte, war derselbe Saal A 01, in dem derselbe Strafsenat gegen Christel und Günter Guillaume verhandelt hatte – Guillaume, dessen Plazierung an der Seite Willy Brandts noch heute viele für einen meiner größten Erfolge halten, obwohl das nicht zutrifft. Für den spektakulären Prozeß gegen den Spion am Busen des Kanzlers war der Saal damals eigens abhörsicher im Keller eingerichtet worden. Die Wahl dieses Schauplatzes für den Prozeß gegen mich war gewiß kein Zufall.

Während der folgenden sieben langen Monate, in denen ich das irreale Geschehen dieses Prozesses vor meinen Augen wie

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ein Schauspiel vorbeiziehen ließ, tauchten in meiner Erinnerung so manche Bilder aus den vergangenen Jahren auf, die mir oftmals nicht weniger unwirklich erschienen als die Vorstellung in Saal A 01.

Als sich die beiden deutschen Staaten nach vier Jahrzehnten der Trennung und der Feindseligkeit auf die Vereinigung vorbereiteten, fand ich mich unversehens in der Rolle einer Geisel des historischen Geschehens wieder.

Mein Land und die Welt des Sozialismus brachen vor meinen Augen zusammen. Dieses Land hatte sich vierzig Jahre lang als Deutsche Demokratische Republik bezeichnet und auch so verstanden, und doch war es während dieser gesamten Zeit in einer Art Zwangsehe an die wirtschaftlich mächtige Bundesrepublik gefesselt gewesen.

Meine Situation war nicht gerade beneidenswert. Alle Hoffnung auf eine reformierte DDR mußte ich ein für allemal fahrenlassen. Mein Ruf als Hoffnungsträger, als Anhänger Gorbatschows, war keinen Pfifferling mehr wert. Um der zunehmenden Hysterie zu entfliehen und an einem Buch über die Ereignisse von 1989 zu arbeiten, hatte ich schon im Frühjahr 1990 in Moskau, der Stadt meiner Kindheit und Jugend, Rat und Ruhe gesucht.

In Moskau, wo meine Familie einst Zuflucht vor den Verfolgungen des Dritten Reichs gefunden hatte, war stets ein Teil meines Herzens geblieben. Die Datscha meiner Halbschwester Lena, vor allem aber ihre schöne Wohnung in dem berühmten »grauen Haus am Ufer«, in dem viele der von uns verehrten und oftmals unter Stalin verfolgten Größen der 30er Jahre gewohnt hatten, riefen mir die widersprüchliche und turbulente Zeit meiner Jugend machtvoll ins Gedächtis zurück. Der Blick über die zugefrorene Moskwa auf den Kreml erzeugte ein Gefühl von Geborgenheit, die kalte Winterluft regte das Denken an.

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Natürlich wollte ich in Moskau auch herausfinden, ob meine Mitarbeiter aus der Auslandsaufklärung, die ehemaligen Kundschafter im Westen und – nicht zuletzt – ich selbst mit Unterstützung und Hilfe der ehemaligen Kollegen vom KGB und des Kreml rechnen konnten oder nicht. In Berlin hatten mir immer wieder Mitarbeiter aller Bereiche des entsprechenden Ministeriums mündlich und brieflich ihr Schicksal geschildert. Die von Tag zu Tag neuen Enthüllungen über die Machenschaften der Staatssicherheit schürten den Haß der Bevölkerung auf alle ehemaligen Staatsbeamten zwangsläufig, ganz egal, welche Funktion die Betreffenden innegehabt hatten, und meine früheren Mitarbeiter mußten allmählich um das bloße Überleben bangen.

Nach meiner Ankunft empfing mich Leonid W. Schebarschin, der nach meinem Abschied Leiter der Auslandsaufklärung im KGB geworden war, überaus herzlich in einem Gästehaus nahe dem eindrucksvollen neuen Dienstgebäude der Ersten Hauptverwaltung – dem Zentrum des sowjetischen Nachrichtendienstes – in der Nähe der Ringautobahn bei Jasenowo im Südwesten Moskaus. Im Verlauf unseres mehrstündigen Gesprächs, das an einer reichgedeckten Tafel beendet wurde, konnte ich ihm nicht viel Neues mitteilen. Er war durch die Berliner Vertretung des KGB gut informiert. Seine Freundlichkeit konnte mich nicht darüber hinwegtäuschen, daß für meine Belange, für die Straffreiheit der hauptamtlichen Mitarbeiter im Osten und der geheimen im Westen des wiedervereinigten Landes nur auf Ebene des Präsidenten etwas zu erreichen war. Mehr versprach ich mir von meinem direkten Kontakt zum Kreml über Valentin Falin, den profunden Kenner deutschsowjetischer Beziehungen, nachdem dieser zum engsten außenpolitischen Berater Gorbatschows aufgerückt war. Seit Anfang der 80er Jahre hatte ich vor ihm kein Hehl über meine Sorgen angesichts der Entwicklung in der DDR gemacht, und Falin hatte sich immer als aufmerksamer

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und wacher Gesprächspartner gezeigt. Nicht zum erstenmal in meinem Leben sah ich mich in einer

Lage, in der ich von Mütterchen Rußland Hilfe erwartete auch wenn ich allen Gerüchten zum Trotz seit meinem Ausscheiden aus dem Dienst im Jahr 1986 weder mit Moskau noch mit der Berliner KGB-Vertretung engeren Kontakt unterhalten hatte.

Bei den Wahlen im März 1990 gab ich meine Stimme in der Moskauer DDR-Botschaft ab. Allen Voraussagen entgegen löste nicht der bislang unbekannte Sozialdemokrat Ibrahim Böhme, sondern der ebenso neu aufgestiegene CDU-Politiker Lothar de Maiziere Hans Modrow als Ministerpräsidenten ab. Erich Mielke, mein langjähriger Vorgesetzter, war in Haft, und der Druck auf meine ehemaligen Mitarbeiter nahm täglich zu; dennoch beschloß ich, nach Berlin zurückzukehren.

Noch gab es den Schimmer einer Hoffnung auf Vernunft vor allem in der Haltung unseres Hauptverbündeten. Nicht einmal in meinen schwärzesten Ahnungen hätte ich mir träumen lassen, was sich nach der Unterzeichnung des Zweiplusvier-Vertrages zwischen Kohl und Gorbatschow im Kaukasus ergeben sollte. Trotz meiner wachsenden Zweifel an Gorbatschows politischen Fähigkeiten wollte ich es noch lange nach Bekanntwerden der Beschlüsse von Arys im Juli 1990, die das Territorium der DDR bedingungslos in die Nato eingliederten, nicht für möglich halten, daß der Erste Mann der Sowjetunion deren engste Freunde und Verbündete sang- und klanglos ihrem Schicksal überlassen könnte – zur nicht weniger großen Überraschung seines neuen Freundes Helmut Kohl und dessen Umgebung. Im Sommer 1990 war noch nicht absehbar, welche Konsequenzen daraus erwachsen würden. Doch danach konnten wir mit keiner Gnade der Gewinner mehr rechnen, sondern höchstens mit ihrer politischen Vernunft.

Mit dem Ausverkauf der DDR begann das Bieten für die Mitarbeiter meines Dienstes – auch für mich, genauer gesagt: für die von mir möglicherweise zu erlangenden Geheimnisse.

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Dafür wurde ein hoher Preis geboten, der Preis der Freiheit. Das erste Angebot war eine Überraschung. Ich wußte zwar,

daß meine ehemaligen Gegner aus den westdeutschen Diensten sich intensiv und recht ungeniert um ehemalige Mitarbeiter meines Apparates bemühten. Meinem Schwiegersohn, der erfolgreich in das Bundesamt für Verfassungsschutz eingedrungen war, hatte man Straffreiheit und eine halbe Million DM Belohnung angeboten, sofern er seine Quellen verraten wollte. Er hatte abgelehnt und es vorgezogen, sich einer Lebens- und Sinnkrise zu stellen, die ihn bis an den Rand seiner Kräfte führte.

Damals, Anfang Mai 1990, rief mich Peter-Michael Diestel, der Innenminister der Regierung de Maiziere, an und fragte, ob ich zu einem Gespräch mit ihm bereit sei. Wir verabredeten einen Besuch im Gästehaus des Innenministeriums in Zeuthen, dem südöstlichen Vorort Berlins. Es bestand kein Zweifel, daß dieses Gespräch mit Wissen des Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble zustande kam. Meine Nachfolger im Dienst, Werner Großmann und Bernd Fischer, hatten mich darüber informiert, daß Schäubles Emissär, ein Herr Werthebach, bereits als Statthalter neben Diestel residierte.

Diestel begegnete mir ohne Arroganz und ohne das Gehabe, das Gewinner der politischen Wende nur zu gern zeigten. Freundlich schuf er eine Atmosphäre gegenseitigen Respekts und Vertrauens. Keine Anspielung auf meine mißliche Lage; er wollte mit mir lediglich beraten, wie die Situation am besten entspannt und geklärt werden könne.

Mein Gesprächspartner erläuterte, daß Schäubles Leute mit meinen Nachfolgern nicht so recht vorankämen. Wollten wir eine realistische Aussicht auf Straffreiheit, müßten zumindest ein Dutzend unserer wichtigsten westdeutschen Quellen preisgegeben werden. Bonn stehe unter Druck, und Schäuble werde ungeduldig. Früher oder später würden seine Leute ohnedies zum Ziel gelangen. Warum also nicht rechtzeitig die

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Trümpfe nutzen? Auf meine zweifelnden Bemerkungen sagte Diestel

überraschend: »Herr Wolf, steigen Sie einfach in meinen Wagen. Gerhard Boeden ist gerade in West-Berlin. Zehn bis zwölf Namen und ein paar Angaben zu den die Sicherheit der Bundesrepublik betreffenden Aktionen Ihres Dienstes, und Sie brauchen sich wegen einer etwaigen Strafverfolgung keine Gedanken mehr zu machen.« Boeden, der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, habe freies Geleit zugesagt, wir würden ungehindert zurückkommen.

Die wiederholten öffentlichen Angriffe aus Boedens Mund noch im Ohr, hielt ich die mehr als eindeutige Offerte für allzu abenteuerlich, als daß ich sie hätte glauben können, obwohl sie zu einem Zeitpunkt erfolgte, da ich zu jedem Gespräch bereit war, das mir die geringste Chance bot, etwas für meine Leute zu tun; aber in die Höhle des Löwen wollte ich mich ohne Not nicht begeben… und deshalb wechselte ich das Thema und bot Diestel an, ihn in den Themen Schwerkriminalität und Terrorismusbekämpfung zu beraten.

»Herr Wolf«, sagte er, des Tauziehens ebenfalls überdrüssig, »Sie wissen so gut wie ich, daß wir alle der Kriegsgefangenschaft entgegensehen. Die einzige Möglichkeit, die uns noch verbleibt, ist die, daß wir über unsere Unterkunft und die Verpflegungssätze mitbestimmen.«

Sicher hatte er recht. Der Unterschied zwischen uns war nur, daß ihm möglicherweise eine Karriere im wiedervereinigten Deutschland bevorstand, mir hingegen eine lange Zeit hinter Gefängnismauern. Selbstverständlich wollte ich die Freiheit, aber ich war mir auch meiner moralischen Verpflichtung bewußt, niemanden, der von meinem Dienst für die nachrichtendienstliche Tätigkeit gewonnen und motiviert worden war, zu verraten.

Zu guter Letzt vereinbarten wir, daß ich mit meinen

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Nachfolgern Großmann und Fischer Kontakt aufnehmen wollte, um die festgefahrenen Gespräche mit Herrn Werthebach vom toten Punkt wegzubringen. Man gab mir noch zu bedenken, daß es bereits andere Anbieter gebe und daß die Uhr nicht stehenbleibe.

Unterdessen ergab sich ein mehr als überraschendes Angebot aus einer Richtung, auf die ich von allein nie und nimmer verfallen wäre. Ende Mai 1990 standen eines Tages zwei amerikanische Gentlemen am Gartentor meines Sommerhauses in Prenden. Mit entwaffnender Offenheit gaben sie sich als Vertreter der CIA zu erkennen. Einen Blumenstrauß und eine Schachtel Pralinen für meine Frau in der Hand, baten sie höflich um Einlaß.

Der Ältere, untadelig gekleidet, stellte sich als Mr. Hathaway und persönlicher Beauftragter William Websters, des damaligen Direktors der CIA, vor. Er sprach formvollendet gutes Deutsch.

»Ein typischer Bürokrat«, flüsterte mir meine Frau Andrea zu, als wir in der Küche nach einer Vase für die Blumen und nach einem Aschenbecher für mich suchten. Hathaway erwies sich als fanatischer Nichtraucher, der nichts unversucht ließ, mich vom Anzünden einer Zigarette abzuhalten. Auf meine scherzhafte Frage, ob die CIA eine Antiraucherkampagne gestartet habe, reagierte er mit einem verhaltenen Lächeln.

Sein jüngerer Begleiter wirkte auf andere Weise steif. Er sagte, er heiße Charles und sei Leiter der Berliner Dépendance der CIA; dabei wirkte er alles in allem eher wie ein Leibwächter – er war wortkarg und schien sich nicht sonderlich für das Gespräch zu interessieren; Andrea fühlte sich an marines erinnert, die sie in Filmen gesehen hatte.

Meine Besucher erklärten, sie hätten jeglichen telefonischen Kontakt und somit jede Ankündigung ihres Kommens bewußt vermieden, um nicht vom KGB oder von ostdeutschen Diensten abgehört zu werden. Es gefiel mir, daß sie auf den Gedanken

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verfallen waren, mich im Wald aufzusuchen, fernab neugieriger Blicke. Was für ein seltsames Gefühl, vier Jahre nach meinem Abschied aus dem Geheimdienst leitenden Vertretern der mächtigsten Geheimdienstbehörde der westlichen Welt in den eigenen vier Wänden gegenüberzusitzen!

Was sie von mir wollten, war nicht schwer zu erraten. Hathaway flocht in den umständlichen Smalltalk so manches Kompliment über meine ehrenhafte Haltung und mein Ansehen als anerkannter Chef eines erfolgreichen Dienstes ein und hielt auch mit seinem Mitgefühl angesichts der großen Wahrscheinlichkeit, daß mir nach der Wiedervereinigung die Verhaftung drohte, nicht hinterm Berg. Unüberhörbar ließ er durchblicken, daß er eine Menge über mich wußte und im Gespräch nun überprüfte. Um eine Atmosphäre der Offenheit zu schaffen, sprach er scheinbar freimütig über sich selbst und seine Laufbahn.

»Sie sind ein Mann von hoher Arbeitsmoral und Intelligenz«, sagte er. Erst kommt das Zuckerbrot, dachte ich; wo bleibt die Peitsche? Eine Tasse Kaffee nach der anderen wurde getrunken, und zum Mißfallen der Gäste steckte ich mir eine Zigarette nach der anderen an. Dann verlor ich die Geduld. »Gentlemen, sicher sind Sie nicht nur gekommen, um mir Komplimente zu machen. Vermutlich erwarten Sie sich etwas von mir.«

Beide lachten, froh, von dem Drumherumreden befreit zu sein. Hathaway senkte die Stimme. »Wir wissen, daß Sie überzeugter Kommunist sind. Wenn Sie jedoch bereit wären, uns zu beraten oder uns zu helfen, dann könnten Sie das mit mir unter vier Augen regeln. Niemand würde davon erfahren. Sie wissen, daß wir solche Dinge arrangieren können.«

Das war es, signalisierte mein Gehirn. Der Emissär unseres Hauptgegners im kalten Krieg bot mir Zuflucht vor der Rache seines deutschen Nato-Verbündeten an.

»Kalifornien«, fuhr er in seinem fast akzentfreien Deutsch

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fort, »ist sehr schön. Das ganze Jahr über herrliches Wetter.« »Sibirien ist auch nicht übel«, scherzte ich. Das Unwirkliche

der Situation mit all seiner peinlichen Nähe zum plattesten Spionageromanklischee wurde mir bewußt. Wir lachten, was mir etwas Zeit zum Nachdenken verschaffte. »Wissen Sie«, sagte ich, »wie soll ich mir ein Leben in den USA vorstellen? Ich kenne das Land ja gar nicht.«

Hathaway erwähnte ein Haus und finanzielle Unterstützung in jeder denkbaren Form. Im Namen Websters sei er zu verbindlichen Zusagen befugt. Ich reagierte nicht. Allerdings wußte ich, daß dem für die USA zuständigen Abteilungsleiter meines Dienstes, Oberst Jürgen Rogalla, eine Million Dollar für sein Wissen angeboten worden war. Höflich setzten wir unser Gespräch über den Kollaps des Kommunismus und das hohe Ansehen meines Dienstes fort. Auf meine Frage nach der Gegenleistung, die man von mir erwartete, sagte Hathaway: »Natürlich müßten Sie etwas für uns tun.«

Um das Gespräch keine sinnlose Richtung nehmen zu lassen, erklärte ich, daß von mir keine Preisgabe der Namen irgendwelcher Agenten zu erwarten sei. »Es würde sich für Sie aber lohnen«, sagte Hathaway.

Diese Mischung aus Schmeichelei und Arroganz bewirkte eine von den Gesprächspartnern unerwartete Reaktion.

»Meine Herren«, erwiderte ich, »in diesem Metier habe ich eine gewisse Erfahrung. Ich weiß, was Sie bezwecken. Sie erwarten eine Menge von Ihrem Gegenüber, doch damit kann ich nicht dienen. In solchen Fällen ist Geduld das beste. Man kann über vieles reden, ohne gleich einen unterschriebenen Vertrag in der Tasche zu haben.«

Das war noch die höflichste Form, meine nicht sehr freundlichen Gedanken loszuwerden. Natürlich hätte ich Hathaway auch eine deutlichere Abfuhr erteilen können. Offenbar glaubte er, es mit einem grünen Jungen zu tun zu

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haben, »Sie müssen uns helfen«, wiederholte er stur. »So etwas könnten Sie verlangen, wenn ich den ersten Schritt

getan hätte«, sagte ich geduldig, obwohl ich innerlich kochte. »Dann könnten Sie mich in der Tat fragen, was ich einzubringen gedächte. So verhält es sich aber nicht. Sie sind auf mich zugetreten, nicht umgekehrt.«

»Gewiß, gewiß«, lenkte Hathaway ein. »Selbstverständlich bin ich nach Berlin gekommen, um mit Ihnen zu sprechen.«

»Es gibt für mich eine Grenze«, fuhr ich fort, »und zwar da, wo es um den Verrat an Menschen geht, die mit mir gearbeitet haben. Namen meiner Agenten sind tabu. Wenn Sie das Gespräch mit mir fortsetzen wollen, dann laden Sie mich doch in die USA ein. Dort können wir unser Gespräch vertiefen. Bevor ich irgendeine Entscheidung treffe, muß ich das Land, in dem ich Ihrem Vorschlag nach meine Zelte aufschlagen soll, doch wenigstens kennenlernen.«

»Hier steht es um Ihre Sicherheit aber gar nicht gut«, warf Hathaway ein, als hätte ich nicht selbst gewußt, was mir drohte.

»Vergessen Sie nicht, es gibt auch noch Rußland«, erwiderte ich.

»Gehen Sie nicht nach Moskau«, sagte Hathaway, jetzt an Andrea gewandt. »Das Leben ist dort sehr hart. Denken Sie an Ihre Familie. Kommen Sie in ein Land, wo Sie Ihr Leben genießen können, wo Sie ungestört arbeiten und schreiben können. Wenn ich mich nicht täusche, gibt es diese Bedingungen im Augenblick für Sie nur in Amerika.«

Zweifellos war die Vorstellung, meinen Ruhestand im sonnigen Kalifornien zu verbringen, verlockender als der Gedanke an eine deutsche Gefängniszelle. Diese Freiheit aber als »Gast« der CIA erlangen? Natürlich würde man mir Daumenschrauben anlegen. Den Weg in die USA wollte ich mir gern offenhalten, doch nicht um den Preis, mein Gesicht zu verlieren.

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Also beharrte ich auf dem Vorschlag, daß man mich offiziell einlud und eine Rundreise organisierte. Das aber gefiel meinen Besuchern überhaupt nicht. Von Quoten war die Rede, welche die Möglichkeiten der CIA beschränkten, und von der erforderlichen Rücksichtnahme auf bundesdeutsche Empfindlichkeiten. Auch meine Idee, einen Verlag oder eine Filmgesellschaft als Gastgeber für mich vorzuschieben – schließlich war ich als Autor kein Unbekannter -, fand keinen Anklang. Im stillen mußte ich denken, daß so etwas im umgekehrten Fall für meinen Dienst kein Problem gewesen wäre.

Eine ziemlich lange Pause trat ein. Hathaway schüttelte den Kopf. Hartnäckig wiederholte er, ich könne zu einer Abmachung mit der CIA gelangen, ohne jemanden verraten zu müssen. Längst hatte ich begriffen, daß er und sein Dienst nicht etwa an meinem für die Bundesrepublik relevanten Wissen interessiert waren, sondern an etwas, was mit meinen Beziehungen zum KGB, dem sowjetischen Nachrichtendienst, zu tun hatte. Um sicherzugehen, fragte ich: »Welche Branche Ihres Dienstes Sie vertreten, weiß ich nicht, sondern vermute es nur. Sie wollen etwas ganz Bestimmtes von mir wissen, habe ich recht?«

»Herr Wolf«, sagte Hathaway leise und bedächtig, »wir sind hier, weil wir annehmen, daß Sie uns in einer bestimmten Sache helfen können. Wir suchen einen Maulwurf in unserem Dienst. Er hat großen Schaden angerichtet. Seit 1985 sind schlimme Dinge passiert, nicht nur in Bonn, auch anderswo. Wir haben zwischen dreißig und fünfunddreißig Mitarbeiter verloren, darunter etliche in den Apparaten selbst.«

Er war über die Strukturen des sowjetischen Apparats, speziell der Äußeren Abwehr, so gut informiert, daß ich in ihm einen hochrangigen Mann der amerikanischen Spionageabwehr vermutete. Vorsichtig sprach er bekannte sowjetische Verräter wie Penkowskij, Gordjewskij und Popow an. Er schätzte meinen

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russischen Kollegen, General Kirejew, den Leiter der Äußeren Abwehr, mit dem ich so manche gemeinsame Operation gegen die CIA geplant hatte; von einigen dieser Unternehmungen schien Hathaway zu wissen; dann versuchte er das Gespräch auf Felix Bloch zu lenken, den US-Diplomaten, den die CIA mit Argwohn betrachtete. Da man in der CIA-Zentrale in Langley wahrscheinlich jedes Indiz meiner Zusammenarbeit mit dem KGB akribisch registriert hatte, wiegte man sich dort wohl in der Hoffnung, bei mir am ehesten auf nähere Informationen über den vermuteten Maulwurf zu stoßen.

Derartige Informationen sind jedoch das bestgehütete Geheimnis eines jeden Dienstes. Niemals würde man die Identität einer Spitzenquelle preisgeben, auch keinem noch so eng verbündeten anderen Dienst. Das Äußerste wäre eine Andeutung, daß es in einem bestimmten Bereich eine »gute Verbindung« gibt.

Hathaways Hartnäckigkeit war der beste Beweis, daß die CIA sich ernste Sorgen machte. Es muß ihn einiges an Überwindung gekostet haben, mir diesen Einblick zu gewähren. Nachdem das Gespräch sich noch eine Weile ergebnislos im Kreis gedreht hatte, schlug Hathaway vor, am nächsten Tag noch einmal zu kommen.

Es wiederholte sich fast genau dieselbe Prozedur. Nun trat auch »Charles« in Aktion; beide versuchten, Andrea das Leben in den USA schmackhaft zu machen. »Charles« warf noch einen Haken aus, indem er »für den Notfall« eine gebührenfreie Nummer in Langley hinterließ.

Von mir hatten sie keinerlei Zusage erhalten. Sie gingen auf Warteposition in der Gewißheit, daß meine Lage sich nur verschlechtern konnte. Und dem war auch so.

Seit Juli meldeten die Medien in freudiger Erwartung, daß um Mitternacht zum 3. Oktober Beamte an meiner Wohnungstür klingeln würden, um den vom Generalbundesanwalt erwirkten

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Haftbefehl zu vollstrecken. Ein mir bekannter Reporter der Bildzeitung erschien zum Kaffee und machte mir mit entwaffnender Miene das Angebot, neben einem guten Honorar die Kosten für den Unterhalt meiner Familie während der Dauer meiner Haft zu übernehmen, sofern ich mich bereit erklären sollte, mit ihm und einem Fotografen nach West-Berlin zu fahren, um mich dort freiwillig zu stellen – exklusiv für sein Blatt natürlich.

Mittlerweile war auch der Draht zur westdeutschen Seite über Herrn Diestel abgebrochen. Und dann meldeten die Herren aus Amerika noch einmal ihren Besuch an. Abermals in meinem Sommerhaus wiederholte Mr. Hathaway unter diskretem Hinweis auf meine »schwierige Situation« sein Angebot. Eine offizielle Einladung komme nach wie vor nicht in Frage, das Asyl in den USA stehe mir jedoch offen, sofern ich bereit sei, mich an der »Maulwurfsjagd« zu beteiligen. Nun wurde auch »Charles« etwas munterer. Wollten wir in die USA, sollte Andrea von West-Berlin aus die Nummer 011-212-227-964 anrufen, sich als »Gertrude« melden und »Gustav« verlangen. Meine Ausschleusung wäre kein Problem.

So dramatisch diese Vorschläge klangen, hatte das Ganze dennoch etwas Belustigendes: Die Vorstellung, vom selben Flughafen Tempelhof, auf dem ich bei meiner Rückkehr aus Moskau 1945 nach dem Sieg über Hitler gelandet war, nach Amerika zu starten, war nicht ohne einen gewissen Reiz.

Wir entschieden uns für einen anderen Weg. Obwohl Mr. Hathaway am 26. September nochmals eigens nach Berlin eingeflogen kam und eine kurze Besprechung in meiner Berliner Wohnung stattfand, bei der »Charles« einen in fehlerhaftem Deutsch verfaßten Merkzettel mit Hinweisen zur Verbindung im »Notfall« überreichte, blieb auch dieses Gespräch ohne Ergebnis, Wir hatten die Koffer zum Verlassen Berlins in andere Richtung bereits gepackt. Doch das behielten wir für uns. Hathaway hatte von mir kein Ja und kein Nein gehört.

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Erst später erfuhr ich, welcher Maulwurf der CIA derartige Kopfschmerzen bereitet hatte. Es war Aldrich Ames, der vermutlich folgenschwerste Verräter in der Geschichte dieses Dienstes. Ames gab der sowjetischen Gegenspionage tiefe Einblicke und verriet die Namen zahlreicher amerikanischer Agenten, so daß das Spionagenetz der CIA in der Sowjetunion weitgehend zerstört werden konnte. Er diente der Gegenseite neun Jahre lang, bis in die Zeit der Präsidentschaft Boris Jelzins hinein. In seinem Prozeß wurde er beschuldigt, dafür 2,7 Millionen Dollar erhalten zu haben, was ihn wohl zum bestbezahlten Agenten der Welt machen dürfte. Mein Besucher, Gardner A. Hathaway, war nicht nur Sonderbeauftragter des Direktors William Webster, sondern der ehemalige Leiter der Spionageabwehr der CIA.

Zettel des CIA-Mannes »Charles«

Als Hathaway etwas über ein Jahr in dieser Stellung gewesen

war, hatten sich die Anzeichen für das Vorhandensein eines Verräters in hoher Position zu mehren begonnen. Hathaway gehörte zu den wenigen, die um die großen Verluste seines Dienstes in der Sowjetunion wußten – Todesurteile und langjährige Haftstrafen – und die das Ausmaß begriffen, in dem der Unbekannte die US-Spionage ausblutete.

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Mir gegenüber verhielt sich Hathaway als erfahrener Nachrichten- und Abwehrmann mit Respekt. Obwohl er seiner Pensionierung entgegensah, konnte er nicht einfach einen Schlußstrich unter seinen Beruf ziehen und sich den Freuden des Ruhestands mit seiner Familie widmen: Er war gefangen von dem tödlichen Puzzle, dem er seine letzten Jahre im Dienst gewidmet hatte – der Suche nach dem großen Verräter.

Es kann ihm nicht leichtgefallen sein, den ehemaligen Gegner um Hilfe zu bitten. Seine eigene Diensteinheit – selbst innerhalb der CIA getarnt – verfügte über hervorragende Kräfte, darunter eine Frau für Abwehranalyse und einen Beamten, der den Weg eines dreißig Jahre lang unentdeckten chinesischen Maulwurfs verfolgt hatte. Hathaways Sachkenntnis stand außer Frage. Administrativ hätte auch ich wahrscheinlich nicht anders gehandelt. Daß ihm im Fall Ames der Erfolg versagt blieb, lag wohl daran, daß er zu wenig kreativ veranlagt war. Mein Eindruck, es mit einem Bürokraten zu tun zu haben, wurde mir später von einigen seiner Kollegen, mit denen ich in nähere Beziehung kam, bestätigt.

Wie konnte es der CIA passieren, so lange Zeit einen Doppelagenten unentdeckt in den eigenen Reihen wirken zu lassen? Mit einem Urteil bin ich vorsichtig. Dazu habe ich selbst zuviel erlebt. Eine mögliche Erklärung ist sicher das nur zu verbreitete Wunschdenken, demzufolge »nicht sein kann, was nicht sein darf«, was in diesem Fall fatale Folgen hatte.

Man könnte jetzt meinen, ich sei ernsthaft an Verhandlungen mit der CIA interessiert gewesen. Aber ich hatte kein Verlangen, Deutschland zu verlassen. Dies schrieb ich noch im September an den Bundespräsidenten von Weizsäcker, an Willy Brandt und an Außenminister Genscher. Dennoch spielte ich eine Zeitlang mit dem abenteuerlichen Gedanken, Hathaways Angebot zu nutzen und die erste Zeit nach der Wiedervereinigung in den USA zu überbrücken. Gefühle von Haß und Rache würden in Deutschland erst einmal die Oberhand gewinnen, dessen war ich

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mir gewiß. Die russische Option war kein wirklicher Ausweg; ein Verschwinden nach Moskau würde meine Zukunftsaussichten in Deutschland nicht gerade verbessern, sondern im Gegenteil nur Wasser auf die Mühlen meiner Widersacher sein.

Wäre also die CIA auf meinen Vorschlag eingegangen, mich ohne Vorleistung in die USA aufzunehmen, wie hätte ich mich dann wohl entschieden? Vermutlich wäre ich gereist. Doch dazu sollte es nicht kommen.

Es gab noch eine weitere Option, von der weder Amerikaner noch Russen, noch Deutsche etwas wußten. Und sie kam aus Israel. Das ist möglicherweise etwas ungewöhnlich für den Chef eines Nachrichtendienstes im Warschauer Vertrag, aber ich habe jüdische Vorfahren. Mein Vater Friedrich Wolf war Jude. Nach der Logik des kalten Krieges hätte man mich vielleicht für einen Gegner des Staates Israel halten können, doch das war ich nie. Trotz aller Bindungen zur Befreiungsbewegung der Palästinenser habe ich das Schicksal der Juden und das des Staates Israel stets mit Interesse verfolgt, und meine jüdische Herkunft habe ich nie verleugnet.

Zu einem näheren Kontakt kam es erst spät. Bei den großen Protestdemonstrationen auf dem Alexanderplatz im November 1989 lernte ich Irene Runge kennen, Hochschullehrerin und Journalistin und Mitbegründerin des Jüdischen Kulturvereins. In den 80er Jahren hatte sich die Politik der DDR-Führung gegenüber Israel und den jüdischen Gemeinden gelockert. Ich vereinbarte mit Irene Runge ein Interview für die Jerusalem Post und einen Besuch im Kulturverein.

Im Sommer 1990 rief Irene Runge mich an und sagte, Rabbi Zwi Weinman aus Jerusalem, ein wichtiger Mann in der orthodoxen Hierarchie Israels, wolle mich kennenlernen. Da es bereits Freitag nachmittag war und der Rabbi am Sonntag abreisen mußte, erlaubte die Sabbatruhe uns nur ein kurzes Telefonat. Wenige Wochen später kam er abermals nach Berlin,

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und diesmal besuchte er mich in meiner Wohnung. Sein Bart, der schwarze Hut mit breiter Krempe und seine Kleidung wiesen ihn als orthodoxen Juden aus, ebenso sein Verhalten beim Essen und Trinken. Doch im übrigen war der Rabbi, ein Mann von etwa Mitte Fünfzig, unkompliziert und kontaktfreudig. Die dunklen Augen blickten warmherzig und aufmerksam. Ausführlich erkundigte er sich nach meiner Lage, nach den rechtlichen Aspekten einer möglichen Verfolgung und nach der Perspektive vor allem meiner Familie. Die jüdische Herkunft interessierte ihn. Von meiner früheren Tätigkeit war nicht die Rede, sehr wohl aber von meinem Interesse an Israel und einem eventuellen Besuch des Landes. Kurze Zeit darauf erhielt ich eine Einladung der Jerusalemer Zeitung Jedioth Ahranoth.

Weinman erzählte mir, er habe als Offizier in der Armee gedient. Wir telefonierten regelmäßig, und ich malte mir bereits die verblüfften Gesichter in Bonn, Karlsruhe und Moskau bei der Nachricht meines Eintreffens in Israel aus. Der dortige Dienst hätte mich aller Wahrscheinlichkeit nach über meine Beziehungen zu den Palästinensern ausfragen wollen, doch darüber wollte ich mir erst nach dem Betreten des Gelobten Landes den Kopf zerbrechen. Ein Aufenthalt in Israel hätte mir eine ganz neue Ausweichmöglichkeit geboten; weshalb also dem geschenkten Gaul zu weit ins Maul schauen?

Zwei Wochen vor der Wiedervereinigung erreichte mich ein Anruf Weinmans, der meine Träume abrupt beendete. Seine Stimme klang deprimiert und enttäuscht. In Israel, erfuhr ich, sei wegen eines in den USA erschienenen Buchs über den Mossad und seine Methoden der Teufel los. »Sie sind im Augenblick einfach nicht willkommen, das muß ich zu meinem größten Bedauern sagen. Der Zeitpunkt ist leider denkbar ungünstig.« Mir war sofort klar, daß zwischen Jerusalem und Bonn oder Pullach die Drähte heißgelaufen waren und daß die sorgsam gepflegten Beziehungen nicht um meinetwillen gefährdet werden sollten. So war auch diese einladende Tür zugeschlagen.

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Die Redakteurin der Zeitung, die sich so unermüdlich nach meinem Kommen erkundigt hatte, war plötzlich nicht mehr zu erreichen. Auf ihrem Anrufbeantworter hinterließ ich die Nachricht, man möge Visa und Tickets für meine Frau und mich zu einem späteren Zeitpunkt in Wien hinterlegen – was nie geschah, wie ich bei späteren Nachfragen feststellen konnte.

Inzwischen war meine Lage ausgesprochen ungemütlich. Die deutschen Behörden rieben sich bereits die Hände in der Erwartung, mich hinter Gitter zu bringen; die Amerikaner wollten mich zum Überläufer abstempeln, in Israel war ich unerwünscht, und nach Moskau wollte ich nicht, solange es irgendeinen anderen Weg gab. Wohin sollte ich fliehen, und welchen Preis würde es mich kosten? Keine der Optionen war verlockend, und die Zeit wurde immer knapper.

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1 Vom Neckar an die Moskwa

Meine Eltern wurden beide nicht weit vom Rhein geboren die Mutter in Remscheid, der Vater in Neuwied, und das Todesjahr Wilhelms I. ist das Geburtsjahr meines Vaters Friedrich Wolf. Seine Eltern hätten gern gesehen, daß er Rabbiner geworden wäre, doch er setzte seinen eigenen Willen durch und studierte in Heidelberg Medizin. Im Widerspruch zum frommen Elternhaus, aber auch zum deutschnationalen Hurrapatriotismus der Jahrhundertwende entwickelte er in jenen Jahren eine pazifistische, utopisch getönte Weltanschauung, die verriet, daß er sich nicht nur mit Plato und Kant, sondern auch mit den Gedanken Tolstois, Nietzsches und Kropotkins beschäftigte.

Das Grauen des Ersten Weltkriegs erlebte mein Vater als Bataillonsarzt an verschiedenen Fronten; dies und seine Enttäuschung über das Scheitern der Novemberrevolution von 1918 ließ ihn zum überzeugten Marxisten werden. Uns Kindern erklärte er später, seine Großmutter mit ihrem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit habe den Grundstein zu seiner politischen Entwicklung gelegt. Er erinnerte sich gut daran, wie mitreißend sie ihm von dem Urgroßvater aus Münster erzählt hatte, der während der Revolution von 1848 die Sturmglocken geläutet haben soll, als der spätere Kaiser in die Menge schießen ließ. Und als Wilhelm II. den Fürsten zu Wied besuchte, um das Heldendenkmal für seinen Großvater feierlich einzuweihen, sagte die Großmutter kopfschüttelnd zu meinem damals fünfjährigen Vater: »Fritzsche, das ist kein Heldenkaiser, das ist der Kartätschenprinz.«

Else Wolf, meine Mutter, lernte er während seiner Tätigkeit als Stadtarzt in Remscheid kennen, und trotz ihrer Sanftmut war meine Mutter eigensinnig genug, ihre Verwandten vor den Kopf zu stoßen, indem sie einen Juden heiratete.

Wenn ich heute an meine Eltern zurückdenke, dann ist der

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Vater als Vorbild durch sein Handeln und seine Bücher zwar immer gegenwärtig, doch scheint mir der stille Einfluß der Mutter auf uns Kinder fast größer gewesen zu sein als der seine. Toleranz war neben Ausgeglichenheit und Gelassenheit vielleicht die Eigenschaft, die sie am stärksten charakterisierte. Unser bewegtes Schicksal sollte ihr mehr als ausreichend Gelegenheit bieten, ihre unerschütterliche Zivilcourage unter Beweis zu stellen, während ihre Toleranz durch die Liebschaften unseres Vaters immer wieder bis zum äußersten strapaziert wurde. Daß trotz solcher Belastungen die Ehe meiner Eltern bis zum Tod des Vaters 1953 standhielt, ist kein geringer Beweis der Liebe beider, aber auch der Geduld und liebevollen Nachsicht meiner Mutter.

Als ältester Sohn kam ich 1923 in der württembergischen Kleinstadt Hechingen zur Welt. Es war die Zeit der totalen Geldentwertung, der galoppierenden Inflation, und meine Eltern mußten froh sein, wenn die bäuerlichen Patienten das Arzthonorar in Form von Eiern und Butter entrichteten statt in wertlosem Papiergeld.

Die Erinnerung an meine frühe Kindheit, an die Landschaft der Schwäbischen Alb und später an Stuttgart ist bunt und klar zugleich. Mein Vater war ein überzeugter Verfechter vegetarischer Ernährung und körperlicher Ertüchtigung, Freikörperkultur selbstverständlich eingeschlossen. Nicht weit von Hechingen lebte sein Onkel Dr. Moritz Meyer, in der Familie das»Öhmchen« genannt, Landgerichtsrat im Ruhestand und mit allen Honoratioren Hechingens bis aufs Messer verfeindet; er galt als Sonderling und genoß den Ruf eines Wunderdoktors. Er war Vegetarier und lebte eigenbrötlerisch mit seinen Ziegen im Wald. Vermutlich hat sein Vorbild meinen Vater veranlaßt, sich von der Schulmedizin abzuwenden und sich mit Naturheilkunde und Homöopathie zu beschäftigen, denn diesem Onkel widmete mein Vater sein Buch Die Natur als Arzt und Helfer.

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Else und Friedrich Wolf nut Konrad (links) und Markus

(rechts) 1926 Dieses Buch, eine Gesundheitsfibel für die ganze Familie, war

von Anfang an ein großer Erfolg, und sogar noch während des Dritten Reichs wurde es in Deutschland fleißig weiterverkauft – nur Tantiemen gab es keine mehr. Zu Anfang jedoch erlaubten uns die neuen Einnahmen, nach Stuttgart umzuziehen, in eine richtige Großstadt, wo wir ein modernes Haus bewohnten, in dem mein Vater seine Arztpraxis betrieb.

Erschöpfung war ein Wort, das mein Vater nicht kannte: Neben seiner ärztlichen Tätigkeit verfaßte er Theaterstücke, die ihn in ganz Deutschland bekannt machten, und ließ keine Gelegenheit ungenutzt, Vorträge zu sozialen, medizinischen und politischen Fragen zu halten. Sogar mit dem Gefängnis machte er kurzfristig Bekanntschaft, als er für sein Stück Zyankali, in dem er das Abtreibungsverbot anprangerte, verurteilt wurde.

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1926 in Stuttgart Als ich in die Schule kam, traten meine Eltern in die

Kommunistische Partei ein, und so wurde ich junger Pionier, genau wie später mein jüngerer Bruder Konrad. Stolz trugen wir unsere roten Halstücher und lauschten gebannt dem, was unsere Eltern erzählten, als sie von ihrer ersten Reise in die Sowjetunion zurückkamen, die uns wie ein zauberisches Märchenreich erschien. Wenn wir für streikende Metallarbeiter sammelten oder Flugblätter im Wahlkampf verteilten, kamen wir uns schon fast wie richtige politische Kämpfer und sehr erwachsen vor. Nur in der Ernährung konnten wir die Begeisterung unserer Eltern gar nicht teilen: Neidisch sahen wir die Wurstbrote unserer Mitschüler, und mein Bruder nahm sich vor, einen ganzen Ochsen aufzuessen, sobald er erst groß war.

An die Machtergreifung der Nazis erinnere ich mich genau. Damals erfuhr ich zum erstenmal, daß wir Juden waren und von den neuen Machthabern nicht nur aus politischen Gründen

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verfolgt wurden. Nach dem Reichstagsbrand mußte mein Vater im Februar 1933 ins Ausland fliehen, und es dauerte nicht lange, bis Kriminalbeamte in Begleitung uniformierter SA-Leute vor unserer Tür standen, um Haussuchungen durchzuführen. Mir drohte man, ich käme auf den Heuberg, falls ich nicht verriet, wo Vater sich aufhielt. Der Heuberg war das erste Konzentrationslager in Württemberg. Um diese Zeit, kurz bevor die Mutter mit uns Kindern dem Vater ins Ausland folgte, besuchten wir noch einmal das »Ohmchen« in seiner Einsiedelei; es war Passahzeit, und deshalb konnte er uns nur trockene Matzen anbieten, die uns das Gesicht verziehen ließen, aber für die karge Kost entschädigte der Großonkel mit seinen farbigen Erzählungen.

Befreundete Kommunisten schmuggelten unsere Mutter und uns über die Schweizer Grenze, und von dort ging es nach Frankreich. Da wir als »unerwünschte Ausländer« keine Aufenthaltsgenehmigung erhalten konnten, mußten wir uns verstecken; Freunde brachten uns auf der kleinen Ile de Bréhat vor der bretonischen Küste unter; dort verlebten mein Bruder und ich einen herrlichen Sommer voller Knabenabenteuer, während mein Vater sein Drama Professor Mamlock schrieb, das erste literarische Zeugnis der Judenverfolgung in Deutschland. Vor der deutschen Uraufführung in Zürich wurde das Stück bereits am jüdischen Theater in Warschau gespielt; überall auf der Welt stand es auf dem Spielplan.

Das machte den Namen Friedrich Wolf im Land der Nazis nicht beliebter, und die Quittung ließ nicht lange auf sich warten: 1934 wurde unser Vermögen eingezogen, der Name meines Vaters kam auf die Liste »schädlichen und unerwünschten Schrifttums«, und in der Folgezeit wurde der ganzen Familie die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt; 1937 erschienen die Namen seiner Frau und seiner Söhne sogar neben dem seinen auf einer Fahndungsliste. Verfolgt wie Schwerverbrecher jetzt konnten mein Bruder und ich uns

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wahrhaftig erwachsen fühlen! Wären wir damals nicht rechtzeitig geflohen, hätten wir

möglicherweise das Schicksal unseres »Öhmchens« und anderer jüdischer Verwandter geteilt, die die Verfolgung nicht überlebten. Während des Krieges erfuhren wir von deutschen Kriegsgefangenen, welches Ende Dr. Moritz Meyer gefunden hatte: in das Konzentrationslager Mauthausen verschleppt und dort mit fast achtzig Jahren elend umgekommen. Als ich 1993 meine Geburtsstadt besuchte, erzählte mir ein Arzt, der sich mit der Erforschung der Lokalgeschichte beschäftigte, daß alle Juden der Stadt im Haus eines begüterten Leidensgefährten zusammengetrieben und von dort in das Rigaer Ghetto transportiert worden waren. Wie der Oheim von Riga nach Mauthausen gelangte, das werden wir nie erfahren…

Dieses Schicksal blieb uns erspart, denn wir fanden in der Sowjetunion Asyl. Als die Mutter im April 1934 mit uns Kindern in Moskau eintraf, hatte Vater mit Hilfe des Dramatikers Wsewolod Wischnewskij eine kleine Zweizimmerwohnung in einer Gasse nahe dem Arbat, also mitten im Zentrum, gefunden und eingerichtet. Eine Zweizimmerwohnung bedeutete für damalige Moskauer Verhältnisse beinahe unvorstellbaren Luxus.

Es war nicht leicht, sich an die fremden Sitten und Lebensbedingungen zu gewöhnen, und der rüde Umgangston der Kinder auf dem Hof machte uns anfangs zu schaffen. Schon unser Erscheinen in kurzen Hosen bewirkte, daß sie uns johlend hinterherriefen: »Nemez, perez, kolbassa, kislaja kapusta!« – »Deutscher, Pfeffer, Wurst und Sauerkraut«, was gewiß nicht als Kompliment gemeint war. Doch Kinder überwinden rasch anfängliche Barrieren; es gelang uns, der Mutter lange Hosen abzubetteln, und schon bald fühlten wir uns nicht mehr als Fremde, sondern auf Gedeih und Verderb der Hofbande zugehörig, mit der wir die Dächer erkundeten und die Gassen unsicher machten.

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Die neue Umgebung bot Staunenswertes in Hülle und Fülle; war Stuttgart uns nach Hechingen als brausende Großstadt erschienen, was sollten wir dann erst von einer echten Metropole halten? Gleichzeitig war Moskau noch immer ein »großes Dorf« mit einer bäuerlich geprägten Bevölkerung, wo man die Schalen seiner Sonnenblumenkerne auf den Boden spuckte und Pferdekarren durch die Straßen ratterten. Wir besuchten die deutschsprachige Karl-Liebknecht-Schule, später die russische Fridtjof-Nansen-Schule, beide nicht weit vom Arbat gelegen, und freundeten uns an den Schulen mit anderen Emigrantenkindern an. Eine Freundschaft aus dieser Zeit, die in unserem Leben eine unauslöschliche Rolle spielen sollte, war die zu George und Victor Fischer, den Söhnen des amerikanischen Journalisten Louis Fischer, und zu Lothar Wloch, dem Sohn des deutschen Kommunisten Wilhelm Wloch, der als Opfer der stalinistischen Säuberungen ermordet wurde. Aus dieser Zeit stammen unsere Spitznamen Kolja und Mischa. Wir waren nicht nur auf dem Papier russische Staatsbürger geworden, wir nahmen unmerklich Eigenschaften russischer Menschen an und wurden zu richtigen »Kindern des Arbat«.

Im Kaleidoskop der Erinnerung vermengen sich Licht und Schatten, und beides gab es am Arbat und in seiner Umgebung. Die historische »Steinstadt« mit dem Kreml als Mittelpunkt wuchs in vielgeschossigen Neubauten nach außen, Autos vermehrten sich sprunghaft auf den Straßen, Pferdefuhrwerke verschwanden von einem Tag auf den anderen, und die Metro wurde prunkvoll ausgebaut. Das änderte nichts an der katastrophalen Wohnungsnot und den vorsintflutlichen hygienischen Verhältnissen, doch die Ernährungslage der Bevölkerung verbesserte sich zusehends, und jeder war davon überzeugt, daß das riesige Land im Begriff stand, Rückständigkeit und Finsternis hinter sich zu lassen und mit einem Schritt in ein neues Zeitalter einzutreten. Zur gleichen Zeit fanden die Schauprozesse statt, in denen Männer, die bis

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vor kurzem noch als Helden der Revolution gefeiert worden waren, erfundener Verbrechen beschuldigt und zum Tode verurteilt wurden. Wir Heranwachsende spürten, daß diese Geschehnisse unsere Eltern mit Sorge erfüllten; die bange Frage, wer das nächste Opfer sein würde, wurde nicht laut gestellt. Trotz allem machten wir uns keine Gedanken über das Warum des Terrors; erst viel später wagten wir es, das Undenkbare zu denken und uns einzugestehen, daß Stalin selbst die Verantwortung für diese Morde trug. Immer häufiger schloß sich das Netz des NKWD, der Geheimpolizei, um Emigrantenfreunde und bekannte, und viele unserer Lehrer verschwanden während der »Säuberungen «.

Tambourchor der Karl-Liebknecht-Schule in Moskau 1935

(Autor: 2. von links, 2. Reihe) Heute weiß ich, daß unser Vater damals um sein eigenes

Leben fürchten mußte. Im Unterschied zu uns und unserer Mutter war er nicht eingebürgert worden und besaß keine sowjetischen Papiere, sondern nur einen deutschen Paß. Und im

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Unterschied zu uns Kindern, die wir begeistert nachplapperten, was wir bei den jungen Pionieren lernten, machte er sich ernste Gedanken über das Janusgesicht der Sowjetführung gegenüber jenen, die aus Überzeugung oder als Verfolgte in die UdSSR gekommen waren. Als 1936 der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, beantragte er sofort die Ausreisegenehmigung, um als Arzt in den Internationalen Brigaden zu dienen. Wir Kinder waren stolz auf unseren Vater, der den Kampf gegen Hitlers Verbündete in Spanien aufnehmen wollte; die Freiwilligen der Internationalen Brigaden, die aus allen Ländern der Welt den spanischen Republikanern zu Hilfe eilten, wurden von uns als Helden bewundert. Sehr viel später erst erfuhren wir, daß unser Vater einer engen Freundin der Familie seine hartnäckigen Versuche, die Ausreise genehmigt zu bekommen, mit den bitteren Worten erklärt hatte: »Ich warte nicht, bis man mich verhaftet.«

Nach mehr als einem Jahr zermürbenden Wartens erhielt er die Genehmigung zur Ausreise. Doch nach Spanien gelangte er nicht, weil inzwischen die französische Grenze geschlossen war; zusammen mit anderen Internationalisten wurde er im September 1939 bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Lager Le Vernet in Südfrankreich interniert. Nun drohte ihm mit seinem deutschen Paß die Auslieferung an die Nazis. Wir bangten um sein Leben; jedes Lebenszeichen, das uns erreichte, ließ uns neue Hoffnung schöpfen, während unsere Mutter die sowjetischen Behörden belagerte, um einen sowjetischen Paß für ihren Mann zu erkämpfen. Als deutsche Emigranten in der Sowjetunion waren wir nach dem Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin in einer wenig beneidenswerten Lage: geduldet, aber nicht sonderlich erwünscht. Mit Geschick und Zähigkeit erlangte unsere Mutter im August 1940 schließlich das begehrte Dokument, und im März 1941, drei Monate bevor Hitler die Sowjetunion überfiel, konnten wir den Vater auf dem Kiewer Bahnhof zum erstenmal seit drei Jahren wieder in die

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Arme schließen.

Friedrich Wolf mit Konrad (links), Lena und Markus 1937

Bei der Rückkehr meines Vaters studierte ich bereits im zweiten Semester an der Moskauer Hochschule für Flugzeugbau. Wie mein Bruder Koni sprach ich den ganzen Tag Russisch und nur abends zu Hause Deutsch. Ich träumte von einer Zukunft als Flugzeugkonstrukteur in der Sowjetunion. Aber unser aller Leben änderte sich dramatisch, als am 22. Juni 1941 Hitlers Truppen in die Sowjetunion einmarschierten. Im Herbst standen sie vor Moskau; meine Hochschule wurde in das sechstausend Kilometer entfernte Alma Ata, die Hauptstadt Kasachstans, verlegt, und wie viele Mitglieder des Schriftstellerverbandes wurde mein Vater mit seiner ganzen Familie evakuiert. Die dreiwöchige Bahnfahrt war ein Alptraum: Beinahe stündlich wurde unser Zug auf Nebengleisen abgestellt, um die Züge durchzulassen, die an die Front im Westen fuhren. Mein Vater kümmerte sich um die Dichterin Anna Achmatowa, die sich entkräftet und krank im Zug befand.

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Ich durfte ihr die Essensration von 400 g Schwarzbrot und etwas lauwarmes Wasser bringen.

Alma Ata zeigte sich uns vor der Kulisse des an die Alpen erinnernden Ala-Tau-Gebirges in seiner ganzen Pracht. Im Frühjahr blühten unter dem Himmel, der in einem unvorstellbar intensiven Blau strahlte, Mandel- und Apfelbäume, soweit der Blick reichte.

An manchen Tagen versank alles wieder unter einer glitzernden Schneedecke. Die Rekordzahl von jährlichen Sonnentagen machte Alma Ata außerdem zum geradezu idealen Evakuierungsort für die aus Moskau und Leningrad ausgelagerten Filmstudios, in denen wir uns als Statisten ein Zubrot zu den kargen Lebensmittelrationen verdienten. Meine Fallschirmspringererfahrung verhalf mir zu kleinen Auftritten als Stuntman mit besonders hohem Salär. Abends las uns Sergej Eisenstein, der berühmte Regisseur, im privaten Kreis aus seinem Drehbuch zu Iwan der Schreckliche vor.

Die Stadt barst vor Menschen: Flüchtlinge aus dem Westen des Landes drängten sich neben polnischen Offizieren, die aus sibirischen Gefangenenlagern kamen und von der polnischen Exilregierung in London angeheuert wurden, und neben halbverhungerten Leningradern, Soldaten und Verwundeten der Roten Armee, die auf einem improvisierten Weg über das Eis des Ladoga-Sees aus ihrer eingekesselten Stadt geflohen waren.

Viele von ihnen starben kurz nach ihrer Ankunft an den Folgen der Entbehrungen, unzählige waren schon unterwegs gestorben.

Viele meiner Kommilitonen waren inzwischen an der Front; auch meinem Bruder war es gelungen, in die Rote Armee einzutreten, obwohl nur wenige Deutsche zum Militärdienst herangezogen wurden. Zu den wenigen übriggebliebenen jungen Männern unter lauter Studentinnen zu zählen, kam mir immer mehr wie das reine Spießrutenlaufen vor, obwohl ich weiterhin

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an einer militärischen Ausbildung teilnahm, bei der mir die zweifelhafte Ehre zufiel, als Größter der Gruppe das schwere Dreibeinstativ unseres Maxim-Maschinengewehrs auf dem Buckel mitzuschleppen.

Im Sommer 1942 erhielt ich ein rätselhaftes Telegramm, unterzeichnet mit dem Kürzel EKKI Wilkow, anders ausgedrückt: Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale, Wilkow, anders gesagt: ein Telegramm von der Komintern, unterzeichnet vom Leiter der Abteilung Personal und Kader. Darin forderte man mich auf, mich vom Studium befreien zu lassen notfalls mit Hilfe des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kasachstans – und Ufa aufzusuchen, die Hauptstadt Baschkiriens. Nach Ufa waren zu Beginn der Belagerung Moskaus sowohl die Komintern als auch die Exilführung der Kommunistischen Partei Deutschlands evakuiert worden.

In Ufa spielte sich alles sehr konspirativ ab. Noch am Tag meiner Ankunft wurde ich weitergeschickt, diesmal per Schiff, zum stromabwärts gelegenen Dorf Kuschnarenkowo, wo sich die Schule der Komintern befand, die ich besuchen sollte. Ich begriff, daß ich von der Partei dazu ausersehen war, dort ausgebildet zu werden, um später nach Deutschland eingeschleust zu werden und dort im Untergrund die NS-Diktatur zu bekämpfen.

An der Schule ging es noch konspirativer zu als in Ufa: Jeder von uns bekam einen Decknamen zugeteilt; wir wurden streng ermahnt, uns nur mit Decknamen anzusprechen, obwohl viele von uns sich aus Moskau kannten. Ich hieß »Kurt Förster« und fand das Ganze sehr aufregend.

Um uns auf unsere künftigen illegalen Einsätze vorzubereiten, brachte man uns den Umgang mit Handfeuerwaffen, mit Sprengstoff und Handgranaten bei und schulte uns in »konspirativer Technik«, damit wir möglichst lange unentdeckt hinter den feindlichen Linien unserer subversiven Tätigkeit

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nachgehen konnten. Trotz der strengen Disziplin freundeten wir Schüler uns in den

kärglich bemessenen freien Stunden miteinander an; so lernte ich nicht nur Amaya, die hübsche Tochter der legendären Dolores Ibârruri, und die Söhne Titos und Togliattis kennen, sondern verliebte mich auch in Emmi Stenzer, die Tochter des Reichstagsabgeordneten Franz Stenzer, der 1933 in Dachau ermordet worden war. Alle fieberten wir der Chance entgegen, es endlich den Altersgenossen gleichzutun, die an der Front dienten, und unter Einsatz unseres Lebens den Faschismus zu bekämpfen und niederzuringen. Wir träumten von einer künftigen gerechten Gesellschaft, in der jedermann aus eigener Überzeugung Sozialist war, nicht aus Opportunismus oder gar unter Zwang.

Der an dieser Schule von uns gelebte Internationalismus hat mein Denken auf vielfache Weise geprägt. Deshalb konnte ich in späteren Jahren nationalistische Ausprägungen in sozialistischen Ländern nie begreifen – standen sie doch in krassem Widerspruch zu allem, was an der Komintern-Schule von der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus gelehrt worden war. Oftmals saßen wir Schüler noch spät am Abend todmüde über unseren Büchern, voller Enthusiasmus und Idealismus. Viele meiner Mitschüler waren wie ich durch Elternhaus und Schule zu überzeugten Kommunisten geworden. Gewiß waren bei uns Schriften tabu, die als trotzkistisch oder antisowjetisch verketzert wurden, aber dennoch waren wir keine eifernden Dogmatiker, sondern wißbegierige und offene junge Leute, die über Gott und die Welt diskutierten.

Aus unseren Zukunftsträumen wurden wir abrupt geweckt. Am 16. Mai 1943 teilte man uns mit, daß die Komintern und ihre Schule aufgelöst würden, weil die Unterschiede »zwischen den Ländern im Joch der Nazityrannei und den freiheitsliebenden Völkern« unüberbrückbar geworden seien. Der wahre Grund sah so aus, daß Stalin sich dem Druck seiner

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westlichen Alliierten, denen die Komintern ein Dorn im Auge war, hatte beugen müssen. Man erklärte uns, daß wir nicht mehr mit dem Fallschirm in Deutschland abgesetzt, sondern nur in Reichweite der Sowjetarmee und der Partisanen operieren würden. Jahre später erfuhr ich, daß Absolventen früherer Lehrgänge unserer Schule bei ihrer Ankunft in Deutschland von der Gestapo abgefangen und hingerichtet worden waren, weil die Abwehr ihre Funkcodes geknackt hatte; ihr Schicksal bewog die Exilführung der KPD, keine weiteren jungen Leute auf diese Weise dem sicheren Tod auszuliefern, und das hat den meisten von uns zweifellos das Leben gerettet. Meine Schulfreunde Josef Gierner und Rudolf Gyptner jedoch waren bei einem Einsatz in Polen umgekommen.

Zusammen mit einigen meiner Mitschüler wurde ich von der Parteiführung nach Moskau beordert; wir waren der kleine Kreis derer, die nach dem Krieg in Deutschland eingesetzt werden sollten. Da mein Vater ein bekannter Schriftsteller war, machte man mich zum Sprecher und Kommentator beim Deutschen Volkssender, dem Sender der KPD. Bisher hatte ich meine Aufsätze immer auf russisch geschrieben; jetzt hieß es erst einmal lernen, meine Kommentare in deutscher Sprache abzufassen. Inzwischen war ich KPD-Mitglied und nahm an den Sitzungen teil, die im berühmten Emigrantenhotel Lux stattfanden, im Zimmer Wilhelm Piecks, der später der erste Staatspräsident der DDR wurde. Bei diesen Treffen lernte ich auch Walter Ulbricht, Anton Ackermann und andere kennen, die in wenigen Jahren das politische Gesicht dieses Staates prägen sollten.

Im Herbst 1944, wenige Monate vor Kriegsende, heirateten Emmi Stenzer und ich, doch sie konnte nicht in Moskau bleiben, sondern wurde zur Lautsprecherpropaganda an die Front beordert. Unter deutschem Beschuß wurde sie verwundet und kam nach einem Lazarettaufenthalt schließlich nach Moskau zurück. Am 9. Mai 1945 war es dann soweit: Mit meinen Eltern

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stand ich inmitten jubelnder Moskauer auf der Steinbrücke nahe dem Kreml. Wildfremde Menschen umarmten und küßten sich gerührt. In meine Erinnerung unauslöschlich eingebrannt sind sowohl die Lichter der bunten Raketen als auch die Tränen in den Augen der Männer und Frauen, Tränen der Freude und Tränen der Trauer. Fast jede Familie hatte einen oder mehr Tote zu beklagen.

Mein Bruder Koni stand als neunzehnjähriger Leutnant mit der Sowjetarmee vor Berlin. Nicht ohne Wehmut ordnete ich meine Siebensachen und begann, Abschied von der Sowjetunion zu nehmen, Abschied auch von Kindheit und Jugend. Ein neuer Lebensabschnitt erwartete mich.

Als Elfjähriger war ich in Moskau angekommen. Mit zweiundzwanzig Jahren kehrte ich nach Deutschland zurück. Beim Betreten deutschen Bodens nach so langer Zeit kam ich mir wie ein Fremder vor. Ich brauchte einige Tage, um mich daran zu gewöhnen, daß die Menschen auf der Straße Deutsch sprachen; es fiel mir schwer, mir vorzustellen, daß ich mit Menschen leben würde, von denen so mancher Hitler und Goebbels zugejubelt und unermeßliches Leid und Elend mitverschuldet oder geduldet hatte. Viele schienen noch immer nicht begriffen zu haben oder nicht begreifen zu wollen, was die Nazis angerichtet hatten. Schuld oder Mitverantwortung auf sich zu nehmen, waren die wenigsten bereit. Meine Freunde in Moskau und die Rotarmisten, denen ich in Deutschland begegnete, standen mir seelisch näher als diese Deutschen.

Gelegentlich hat man im Scherz, manchmal auch mit abfälligem Unterton, zu mir gesagt, ich sei ein »halber Russe« geworden; das konnte ich nie als kränkend empfinden. Sowjetischer Alltag und russische Mentalität haben nun einmal meine Kindheit und Jugend geprägt; die russische Küche ist mir die liebste, ausgenommen die Buchweizengrütze, die ich als Jugendlicher zu oft essen mußte, und ich darf in aller Bescheidenheit gestehen, daß ich einer der besten Pelmeni-

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Köche diesseits des Ural bin. In Moskau fühlte ich mich noch auf Jahre zu Hause, seine Menschen waren mir vertrauter als die Berlins. Mein erster Weg führte mich stets zu unserem einstigen Wohnhaus in der Nishni-Kislowski-Gasse, an dem sich seit 1988 eine Gedenktafel für meinen Vater und meinen Bruder befindet, und an den Arbat, wo ich Freunde besuchte. Mit Alik, der im Krieg ein Bein verloren hatte und später Germanistikprofessor wurde, zog ich dann durch unser ehemaliges »Revier« bis zur Gorki-Straße, die heute wieder Twerskaja heißt. Hier hatten wir als Schüler stundenlang geduldig vor dem Künstlertheater, dem MCHAT, Schlange gestanden, um Karten für Anna Karenina mit der berühmten Tarassowa in der Hauptrolle zu ergattern. Auch Michoels und Suskin vom jüdischen Theater, das sich nur wenige Minuten von unserer Schule entfernt befand, bewunderten wir. Was waren das für Schauspieler! Wir liebten die russischen Klassiker, Heine, Balzac, Galsworthy und Roger Martin du Gard; Hemingways knappe, kräftige Erzählweise zog uns besonders an. Bei einem le tzten Treffen im Sommer 1941 ruderten wir in eine kleine, abgelegene Bucht der Moskwa und rezitierten Gedichte von Alexander Blok und Sergej Jessenin.

Lange Jahre hindurch war jeder Abschied von Moskau für mich nur ein Abschied auf Zeit, und dennoch hatte ich, anders als einige meiner Freunde, nie den Wunsch, für immer nach Moskau zurückzukehren. Deutschland war trotz allem meine wahre Heimat geblieben, das Land, in dem meine künftigen Aufgaben lagen, für die ich mich an der Komintern-Schule und am Volkssender in Moskau vorbereitet hatte.

Nicht vorbereitet war ich auf die Realität und das Alltagsleben in einem Land, dessen Bewohner sich als Opfer bemitleideten, weil sie den Krieg verloren hatten und in zerbombten Städten hausten, die ihre ganze Energie aufs Hamstern verwendeten und für die Überlebenden der Konzentrationslager weder Interesse noch Mitgefühl erübrigen konnten. Ich war naiv genug gewesen

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zu hoffen, daß die Mehrheit der Deutschen froh wäre, von der NS-Herrschaft befreit zu sein, und die Sowjetarmee als Befreier begrüßen würde. Statt dessen mußte ich immer wieder erleben, daß Ressentiment und Duckmäusertum den Umgang der Leute miteinander bestimmten.

Am 27. Mai 1945 flog meine Gruppe, zu der auch meine Frau gehörte, in einer kleinen Militärmaschine von Moskau nach Berlin. Ulbricht war schon im April mit einem Vorkommando aufgebrochen. Aus der Luft ließ sich das ganze Ausmaß der Kriegszerstörungen ermessen – die verwüstete Landschaft, die Ruinenfelder der Städte und Dörfer. Besonders erschütternd war der Anblick der Steinwüste mitten im zerbombten Warschau, die das jüdische Ghetto gewesen war, das die Nazis nach dem Aufstand dem Erdboden gleichgemacht hatten. Als wir zur Landung auf dem Flughafen Tempelhof ansetzten, machte Berlin aus der Vogelperspektive einen so trostlosen Eindruck, daß ein Wiederaufbau uns völlig unmöglich erschien.

Wenige Tage nach unserer Ankunft wurden wir einer nach dem anderen zu Ulbricht bestellt. Kurz und bündig sagte er jedem, was er zu tun habe. Mich beorderte er zum Berliner Rundfunk – vermutlich wegen meiner Tätigkeit beim Deutschen Volkssender in Moskau. Ich versuchte mich zu wehren, denn ich hatte nicht die geringste Neigung zu dieser Art von Schreibtischarbeit, bis Ulbricht mir mit der Bemerkung das Wort abschnitt, jeder habe sich dorthin zu verfügen, wo er am dringendsten gebraucht werde.

In dem riesigen Gebäudekomplex des Charlottenburger Funkhauses erwarteten uns an die siebenhundert Mitarbeiter, die vom Reichsrundfunk des Dr. Goebbels übriggeblieben waren; wir, die wir einen antifaschistischen Sender einrichten wollten, waren ganze sieben Mann. Dieses Funkhaus war eine Welt für sich. Im britischen Sektor gelegen, stellte es gewissermaßen einen Vorposten im beginnenden kalten Krieg dar. Da es für unsere Parteizentrale in Ost-Berlin schwer zu erreichen war,

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hatten wir eine Handlungsfreiheit, von der spätere DDR-Rundfunkleute nur träumen konnten. Meine ursprünglichen Befürchtungen verflogen bald, die Arbeit war interessant. Außenpolitische Kommentare verfaßte ich unter dem Pseudonym Michael Storm, gelegentlich war ich als Reporter tätig, und ich leitete verschiedene politische Redaktionen.

Autor (2. von rechts) als Gastgeber der Sendereihe Treffpunkt

Berlin 1947 Hin und wieder begegnete ich Ulbricht. In meiner Sendereihe

»Tribüne der Demokratie«, in der alle Parteien zu Wort kamen, vertrat er den Standpunkt der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die 1946 aus der Vereinigung der kommunistischen und der sozialdemokratischen Parteien in der von den Sowjets verwalteten Zone hervorgegangen war. Ulbrichts Fistelstimme und sächsische Aussprache wirkten auf die Zuhörer alles andere als angenehm. Ich war so taktlos, ihm in bester Absicht vorzuschlagen, Sprechunterricht zu nehmen und seine Texte einstweilen von einem geübten Sprecher vorlesen zu lassen. Seine Reaktion ließ keinen Zweifel zu, daß ich mir diesen Vorschlag besser verkniffen hätte. Ein andermal fragte ich ihn, wann ich mein Studium in Moskau beenden könne, worauf er völlig entgeistert erwiderte: »Mach mal deine

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Arbeit. Wir haben andere Sorgen, als Flugzeuge zu bauen.« Wir bemühten uns, lebendige und hörernahe Sendungen zu

machen, und scheuten auch vor brenzligen Themen nicht zurück: sei es die umstrittene Oder-Neiße-Grenze, das Schicksal deutscher Kriegsgefangener im Osten oder der Umgang mit den »kleinen Nazis«, den Funktionären und Mitläufern. Trotz aller Wachsamkeit der sowjetischen Kontrolloffiziere war unser Handlungsspielraum erstaunlich groß. Nur gegen die stundenlangen Pflichtübertragungen der Reden des sowjetischen Außenministers Wyschinskij vor der Uno wehrten wir uns vergeblich; wir mußten sie senden, und die Hörer schalteten prompt in Scharen zum neugegründeten Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) um.

Über das Verhältnis der Bevölkerung zur sowjetischen Besatzungsmacht, über Plünderungen und Vergewaltigungen während des Einmarschs der Roten Armee und über Vergeltungsakte an deutschen Zivilisten konnten wir nicht wirklich offen reden. Zum einen hatten unsere Kontrolloffiziere ihre entsprechenden Weisungen, zum anderen war die SED in diesem Punkt überaus empfindlich, und obendrein wollten wir keine Ressentiments der Deutschen gegen die Russen schüren. Die Folge war, daß vieles beschönigt wurde – keineswegs immer wider besseres Wissen. Ich erinnere mich, daß ich Berichte der West-Berliner Zeitung Telegraf über Verhöre und Folterungen in Ost-Berlin durch eine Geheimpolizeiabteilung namens K 5 damals empört als Lügenpropaganda anprangerte und viele Jahre später zu meiner nicht geringen Bestürzung erfuhr, daß diese K 5 nicht erfunden war. Oft genug konnte ich das Vorgehen der Besatzer oder unserer Partei gegen vermeintliche Abweichler keineswegs gutheißen, aber diese Übergriffe verblaßten schnell zur Bedeutungslosigkeit, wenn ich an das verbrecherische NS-Regime zurückdachte, wie ich es in seinen scheußlichsten Facetten bei den Nürnberger Prozessen kennengelernt hatte.

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Presseausweis beim Nürnberger Prozeß 1945

Im September 1945 war ich als Berichterstatter unseres Senders nach Nürnberg geschickt worden. Bis dahin hatte ich mir den ganzen Umfang der Monstrosität der Naziherrschaft nur schwer vorstellen können. Es war gespenstisch, durch das völlig zerstörte Nürnberg – einst Deutschlands Schatzkästlein genannt – zu gehen und daran zu denken, daß die Männer, die jetzt auf der Anklagebank saßen, hier auf dem Höhepunkt ihrer Macht gefeiert worden waren, daß sie hier die Nürnberger Rassengesetze beschlossen hatten. Nicht weniger gespenstisch waren die Filmvorführungen im Gericht, die NS-Wochenschauen mit ihrem hysterischen Jubel und die Dokumente über die Massenexekutionen. Am schlimmsten waren die Amateurstreifen, die mit der gleichen Kaltblütigkeit und Teilnahmslosigkeit aufgenommen worden waren, mit der vor der Kamera gefoltert und gemordet wurde. Wie auf dem Seziertisch wurde in diesem Gerichtssaal die Anatomie des Nationalsozialismus enthüllt. Damals glaubte ich wie viele andere, diese Lehre könne nie vergessen werden.

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2 Der Einstieg

Nach der Währungsreform von 1948 in den drei westlich besetzten Zonen schlössen diese sich im Frühjahr 1949 zur Bundesrepublik zusammen, und im Oktober des gleichen Jahres erklärte die vierte Zone sich zur Deutschen Demokratischen Republik. Wenig später wurde ich in das Zentralkomitee der SED bestellt. Als Reaktion auf die Anerkennung unseres neuen Staates durch die UdSSR wollte man sofort eine Diplomatische Mission in Moskau einrichten. Mir hatte man die Rolle zugedacht, dem Botschafter als Erster Rat zur Seite zu stehen. Meine sowjetische Staatsbürgerschaft mußte ich aufgeben, wollte ich in den diplomatischen Dienst eintreten.

Am 3. November traf ich mit Botschafter Rudolf Appelt und Josef Schütz, dem Ersten Sekretär der Mission in Moskau ein. Was für ein Unterschied zur tristen Trümmerlandschaft Berlins! Am 7. Oktober, dem Jahrestag der Oktoberrevolution, stand ich auf der Tribüne neben dem Lenin-Mausoleum, meinen roten Diplomatenpaß und meinen Antrag auf Entlassung aus der sowjetischen Staatsbürgerschaft in der Tasche. Daß meine diplomatische Karriere nur eineinhalb Jahre währen sollte, ahnte ich nicht.

Das eindrucksvollste Erlebnis in meiner kurzen diplomatischen Laufbahn war ein Empfang im Februar 1950 für Mao Zedong im Festsaal des Hotels Metropol. Ich stand mit dem Rücken zur Tür, als das Stimmengewirr im Saal auf einen Schlag erstarb. Man konnte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören. Ich drehte mich um und sah Stalin wenige Meter entfernt stehen. Er trug seine bekannte Litewka, weder Rangabzeichen noch Orden. Ich war überrascht, wie klein er war, und auch auf seine Glatze, die einer Tonsur ähnelte, war ich nicht gefaßt gewesen. Beides stand in eklatantem Widerspruch zum Bild des »Woschd«, des Führers, wie Filme

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und Gemälde es verbreiteten. Der Grund seines unerwarteten Kommens war wohl, daß er damit vor dem Gast die Unhöflichkeit ausbügeln wollte, daß er sich beim Empfang im Kreml nicht hatte blicken lassen.

Diplomatische Mission der DDR 1949 in Moskau (Autor: 3.

von rechts) Da unser Botschafter abwesend war, vertrat ich ihn und saß in

unmittelbarer Nähe der Tafel, an der die Spitzen beider Delegationen ihre Trinksprüche wechselten. Während Tschu Enlai und Wyschinskij sprachen, zündete Stalin sich eine Zigarette seiner Lieblingspapyrossi der Marke Herzegowina Flor nach der anderen an. Später brachte er selbst mehrere Trinksprüche aus. Er pries die Bescheidenheit und Volksverbundenheit der chinesischen Führer; dann hob er sein Glas auf die Völker Jugoslawiens und zeigte sich zuversichtlich, daß sie ihren Platz in der sozialistischen Völkerfamilie wieder finden würden. Auf Jugoslawien lastete der Bannfluch des Komintern-Beschlusses von 1948, mit dem Tito abgestraft worden war, weil er sich Moskau widersetzt hatte, statt sklavisch zu gehorchen.

Vielleicht ist es heute schwer zu verstehen, daß wir damals

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jedes Wort andächtig aufnahmen. Mao und Stalin wirkten auf uns andere Anwesende wie historische Denkmäler, wie ein Stück erlebte Geschichte, nicht wie lebende Zeitgenossen. Niemand von uns ahnte den bevorstehenden Bruch zwischen China und der Sowjetunion voraus, doch ich erinnere mich, wie rätselhaft es mir vorkam, daß Mao den ganzen Abend kein einziges Wort sprach.

Im August 1951 rief mich Staatssekretär Anton Ackermann in dringenden Angelegenheiten nach Berlin zurück. Ackermann, mit richtigem Namen Eugen Hanisch, war eine r der führenden Köpfe des Politbüros der SED. Er hatte die typische Biographie eines kommunistischen Parteifunktionärs, der durch die Schule der Komintern in Moskau und durch die harte Praxis einer Partei »neuen Typus«, also Stalinscher Prägung, gegangen war. Nach der Machtergreifung Hitlers war er zunächst im antifaschistischen Widerstand in Berlin aktiv gewesen, später in Moskau, in Paris und in Madrid und zuletzt wieder in Moskau. Als Verantwortlicher der KPD für Agitation und Propaganda saß er neben Pieck, Ulbricht und Florin in den wöchentlichen Redaktionssitzungen unseres deutschen Volkssenders. Als Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) war er für den gleichnamigen Sender verantwortlich, an dem auch mein Komintern-Mitschüler Wolfgang Leonhard tätig war.

Ich fand mich im Außenministerium ein, wo mir Ackermann, ohne sich mit Erklärungen aufzuhalten, mitteilte, ich solle mich nachmittags im Zimmer Nummer soundsoviel im Sitz des Zentralkomitees einfinden. Ich staunte nicht schlecht, als in besagtem Raum niemand anders auf mich wartete als – Anton Ackermann! Diesmal in seiner Eigenschaft als Mitglied des Politbüros. Solche Inszenierungen liebte er.

Nun eröffnete Ackermann mir in seinem unnachahmlich geheimnisvollfeierlichen Ton, daß die Parteiführung ihn mit dem Aufbau eines politischen Aufklärungsdienstes beauftragt habe und daß ich für eine Funktion in diesem Apparat

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vorgesehen sei. Es war kein Vorschlag, sondern ein Parteibefehl. Ich war stolz, daß man mir so viel Vertrauen entgegenbrachte, ein solches Angebot zu machen.

Am 16. August 1951 wurde das Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IPW) aus der Taufe gehoben; so lautete die Tarnbezeichnung unseres frischgegründeten Außenpolitischen Nachrichtendienstes (APN) – ein wenig kompliziert, aber sehr konspirativ. Meine erste Amtshandlung in der neuen Tätigkeit bestand darin, daß ich in die achtzylindrige Tatra-Limousine Richard Stahlmanns stieg, die uns nach Bohnsdorf, einem Vorort Berlins, brachte. Unterwegs schloß sich uns ein luxuriöser offener Horch an, in dem die künftigen sowjetischen Partner fuhren – ein imposanter Anblick, aber wohl kaum das, was Ackermann sich unter Geheimhaltung vorstellte.

Richard Stahlmann, der für den Aufbau des operativtechnischen Dienstes zuständig sein würde, war eine imponierende Erscheinung, ein Mann, dessen ganzes Leben im Zeichen der Konspiration gestanden hatte, seit er 1923 in den Militärischen Rat der KPD berufen worden war. Eigentlich hieß er Artur Illner, aber sein Deckname war ihm zur zweiten Natur geworden, und selbst seine Ehefrau Erna nannte ihn Richard. Obwohl er nie eine höhere Position in der KP innegehabt hatte, stand er mit der gesamten Parteiführung auf vertrautem Fuß.

Wie alle aus der »alten Garde« sprach er selten über die bewegten Ereignisse der Vergangenheit, und es dauerte geraume Zeit, bis ich herausfand, daß Stahlmann der berühmte Partisanen-Richard war, der im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte, der Georgi Dimitroffs enger Vertrauter gewesen war und der im Krieg in Schweden Herbert Wehner geholfen hatte, die illegale Arbeit der KPD in Deutschland zu unterstützen. Überlebende des Spanischen Bürgerkriegs sprachen voller Hochachtung von seinen Führungsqualitäten und von der Umsicht, mit der er gefährliche Einsätze vorbereitet

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hatte. Danach hatte Dimitroff ihn mit wichtigen Aufgaben betraut. Vielleicht kann nur ein Mensch aus meiner Generation ermessen, was der Name Dimitroff uns damals bedeutete. Als er nach dem Reichstagsbrand und nach seinem Freispruch nach Moskau gekommen war, hatten wir ihn als Helden gefeiert, der den Nazis die Stirn geboten hatte.

Charlotte Bischoff gratuliert Richard Stahlmann zum 80.

Geburtstag 1971 Neben diesen Helden hatte Stahlmann gestanden, als die

Nazis kamen, um ihn zu verhaften; dieser Held hatte unbedingtes Vertrauen zu Stahlmann gehabt und ihn »das beste Pferd im Stall« genannt. In Menschen wie Richard Stahlmann fand ich meine eigenen Ideale verkörpert und vorgelebt sie waren Berufsrevolutionäre, die mir zu Vorbildern wurden.

In Bohnsdorf gründeten wir, acht Deutsche und vier sowjetische »Berater«, den Außenpolitischen Nachrichtendienst der DDR, von dem die meisten anwesenden Deutschen eine alles andere als klare Vorstellung hatten. Ich war wieder einmal der Jüngste. Ackermann sorgte – wie nicht anders zu erwarten

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dafür, daß das Treffen den gebührend feierlichen Anstrich erhielt. Da keiner von uns sich später an das Datum erinnern konnte und es kein Protokoll gab, erklärten wir im nachhinein den 1. September 1951 zum Gründungstag unseres Nachrichtendienstes.

Andrej Grauer 1951

Den Chef der sowjetischen Gruppe stellte Ackermann als Genossen Grauer vor, von Stalin persönlich beauftragt, uns unter die Arme zu greifen. Grauer hatte in der sowjetischen Botschaft in Stockholm für den Nachrichtendienst gearbeitet. Er war erfahren, und wir hingen an seinen Lippen, wenn er uns vom abenteuerlichen Alltag im Geheimdienst erzählte. Er brachte uns bei, wie man einen Dienst aufbaut, wie man ihn in Einzelabteilungen aufteilt und wie man den Gegner an seinen empfindlichen Stellen trifft. Leider nahm er ein tragisches Ende.

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Er wurde krankhaft mißtrauisch – möglicherweise war die Ursache eine Mischung aus déformation professionelle und der unsicheren Atmosphäre in der UdSSR der Stalinzeit. Sein Verfolgungswahn wurde immer ausgeprägter; obendrein wurde durch seine Zwangsvorstellungen das Verhältnis zu Anton Ackermann, dem unser Dienst unterstand, unerträglich gespannt. Zuletzt rief der KGB Grauer nach Moskau zurück, wo man inzwischen wohl gemerkt hatte, daß er die Trennlinie zur Paranoia überschritten hatte. Daß Ackermann bereits ein Jahr nach der Gründung des Dienstes um Ablösung ersuchte, führe ich auf diese Begebenheit zurück.

Kurze Zeit nach Gründung des Dienstes flog ich nach Moskau, um mich offiziell aus dem diplomatischen Dienst zu verabschieden. Ich kam gerade rechtzeitig zu dem Empfang, den unser Botschafter zum zweiten Jahrestag der DDR im Hotel Metropol gab, in eben jenem Festsaal, in dem ich 1950 Mao und Stalin mit eigenen Augen erblickt hatte. Wir Jüngeren konnten uns mit dem Chef unserer Mission nicht über die Kleiderordnung einigen: Der Botschafter wollte, daß wir im Frack erschienen, wir plädierten für den dunklen Anzug. Der Kompromiß, den wir schlössen, hieß Smoking. Beim Empfang selbst stellten wir verdutzt fest, daß fast alle Gäste in Uniform oder im dunklen Anzug kamen; die einzigen Anwesenden mit Smoking und Fliege waren wir und die Kellner. Als Nikolaj Krutizkij, der Metropolit von ganz Rußland, sich nach dem offiziellen Teil verabschiedete, begleitete ich ihn zur Garderobe, wo er umständlich in seiner Soutane kramte, bis er drei Rubel zum Vorschein brachte, die er mir als Trinkgeld in die Hand drückte.

Mir blieb kaum Zeit, von meinen Freunden und von der Stadt, die mir so ans Herz gewachsen war, endgültig Abschied zu nehmen. Was hatten wir alles in den Jahren erlebt, seit wir 1934 auf dem Bjelorussischen Bahnhof angekommen waren… Und nun weilte ich plötzlich als Ausländer in Moskau! Aber für

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wehmütige Erinnerungen war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Am Anfang unseres Außenpolitischen Nachrichtendienstes

spielten die sowjetischen Berater eine starke, um nicht zu sagen dominierende Rolle, was sich in dem Maße änderte, in dem unser Dienst den Kinderschuhen entwuchs.

Zuerst schrieben unsere Abteilungsleiter unter den Augen der Berater fleißig Arbeitspläne. Die Bürokratie, die wir befolgen mußten, wurde so weit getrieben, daß wir neben allem anderen Papierkram Stunden damit zubringen mußten, Dokumente in Aktenordner einzunähen – ein Verfahren, das wahrscheinlich noch aus den Zeiten der zaristischen Geheimpolizei stammte und dessen Sinn uns von den Beratern niemals offenbart wurde.

Die Struktur unseres Apparats entsprach fast spiegelbildlich der des sowjetischen Dienstes; da dieser von Berijas Geheimpolizei abgekoppelt und dem Außenminister Molotow unterstellt worden war, hatte man bei uns in Anlehnung daran Ackermann vom Außenministerium zum Leiter ernannt. Die Formulierung der Schwerpunkte unserer künftigen Arbeit ließ unschwer erraten, daß unsere Richtlinien fein säuberlich aus dem Russischen übersetzt waren. Unsere Aufgaben umfaßten politische Aufklärung in Westdeutschland und West-Berlin, wirtschaftliche und wissenschaftlichtechnische Aufklärung auf den Gebieten der Kern- und Trägerwaffen, der Kernenergie, Chemie, Elektronik und Elektrotechnik, des Flugzeug- und Maschinenbaus und der konventionellen Waffen sowie Aufklärung der westlichen Alliierten.

Eine kleine, selbständige Abteilung Abwehr war dafür zuständig, die westlichen Geheimdienste zu beobachten und zu infiltrieren. Sie geriet sofort mit dem seit Februar 1950 bestehenden Ministerium für Staatssicherheit in Konfrontation, das mit einem weitaus personalreicheren Apparat auch auf diesem Gebiet tätig war.

Man hat mich immer wieder gefragt, warum Moskau sich mit

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unserem Dienst eine deutsche Konkurrenz schuf, die schnell selbstbewußt wurde und der sowjetischen Aufklärung in Deutschland bald in vielem überlegen war. Ich glaube, daß die Sowjets zu Recht annahmen, daß ein deutscher Dienst sich im Nachkriegsdeutschland leichter tun würde als sie selbst, an bestimmte Informationen heranzukommen, und sie an seinem Wissen würde teilhaben lassen. Und so war es auch, wenigstens anfangs, als unser Dienst vollständig unter sowjetischer Kontrolle stand: Unseren Beratern gaben wir brav sämtliche Informationen, sogar die Decknamen unserer Quellen. Daß wir nach und nach dazu übergingen, auch ihnen gegenüber die Regeln der Konspiration einzuhalten und sorgfältig auszuwählen, was sie erfahren sollten, war nicht unbedingt im Sinne der Gründungsväter.

Mein erster direkter Vorgesetzter war Robert Korb, den ich beim Deutschen Volkssender in Moskau kennengelernt hatte. Er leitete die Hauptabteilung Information, die aus einer Sekretärin, ihm und mir bestand. Wir saßen in einer ehemaligen Schule im Stadtteil Pankow, nicht weit vom Sperrgebiet, in dem Partei- und Staatsführung wohnten. Korb verfügte über profunde politische Kenntnisse und ein enormes Faktenwissen. Von ihm habe ich viel gelernt, auch über Themen, die unsere Arbeit nicht berührten, etwa den Islam, die lange Vorgeschichte Israels oder die Ursachen religiöser Konflikte auf dem indischen Subkontinent. Er war ein brillanter Analytiker, der mich lehrte, die Berichte der operativen Abteilungen mit Skepsis zu prüfen. Wir kamen beide schnell zu der Einsicht, daß eine kontinuierliche, gründliche Auswertung der Presse so manche »geheime« Information überflüssig macht. Von dieser Erkenntnis ist es nicht weit zu der, daß man als Analytiker stets gezwungen ist, sich durch Verwendung unterschiedlichster Quellen eine eigene Meinung zu bilden, wenn man nachrichtendienstliches Material kritisch beurteilen will.

Korb war in mancher Hinsicht, was man ein Original nennt.

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Seine Sarkasmen und Pointen saßen immer. Ehrfurcht vor Würdenträgern kannte er nicht, und wir fanden schnell eine gemeinsame Sprache. Wir dienten unserem Staat loyal, aber wir waren keine Eiferer; die missionarische Verbissenheit mancher unserer politischen Führer betrachteten wir mit ironischer Distanz.

Richard Stahlmann stand durch seine Vergangenheit mit der gesamten Führungsriege unseres jungen Staates auf vertrautem Fuß. Wenn sich unerwartete Schwierigkeiten für unseren frischgekürten Dienst einstellten, suchte Stahlmann den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl zu Hause auf, und die Schwierigkeiten waren gelöst. Benötigten wir dringend Devisen, die wir auf dem vorgeschriebenen Weg frühestens nach Monaten bekommen hätten, besuchte er den Finanzminister und brachte das Geld in der Aktentasche von dort mit. Es gelang ihm sogar, von vierundzwanzig Tatra-Limousinen, die die Tschechoslowakei für unsere Regierung lieferte, nicht weniger als die Hälfte für unseren winzigen Dienst abzuzweigen.

Auch innerhalb des Dienstes war Stahlmanns Vergangenheit ein Plus. Wie jeder Nachrichtendienst benötigten wir gut gefälschte Ausweispapiere des betreffenden Landes. Nichts leichter für Stahlmann, als ein ganzes Sortiment verschiedener Papiersorten aufzutun oder Fachleute ausfindig zu machen, die die fast ausgestorbene Kunst des Handschöpfens beherrschten und obendrein die Sicherheitserfordernisse erfüllten. Im Handumdrehen hatte er eine komplette Papierfabrik en miniature eingerichtet. Auch den Fachmann für täuschend echt wirkende Stempel und Unterschriften brachte er zu uns: Richard Großkopf hatte vor und während des Krieges Hunderte von Illegalen mit falschen Papieren ausgestattet.

So begann meine Laufbahn im Nachrichtendienst, die fünfunddreißig Jahre dauern sollte.

Allmählich platzte unser Domizil in Pankow aus allen Nähten, und wir mußten umziehen. In unserem neuen Dienstgebäude am

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Rolandsufer im Zentrum Berlins wurde ich stellvertretender Leiter der Abteilung Abwehr, die die Anfeindungen durch das Ministerium für Staatssicherheit bisher überlebt hatte. Ihr Leiter war Gustav Szinda, ein Mann mit langjähriger Erfahrung in der illegalen Arbeit.

Unsere Aufgabe war es, die bundesdeutschen Geheimdienste zu infiltrieren. Das war leichter gesagt als getan. Da saßen wir zu viert und hatten nicht die leiseste Vorstellung, wie wir es mit Nachrichtend iensten aufnehmen sollten, die den Zusammenbruch des Dritten Reichs fast unbeschadet überlebt hatten und in der Bundesrepublik wie der Phönix aus der Asche auferstanden waren. Als wir mit unserer winzigen Abteilung Abwehr zum Jahreswechsel 1951/52 den Kampf gegen die bereits voll agierenden westdeutschen Apparate aufnahmen, sagte uns der Name Pullach, der gelegentlich geheimnisumwittert in der Presse auftauchte, nicht viel. Er stand für eine unbekannte und, wie es uns schien, unerreichbare Welt. Der Tag, an dem wir uns in diesem oberbayerischen Ort sogar sehr gut auskannten, lag noch in weiter Ferne.

Auf den Namen des Mannes, der in Pullach leitete, was sich damals Organisation Gehlen nannte, stieß ich erstmals in einem Artikel des Londoner Daily Express mit der Schlagzeile: »Ex-Hitler-General spioniert jetzt für Dollars.« Der Autor Sefton Delmer unterhielt gute Beziehungen zum britischen Geheimdienst und hatte im Krieg für den britischen Soldatensender Calais gearbeitet, was seine Glaubwürdigkeit erhärtete.

Kurz vor seinem Ende hatte Adolf Hitler General Reinhard Gehlen, den Chef der Abteilung Fremde Heere Ost, durch Oberstleutnant Gerhard Wessel ersetzt. Als der Krieg zu Ende war, wechselte Gehlen die Seite, aber nicht den Gegner. Beschützt, gefördert und finanziert von der Regierung der Vereinigten Staaten gründete er die nach ihm benannte Organisation Gehlen, die als Eigenkapital ihre intimen

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Kenntnisse über die fremden Heere im Osten einbrachte. Sie wurde ein Sammelbecken »alter Kameraden« aus Hitlers Zeiten. Das hinderte Konrad Adenauer, den ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, nicht, sich des alten, erneuerten Geheimdienstes zu bedienen und ihn nach wenigen Jahren als Bundesnachrichtendienst in eigener Regie zu übernehmen. Gehlen genoß damals nicht nur im Bonner Kanzleramt Vertrauen, sondern auch in arabischen Staaten, weil er ehemalige Nazioffiziere als Ausbilder in den Nahen Osten entsandte, darunter so manchen Experten in der Judenverfolgung. Gehlen blieb Präsident des BND bis zum Frühjahr 1968. Sein Nachfolger wurde – wie 1945 – General a. D. Gerhard Wessel.

Delmers Artikel enthüllte, wie viele Offiziere aus Gehlens militärischem Dienst und wie viele ehemalige SS- und SD-Leute in Pullach untergeschlüpft waren. Er schlug wie eine Bombe ein. Gleichzeitig wurden Gerüchte laut, daß der amerikanische General George S. Patton, der als Rechtsaußen berüchtigt war, nicht nur die Strafverfolgung von Kriegsverbrechern aus Deutschland laut kritisiert, sondern auch hochrangigen NS-Offizieren zur Flucht in die USA verholfen haben sollte. All das war alarmierend und mußte von uns zwangsläufig als Bedrohung interpretiert werden.

Jetzt ging es nicht mehr nur um die Verwirklichung der Ziele, die wir uns bei Kriegsende gesetzt hatten. Eine neue Konfrontation war vorgezeichnet, der mühsam errungene Frieden zeigte erste Sprünge. Europa war gespalten, und die Trennlinie verlief mitten durch Deutschland.

Adenauer setzte eindeutig auf die amerikanische Politik der Stärke und auf die von John Foster Dulles formulierte Strategie des roll back gegenüber dem Kommunismus. Dulles' Bruder Allen war damals Chef der CIA, der Central Intelligence Agency der USA. Bei Kriegsende war die Macht der Sowjetunion weit nach Westen vorgedrungen; das wollten die

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Vereinigten Staaten nun so schnell wie möglich und unter Einsatz aller nur erdenklichen Mittel rückgängig machen. Gehlen begriff schnell die Chance, nicht nur seinen Geheimdienst am Leben zu erhalten, sondern Einfluß auf die Politik der Bundesrepublik zu gewinnen. Obendrein paßte er mitsamt seinen Verbindungen dem Kreuzzugsdenken der Brüder Dulles bestens ins Konzept.

Leute wie Gehlen und sein Stab waren keine Ausnahme. In Bundeswehr und Staatsapparat besetzten einstige NS-Funktionäre so manche Spitzenposition. Zum Synonym für diese Art von Kontinuität wurde der Name Globke. Dr. Hans Globke, unter Hitler ein hochrangiger Beamter im Reichsinnenministerium und Verfasser des Kommentars zu den Nürnberger Rassengesetzen, wurde von Adenauer zu dessen engstem Berater, später sogar zum Staatssekretär im Bundeskanzleramt gemacht.

Das Berlin der 50er Jahre mit seiner hektischen Atmosphäre hatte Wien als Hauptstadt europäischer Spionagetätigkeit abgelöst. Im Untergrund zwischen Ost und West waren zeitweise – ihre Ableger mitgerechnet – bis zu achtzig verschiedene Geheimdienste tätig. In amerikanischen und russischen Filialen war von Kompaniestärke die Rede. Getarnt als Forschungszentren oder wissenschaftliche Einrichtungen, Süßwarenexporteure oder Klempnerfirmen jedweder Art, rekrutierten und lenkten sie ihre diversen Agenten, denen der Verkehr zwischen Ost- und West-Berlin vor den Tagen des Mauerbaus ein Leichtes war. Es war die Zeit vor dem Beginn des westdeutschen Wirtschaftswunders. Die Leute ließen sich bereitwillig als Spione anwerben, wenn man ihnen etwas Besseres zu essen oder einen beruflichen Lichtblick versprach.

Die westlichen Dienste konnten sich dabei auf die Anziehung der harten Westwährung stützen und darauf, daß breite Kreise der Bevölkerung im Osten das neue politische System unterschwellig ablehnten; zusätzlich waren sie uns gegenüber

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dadurch im Vorteil, daß sie auf einen funktionierenden Apparat und langjährige Erfahrung zurückgreifen konnten, von ihrer besseren Ausstattung ganz zu schweigen. Da war es nur ein schwacher Trost zu merken, daß auch unsere sowjetischen Berater, die wir bisher voller Ehrfurcht betrachtet hatten, ähnlich blutige Anfänger waren wie wir selbst.

Viele unserer damaligen Agenten und Kontakte im Westen waren keine Kommunisten, sondern arbeiteten für uns, weil sie die Teilung Deutschlands überwinden helfen wollten und die Politik der Amerikaner für falsch hielten. Einige hatten wir zur Kooperation überredet, indem wir sie wissen ließen, daß wir über ihre Vergangenheit im Dritten Reich besser informiert waren, als ihnen lieb sein konnte. Wieder andere wollten es sich sicherheitshalber mit keiner Seite verderben und spionierten deshalb für die DDR, während sie gleichzeitig strebsame Bürger der BRD waren. Hin und wieder gelang es auch einem Ex-Nazi in der DDR, sich in unseren Dienst einzuschmuggeln, aber sobald wir das herausfanden, wurde der Betreffende stillschweigend von seinem Posten entfernt – so im Fall eines Mannes, der sich durch die SS-Tätowierung auf seinem Arm verraten hatte. Nazis waren bei uns nicht erwünscht.

Eine unserer wenigen Chancen, tatsächlich an die Geheimdienste des Westens heranzukommen, bot die Parteiaufklärung der westdeutschen KPD, hervorgegangen aus einer Tradition der KPD, deren verschiedene Dienste in enger Kooperation mit der Komintern und den sowjetischen Diensten gestanden hatten. Der neue Nachrichtendienst der KPD wurde von Anfang an vom Zentralkomitee der SED aus gesteuert. Die Frage war nur, wie verläßlich sie als Instrument der Aufklärung war – anders ausgedrückt, ob, und wenn, wieweit sie möglicherweise von westlichen Diensten unterwandert war.

Das konkret zu überprüfen, sollte ich Gelegenheit bekommen, als ich beim Durchforsten der Unterlagen nach Beziehungen der Parteiaufklärung zu solchen Organisationen auf den Namen

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einer Quelle namens »Merkur« stieß, die Kontakte zum Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln und gute Verbindungen zur Bonner politischen Szene zu unterhalten schien; es klang alles fast zu schön, um wahr zu sein. Als ein Mitarbeiter unserer Abteilung den Mann in Schleswig-Holstein aufsuchte, zeigte er sich mehr als willig, nach Berlin zu kommen, fast als hätte er auf diese Einladung gewartet.

In einer Villa am Stadtrand von Berlin trafen wir uns mit »Merkur«, einem schlanken, hochgewachsenen Mann um die Dreißig, den man durchaus für den Elektroingenieur halten konnte, als der er sich ausgab.

Gustav Szinda leitete das Gespräch, und obwohl wir ungeübt waren, fast noch Amateure, taten wir instinktiv das Richtige: Wir ließen »Merkur« zuerst ausführlich seinen Lebenslauf erzählen. Als Student in Hamburg wollte er begonnen haben, für die Parteiaufklärung der KP zu arbeiten; in ihrem Auftrag sei er dann zielstrebig an rechtsradikale Organisationen herangetreten und habe es zuletzt zum persönlichen Sekretär im Bonner Büro Dr. Fritz Dorls, des Vorsitzenden der neonazistischen Sozialistischen Reichspartei, gebracht. Es klang alles sehr logisch, aber sobald ich ihm Fragen zu Leuten stellte, die er angeblich kannte, fielen mir Ungereimtheiten in seinen Antworten auf, hie und da gar Widersprüche zu dem, was in seinen schriftlichen Berichten gestanden hatte. Wir baten ihn, am nächsten Tag noch einmal zu kommen. Nach kurzer Beratung mit Szinda studierte ich die Akten bis tief in die Nacht – und mein Verdacht bestätigte sich.

Am Tag darauf führten wir das Gespräch mit verteilten Rollen weiter: Szinda schlug die harten Töne an, ich setzte »Merkur« mit den Fakten zu. Schließlich gestand er, daß er für den britischen Geheimdienst arbeitete. Damit war der Traum von der Spitzenquelle verflogen. Wir spielten kurzfristig mit dem Gedanken, ihn umzudrehen und auf diesem Weg den britisehen Geheimdienst zu infiltrieren, aber auch das zerschlug sich, als

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wir bei einem dritten Gespräch aus ihm herausholten, daß er schon als Student im Auftrag von MI 5 den Kontakt zur kommunistischen Parteiaufklärung gesucht hatte.

Unter diesen Umständen war es für uns nur ratsam, die Finger von »Merkur« zu lassen. Ohnedies lag die weitere Untersuchung des Falles außerhalb unserer Kompetenz. So geschah es, daß mein erster Fall ausgerechnet Erich Mielke in die Hände geriet, damals Staatssekretär im Ministerium für Staatssicherheit, dem unser Dienst vom ersten Tag an ein Dorn im Auge gewesen und mit Mißtrauen verfolgt worden war. Daß zwischen ihm und Szinda seit ihrer gemeinsamen Vergangenheit im Spanischen Bürgerkrieg unverhüllte Abneigung herrschte, machte den Umgang nicht gerade harmonischer. Die Entlarvung »Merkurs« bezeichnete Mielke sofort als »Quatsch«; von seinen eigenen Mitarbeitern mußte er sich eines Besseren belehren lassen, als der Mann in Untersuchungshaft kam, geständig war und dann vom Gericht zu neun Jahren Haft verurteilt wurde.

Der Fall »Merkur« war meine erste Bewährungsprobe in der Aufklärung, aus der ich die Lehre zog, daß man im Nachrichtendienst nie die Logik außer acht lassen und sich nie vom Wunschdenken irreführen lassen darf.

»Merkurs« Entlarvung löste nicht nur im Westen Alarm aus, sondern mehr noch bei uns, denn er hatte bei der Vernehmung ein Wissen über Mitarbeiter und Querverbindungen innerhalb der Parteiaufklärung offenbart, das er eigentlich nicht hätte haben dürfen. Ich machte mich an die mühselige Aufgabe, den gesamten Apparat samt all seinen Kontakten zu überprüfen.

Wie bei einem Puzzle suchte ich geduldig nach den passenden Teilchen. Um eventuell vom Gegner umgedrehte Agenten nicht »anzustoßen« (ihnen nicht zu verraten, daß man sie verdächtigte), befragte ich nicht sie, sondern die von der DDR aus eingesetzten Kuriere und Verbindungsleute. Dabei erfuhr ich von mehr unstatthaften Querverbindungen, die gegen alle Regeln der Konspiration verstießen, als uns lieb sein konnte.

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Im Lauf mehrerer Monate entstand auf einem riesigen Bogen Millimeterpapier eine »Spinne« – ein Diagramm aller Beziehungen der Parteiaufklärung, aus dem außer mir bald niemand mehr schlau werden konnte. Striche und Kästchen in verschiedenen Farben bezeichneten persönliche oder unpersönliche Verbindungen – rot für verdächtigte Doppelagenten, blau für Quellen, grün für Residenten –, Zeichen markierten Verdachtsmomente oder Kontakte zu gegnerischen Diensten. Uneingeweihten sagte das nichts; für meine Augen gewann das Diagramm jedoch immer deutlichere Konturen.

Manche Quellen und Residenturen gingen unbeschadet aus meinem Durchleuchten hervor – ein hoher Beamter im Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, der uns noch viele Jahre mit Informationen versorgen sollte, ebenso wie unsere Residentur in Bayern, während ein Frankfurter Journalist mit dem Decknamen Wagner mir verdächtig vorkam und sich später beim Verhör als Doppelagent im Auftrag der Amerikaner entpuppte.

Was tun? In welchem Ausmaß mochte die Parteiaufklärung bereits von Agenten der Gegenseite durchsetzt und vom Gegner aufgerollt sein? Wir unterstellten als schlimmste Möglichkeit die, daß Verfassungsschutz sowie britischer und amerikanischer Geheimdienst erhebliche Teile des Netzes enttarnt hatten und mittels umgedrehter Agenten möglicherweise bereits bis in die Berliner Zentrale vorgedrungen waren. Es blieb uns folglich nichts anderes übrig, als auf die Parteiaufklärung zu verzichten.

Nach langen Beratungen zog ich eines Tages an der Seite Ackermanns, die große Papierrolle unter dem Arm, zu Ulbrichts Wohnung in Pankow. Ulbrichts Einrichtung verriet die Vorliebe des gelernten Tischlers für gutbürgerliches Mobiliar mit gedrechselten Verzierungen. Auf dem Eßtisch breitete ich meine »Spinne« aus und schilderte die Ergebnisse meiner Überprüfungen in allen Einzelheiten. Ackermann und ich

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schlugen Ulbricht vor, alle Verbindungen zur westdeutschen Parteiaufklärung abzubrechen und alle Mitarbeiter, die Kontakt zur KPD hatten, zurückzubeordern. Ulbricht stimmte zu, und seitdem war die KPD bis zu ihrem Verbot im Jahr 1956 ebenso tabu für unseren Dienst wie später ihre Nachfolgerin, die DKP.

An die folgenden Monate erinnere ich mich nicht gern. Die zurückgerufenen Mitarbeiter der Parteiaufklärung waren fast ausnahmslos überzeugte Antifaschisten, die Zuchthaus, Konzentrationslager und Emigration auf sich genommen hatten und sich jetzt unsere mißtrauischen Fragen gefallen lassen mußten. Ihre Lage war demütigend, um es bescheiden zu sagen, auch wenn bei uns zum Glück nicht mit Berijas Methoden gearbeitet wurde.

Wie gewinnt, wie bewahrt man Vertrauen? Wie prüft man Zuverlässigkeit? Darf man sich auf seine Intuition verlassen? Diese Fragen stellte ich mir damals immer wieder. Im Verlauf dieser Untersuchung war mir klargeworden, daß man einmal gefaßte Meinungen ständig überprüfen muß. Diese Bereitschaft zu vorurteilsfreiem Denken ermöglichte es uns, einige Spitzenquellen im Westen wieder zu aktivieren, nachdem wir sicher sein konnten, daß es den westlichen Diensten nicht gelungen war, sie zu identifizieren. Zu unserer erheblichen Erleichterung stellten wir fest, daß auch der Gegner nur mit Wasser kochte.

Andererseits stellte uns der Verzicht auf die Parteiaufklärung vor das nicht geringe Problem, einen Ersatz zu schaffen und geeignete Kandidaten zu finden. Die Sicherheitsanforderungen, über deren Einhaltung ein sowjetischer Berater mit unnachgiebiger Strenge wachte, waren so hochgeschraubt, daß allein schon die Besetzung der Zentrale schier unmöglich schien. Kandidaten mit Verwandten im Westen oder solche, die in westlicher Emigration oder Gefangenschaft gewesen waren, schieden von vornherein aus. Ackermanns Stellvertreter Gerhard Heidenreich, der beauftragt war, den Apparat zu komplettieren,

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war Sekretär für Kaderfragen bei der FDJ gewesen, der Jugendorganisation der SED, und so kamen viele junge Leute von der FDJ zu uns. Sie sollten den Kern meines Dienstes, der späteren Hauptverwaltung Aufklärung, bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1990 bilden. Ihre in vierzig Jahren gewonnene praktische Erfahrung hätte kein Lehrgang ersetzen können. Im Unterschied zu den meisten anderen Geheimdiensten drehte sich bei uns kein Karussell, wenn es um die Besetzung leitender Positionen ging. Diese Kontinuität war einer der Hauptgründe unserer Effizienz, und sie ermöglichte es mir, meine Denkweise und Handschrift auf andere zu übertragen. Aber bis dahin war es Ende 1952. noch ein weiter Weg.

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3 Learning by doing

Im Dezember 1952 wurde ich zu Walter Ulbricht bestellt, dem Generalsekretär der SED, der bereits als der mächtigste Mann des jungen Staates galt. Ohne zu ahnen, was er von mir wollte, machte ich mich auf den Weg zum Zentralkomitee, das zu jener Zeit noch nicht weit vom Alexanderplatz seinen Sitz hatte. In der Anmeldung erhielt ich einen Passierschein, den die Wache sorgfältig mit meinem Ausweis verglich. Die Kontrollen waren nicht annähernd so drakonisch, und das Gebäudeinnere war nicht annähernd so imposant wie später im sogenannten Großen Haus am Werderschen Markt, doch schon damals wehte ein unmißverständlicher Hauch jener Atmosphäre, die so charakteristisch werden sollte für die abgehobene Welt der Parteiführer.

Ich meldete mich in Ulbrichts Sekretariat. Er war noch in einer Besprechung, erschien aber kurz darauf und führte mich in das benachbarte Büro seiner Frau Lotte, die als seine engste Mitarbeiterin galt. Sie begrüßte mich freundlich, bevor er sie aus dem Zimmer schickte. Dann kam er ohne Umschweife zur Sache, wie es seine Art war, ohne persönliche Worte, ohne Einleitung und ohne den Gesprächspartner anzublicken.

So erfuhr ich, daß Anton Ackermann darum gebeten hatte, von der Leitung des Außenpolitischen Nachrichtendienstes entbunden zu werden – hier gehorchte Ulbricht der Sprachregelung zumindest soweit, hinzuzufügen: »Aus gesundheitlichen Gründen.« Selbstverständlich wußte ich, daß Ackermanns Vorstellung von einem eigenen deutschen Weg zum Sozialismus mit Ulbrichts Moskautreue kollidierte. Später hieß es, daß Ackermann sich in seinem Privatleben unvorsichtig verhalten haben soll, was im puritanischen Milieu der DDR jener Zeit das politische Aus bedeuten mußte; andererseits war es ein offenes Geheimnis, daß die Anfeindungen Grauers

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Ackermann die Leitung des Geheimdienstes zunehmend verleidet hatten.

Während ich diese Mitteilung noch verdutzt zur Kenntnis nahm, hörte ich Ulbrichts nächste Worte: »Wir sind der Meinung, daß du die Leitung des Dienstes übernehmen solltest.« Anders ausgedrückt: Die SED-Führung war der Meinung, daß ich, keine dreißig Jahre alt, in der Hierarchie des Nachrichtendienstes einer unter vielen, in der Partei noch unbedeutender, Ackermanns Nachfolger in dieser entscheidenden Funktion werden sollte. Auf meine Frage, über wen ich Kontakt zur Führung halten solle, erklärte Ulbricht, ich sei unmittelbar ihm unterstellt.

Es war kaum eine Viertelstunde vergangen, als ich wieder auf der Straße stand – nicht wenig verwirrt. Mir drehte sich alles im Kopf, so benommen war ich von dem, was mir widerfahren war. Sollte ich irgendein Gefühl benennen, an das ich mich erinnern kann, wäre es wohl am ehesten Stolz, Stolz auf das Vertrauen, das die Partei mir entgegenbrachte.

Noch heute kann ich nicht mit Gewißheit sagen, warum die Wahl ausgerechnet auf mich fiel. Meine guten Moskauer Beziehungen und meine Abstammung aus der Familie eines kommunistischen Schriftstellers mochten das ihre dazu beigetragen haben, doch meine fast gänzliche Unerfahrenheit im Nachrichtendienst mußte in anderer Hinsicht in die Waagschale fallen. Andererseits hatte Ackermann meine Wahl offenbar befürwortet, was gewiß nicht ohne Gewicht war.

Wenn man mich heute fragt, wie ich so unbefangen die Ernennung zum Leiter eines Nachrichtendienstes annehmen konnte, der Teil dessen war, was heute vielen als Unterdrückungsapparat erscheinen muß, dann kann ich dazu nur sagen, daß ich es damals ganz gewiß nicht so sah und auch gar nicht so sehen konnte. Damit will ich keineswegs dem blinden Gehorsam das Wort reden, auf den so viele Mitläufer des Dritten Reichs sich im nachhinein so gerne berufen haben. Mir war bei

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jeder Entscheidung in meinem Leben bewußt, daß ich mich dem, was man von mir verlangte, auch hätte verweigern können – mit unangenehmen Folgen, aber ohne Gefahr für Leib und Leben. Jahre später habe ich mich tatsächlich einmal einer Weisung widersetzt: Man hatte mich als Nachfolger Horst Sindermanns in der Leitung der Abteilung Agitation und Propaganda im Zentralkomitee der SED ausersehen, eine Ehre, die ich ausschlug, sobald sie mir zu Ohren kam. In diesem einen Fall zogen Mielke und ich am selben Strang, nur aus unterschiedlichen Motiven: Er wollte meinen kometenhaften Aufstieg bremsen, ich wollte die relative Unabhängigkeit und Selbständigkeit, die ich im Nachrichtendienst genoß, nicht aufgeben, um im schwerfälligen Parteiapparat zu verschwinden.

Als ich in unser Dienstgebäude am Rolandsufer zurückkam, erwartete mich dort schon ungeduldig Richard Stahlmann, in Abwesenheit Ackermanns der amtierende Chef unseres Dienstes. Ungewöhnlich, wie er in allen Dingen war, verhielt er sich auch jetzt: Freudig schloß er den Panzerschrank auf, um mir die spärlichen Akten zu übergeben, als könne er es kaum erwarten, von mir abgelöst zu werden und die leidige Schreibtischarbeit hinter sich zu lassen. Über den Tisch schob er mir den Schlüssel zu und sagte: »So, nun mach mal. Wenn du mich brauchst, bin ich da.«

Wesentlich frostiger fiel Mielkes Begrüßung aus, als Stahlmann mich ihm in meiner neuen Funktion vorstellte. Er ließ uns zuerst über eine Stunde im Vorzimmer warten und beschränkte sich dann darauf, in eisigem Ton zu erklären, über meine Ernennung sei so wenig endgültig entschieden wie über die ganze Existenz des Nachrichtendienstes.

Der Nachrichtendienst blieb nur ein knappes halbes Jahr unter Ulbrichts direkter Kontrolle. Im Frühjahr 1953 wurde er Wilhelm Zaisser unterstellt, nicht in dessen Funktion als Minister für Staatssicherheit, sondern in der eines Mitglieds des Politbüros der SED. Über seine Biographie wußte ich nur, daß

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er – wie Richard Sorge – Geheimaufträge in China ausgeführt hatte und daß er im Spanischen Bürgerkrieg unter dem Namen General Gomez die Elfte Internationale Brigade befehligt hatte.

Es machte Spaß, mit Zaisser zusammenzuarbeiten. Er strahlte eine vertrauenerweckende ruhige Autorität aus, die sich wohltuend von Mielkes wichtigtuerischer Hektik abhob, aber auch von Ulbrichts steifer, unpersönlicher Art. Einmal in der Woche hatte ich bei ihm eine feste Sprechstunde, zu der er mich auf die Minute genau empfing. Fast nie gelang es mir, in dieser Stunde alles zur Sprache zu bringen, was mir auf den Nägeln brannte, denn bei meinen Besuchen war ich für Zaisser ein willkommener Gesprächspartner, mit dem er als Herausgeber der gesammelten Werke Lenins in deutscher Sprache Übersetzungsfragen diskutieren konnte. Für Mielkes Unterwürfigkeit gegenüber Ulbricht hatte er nur Verachtung übrig, und auch aus seiner tiefen Abneigung gegen den Generalsekretär der Partei machte er kein Hehl. Bei fast allen Emigranten, die ich näher kennenlernte, genoß Ulbricht keine Sympathie: bei den einen, weil sie sich an seine Herz- und Fühllosigkeit in Moskau erinnerten, als er in Zeiten schlimmer Repressalien Hilfe, die nötig und möglich gewesen wäre, verweigert hatte, bei anderen wie Pieck oder Ackermann, weil er sich sogar ihnen gegenüber autoritär gebärdete.

Kaum hatte Ulbricht den Nachrichtendienst an Zaisser abgetreten, erlebten wir unseren ersten großen Skandal, die sogenannte Vulkan-Affäre. Verursacht wurde sie durch Gotthold Kraus, den ersten Überläufer aus unserem Dienst in den Westen. Ausgerechnet ihn hatte Szinda aus einer anderen Abteilung zu uns geholt und mit besonders vertraulichen Schreibarbeiten betraut. Da er sich unmittelbar vor Ostern 1953 absetzte, hatte die bundesdeutsche Abwehr genug Zeit, alles, was Kraus wissen konnte, aus ihm herauszuquetschen und zu handeln, bevor wir auch nur ahnen konnten, was vor sich ging.

Man kann sich vorstellen, wie fassungslos wir waren, als der

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bundesdeutsche Vizekanzler Franz Blücher kurz nach Ostern auf einer Pressekonferenz unter dem Kennwort Aktion Vulkan bekanntgab, es seien gerade fünfunddreißig ostdeutsche Agenten durch die westdeutschen Behörden festgenommen worden. Natürlich wußten wir sofort, daß die Zahl Fünfunddreißig eine gigantische Übertreibung darstellte; nicht einmal leitenden Mitarbeitern unseres Dienstes wäre die Identität so vieler Agenten in einem fremden Land bekannt gewesen. Es stellte sich bald heraus, daß die westdeutsche Spionageabwehr vor lauter Übereifer neben höchstens einem halben Dutzend echter Verbindungsleute honorige Geschäftsleute verhaftet hatte, die im innerdeutschen Handel aktiv gewesen waren, ohne das geringste mit dem Nachrichtendienst zu tun zu haben.

Während die Aktion Vulkan sich für den westlichen Dienst letztlich als Blamage erwies – viele der Betroffenen klagten auf Schadenersatz -, gab sie uns viel zu denken; wir hätten erkennen müssen, wie verwundbar unser Dienst war. Wie viele Maulwürfe mochten noch unerkannt in unserem Apparat wirken? Eine Kommission unter Vorsitz von Staatssekretär Mielke überprüfte alle Mitarbeiter auf Herz und Nieren – für Mielke eine hochwillkommene Gelegenheit, mich seine Macht spüren zu lassen.

Die darauffolgenden Monate verbrachten wir mit dem mühsamen Klären der Personalfragen und dem zähen Kampf um jeden einzelnen Mitarbeiter, den ich nicht verlieren wollte. Vor Schrecken über das Wissen der Gegenseite wurde beschlossen, den ganzen Apparat zu dezentralisieren und die einzelnen Abteilungen in einem Dutzend weit auseinanderliegender Gebäude unterzubringen. Für die eigentliche Arbeit blieb in dieser Phase wenig Zeit. An Problemen, die ich mit Zaisser dringend besprechen mußte, herrschte kein Mangel.

Stalins Tod im März 1953 war ein großer Schock. Im Kreml brachen erbitterte Machtkämpfe aus, und die übrigen sozialistischen Staaten Osteuropas waren plötzlich auf sich

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selbst gestellt. Doch diese umwälzenden Konsequenzen wurden mir damals nicht bewußt, denn im Nachrichtendienst waren wir viel zu sehr mit unseren eigenen Problemen beschäftigt. Vieles, was in unserem Land geschah, nahmen wir nur halb wahr, und die Stimmung in breiten Schichten der Bevölkerung war uns nicht wirklich bekannt. Wir lebten in einer eigenen und sehr abgeschotteten Welt. Selbst als Ministerpräsident Grotewohl schon im Dezember 1952. warnend von einer drohenden Versorgungskrise sprach, rüttelte uns das nicht wach.

Ulbricht war die treibende Kraft hinter dem ein Jahr zuvor beschlossenen forcierten Aufbau des Sozialismus. Jeden Widerstand dagegen wischte er als geübter Stalinist mit der These von der gesetzmäßigen Verschärfung des Klassenkampfes, solange die sozialistische Umwälzung noch nicht abgeschlossen ist, vom Tisch. Es kam zu drastischen Steuererhöhungen und Kreditbeschränkungen, zu Zwangsmaßnahmen gegen größere Bauernhöfe, mittlere und kleine Unternehmen und Freischaffende. Besonderen Unmut erregten Vorschriften, die den Freiraum der Kirchen und Geistlichen noch weiter einengten. Am gefährlichsten jedoch waren die Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel und die gleichzeitige Erhöhung der Arbeitsnormen, denn damit brachte die Regierung die Arbeiter gegen sich auf.

Die Konsequenzen waren unübersehbar: Als Reaktion auf den zunehmenden Druck wurde nicht nur immer lauter gemurrt, sondern gehandelt; mehr als 120 000 Menschen stimmten mit den Füßen ab und verließen in den ersten vier Monaten des Jahres 1953 die DDR. Besonnene Politiker wie Ackermann, Zaisser und Rudolf Herrnstadt, der Chefredakteur der Parteizeitung Neues Deutschland, sahen die Entwicklung mit Sorge und plädierten für einen weniger harten Kurs.

Daß ausgerechnet Lawrentij Berija, der gefürchtete Geheimdienstchef, der seit dem Tod Stalins der entscheidende Mann in der sowjetischen Führungstroika war, sich für eine

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Wende in der Deutschlandpolitik aussprach, die den Weg freimachen sollte für ein vereinigtes, demokratisches und neutrales Deutschland, hätte ich nicht in meinen abenteuerlichsten Träumen für möglich gehalten. Heute weiß ich, daß Berija Anfang Juni Vertreter des SED-Politbüros nach Moskau beorderte und ihnen ein Papier mit dem Titel »Über die Maßnahmen zur Gesundung der Lage in der Deutschen Demokratischen Republik« vorlegte. Es enthielt Vorschläge, deren Verwirklichung eine Abkehr vom administrativen Kommandieren bedeutet hätte; eine Verständigung mit der Bundesrepublik wäre in den Bereich des Möglichen gerückt. Berija hatte dabei das langfristige Ziel eines vereinigten, neutralen Deutschlands vor Augen, das sich keinem Bündnis gegen die Sowjetunion anschließen würde – ein von Stalin formuliertes Ziel.

Von diesen dramatischen Entwicklungen und den erbitterten Auseinandersetzungen im Politbüro zwischen Hardlinern und Gemäßigten verlor Zaisser mir gegenüber kein Wort. So kam es, daß ich Ende Mai auf seinen Vorschlag hin mit meiner Familie einen langentbehrten Urlaub antrat und die nächsten Wochen in Prerow an der Ostseeküste mit Baden und Hemingway-Lektüre verbrachte.

In der Zeitung las ich, Politbüro und Regierung hätten schwere Fehler eingestanden und die Revision früherer Entscheidungen angekündigt: Republikflüchtige wurden zur Rückkehr aufgefordert, man versicherte, es werde ihnen nichts geschehen; politische Repressionen und die Diskriminierung junger Christen sollten merklich gemildert werden. Das klang alles sehr vernünftig und beruhigend.

Aber es war zu spät. Am Morgen des 16. Juni brachte der Rundfunk die alarmierende Nachricht, daß Berliner Bauarbeiter von der Stalinallee zum Haus der Ministerien, Görings ehemaligem Reichsluftfahrtsministerium in der Leipziger Straße, marschiert waren. Dort hatten sie in Sprechchören die

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Rücknähme der neuen Arbeitsnormen und soziale Verbesserungen gefordert. Das Gebäude war von Bereitschaftspolizei abgeriegelt worden, die Stimmung drohte überzukochen. Die Streikenden verlangten, daß Ulbricht und Grotewohl sich ihnen zeigten. An ihrer Stelle erschien Industrieminister Fritz Selbmann, ein ehemaliger Bergarbeiter, und versuchte die Menge mit dem Hinweis auf die beschlossenen Reformen zu beruhigen, doch vergebens. Die Unruhen hatten sich bereits ausgebreitet und Großbetriebe in anderen Teilen des Landes erreicht.

Abends telefonierte ich mit Richard Stahlmann, der müde und enttäuscht von einer Parteibesprechung zurückgekommen war. Ulbricht hatte zwar Fehler eingeräumt, aber keine konkreten Vorstellungen erkennen lassen, was in dieser Situation, die keinen Aufschub gestattete, zu tun sei.

Am 17. Juni überschlugen sich die Meldungen. Der Sender RIAS ließ die Chance nicht ungenutzt, massiv zu agitieren. Die ganze Nacht hindurch hatte er Mitteilungen gesendet, welche Kundgebungen wann und wo stattfanden, und die Hörer in Ost-Berlin aufgefordert, teilzunehmen. Ein Betrieb nach dem anderen trat in Streik. Demonstrationszüge bewegten sich von allen Seiten auf die Sektorengrenze am Potsdamer Platz zu, auch von Westen her. Um 13.00 Uhr verhängte der sowjetische Stadtkommandant den Ausnahmezustand.

Nun hielt es mich nicht länger am Urlaubsort. Auf halber Strecke nach Berlin wurden wir kurz vor Neustrelitz von einem sowjetischen Kontrollposten angehalten. Trotz unseres Protests und trotz meines deutschen Polizeiausweises sperrte man uns im Keller der Kommandatur zusammen mit anderen Verdächtigen ein. Dort konnte ich in Ruhe über die wahren Machtverhältnisse in Deutschland nachdenken. Erst als es mir gelang, dem Posten zu beweisen, daß ich Russisch sprach, und ich zum Kommandanten vorgelassen wurde, ließ man uns frei.

Im Stadtbezirk Pankow, wo wir wohnten, hielt ich an, um

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mich zu Hause schnell umzuziehen. Dort berichteten mir mein Vater und meine Schwiegermutter aufgeregt, daß die Arbeiter von Bergmann-Borsig, einem großen Metallbetrieb, direkt an unserem Haus vorbeimarschiert waren und daß mein Vater am Bahnhof Friedrichstraße beinahe vom Mob zusammengeschlagen worden war. Er hatte den Eindruck gehabt, daß viele der jungen Leute im Zentrum aussahen, als stammten sie aus dem Westen und als wären sie nur um des Randalierens willen gekommen.

Die folgenden Tage und Nächte verbrachte ich in meiner Dienststelle. In dieser Zeit des Aufruhrs, als Parteibüros und Verwaltungsgebäude gestürmt wurden und bisweilen in Flammen aufgingen, als sowjetische Panzer durch die Straßen rollten und von Jugendlichen mit Steinen beworfen wurden, als es die ersten Toten und Verletzten gab – und der Aufstand sollte mehr als hundert Menschenleben kosten -, in dieser Zeit wurde mir klar, daß das von unserer Führung in die Welt gesetzte Gerede vom »faschistischen Abenteuer« und vom »konterrevolutionären Putsch« reine Schutzbehauptungen waren. Hätte man rechtzeitig die Funktionäre in den Betrieben über den geplanten neuen Kurs aufgeklärt und sich dem offenen Gespräch mit den unzufriedenen Arbeitern gestellt, wäre die Eskalation des 17. Juni vielleicht zu vermeiden gewesen.

Als Leiter des Außenpolitischen Nachrichtendienstes hatte ich die Aufgabe herauszufinden, inwiefern der Westen bei den Unruhen die Finger im Spiel haben mochte. So gut wir alle wußten, daß die Ursachen hausgemachter Natur waren, so wenig ließ sich übersehen, daß das Aufbegehren von West-Berlin aus nach Kräften geschürt worden war, daß agents provocateurs nach Ost-Berlin gekommen waren, um die Stimmung aufzuheizen. Aus Informationen meines Dienstes, aus Presseveröffentlichungen westdeutscher und amerikanischer Politiker und aus den Verlautbarungen militanter kalter Krieger wie der »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« oder des

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»Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen« Material zusammenzustellen, dem sich entnehmen ließ, daß Pläne bestanden, die DDR zu liquidieren, war ein Kinderspiel. Dieses Material benötigte unsere politische Führung, um die Verantwortung für den 17. Juni einem äußeren Gegner in die Schuhe schieben zu können.

An Material herrschte also kein Mangel: Da hatten sich beispielsweise CIA-Chef Allen Dulles und seine Schwester Eleanor, die im State Department für deutsche Angelegenheiten zuständig war, in der Woche vor dem 17. Juni in Berlin aufgehalten – das mußte doch einen Grund haben. Sogar vom »Tag X«, dem Tag der Machtübernahme durch den Westen in der DDR, dessen Prophezeiung bisher eine Spezialität westdeutscher Boulevardblätter gewesen war, war in der DDR-Presse mit einemmal ganz selbstverständlich die Rede, bewies er doch die Verschwörung des Auslands gegen uns. Und selbst die Einladung zu einer Dampferfahrt der West-Berliner Gewerkschaften, am Vorabend des 17. Juni an Vertrauensleute und Freunde in Ost-Berlin herausgegeben, wurde von Ulbricht sofort zum Kennwort für die Auslösung der Unruhen hochstilisiert.

Ulbricht und seine Gruppierung mußten nach den Ereignissen des 17. Juni nach jedem Strohhalm greifen, denn ihre Position war schwer angeschlagen. Moskau hatte Reformen verlangt, die DDR-Regierung hatte die Sowjetarmee gegen die eigene Bevölkerung zu Hilfe rufen müssen, und im Politbüro besaß Ulbricht keine Mehrheit. Nur Hermann Matern, der Vorsitzende der Parteikontrollkommission, und Ulbrichts junger Protege Erich Honecker unterstützten ihn; alle anderen befürworteten, was Ackermann am heftigsten verlangte: daß er als Generalsekretär abgelöst wurde.

Ulbrichts Rettung war die Nachricht von Berijas Sturz in Moskau. Die sowjetische Parteispitze hatte ganz andere Sorgen, als sich der Ungewißheit auszusetzen, eine neue SED-Führung

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einen neuen Kurs ausprobieren zu sehen, und zog es vor, in der DDR vorerst alles beim alten zu lassen. Sobald Ulbricht sich seiner Sache sicher sein konnte, machte er sich unverzüglich daran, seine ärgsten Kritiker in der Parteiführung auszuschalten. Er prägte die Bezeichnung von der »Zaisser-Herrnstadt-Fraktion« und beschuldigte Zaisser und Herrnstadt des Abweichlertums von der Parteilinie, der Eigenmächtigkeit und der Kontakte zu Berija. Sie wurden aus der Parteiführung ausgeschlossen, mit einem Parteiurteil und Strafen belegt, die sie hinnahmen, ohne zu protestieren. Auf der 35. Tagung des Zentralkomitees im Juli 1953 saß Ulbricht wieder fest im Sattel. Paradoxerweise hatte der 17. Juni ihn und seinen harten Kurs gerettet. Eine Chance war vertan.

Drei Jahre nach diesen Ereignissen machte Rudolf Herrnstadt sich an die Niederschrift des wahren Geschehens und nahm den Kampf um seine Rehabilitierung auf. Wie Wilhelm Zaisser auch sollte er sie nicht mehr erleben. Zaisser war nur noch ein Schatten seiner selbst, durch das Parteiurteil seelisch gebrochen und gesundheitlich gezeichnet.

Warum hatten beide 1953 geschwiegen? Das vermag vielleicht nur der nachzuvollziehen, der die Zeit der Verdrängung unter Stalin, das bittere Schicksal vieler Gefährten und die Macht der Parteidisziplin, die verlangen konnte, daß man sich opferte, ohne den Zweck in Frage zu stellen, selbst erlebt hat.

Männer wie Herrnstadt und Zaisser hatten ihre ganze Kraft der revolutionären Bewegung gewidmet. Eine Konfrontation mit der Partei hätte einen radikalen Bruch mit ihrem bisherigen Leben, mit ihren Wertvorstellungen und Idealen bedeutet.

Rudolf Herrnstadt, ursprünglich Journalist, hatte vor dem Zweiten Weltkrieg für die Sowjetische Militäraufklärung gearbeitet und von Warschau aus ein hervorragendes Agentennetz aufgebaut. Zu seinen besten Leuten gehörten seine erste Frau Ilse Stöbe und Gerhard Kegel aus der deutschen

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Botschaft in Warschau, die beide frühzeitig den bevorstehenden Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion gemeldet hatten. Daß all das offenbar nichts mehr bedeutete, muß Herrnstadt tödlich getroffen haben. In den Aufzeichnungen, die er während seiner »Verbannung« an das Staatsarchiv in Merseburg schrieb, weist Herrnstadt alle Anschuldigungen der Fraktionsbildung zurück, und zugleich zermarterte er sich den Kopf mit der Frage, ob er denn klüger sein könne als die Partei. Das Dilemma überzeugter Kommunisten, das darin ausgedrückt ist, läßt sich vielleicht mit dem Gewissenskonflikt vergleichen, in dem heutzutage Vertreter der Befreiungstheologie stecken, die sowohl soziale Verantwortung empfinden als auch dem Heiligen Stuhl Gehorsam schulden. Noch zu Zeiten, als Herrnstadts Name in der DDR nicht genannt werden durfte, ließ ich als kleine Geste des Respekts einen Film über seine Warschauer Residentur für unsere Ausbilder drehen und setzte mich auch für seine Rehabilitierung ein.

Anton Ackermann hatte bereits 1946 seine Thesen zu einem »deutschen Weg zum Sozialismus« veröffentlicht. Ich hatte darin eine logische Fortsetzung dessen gesehen, was wir an der Komintern-Schule gelernt hatten. Wie Dimitroff oder Tito war Ackermann der Ansicht, daß es sinnlos, ja unmöglich sei, das sowjetische System auf andere Länder zu übertragen. Auch Ackermann hatte sich der Parteiraison beugen müssen und sich von diesen Gedanken öffentlich distanziert – allerdings ohne dabei Schaden zu nehmen. Auch nach seinem Widerruf blieb er im Politbüro der SED bis 1953, wurde 1949 Staatssekretär im Außenministerium der DDR und 1951 erster Leiter des Außenpolitischen Nachrichtendienstes.

Im Zusammenhang mit Herrnstadts und Zaissers Amtsenthebung hatte Ulbricht harsche Kritik an der Staatssicherheit geübt. Das bewirkte eine Untersuchung mit personellen und strukturellen Folgen. Das Ministerium für Staatssicherheit erhielt den Status eines Staatssekretariats und

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wurde in das Innenministerium eingegliedert, dem Willi Stoph vorstand. Der neue Mann an der Spitze der Staatssicherheit hieß Ernst Wollweber. Unser bisher selbständiger Außenpolitischer Nachrichtendienst wurde unter der Bezeichnung Hauptabteilung XV Teil des Staatssekretariats Staatssicherheit, und ich als sein Leiter wurde zum Stellvertreter Wollwebers ernannt und in diesem Amt bestätigt. Zaissers bisherige Stellvertreter – darunter auch Mielke – hingegen mußten warten, bis die Parteikontrollkommission sie überprüft hatte. Man kann sich denken, welche Demütigung es für den ehrgeizigen Mielke bedeutet haben muß, mich neben Stoph und Wollweber am Präsidiumstisch sitzen zu sehen, als die neue Einteilung bekanntgegeben wurde, während er selbst mit den anderen leitenden Offizieren im Saal saß.

Ernst Wollweber, der ein wechselvolles Leben geführt hatte, aus dem er gern erzählte, war in jeder Hinsicht der denkbar größte Gegensatz zu Mielke. Im Ersten Weltkrieg war er Matrose gewesen; bis 1933 hatte er als Abgeordneter im Reichstag gesessen, und als Leiter eines Komintern-Büros in Kopenhagen hatte er im Kampf gegen das Dritte Reich die konspirative Arbeit unter Seeleuten in Gang gesetzt, die im Krieg in Sabotageaktionen eingemündet war. Wollweber verbrachte die Abende meist in Gesellschaft, am liebsten beim Billard, wo Richard Stahlmann zu seinen bevorzugten Partnern gehörte. Dienstlich interessierte er sich wenig für operative Details, um so mehr aber für die politischen Informationen. Der kleine dicke Mann marschierte bei solchen Gesprächen auf dem Teppich seines Arbeitszimmers auf und ab, den ständig ausgehenden Zigarrenstummel im Mund. Seine kritische Distanz zu Ulbricht war mir so wenig verborgen wie sein gespanntes Verhältnis zu Mielke, der seine Ambition, selbst an die Spitze der Staatssicherheit zu gelangen, kaum zu zügeln vermochte.

Wollwebers bewegtes Leben hat sogar die Phantasie Reinhard Gehlens beflügelt. In seinen Memoiren erzählt Gehlen, was ihm

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einer seiner Agenten berichtet hatte, der unter dem Decknamen Brutus in Wollwebers Umgebung saß, als dieser noch Staatssekretär der DDR für Schiffahrt war. Aus Wollwebers buntbewegter Vergangenheit hatte »Brutus« eine weitverzweigte neue »Wollweber-Organisation« gedichtet, die Saboteure aus aller Welt ausbilden und Sabotageakte gegen alle westlichen Staaten vorbereiten sollte. Sogar die Brände auf den Passagierschiffen Queen Elizabeth und Queen Mary schrieb er Wollweber zu. Das einzige Körnchen Wahrheit an diesen Räuberpistolen ist der Umstand, daß Wollweber sich eine Zeitlang mit dem Gedanken trug, in Rostock einen internationalen Seemannsklub zu gründen, doch diese Idee führte zu keinen bemerkenswerten Ergebnissen für den Nachrichtendienst.

Mielke hatte tatsächlich eine Parteistrafe erhalten, und das sollte er nie vergessen. Allein der Name Hermann Matern – des Leiters der Kommission – war seit jener Zeit ein rotes Tuch für ihn, und er ließ nichts unversucht, Matern als Nazi-Kollaborateur zu entlarven. Sein Verdacht rührte daher, daß Matern 1933 nach kurzer Haft von den Nazis entlassen worden war. Für Mielke war jeder ein potentieller Verräter, der lebend einem faschistischen Gefängnis oder einem Konzentrationslager entronnen war. Zu seinem unendlichen Verdruß fand er nichts, was er gegen Matern hätte verwenden können.

Während Mielke die Geschehnisse des 17. Juni zum Anlaß nahm, noch unversöhnlicher und mißtrauischer als bisher »feindlichnegative Kräfte« im eigenen Land zu befehden, ja gar nicht erst keimen zu lassen, richtete mein Dienst den Blick nach Westen und dort in erster Linie auf Bonn.

In den 50er Jahren behaupteten beide deutsche Staaten von sich, als oberstes Ziel die Wiedervereinigung anzustreben. Der Bundesrepublik ging es dabei vorrangig um wirtschaftliche Macht, der DDR um die Durchsetzung ihrer Identität im Ostblock. Schon damals hatte ich den Eindruck, daß diese

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Bekenntnisse auf beiden Seiten rhetorischer Natur waren und daß eine tatsächliche Wiedervereinigung in absehbarer Zeit gar nicht durchsetzbar gewesen wäre.

Unser Dienst lernte indessen seine ersten Lektionen. Als Anfänger muß man immer damit rechnen, alles falsch zu machen, was man nur falsch machen kann, und wir bildeten keine Ausnahme von dieser Regel.

Zehntausende von DDR-Bürgern strömten in jener Zeit über die noch offene Grenze nach West-Berlin und in die Bundesrepublik – nach dem 17. Juni 1953 erheblich mehr als zuvor, und bis Ende 1957 hatten fast 500000 Menschen unser Land verlassen. Es war nicht schwierig, in diesem Flüchtlingsstrom ausgewählte Männer und Frauen mitschwimmen zu lassen. Unsere Leute mußten zwar damit rechnen, in den Flüchtlingslagern von westlichen Diensten ausgefragt zu werden, doch ihre Chancen, mit einer glaubhaften Lebensgeschichte durchzukommen, standen gut. Diese jungen und politisch motivierten Menschen legten den Grundstein für unsere späteren Erfolge.

Dennoch war es schwierig und zeitraubend, solche Kandidaten für die Übersiedlung in die Bundesrepub lik ausfindig zu machen. Allein die Prüfung der politischen Zuverlässigkeit und der charakterlichen Eignung erforderte viel Zeit. Im Unterschied zu unseren Mitarbeitern in der Zentrale störte uns hier eventuelle Verwandtschaft im Westen nicht, sondern war im Gegenteil erwünscht, denn sie konnte die Glaubwürdigkeit unserer Leute »drüben« nur erhärten. Als Grund für das Verlassen der DDR mußten sogenannte dunkle Stellen in der eigenen oder der Vergangenheit eines Angehörigen herhalten – Mitgliedschaft in der Waffen-SS oder in der NSDAP – oder negative Äußerungen über die Politik der DDR oder über Ulbrichts Person.

Die Schulung des auserwählten Agenten erfolgte individuell durch den zuständigen Mitarbeiter. Sie beschränkte sich darauf,

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daß die elementarsten Regeln der Konspiration und das uns bekannte Wissen über die entsprechende Aufgabe vermittelt wurden. Meist mußten unsere Leute anfangs Tätigkeiten mit einfacher körperlicher Arbeit auf sich nehmen, um die Einbürgerungsphase unauffällig hinter sich zu bringen, und deshalb waren uns Kandidaten mit handwerklicher Qualifikation und mit Berufspraxis am liebsten.

Für angeworbene Studenten und Wissenschaftler suchten und fanden wir manchmal auf Umwegen Plätze in den für uns relevanten Einrichtungen wie den Kernforschungszentren in Jülich, Karlsruhe und Hamburg, bei Siemens und IBM und in den Nachfolgeunternehmen des IG-Farben-Konzerns. Auch scheinbar noch unbedeutende Betriebe wie Messerschmitt und Bölkow ließen wir nicht außer acht, weil wir argwöhnten, daß sie künftig mit Rüstungsprojekten befaßt sein könnten. Manche unserer Männer drangen in Geheimhaltungsposten vor, andere in hochdotierte Wirtschaftspositionen. Auch die Verbindungen zwischen den Wissenschaftlern beider deutscher Staaten suchten wir zu nutzen, um uns genauer über den Stand der westdeutschen Wiederaufrüstung zu informieren. Von nicht geringerem Interesse waren Beziehungen zu den deutschen Wissenschaftlern in den USA um Wernher von Braun.

Weit schwieriger war es, unsere Übersiedler in Bonn und an anderen Orten in die politischen und militärischen Zentren einzuschleusen. Die Möglichkeiten, Leute dort zur Zusammenarbeit zu motivieren, waren äußerst begrenzt. Wieviel leichter hatten es da die westlichen Dienste in Ost-Berlin! Wie Ernst Reuter es so richtig ausdrückte, bildete West-Berlin einen »Stachel im Fleisch der DDR«. Während der Westen aus dem Vollen schöpfen konnte, mußten wir uns mit einem Häuflein Idealisten zufriedengeben, die nichts mitbrachten als ihre Bereitschaft, alles aufs Spiel zu setzen.

Mein erster Übersiedlungskandidat war »Felix«, den ich im Frühjahr 1952 noch zusammen mit Gustav Szinda anwarb. Als

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erstes schickten wir ihn nach Hamburg, für einen Übungseinsatz, den er für seinen ersten Ernstfall hielt. Er sollte nach einem Vortreff in Nähe des Bahnhofs an den Eibbrücken einen Mann treffen, der ihm Material übergeben würde. Seit er den Zug verlassen hatte, sah er sich von den immer gleichen Männern beschattet, die sich einfach nicht abschütteln ließen. Deshalb gab er beim Vortreff das vereinbarte Warnzeichen, worauf das eigentliche Treffen nicht mehr stattfand. Als wir sein Verhalten analysierten, merkten wir, daß er vor Aufregung jeden Mann in einem der damals verbreiteten Staubmäntel für einen Verfolger gehalten hatte. Trotzdem wurde »Felix« zu einem unserer besten Agenten, der sich als zunehmend kaltblütig erwies. Oft sind es gerade die anfangs zurückhaltenden Erscheinungen, die wahren Mut besitzen und sich in der Gefahr bewähren, während Draufgänger in brenzligen Situationen die Courage verlieren oder durch Tollkühnheit alles verderben.

Als Vertreter einer Firma, die Frisiersalons einrichtete, ließ »Felix« sich zunächst in Köln nieder. Seine Aufgabe war es, sich dort dem Bundesamt für Verfassungsschutz zu nähern. Da er jedoch als Vertreter häufig in Bonn zu tun hatte, weckte das in uns den Gedanken, ihn das Bundeskanzleramt auskundschaften zu lassen, zu dessen Leiter Globke vor kurzem aufgestiegen war. Jeder von uns wußte, daß es so gut wie aussichtslos war, sich diesem streng bewachten Objekt nähern zu wollen nicht umsonst hatte unsere zuständige Abteilung bisher völlig versagt. »Felix« mischte sich unter die Wartenden der nächstgelegenen Bushaltestelle und vertraute auf seinen Charme. Auf diese ausgesprochen schlichte Weise lernte er die Frau kennen, die unsere erste Quelle im Bundeskanzleramt werden sollte und die wir Norma nannten.

»Norma« wurde von uns nicht angeworben und lieferte auch keine Geheiminformationen, aber das, was sie »Felix« erzählte, ermöglichte uns ein systematischeres Vorgehen als bisher. Sie war keine Schönheit, er hatte sie nur aus Berechnung

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angesprochen, doch mit der Zeit wurden beide ein Liebespaar und zogen zusammen, und er fühlte sich auch für ihren Sohn verantwortlich. Eine Heirat war selbstverständlich ausgeschlossen, denn eine Routineüberprüfung wäre nicht zu umgehen gewesen, und so ein Risiko konnten wir nicht eingehen.

Einige Jahre später erfuhren wir durch eine andere Quelle, daß der Verfassungsschutz sich für »Normas« Lebensgefährten interessierte, und wir zogen »Felix« ab. Erst als ich ihm in Berlin gegenübersaß, wurde mir klar, wie eng die Bindung zwischen ihm und »Norma« geworden war. Dennoch erklärte er von sich aus, daß es keinen Sinn habe, sie nachzuholen zu versuchen. Ein Leben in der DDR war für sie nicht vorstellbar. So gesehen, war dies mein erster Romeo-Fall mit tragischem Ausgang.

Neben diesen Übersiedlungsaktionen versprachen wir uns größere Erfolge von den vielfältigen Ost-West- und West-Ost-Kontakten. Gesamtdeutsche Begegnungen und Veranstaltungen waren ideale Schauplätze, um interessante Verbindungen anzubahnen. In kurzer Zeit etablierten wir in Parteien und Organisationen der DDR, die über sogenannte Westabteilungen verfügten, veritable legale Residenturen – häufig mit der Westabteilung identisch.

So entstanden politische Beziehungen zu Personen, die aus den unterschiedlichsten Motiven mit Adenauers Politik nicht einverstanden waren, wie dem Altkanzler der Weimarer Republik, Dr. Joseph Wirth. Er hatte im Zweiten Weltkrieg in die Schweiz flüchten können und war Gerüchten zufolge von dort aus in Kontakt zum Widerstand in Deutschland, aber auch zu Geheimdiensten der UdSSR und der westlichen Alliierten getreten.

Ähnlich wie im politischen Bereich ergaben sich auch auf wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Gebiet Kontakte, besonders auf der Leipziger Messe, wo gerade die strengen

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Restriktionen vertrauliche Verhandlungen und illegale Transaktionen im sogenannten Interzonenhandel zum Erblühen brachten.

Auf diese Weise lernte ich Christian Steinrücke kennen, der im Stahlgroßhandel der Bundesrepublik tätig war. Ich gab mich als General aus, im Verteidigungsministerium unter Willi Stoph tätig. Schon während des Essens freundeten wir uns an, und abends tranken wir Brüderschaft. Völlig überraschend stellte er mich am nächsten Vormittag bei einer internen Beratung der westdeutschen Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl als seinen Mitarbeiter vor. Keiner der Anwesenden schien sich darüber zu wundern – im Unterschied zu mir waren sie Steinrückes exzentrische Art offenbar gewohnt. Mit dem Ruf eines Homosexuellen mit unkonventionellem Lebensstil war Steinrücke das schwarze Schaf seiner Familie, die stets bemüht war, seine Eskapaden ohne allzuviel Aufsehen auszubügeln. Er war mit einer geborenen Werhahn verheiratet, der Tochter eines der mächtigsten Männer des deutschen Großkapitals. Der Bruder seiner Frau war Adenauers Schwiegersohn. Man kann sich vorstellen, daß meine Ohren glühten, als ich das hörte. Doch damit nicht genug: Kardinal Frings, der einflußreichste Würdenträger der katholischen Kirche im Deutschland jener Zeit, war ein Onkel seiner Frau, und enge Beziehungen verbanden ihre Familie mit den Bankiers Abs und Pferdmenges.

Unsere Verbindung hielt mehrere Jahre an. Ich hatte mir eigens einen fiktiven Familienhintergrund ausgedacht: Eine Ansagerin des DDR-Fernsehens fungierte als meine Ehefrau, Fotos ihrer Kinder zierten die Wände der kleinen Villa, die ich Steinrücke als mein Domizil präsentierte. Obwohl unser Kontakt nie so eng wurde, daß ich es gewagt hätte zu versuchen, Steinrücke anzuwerben, waren die Gespräche mit ihm sehr ergiebig, denn Steinrücke war Berater des Lockheed-Konzerns und unterhielt gute Beziehungen zu General Steinhoff, dem Chef der bundesdeutschen Luftwaffe, und er wußte über Franz

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Josef Strauß' Rolle im Starfighter-Skandal zweifellos mehr, als er mir gegenüber andeutete.

Daß unser Kontakt abbrach, war meine Schuld. Über Steinrücke hatte ich Dr. Walter Bauer kennengelernt, der im Interzonenhandel tätig war, einen scheinbar unbedeutenden Geschäftsmann, der offiziell im Lausitzer Braunkohlerevier Stearin in Form von Kerzenbruch billig aufkaufte. Da er vor 1945 im Flickkonzern, dem damaligen Eigentümer der Lausitzer Braunkohle, eine hohe Stellung innegehabt hatte, lag der Verdacht nahe, daß er in Wahrheit für seinen alten Dienstherrn in der Lausitz nach dem Rechten sehen sollte. Ein Foto, das ihn an der Seite Adenauers im Präsidium eines Kirchentags zeigte, paßte ebenfalls wenig zum Bild des kleinen Händlers. Besonderes Interesse an Bauer hatte ich wegen dessen enger Beziehung zu Dr. Gisevius, der mir vom Nürnberger Prozeß noch gut als Verbindungsmann des bürgerlichen deutschen Widerstands gegen Hitler zum amerikanischen Geheimdienst OSS, dem Vorläufer der CIA, in Erinnerung war. Ich vermutete deshalb in Bauer einen Verbindungsmann zum US-Geheimdienst.

Bewaffnet mit diesem Wissen und mit dem Verdacht, daß es in Bauers Geschäften mit und in der DDR möglicherweise zu Unregelmäßigkeiten gekommen war, glaubte ich, einen Frontalangriff wagen zu können. Zum von Steinrücke eingefädelten Treffen erschien ein kleiner, rundlicher Mann in einem Anzug, der genauso unscheinbar wirkte wie seine abgegriffene Aktentasche. Sehr schnell mußte ich mir eingestehen, daß ich es mit einem gewieften Burschen zu tun hatte, der für einen Grünschnabel wie mich einige Nummern zu groß war. Davon, ihn einzuschüchtern, gar unter Druck zu setzen, konnte nicht die Rede sein.

Als Steinrücke dem nächsten mit mir vereinbarten Treffen fernblieb, war mir klar, daß Bauer ihn sich vorgeknöpft haben mußte. Tatsächlich hatten Beamte des amerikanischen

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Geheimdienstes ihn einer hochnotpeinlichen Befragung unterzogen, ihn über meine wahre Identität aufgeklärt und ihn vor mir gewarnt.

Durch mein unbedachtes Vorpreschen gegenüber Bauer hatte ich den wertvollen Kontakt zu meinem ahnungslosen Informanten Steinrücke ohne Not zerstört. Schmerzlich sollte ich daran zurückdenken, als Mitte der 70er Jahre in Zusammenhang mit der Starfighter-Affäre immer wieder der Name Steinrücke fiel.

Bei einem anderen Kontakt hätte mir wahrscheinlich auch mehr Geduld nicht mehr Erfolg bescheren können. Carl Hundhausen, ein Vorstandsmitglied des Krupp-Konzerns, lernte ich auf der Leipziger Messe kennen. Bei der Erörterung politischer Fragen zeigte er sich aufgeschlossen, die Bonner Regierung kritisierte er offen ob ihrer restriktiven Haltung im Interzonenhandel, doch ich mußte begreifen, daß er beabsichtigte, mich als vermeintlichen Regierungsvertreter der DDR für die Ziele der Krupp-Stiftung einzuspannen, und keineswegs vorhatte, sich von mir für meine Zwecke einspannen zu lassen.

Wesentlich mehr Glück hatte ich bei Dr. Heinrich Wiedemann, einem Anhänger und guten Bekannten Joseph Wirths. Er war nicht nur ein engagierter Befürworter der Wiedervereinigung und Gegner der Anbindung Bonns an Washington, sondern ließ mich auch bald diskret merken, daß er nicht abgeneigt war, ein konkretes Angebot unterbreitet zu bekommen.

Wir setzten einen Vertrag auf. Wiedemann sollte in Bonn mit finanzieller Starthilfe unsererseits ein »Büro Wirtschaftshilfe für Festbesoldete« eröffnen, das ihm – und damit uns – den Zugang zu sämtlichen Ministerien und deren Mitarbeitern ermöglichte. Sobald Gewinne erwirtschaftet würden, wäre mein Dienst entsprechend der Höhe unserer Einlage in bester kapitalistischer Manier daran beteiligt gewesen. Doch dazu sollte es leider nie

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kommen; statt dessen mußten wir im Lauf der Zeit die Kosten allein aufbringen, weil Wiedemanns Büro nichts abwarf.

Nachrichtendienstlich sah die Sache besser aus. Vor allem Wiedemanns Freundschaft mit Dr. Rudolf Kriele, als Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt für Verteidigungspolitik und Militärbündnisse zuständig, machte sich bezahlt. Der hochkarätige Geheimnisträger verkehrte ahnungslos in unserem Büro, trank mit unserem Mann beste Rheinweine und erzählte ihm so manche Interna.

Das stachelte unseren Ehrgeiz an: Im Geiste sahen wir das Büro bereits als Dach einer illegalen Residentur, als Drehscheibe in Krisensituationen, wenn andere Verbindungskanäle zu riskant gewesen wären. Den zum Residenten ausersehenen Kandidaten machten wir mit den einschlägigen Techniken für Entgegennahme, Bearbeitung und Weiterleitung größerer Mengen von Informationen vertraut; außerdem wurde er für besagte Krisenmomente am Funkgerät und am Schnellgeber ausgebildet und in Abhörtechnik unterwiesen, damit er wichtige Gespräche aufnehmen konnte.

Die Einschleusung unseres Residenten dauerte mehrere Monate. Unterdessen warben wir mit Wiedemanns Hilfe seine Lebensgefährtin an, die wir unter dem Decknamen Iris auf die Gehaltsliste des Büros setzten. Inzwischen stellten wir besorgt fest, daß das Mißverhältnis zwischen Kosten und Ertrag des Büros immer krasser wurde, und wir befürchteten, daß es nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis die Finanzbehörden mißtrauisch werden und am Ende gar die Spionageabwehr informieren würden.

Die Entscheidung über die Zukunft der »Wirtschaftshilfe für Festbesoldete« wurde uns unversehens aus der Hand genommen. Ein Mitarbeiter aus unserer Zentrale setzte sich in den Westen ab, und wir sahen uns genötigt, den Residenten aus Wiedemanns Büro umgehend abzuziehen, damit er nicht verraten werden konnte.

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Als Trostpreis blieb uns »Iris« erhalten. Als Kriele aus dem Bundeskanzleramt als Ministerialdirektor in das Ministerium für Wissenschaft und Bildung versetzt wurde, machten wir zuerst lange Gesichter. Immerhin rückte »Iris« dort mit seiner Protektion bis zur Ministersekretärin auf und arbeitete bei den Ministern Lenz, Stoltenberg und Leussink, bis sie 1970 enttarnt und verhaftet wurde. Wir verdankten ihr detaillierte Informationen über Kabinettssitzungen und Forschungsprojekte, die unsere Arbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichtechnischen Aufklärung beträchtlich erleichterten. Das Gerichtsverfahren gegen Wiedemann, der »Iris« angeworben hatte, wurde aus Alters- und Gesundheitsgründen eingestellt.

Neben Dr. Wiedemanns Büro ließ sich im Bonn der 50er Jahre der Salon einer Dame recht vielversprechend an. Susanne Sievers – so hieß sie – war uns aufgefallen, als wir vor einer Amnestie die Liste der zur Entlassung vorgesehenen Häftlinge durchsahen. 1951 war sie auf der Fahrt zur Leipziger Messe verhaftet und wegen DDRfeindlicher Tätigkeit zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Als Beruf hatte sie freie Journalistin angegeben, und das machte meine Leute neugierig. Bevor sie von ihrer bevorstehenden Entlassung erfuhr, suchte einer unserer Mitarbeiter sie im Gefängnis auf. Zu seiner Überraschung sah er sich einer großen, schlanken Frau von Mitte Dreißig gegenüber, deren selbstbewußte Ausstrahlung durch die Häftlingskleidung nicht gemindert war. Sie beschwerte sich massiv über das Unrecht, das sie erdulden mußte, und machte aus ihrer antikommunistischen Einstellung kein Hehl. Trotzdem war sie bereit, sich nach ihrer Entlassung mit unserem Abgesandten an der Warschauer Brücke in Ost-Berlin zu treffen. Bei dieser zweiten Begegnung erklärte sie sich bereit, für uns zu arbeiten.

Lydia, so lautete unser Deckname für Susanne Sievers, richtete in Bonn eine gastliche Wohnung ein, in der sie eine Art

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Salon führte, wo Abgeordnete und Politiker sich zwanglos einfanden, darunter Franz Josef Strauß und Willy Brandt, mit dem Susanne Sievers vor ihrer verhängnisvollen Reise zur Leipziger Messe eine leidenschaftliche Affäre gehabt hatte. Durch sie erfuhren wir, daß Strauß nicht zu jeder Stunde der fanatische Sozialistenfresser war, den er vor der Öffentlichkeit abgab, sondern ein nüchtern denkender Pragmatiker.

Dank »Lydia« waren wir auch über die Organisation »Rettet die Freiheit« bestens informiert, an deren Spitze Rainer Barzel stand, damals ein junger Protege Adenauers. Diese Organisation zog die Fäden auf einem extrem rechten Flügel der Politik; sie unterstützte Otto von Habsburg in seinem Vorhaben, König von Ungarn zu werden, und führte einen regelrechten Kreuzzug gegen jeden Politiker der Bundesrepublik, der auch nur entfernt im Verdacht stand, kein Rechter zu sein.

»Lydias« große Stunde schien gekommen, als sie uns Anfang der 60er Jahre ankündigte, Brandt und Strauß hätten sich zu einem Gespräch unter vier Augen in ihrer Wohnung verabredet. Zeichneten sich da etwa erste Schritte zu einer großen Koalition zwischen CDU und SPD ab? Wir waren mehr als gespannt, aber über Verlauf und Ausgang dieses Gesprächs konnte ich mich erst Jahrzehnte später bei der Lektüre von Willy Brandts Memoiren informieren, denn es fand nach dem Mauerbau im Sommer 1961 statt, und von diesem Zeitpunkt an hatte Susanne Sievers jeden Kontakt zu uns abgebrochen.

Ich habe mich oft gefragt, was sie dazu bewogen haben kann, trotz ihrer Ablehnung der DDR und trotz des Gefängnisaufenthalts regelmäßig zu konspirativen Treffen zu kommen und zuverlässig Informationen für uns zu sammeln. Die finanzielle Entschädigung reichte aus, um ihre Unkosten zu decken, mehr nicht. Wäre sie eine Doppelagentin gewesen, hätte sie versucht, Einzelheiten über unseren Dienst in Erfahrung zu bringen, aber das war nie der Fall.

Später fanden wir heraus, daß Susanne Sievers in den 60er

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Jahren zum Bundesnachrichtendienst übergewechselt und in Hongkong, Tokio, Manila, Jakarta und Singapur eingesetzt worden war. Aus BND-Akten erfuhren wir, daß ihr Vorgesetzter für 1968 beim Leiter des Strategischen Dienstes 96000 DM für sie angefordert hatte – ein kleiner Fisch kann sie also nicht gewesen sein -, und Gerüchten zufolge soll sie bei Beendigung der Zusammenarbeit vom BND eine Abfindung von 300000 DM erhalten haben.

Die Berliner Außenministerkonferenz der Siegermächte im Januar 1954 unterschied sich von den vorangegangenen Treffen nur dadurch, daß ihr erfolgloser Ausgang von vornherein feststand. Jeder kannte die Karten des anderen, ein Bluff war ausgeschlossen. Dennoch bescherte die Konferenz den versammelten Nachrichtendiensten aus aller Welt eine Zeit hektischer Betriebsamkeit. Unser eigener Apparat, noch nicht ganz flügge, war auf ein solches Ereignis nur unzulänglich vorbereitet, und unsere sowjetischen Berater geizten nicht mit Ratschlägen. Auf einer Besprechung belehrte uns ein eigens aus Moskau angereister Offizier, für Anlässe wie diesen benötige man unbedingt eine malina. Der Dolmetscher stutzte, und ich erklärte meinen Mitarbeitern, daß das russische Wort für Himbeere im Ganovenjargon eben auch ein Puff bezeichne.

Wir sollten also ein Bordell fingieren, um dort Konferenzteilnehmer auszuhorchen und zu kontaktieren. Das war leichter gesagt als getan, denn in diesem Zweig des Spionagegewerbes hatten wir nicht die geringste Erfahrung. In aller Eile richteten wir ein Häuschen im Berliner Vorort Rauchfangswerder als Liebesnest her: unten das Wohnzimmer mit Seeblick und von uns installierter Abhörvorrichtung, oben unter der Dachschräge ein winziges Schlafzimmer mit in die Deckenbeleuchtung eingebautem Fotoapparat samt Blitzlicht hinter infraroten Scheiben. Der Bedauernswerte, der diese Apparatur bediente, mußte sich in ein enges Verlies von einem Wandschrank zwängen und konnte sich erst bewegen, wenn

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Dame und Begleiter das Schlafzimmer verlassen hatten. Als nächstes galt es, geeignete Damen zu finden. Anfangs

waren wir so blauäugig, den ehemaligen Chef der Berliner Sittenpolizei um Hilfe zu bitten, doch als die Prostituierten aus dem Scheunenviertel, die er anschleppte, Stahlmann unter die Augen kamen, bemerkte dieser nur lakonisch: »Die würden nicht mal für eine Mark einen Freier kriegen« und machte sich selbst auf die Suche. In einem Cafe engagierte er ein paar attraktive und abenteuerlustige Mädchen, die nicht abgeneigt waren, dem sozialistischen Vaterland einen Gefallen zu tun und sich ein bißchen Geld dazuzuverdienen.

Inoffizielle Mitarbeiter unseres Dienstes sollten nach West-Berlin ausschwärmen, im Pressezentrum oder in Lokalen Kontakte anknüpfen und die Kandidaten zu einem zwanglosen Abend mit Damenbegleitung einladen.

Die Konferenz begann, unser Team wartete ungeduldig, aber kein Gast ließ sich blicken. Am letzten Tag endlich erschien einer unserer Mitarbeiter mit einem westdeutschen Journalisten. Wenn ich nicht irre, hieß er Jansen. Unser Team rotierte. Speisen und Getränke wurden aufgetischt, die Damen setzten sich in Positur. Beim Aperitif wurden zwei Gläser verwechselt, so daß der Malina-Chef und nicht der Gast das Aphrodisiakum zu sich nahm. Als Dessert gab es beschlagnahmte Pornofilme, vom Sittenexperten beigesteuert. Der Gast reparierte zuerst den Vorführapparat, und während unsere Leute wie gebannt auf die Leinwand starrten, zog er sich gelangweilt in die Küche zurück, wo er sich mit der Haushälterin unterhielt. Für die Damen zeigte er nicht das geringste Interesse. Schließlich richtete er sich zur Nacht auf zwei aneinandergeschobenen Sesseln ein und bewachte den Schlaf unseres auf dem Sofa entschlummerten Leiters.

Am nächsten Morgen hatte unser Gast als einziger einen klaren Kopf. Er wußte, was wir von ihm wollten, schien nicht abgeneigt, uns mit Informationen zu versorgen, und machte ein

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weiteres Treffen aus. Zu diesem Treffen erschien statt seiner ein anderer Journalist, ein gewisser Heinz Losecaat van Nouhuys, der sich als Redakteur des Spiegel ausgab. Ob die beiden den Tausch auf eigene Faust vollzogen haben, oder ob von Anfang an ein westlicher Geheimdienst dahintersteckte, habe ich nie herausgefunden. Van Nouhuys, Deckname Nante, ein windiger, gewiefter Journalist, erwies sich als überaus williger und diensteifriger Agent. Er behauptete, in West-Berlin nahezu alle wichtigen Leute zu kennen. Sein Eifer stimmte mich mißtrauisch. Die Informationen, die er lieferte, hielten unseren Überprüfungen stand. In den 70er Jahren bestätigte sich mein ursprünglicher Verdacht: van Nouhuys, inzwischen Chefredakteur der Quick, wurde vom Stern entlarvt.

Die Erfahrung, die wir mit unserer malina gemacht hatten, sollte sich bei ähnlichen Anlässen wiederholen – die, daß Aufwand und Ergebnis in keinerlei vernünftigem Verhältnis standen. Internationale Tagungen und Olympische Spiele boten lediglich unseren Mitarbeitern Gelegenheit, sich den Wind der großen, weiten Welt um die Nase wehen zu lassen, aber brauchbare Kontakte wurden so nicht geknüpft.

Der fehlgeschlagene Anwerbeversuch mit Dr. Bauer und der Mißerfolg unseres Etablissements in Rauchfangswerder hatten mir eindrücklich vor Augen geführt, daß es unverzichtbar war, sich eine Vielzahl von Quellen zu schaffen und im Umgang mit ihnen Fingerspitzengefühl walten zu lassen. Nicht daß Fingerspitzengefühl immer die starke Seite unserer Mitarbeiter gewesen wäre. Gut erinnere ich mich an den FDP-Bundestagsabgeordneten Artur Stegner und seinen Bruder Herbert, denen es gelang, unserem Dienst, für den sie sich hatten anwerben lassen, glänzende Zukunftsaussichten Arturs als Vizekanzler einer CDU/FDP-Koalition vorzugaukeln und uns geschickt das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die Ernüchterung kam, als wir abgehörte Gespräche der Brüder auswerteten und begriffen, daß sie nichts zu bieten hatten und uns nur wie kleine

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Gauner ausnehmen wollten. So wenig schmeichelhaft es war, mitanzuhören, wie sie die Intelligenzbestie – gemeint war ich – übers Ohr zu hauen gedachten – was der Unverfrorenheit die Krone aufsetzte, war die Gemütsruhe, mit der sie in unserer Villa in Rauchfangswerder Teile des Silberbestecks in ihren geräumigen Aktentaschen mitgehen ließen. Als Artur Stegner 1957 nicht wiedergewählt wurde, brachen wir den Kontakt erleichtert ab.

Größeren Gewinn brachte die Beziehung zu Dr. Günther Gereke, einem der Mitbegründer der CDU, der unter den Nazis inhaftiert gewesen war und zum Kreis der Verschwörer des 20. Juli gehört hatte. Nach dem Krieg war er als Gutsbesitzer in der sowjetischen Besatzungszone enteignet worden und hatte sich in der britischen Zone zum stellvertretenden Regierungschef des Landes Niedersachsen hochgearbeitet. Seine Verbindung zu Kurt Vieweg, dem Sekretär des Zentralkomitees der SED, war über den von Vieweg geleiteten gesamtdeutschen Arbeitskreis der Land- und Forstwirtschaft entstanden. In konspirative Bahnen wurde sie gelenkt, nachdem Gereke sich 1950 mit Ulbricht getroffen hatte, um sein Mißfallen an Adenauers Deutschlandpolitik zu demonstrieren, und aufgrund dieses Treffens prompt aus der CDU ausgeschlossen worden war.

Nach dem Ausschluß aus der CDU unternahm Gereke mehrere Versuche, eine neue Partei ins Leben zu rufen, und 1950 gründete er mit Billigung und Unterstützung Viewegs die DSP – Deutsche Soziale Partei -, Sammelbecken für Kräfte, die von rechts, aber auch von links her in Opposition zu Adenauers Politik standen – Nationalisten, Militärs, ehemalige NS-Bauernfunktionäre und Kommunisten.

Leider sahen wir uns bald gezwungen, diesen wertvollen Informanten zum Übertritt in die DDR zu bewegen, denn wir erfuhren, daß sein persönlicher Mitarbeiter mit hoher Wahrscheinlichkeit für den britischen Geheimdienst arbeitete. Wir beschlossen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und

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Gereke auf einer Pressekonferenz als Überläufer aus Gewissensgründen zu präsentieren. Bei unserer politischen Führung fand Gerekes öffentlicher Auftritt großen Anklang – mehr Anklang, als mir lieb sein konnte, wie ich wenig später erkennen mußte.

Während ich im Sommer 1954 nichtsahnend am Schwarzen Meer Urlaub machte, überlegte man in Berlin, wie man der Bundesrepublik möglichst publikumswirksam den Beitritt zu einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft erschweren könnte. Auf Weisung Wollwebers wurden meine Unterlagen durchforstet, und dabei stieß man auf eine Quelle namens »Timm«.

Hinter diesem Decknamen verbarg sich der CDU-Bundestagsabgeordnete Karlfranz Schmidt-Wittmack, Mitglied der Parlamentsausschüsse für Fragen der europäischen Sicherheit, für gesamtdeutsche und Berliner Fragen, ein Mann, der eine steile Karriere vor sich hatte. Schmidt-Wittmack stammte aus einer gutbürgerlichen Familie und war gewiß kein Linker. Dennoch hatte er für die Parteiaufklärung der KPD gearbeitet, und seit wir die Verbindung zu ihm wieder aufgenommen hatten, arbeitete er für uns. Er gehörte zu jenen Patrioten, denen Adenauers Politik eine Wiedervereinigung unmöglich erscheinen ließ und die seine Aufrüstungspläne ablehnten.

Als ich aus dem Urlaub zurückkehrte, fand ich Wollwebers Weisung vor, »Timm« sei unverzüglich in die DDR zu bringen. Ich sträubte mich mit Händen und Füßen, meine Spitzenquelle in der CDU zu opfern, nur um eine Pressekonferenz zu veranstalten, auf der mein Mann obendrein Thesen vertreten sollte, die er weder kannte noch gutheißen dürfte. Schmidt-Wittmacks Informationen über geheime Ausschußsitzungen waren von unschätzbarem Wert, besonders über die Haltung der Bundesrepublik zu einem amerikanisch dominierten Militärbündnis. Ich bestürmte Wollweber, doch er wiederholte

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nur, es sei alles beschlossene Sache. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu überlegen, wie ich

Schmidt-Wittmack dazu überreden wollte, sich in die DDR abzusetzen. Wir kannten uns nicht persönlich, und bei unserer ersten Begegnung – in derselben Villa, in der ich mit dem Doppelagenten »Merkur« gesprochen hatte – blieb die Atmosphäre reserviert bis frostig. Was ich als Argumente für einen Übertritt vorbrachte, überzeugte mein Gegenüber ganz und gar nicht. Ich war mit meinem Latein am Ende, da fiel mir Gerekes Fall ein, und ich griff zu einer daraus abgeleiteten Notlüge. Ich behauptete, das Bundesamt für Verfassungsschutz sei auf Schmidt-Wittmack aufmerksam geworden und beabsichtige, ihn zu verhaften. Das war schon besser, und nach kurzer Bedenkzeit sagte er, er sei einverstanden, vorausgesetzt, seine Frau, die mit den zwei Kindern nichtsahnend in Hamburg saß, sei es ebenfalls.

Karlfranz Schmidt-Wittmack 1954

Er schrieb einen Brief an seine Frau, den ein Kurier nach

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Hamburg brachte, und kurz darauf stand sie mitsamt den Kindern vor der Tür unserer konspirativen Villa. Die Verhandlungen mit ihr gestalteten sich auf andere Weise schwierig als die mit ihrem Mann. Sie wußte zwar um seine geheimdienstliche Tätigkeit, konnte sich ein Leben in der DDR aber ebensowenig vorstellen wie ein Leben auf dem Mond. Zu guter Letzt siegte ihr weiblicher Pragmatismus; vor der Alternative Gefängnis für ihren Mann im Westen oder Haus am See in der DDR entschied sie sich für das geringere Übel. Schulferien und Parlamentspause in Bonn halfen uns, die Abwesenheit der Familie für einige Tage abzudecken und den wichtigsten persönlichen Besitz unauffällig zu überführen.

Am 26. August 1954 trat Schmidt-Wittmack in Ost-Berlin vor die Presse. Seine Enthüllungen besagten, daß Adenauer den Bundestag in wesentlichen Fragen der Außenpolitik und der Aufrüstung hintergehe und Entscheidungen treffe, die seinen öffentlichen Verlautbarungen widersprachen. Außerdem verkündete er eine Information, die uns der sowjetische Geheimdienst hatte zukommen lassen, daß nämlich ein Mobilmachungsplan für die Aufstellung eines bundesdeutschen Kontingents von vierundzwanzig Divisionen auf geheimen Sonderkonferenzen beschlossen worden sei.

Inzwischen waren wir uns menschlich nähergekommen, und mit Anteilnahme verfolgte ich Schmidt-Wittmacks weiteren Lebensweg. Als Vizepräsident der Kammer für Außenhandel hatte er eine Funktion inne, die ihn wenigstens teilweise für das entschädigte, was er hatte aufgeben müssen. Sein Los war zumindest rosiger als das Gerekes, der einen Vorruhestands-Funktionärsposten in der Nationaldemokratischen Partei erhalten hatte, einem Sammelbecken ehemaliger Soldaten, selbständiger Handwerker und Kleinunternehmer.

Der spektakulärste Übertritt jene r Jahre fand allerdings ohne unser Zutun statt, und der Überläufer war nicht für uns tätig gewesen, sondern im Gegenteil von Amts wegen dafür

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zuständig gewesen, unsere Quellen aufzuspüren und zu enttarnen. Am 20. Juli 1954 verschwand Dr. Otto John, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, nach einer Gedenkveranstaltung zum zehnten Jahrestag des mißglückten Attentats auf Hitler in West-Berlin. Johns letzte Spur führte zu dem mit ihm bekannten Arzt Dr. Wolfgang Wohlgemuth. Es hatte den Anschein, daß beide mit Wohlgemuths Auto nach Ost-Berlin gefahren waren. Kaum hatte die Bundesregierung am Abend des 23. Juli erklärt, John könne »das Bundesgebiet nicht freiwillig verlassen« haben, übertrug der DDR-Rundfunk eine Ansprache Johns, in der dieser das Gegenteil versicherte.

Auf einer kurz darauf anberaumten Pressekonferenz wiederholte John, er sei politisch unabhängig, und beschuldigte die Bundesregierung, sich durch Adenauer als »Werkzeug der amerikanischen Politik in Europa« mißbrauchen zu lassen und innenpolitisch alte Nazis zu schützen, ehemalige Widerstandskämpfer hingegen zu benachteiligen;

Otto John

als Beispiel führte er die Praxis des Amtes Blank und der

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Organisation Gehlen an, einstige SD- und SS-Chargen in führender Stellung zu beschäftigen. Dieser öffentliche Auftritt schlug in beiden Teilen Deutschlands wie die sprichwörtliche Bombe ein und stürzte den westdeutschen Verfassungsschutz in eine schwere Krise.

Johns politische Vergangenheit ließ die Gründe, die er für seinen Übertritt vorbrachte, glaubwürdig erscheinen. Er hatte als überzeugter Gegner des NS-Regimes zu den Verschwörern gegen Hitler gehört und hatte im Auftrag Stauffenbergs versucht, Kontakte zu Eisenhower und Churchill herzustellen. Heute vermutet er, daß seine Botschaften beim britischen Geheimdienst von Kim Philby, dem KGB-Maulwurf, abgefangen und unterdrückt wurden. Den tragischen Ausgang des Attentats am 20. Juli 1944 hatte er miterlebt und war über Madrid und Lissabon nach England geflüchtet, wo Sefton Delmer ihn mit Propagandasendungen betraute. Bei den Nürnberger Prozessen hatte John gegen die Feldmarschälle von Brauchitsch, von Rundstedt und von Manstein ausgesagt.

Eine diplomatische Karriere, wie sie ihm vorschwebte, scheiterte am Korpsgeist der politisch eindeutig vorbelasteten Ribbentrop-Clique in der Bundesrepublik. Daß er statt dessen zum Präsidenten der Verfassungsschutzbehörde ernannt wurde, die in der britischen Zone ihren Sitz hatte, paßte Adenauer und dessen Staatssekretär Globke wiederum nicht. Besonders Globke hatte von Anfang an die Organisation Gehlen favorisiert, mit Sonderrechten versehen und unverhüllt protegiert, während er dem Bundesamt für Verfassungsschutz die kalte Schulter zeigte. Als ausgemachte Brüskierung mußte John es empfinden, daß man ihm den vormaligen Vizepräsidenten der Organisation Gehlen in sein Amt gesetzt hatte, fraglos als Aufpasser. Vor dem Hintergrund all dessen erschien ein Übertritt Johns in die DDR als nur zu verständlich.

Aus Akten, die ich 1990 einsehen konnte, und aus dem, was John selbst mir bei mehreren Begegnungen 1992. und danach

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erzählt hat, läßt sich ersehen, daß John tatsächlich entführt wurde und daß die Staatssicherheit der DDR sich ähnlich ahnungslos wie er selbst mit dem unerwarteten Gast konfrontiert sah, den ihr die Sowjets unversehens präsentierten.

Offenbar stand Wohlgemuth in Verbindung zum sowjetischen Geheimdienst, und offenbar war er auf die abenteuerliche Idee gekommen, dort Eindruck zu schinden, indem er den obersten Verfassungsschützer als Beute anschleppte und den Sowjets in Karlshorst, dem militärischen Hauptquartier, überreichte. John zufolge hatten beide in West-Berlin kräftig gezecht; John war eingeschlafen und erst in sowjetischem Gewahrsam erwacht. Vermutlich hatte Wohlgemuth seinem Freund ein Betäubungsmittel ins Glas praktiziert. In Karlshorst war der dortige Leiter Ewgeni Pitawranow überrascht, und so wurden Mitarbeiter aus Moskau angefordert, um die Situation zu klären.

Leider sind die Akten zum Fall John zwar umfangreich, aber arm an Aussagen, und über den weiteren Verlauf der Entführung kann ich nur spekulieren. Wahrscheinlich ist, daß John sich nach mehreren Gesprächen bereit erklärte, als Überläufer aufzutreten, da seine Laufbahn in der Bundesrepublik ohnedies irreparabel beschädigt und an eine Rückkehr vorerst nicht zu denken war. Auffallend ist, daß mein Freund Wadim Kutschin vom KGB immer sehr einsilbig wurde, wenn ich ihn nach dem Fall John auszufragen begann, und wahrscheinlich scheint mir, daß niemand so recht Lust hat, sich zu der Wahrheit der ganzen Sache zu bekennen.

Nach seinem Presseauftritt wurde John mit Kutschin auf eine längere Reise durch die Sowjetunion geschickt. Bei seiner Rückkehr freundete er sich mit dem Berliner Architekten Hermann Henselmann und mit Wilhelm Girnus an, den ich aus meiner Rundfunkzeit kannte. Doch im Dezember 1955, siebzehn Monate nach seinem spektakulären Auftauchen im Osten, setzte John sich ohne viel Aufhebens in den Westen ab. Er verließ eine Veranstaltung der Humboldt-Universität, stieg in den Wagen

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des dänischen Journalisten Bonde-Henriksen und fuhr mit ihm durch das Brandenburger Tor nach West-Berlin.

Daß er zu vier Jahren Zuchthaus wegen Landesverrats verurteilt und erst nach achtzehn Monaten Haft begnadigt wurde, hat ihn zeitlebens erbittert, und bis zu seinem Tod kämpfte er um seine Rehabilitierung und um die Aufhebung des Urteils.

Alles in allem waren die spektakulären Übertritte jener Zeit von wenig strategischem Wert. Die Lehre, die ich daraus zog, war die, künftig dem Druck von oben nie wieder nachzugeben und nur »verbrannte« Quellen, die keinen nachrichtendienstlichen Wert mehr besaßen, als Überläufer zu präsentieren. Kurzfristig schienen die öffentlichen Auftritte Schmidt-Wittmacks und Johns einiges bewirkt zu haben – Adenauer mußte sich vor dem Bundestag rechtfertigen, Gerhard Schröder, der damalige Innenminister, sprach von einer »Schlappe im kalten Krieg«, und das peinliche Thema des wachsenden Einflusses der Alt-Nazis in der Bundesrepublik ließ sich nicht länger unter den Teppich kehren. Aber wenige Zeit später beantragte die Bundesrepublik ihre Aufnahme in die Nato. Die Wiederbewaffnung aufzuhalten, war uns nicht gelungen, wir hatten sie nicht einmal nennenswert verlangsamen können.

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4 Schicksalsjahr 1956

Die Ereignisse im Jahr 1956 leiteten Prozesse ein, die letztlich zu jener Entwicklung führten, welche sich am Ende unseres Jahrhunderts im Zusammenbruch des Sozialismus vollendet.

Wenn ich mich nach dem Zeitpunkt meines eigenen Brechens mit dem Stalinismus frage, fällt es mir schwer, einen bestimmten Moment dieses langen und schmerzlichen Prozesses herauszugreifen, doch an seinem Anfang stand zweifellos der XX. Parteitag der sowjetischen Kommunisten.

Bis zum Februar 1956 hing über meinem Schreibtisch ein Foto Stalins, das ihn so zeigte, wie ich ihn lange gesehen habe, als das weise, gütige »Väterchen«, das sich gerade sein Pfeifchen anzündet. Als ich die Rede gelesen hatte, die Chruschtschow vor dem Parteitag gehalten hatte, nahm ich das Bild von der Wand und feuerte es in die Ecke. Im ersten Augenblick empfand ich nur Schmerz und Empörung, aber die Wirkung ging tiefer. Chruschtschows Enthüllungen versetzten meiner Überzeugung, an der Errichtung einer besseren, gerechteren Welt mitzuwirken, einen ersten Stoß.

Im Rückblick erscheint mir der XX. Parteitag wie eine Vorankündigung der Perestroika. Doch so, wie zwischen Chruschtschow und Gorbatschow ein langer Weg lag, so ging auch ich, begleitet von Zweifeln, beeinflußt vom Fortwirken der alten Strukturen und Denkweisen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, einen langen und keineswegs geradlinigen Weg der Erkenntnis bis zum Durchbruch des neuen Denkens und meinem Ausscheiden aus dem Dienst.

Drei Jahre nach Stalins Tod wirkte die Rede Nikita Chruschtschows wie ein Vulkanausbruch. Für die einen verdunkelte sie die Sonne, für die anderen wich eine Spannung, die jahrelang auf uns gelastet hatte.

In der Sowjetunion und auch in der DDR wurde diese Rede

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jahrzehntelang unter Verschluß gehalten. Wer wie ich Zugang zu westlichen Zeitungen hatte, konnte sie allerdings schon kurz nach dem Parteitag lesen. Sie enthüllte, daß von den 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees, die 1934 auf dem XVII. Parteitag der KPdSU gewählt worden waren, in den Folgejahren 98 verhaftet und erschossen worden waren; von den 1966 Delegierten des Parteitags waren weit mehr als die Hälfte als Konterrevolutionäre abgeurteilt worden. Unfaßbar erschien mir die Liquidierung Marschall Tuchatschewskijs und weiterer 5000 Offiziere der Roten Armee und kaum weniger unbegreiflich die Selbstherrlichkeit, mit der Stalin die Warnungen zahlreicher Kundschafter ignoriert hatte, die unter Einsatz ihres Lebens Zeitpunkt und Einzelheiten des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion in Erfahrung gebracht und gemeldet hatten.

Natürlich erinnerte ich mich an die Jahre in Moskau, in denen Eltern meiner Freunde plötzlich verschwunden und die eigenen Eltern sorgenvoll und einsilbig geworden waren. Wer zur Zeit des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion Augen und Ohren nicht völlig verschloß, konnte später nicht behaupten, von den Repressalien und Greueltaten nichts gewußt oder wenigstens geahnt zu haben. Doch vieles blieb für uns damals dunkel und widersprüchlich. Manches hielten wir für Folgen eigenmächtigen Handelns oder unguter Einflüsse aus Stalins engerer Umgebung, er selbst aber blieb die unantastbare, die überragende historische Gestalt.

Die Aufdeckung und massive Verurteilung aller Verbrechen Stalins und seiner Vergehen gegen die Ideale des Sozialismus mußten daher wie ein Schock wirken. Viele haben seither mit einem inneren Zwiespalt gelebt, der nicht zu bereinigen war. Anfangs jedoch überwog das Gefühl der Erleichterung, denn wir glaubten, nun sei das Ende der Ungerechtigkeit gekommen.

Schon im Frühjahr 1956 trübten erste Schatten alle Erwartungen. Auf der 3. Parteikonferenz der SED, an der ich

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teilnahm, wurden zwar Folgerungen aus dem XX. Parteitag der KPdSU gezogen, die auf mehr Kollektivität in der Leitung und eine Entfaltung der Kritik von unten nach oben zielten, doch schon der Umgang mit Chruschtschows Rede auf der Parteikonferenz zeigte hinlänglich, wie Ulbricht mit der neuen Situation umzugehen gedachte. Lediglich Auszüge aus der Rede wurden in geschlossener Sitzung verlesen. Diese unsinnige Geheimniskrämerei wurde von Ulbricht auch weiterhin praktiziert und von Honecker bis zuletzt fortgesetzt.

Kurz nach der Parteikonferenz fand im Staatssekretariat für Staatssicherheit eine Kollegiumssitzung statt. Es war noch nicht die Zeit der einsamen Monologe, mit denen Mielke uns langweilte, nachdem er Minister geworden war. Damals forderte Wollweber die Anwesenden zu Meinungsäußerung auf. Spontan meldete ich mich als erster zu Wort, begrüßte die Art, wie die sowjetische Partei mit ihrer eigenen Geschichte umging, und sprach von meiner Erleichterung, daß nun offen über Tatsachen geredet wurde, die mich in der zurückliegenden Zeit belastet hatten. Mielke widersprach mir sofort. Er habe unter keiner Last gelitten. Er betonte, daß die UdSSR unter Stalins Führung den Faschismus zerschlagen hatte. Von den Repressalien in der Sowjetunion habe er nichts gewußt, in der DDR habe es keine gegeben. Einige Jahre später, nach Chruschtschows Sturz, bezeichnete Mielke dessen Abrechnung mit Stalin als schweren Fehler. Er bekannte sich offen zum »Stalinismus«, ein Begriff, der damals weder in der Sowjetunion noch in der DDR benutzt wurde, und brachte im Beisein sowjetischer Partner und vor versammelter Mannschaft Trinksprüche auf Stalin mit dem obligatorischen dreifachen Hurra aus.

Bereits unmittelbar nach dem XX. Parteitag der KPdSU war Ulbrichts Sorge über die Konsequenzen der Enthüllungen deutlich zu spüren. Von der Demontage des großen Vorbilds mußte er zu Recht eine Gefährdung der Machtstrukturen befürchten. Gewissen Konsequenzen konnte die DDR sich nicht

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entziehen: 88 von sowjetischen Militärtribunalen verurteilte Häftlinge wurden begnadigt, 698 weitere vorzeitig entlassen. Im Sommer desselben Jahres folgte eine Amnestie für abermals 19000 Inhaftierte. Innerhalb der SED wurden Verfahren überprüft und die Parteistrafen gegen Franz Dahlem, Anton Ackermann, Hans Jendretzky und andere aufgehoben, wenngleich keiner von ihnen in das Politbüro zurückkam.

Im Gefolge der Auseinandersetzungen über Grundfragen der Wirtschaftspolitik, die in der Sowjetunion geführt wurden, holte auch die DDR-Führung Reformpläne aus den Schubladen. Schulungsseminare für Partei- und Staatsfunktionäre wurden veranstaltet, wo ein lebhafter, ja kontroverser Meinungsaustausch stattfand. Diskussionen zwischen Intellektuellen behandelten Demokratisierungskonzepte jugoslawischer, ungarischer, polnischer, deutscher und italienischer Marxisten. Durch diese offenen Erörterungen und durch Vorschläge, die auf mehr Demokratie und Selbstverwaltung abzielten, sah die SED-Spitze die führende Rolle der Partei und damit das ganze Herrschaftssystem bedroht. So kam es, daß ein Beschluß des Politbüros keine zwei Monate nach der 3. Parteikonferenz jede »Fehlerdiskussion« ablehnte. Die bescheidenen Ansätze zu innerparteilicher Demokratisierung wurden mit der Begründung gestutzt, in der DDR habe es keinen Personenkult gegeben und keine Verletzung innerparteilicher Demokratie oder sozialistischer Gesetzlichkeit. »Keine Fehlerdiskussion«, »dem Gegner keine Argumente liefern«, »Mängel im Vorwärtsschreiten überwinden« – so und ähnlich klangen die Schlagworte, mit denen in der Folge jede offene Diskussion unterbunden wurde.

1956 wollte es fast so scheinen, als habe der kalte Krieg sich auf ähnliche Weise verselbständigt wie seinerzeit der Dreißigjährige Krieg. Dabei hätte dieses Jahr die Chance geboten, Bewegung in die erstarrten Fronten zu bringen. Der Begriff der friedlichen Koexistenz, bei Lenin ausgegraben, kam

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in Mode; der heiße Krieg galt nicht länger als unvermeidlich. Doch der kalte Krieg wurde nicht für einen Tag unterbrochen.

So sehr die restriktive Politik der SED-Führung meine Hoffnungen enttäuschte, so wenig konnte ich mich der Erkenntnis verschließen, daß eine Aufweichung des sozialistischen Systems den Status quo in Europa ernstlich gefährdet hätte. Längst nicht jede oppositionelle Stimme in der DDR hatte ihren Ursprung in diesem Land; zunehmend verstärkten die westdeutschen Organisationen in der DDR, hinter denen sich westliche Geheimdienste verbargen, ihre Aktivitäten. Einige von ihnen wurden von den Abwehrabteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit observiert, die auch die Telefonleitungen des Ostbüros der SPD anzapften. Mein Dienst hatte dort eigene Quellen plaziert.

Dieses SPD-Ostbüro, das bis 1966 bestand, schleuste mit Kurieren Propagandamaterial in die DDR ein und warb Vertrauensleute an, um so an Informationen zu kommen – oft mit einem sträflichen Dilettantismus, an den sich ehemalige V-Leute noch heute voller Zorn erinnern. Mindestens 800 Angeworbene wurden in der DDR wegen Nachrichtenbeschaffung und Spionage verur teilt. In der Bundesrepublik bespitzelte und infiltrierte das Ostbüro von der SPD als prokommunistisch eingestufte Gruppen und Organisationen und belieferte den Verfassungsschutz mit seinen Erkenntnissen.

Institutionen wie das Ostbüro stellten für die amerikanischen Dienste eine hochwillkommene Ergänzung des eigenen Agentennetzes dar, und ihr politischer Hintergrund bildete eine beinahe zwangsläufige Parallele zur psychologischen Kriegführung, der in den USA ein hoher Stellenwert im Kampf gegen den Kommunismus zugemessen wurde.

Ende April 1956 weckte unsere Hausangestellte mich eines Tages in der Morgendämmerung mit den Worten: »Der Minister erwartet Sie am Gartentor.« Ein Blick aus dem

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Schlafzimmerfenster ließ diesen ungewöhnlichen Besuch noch seltsamer erscheinen: Der ältere Volkswagen auf der Straße paßte ebensowenig zu Wollweber wie die frühe Stunde. Wollweber fuhr üblicherweise die große sowjetische SIM-Limousine mit Begleitschutz. Sicherheitshalber bewegte ich mich mit durchgeladener Dienstpistole in der Tasche zur Eingangstür – bei der knappen Entfernung nach West-Berlin und der offenen Grenze mußte man auf alles gefaßt sein. Vor der Tür stand jedoch tatsächlich der rundliche Ernst Wollweber mit dem unvermeidlichen Zigarrenstummel zwischen den Lippen. Von einem Anruf aus dem Bett geholt, war er in den Wagen eines Mitarbeiters aus der Nachbarschaft gesprungen.

In halsbrecherischem Tempo rasten wir über die menschenleeren Straßen in Richtung des Flughafens Schönefeld. Hinter Alt-Glienicke, etwa einen Kilometer vor dem Flugplatz, trafen wir auf ein Trüppchen Männer – zur Hälfte sowjetische Soldaten -, das am Rand eines Friedhofs eine Grube auszuheben schien. Sie gruben einen Tunnel aus, den seither berühmt gewordenen amerikanischen Spionagetunnel. Wollweber erklärte mir nun, daß die CIA in Zusammenarbeit mit dem SIS die neben der Landstraße verlaufenden Kabelstränge aller von Berlin in den Süden der DDR verlaufenden Telefonleitungen angezapft habe, wobei das besondere Augenmerk zweifellos dem Strang galt, der zum sowjetischen Hauptquartier in Wünsdorf führte.

Inzwischen hatten die Grabenden ein Stück der Tunnelröhre aufgeschweißt und die schwere Metalltür zum geräumigen Verstärkerraum unter der Straße geöffnet; nachdem sie das Terrain nach Minen und Sprengladungen abgesucht hatten, durften wir die Anlage besichtigen. In dem recht wohnlich eingerichteten Verstärkerraum tat sich unseren staunenden Blicken ein wahres Wunderwerk der Technik auf. Sämtliche Kabel – gewiß einige hundert – waren durchtrennt, mit einem Verstärker verbunden und wieder verkabelt zu einem Gebäude

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etwa 500 Meter hinter der Grenze geleitet, das eigens dafür errichtet worden und als meteorologische Beobachtungsstation getarnt war. Durch den Tunnel tappten wir bis zu der unterirdischen Stelle, wo ein amerikanischer Spaßvogel hinter einer Stacheldrahtrolle ein kleines Pappschild mit der Aufschrift »Hier beginnt der amerikanische Sektor« aufgestellt hatte.

Viele Jahre später erzählte mir George Blake, der berühmte Maulwurf des KGB im britischen Geheimdienst, die Hintergründe dieses Tunnelbaus. Er war damals in der West-Berliner Dienststelle des britischen Dienstes eingesetzt gewesen, und durch ihn waren die Sowjets von Anfang an über das Unternehmen auf dem laufenden gehalten worden. Uns gegenüber ließ der KGB wie immer größte Zurückhaltung walten; man ließ das Ministerium für Staatssicherheit lediglich irgendwann wissen, daß es opportun sein könnte, den Bau einer Einrichtung unbekannter Art in der Nähe des Flughafens Schönefeld zu beobachten. Das Ergebnis dieser Beobachtungen war das, was sich an jenem frühen Morgen im April 1956 abspielte.

Als George Blake nach seiner aufsehenerregenden Flucht aus dem britischen Gefängnis, in das ihn Enttarnung und Prozeß gebracht hatten, häufiger in die DDR fuhr, wo er sich mit seiner in Holland lebenden betagten Mutter traf, sahen wir uns hin und wieder und freundeten uns an. Es war faszinierend, wenn er seine Lebensgeschichte erzählte – wie er als Sohn eines reichen Bankiers aus Kairo und einer holländischen Aris tokratin zum britischen Marineoffizier und Geheimdienstmitarbeiter geworden war, wie er in Gewissenskonflikte geraten war, als die Alliierten sich gegen die UdSSR zu stellen begannen, und deshalb 1950 in der Gefangenschaft während des Koreakrieges von sich aus den Kontakt zum KGB gesucht hatte.

Wie Blake lebte auch Kim Philby, der wohl bekannteste sowjetische Kundschafter im britischen Geheimdienst, seit Enttarnung und Rückzug in Moskau. Beide waren mit

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Russinnen verheiratet und einander freundschaftlich ve rbunden. In Philby lernte ich nach Blake einen zweiten Engländer kennen, der aus Überzeugung gegen den Nachrichtendienst seines Mutterlandes für die Sowjetunion gearbeitet hat, weil er in ihr den Beginn einer neuen, besseren Welt zu erkennen glaubte.

Mit George Blake 1980

Blake wie Philby hatten sich der Realität in der Sowjetunion nicht verschließen können, und ihr Blick auf das verheißene Land war im Lauf der Jahre immer nüchterner geworden. Offen tauschten sie mit mir kritische Ansichten aus, hielten aber nach wie vor am Glauben an mögliche Veränderungen des Sowjetsystems fest. Beide gehören für mich zu den großen und tragischen Gestalten der Nachrichtendienste.

Seit Chruschtschows Rede waren in Polen und Ungarn Unruhen aufgeflackert und eskaliert. Die polnische Partei hatte Wladislaw Gomulka, der seit 1951 als »titoistischer und nationalistischer« Abweichler im Gefängnis saß, ebenso rehabilitiert wie die früheren Angehörigen der

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antikommunistischen Landesarmee, die die Emigrantenregierung während des Krieges von London aus befehligt hatte. Auch in Ungarn und in der Tschechoslowakei wurden Politiker rehabilitiert, die zu Anfang der 50er Jahre unrechtmäßig verurteilt worden waren. Außerdem fanden Umbesetzungen in der politischen Führung dieser Länder statt. Mátyás Rákosi, Ungarns »kleiner Stalin«, mußte auf einer Massenkundgebung in Budapest Selbstkritik üben. 150 Sozialdemokraten wurden aus den Gefängnissen entlassen, die ungarische Partei bemühte sich, ihr Verhältnis zur katholischen Kirche zu normalisieren, und jeden Donnerstag versammelten sich Tausende rund um den Petöfi-Klub.

Mit Kim Philby 1981

In Polen kam es im Sommer während der Industriemesse in Poznan zu blutigen Zusammenstößen, die 53 Tote und 300 Verletzte forderten. Gomulka, von den Dogmatikern nach wie vor beargwöhnt, galt als kommender Parteichef, während man davon überzeugt war, daß als Stalinisten verrufene Politiker wie

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der den Polen von den Sowjets als Verteidigungsminister aufgenötigte sowjetische Marschall Rokossowskij aus der Parteiführung entfernt werden würden. Begleitet von der gesamten Staatsspitze der UdSSR und vierzehn hohen Militärs, landete Chruschtschow auf einem polnischen Militärflugplatz. Es gelang den Polen, ihn zu beruhigen. Gomutka wurde zum Ersten Sekretär der Partei gewählt, Chruschtschow billigte seinen neuen Kurs. Kardinal Wyszynski, die Symbolfigur oppositioneller Kreise, wurde aus der Haft entlassen.

In Ungarn spitzte die Situation sich Ende Oktober so dramatisch zu, daß sie uns Tag und Nacht in Atem hielt. Täglich strömten mehr Menschen zu den Kundgebungen, auf denen anfangs noch Gedichte Petöfis und Kossuths rezitiert worden waren; nun wurden politische Forderungen laut, der Ruf nach Freiheit, nach dem Abzug der sowjetischen Truppen, nach dem Ausstieg aus dem Warschauer Pakt und einer Annäherung an den Westen. Rákosi mußte zurücktreten. Am 23. Oktober wurde das Stalin-Denkmal gestürzt und der Rundfunksender gestürmt. Es gab den ersten Toten. Über Nacht rückten sowjetische Panzer in die Stadt Budapest ein. Imre Nagy, den ich aus Moskau kannte, wurde wieder zum Ministerpräsidenten ernannt. Von ihm versprach ich mir eine besonnene, vernünftige Politik, und das sagte ich auch Wollweber und Mielke. Der Verlauf der nächsten Tage schien mir recht zu geben: Die sowjetischen Panzer zogen aus Budapest ab, Nagy verkündete sein Regierungsprogramm, der eingekerkerte Kardinal Mindszenty wurde auf freien Fuß gesetzt. Aber die Krise ließ sich nicht mehr beherrschen, weder von der Regierung noch von der Kommunistischen Partei. Am 4. November rückten erneut sowjetische Panzer in Budapest ein.

In diesen Tagen sah ich Europa ständig auf der Schwelle zwischen kaltem und heißem Krieg. Das Radio war wichtiger als die Informationen des eigenen Dienstes. Mein Sondertelefon klingelte pausenlos. Im Wechsel wollten sowjetische

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Verbindungsoffiziere und meine Vorgesetzten wissen, was die Nato tun werde.

Sowjetische Panzer in Budapest 1956

Zur gleichen Zeit tat sich im Nahen Osten ein weiterer Konfliktherd auf. Israel trat in einen bewaffneten Konflikt mit Jordanien, offenbar ermutigt durch die Destabilisierung des Warschauer Pakts. In einer handstreichartigen Aktion griffen israelische Truppen ägyptische Stellungen im Sinai an, von Zypern aus unterstützt durch britische und französische Bomber. Erst als die Sowjetunion ihr Eingreifen androhte und die USA Druck auf ihre Verbündeten ausübten, endete der Konflikt.

Selbst eine so lapidare Auflistung der Ereignisse jener Zeit läßt erahnen, in welcher Anspannung und Ungewißheit wir damals lebten. Die Entscheidungen über Krieg und Frieden, aber auch über die grundlegende Entwicklung der Interessensphären des westlichen und östlichen Bündnisses fielen in Washington und Moskau. Bei den dramatischen Geschehnissen in Ungarn respektierten die USA den Status quo genauso wie zuvor am 17. Juni 1953 in der DDR, wie später beim Mauerbau und beim

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Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei – aber wer hätte es verbindlich vorauszusagen gewagt? Angesichts der wechselseitigen atomaren Bedrohung konnten falsche Informationen und fehlerhafte Analysen katastrophale Folgen zeitigen. Über den Nutzen von Geheimdiensten mag man denken wie man will, und es ist mir nicht darum zu tun, den Dienst der DDR in seinem Gewicht überzubewerten, doch selbst im kritischen Rückblick halte ich ihm zugute, daß er damals mit seinen Informationen dazu beigetragen hat, eine militärische Konfrontation zu verhindern.

Imre Nagy verkündet Ungarns Austritt aus dem Warschauer

Pakt Heute ist es einfach zu sagen, die sowjetischen Panzer hätten

in Ungarn einen Volksaufstand niedergewalzt. In jenen Wochen im Herbst 1956 schienen national und international wirkende Ursachen und Kräfte zu einem unauflöslichen Knäuel verflochten. Aus der historischen Distanz ist unverkennbar, daß Imre Nagy und mit ihm die Mehrheit der Ungarn sich die

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Forderungen der Studenten und Intellektuellen zu eigen gemacht hatten, als Patrioten, die nach Freiheit und Unabhängigkeit strebten und die einen eigenen demokratischen Weg der gesellschaftlichen Entwicklung einschlagen wollten. Damals sahen wir in erster Linie, daß die noch immer vorhandenen Anhänger des Horthy-Regimes die Unruhen für sich zu nutzen suchten und mit Hilfe aus dem Westen zu ihnen stoßender Gesinnungsgenossen Exzesse schürten, wo immer sie Gelegenheit dazu fanden.

Panzerabwehrgeschütze auf Budapests Straßen

Die meisten meiner ungarischen Kollegen sind über die

Ereignisse des Herbstes 1956, über ihre unmittelbaren und ihre langfristigen Folgen nie wirklich hinweggekommen: die Massenflucht der Ungarn ins Ausland, das Schicksal Imre Nagys und seiner Gefährten, die nach der Niederschlagung des Aufstands nach Rumänien verschleppt, in einem Geheimprozeß zum Tode verurteilt und hingerichtet worden waren. Die Wiederherstellung der sozialistischen Macht unter János Kádár, der unter Rákosi inhaftiert und schweren Mißhandlungen

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ausgesetzt gewesen war, ließ dennoch zu, daß Ungarn für Reformen offen blieb und für seine Bürger in vielem erträglicher war, als es die damalige DDR für ihre Bewohner war.

Bereits im Sommer desselben Jahres kursierten im Kollegium der Staatssicherheit Gerüchte über die Gefahr eines kleinen Krieges – etwas, was ich auf deutschem Boden für kaum wahrscheinlich hielt. Derartige Vorstellungen paßten jedoch zu den ständigen Bedrohungsängsten der politischen Führung, und sie bestimmten deshalb für längere Zeit viele Aufgaben meines Dienstes.

Unter solchen Umständen mußte ein Dokument über Pläne mit der Bezeichnung DECO-II, das wir von einer Quelle mit Decknamen Kohle erhielten, Wasser auf die Mühlen unserer Führung sein, denn wenn es wirklich echt war, dann handelte es sich bei ihm um nichts Geringeres als um eine Studie zur militärischen Einverleibung der DDR durch die Bundesrepublik. Das Ziel der Operation war die »Befreiung der SBZ und Wiedervereinigung Deutschlands durch militärische Besetzung des mitteldeutschen Raumes bis zur Oder-Neiße-Linie«. Auf mehreren als geheime Bundessache abgestempelten Seiten und vier beigefügten Karten waren Aufgaben und Stoßrichtungen der Heeresgruppen, Armeekorps und Divisionen genau definiert und beschrieben; datiert war das Dokument vom 2. März 1955.

Die Zuverlässigkeit der Quelle, schien uns über jeden Zweifel erhaben. Ihre bisherigen Informationen waren immer korrekt gewesen. »Kohles« wichtigste Verbindung war eine Vorzimmerdame im Büro von General Speidel, der im Verteiler des DECO-Dokuments genannt war und aus dessen Panzerschrank es stammen sollte. Als wir es 1959 veröffentlichten, nachdem die Verbindung zu »Kohle« nicht mehr bestand, erfolgte kein Dementi aus Bonn.

Angesichts des Umstands, daß inzwischen Truppenteile beider deutscher Staaten in die jeweiligen Bündnisse integriert waren, gewann eine Information an Gewicht, der zufolge Franz

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Josef Strauß, der neue Bundesverteidigungsminister, schriftlich beim Nato-Oberbefehlshaber Lauris Norstad angefragt haben sollte, ob bei »grenzüberschreitenden Unruhen an der Demarkationslinie« zwischen DDR und Bundesrepublik der Nato-Fall eintrete – anders gesagt, ob es möglich sei, die Bundeswehr auf DDR-Gebiet einzusetzen.

Auch die Information, daß Staatssekretär Globke in Adenauers Auftrag in den kritischen Novembertagen 1956 nach West-Berlin gefahren war, um zu verhindern, daß ein Aufruf des West-Berliner Gewerkschaftsvorsitzenden Scharnowski zum Generalstreik in der DDR über den Rundfunk verbreitet wurde, paßte nicht gerade in die bei uns gängige Klischeevorstellung vom westdeutschen Politiker, und Ulbricht tat sie selbstverständlich als pure Erfindung ab. Mir aber gab dieser Auftrag des Bundeskanzlers ebenso zu denken wie der Umstand, daß General Norstad sich nicht beeilte, Strauß auf seine Anfrage zu antworten.

Durch die Informationen, die wir im Sommer und Herbst 1956 lieferten, trugen wir unabsichtlich selbst zu dem Druck bei, der später auf unseren Dienst ausgeübt wurde mit dem Ziel, die militärische Komponente in unserer Arbeit stärker zu betonen. Nach den Ereignissen in Ungarn war Ulbricht von der Furcht vor einem begrenzten Konflikt auf deutschem Boden mehr denn je beherrscht. Wollweber erließ einen Befehl, der alle Bereiche des Ministeriums verpflichtete, die HVA – inzwischen hatte mein Dienst diese Bezeichnung, die er bis zuletzt beibehalten sollte – bei der Aufklärung militärischer Objekte und Entwicklungen in der Bundesrepublik zu unterstützen. Das führte zu einem Aufwand, der in keinem Verhältnis zum Nutzen stand: Leitende Mitarbeiter reisten in die Bezirke des Landes, um in den einzelnen Verwaltungen des Ministeriums für Staatssicherheit alles zu erläutern, und allerorten begann man sich in einem Wust von Informationen zu verzetteln, die möglicherweise den Nachrichtendienst der Armee interessieren

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konnten. Unsere Tätigkeit im militärischen Bereich gestaltete sich zu

Anfang ähnlich schwierig wie auf politischem Gebiet, und erst allmählich kamen wir zu vorzeigbaren Ergebnissen. Schwierig sollte sie immer bleiben.

Einer unserer ersten Versuche auf diesem Gebiet war die Übersiedlung von Rosalie Kunze in den Westen, einer hübschen, jungen DDR-Bürgerin von Ende Zwanzig, der es in erstaunlich kurzer Zeit gelang, als Topsekretärin bis ins Bundesverteidigungsministerium vorzudringen und dort als Geheimnisträgerin verpflichtet zu werden. Ihr Resident mit Decknamen Schatz hatte bald alle Hände voll zu tun, die Flut an Geheimdokumenten, die sie ihm übermittelte, zu fotografieren und die Kopien per Kurier zu uns zu befördern. Leider verliebte unsere Agentin »Ingrid« – so nannten wir sie – sich ernsthaft und hatte das Bedürfnis, dem Mann ihres Herzens alles zu erzählen, und auch er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube. So kam es, daß 1960 ein erster spektakulärer Prozeß gegen unseren Dienst in der Bundesrepublik stattfand. Rosalie Kunze weigerte sich in der Folge, in die DDR zurückzukehren, was für mich eine herbe Enttäuschung war, denn ich hatte sie für eine überzeugte Kommunistin gehalten.

Erfolgreicher operierten wir im militärischen Bereich mit Ruth Moser, Deckname Gerlinde, die Mitte der 50er Jahre für uns tätig wurde. Sie war uns als eventuelle Kandidatin aufgefallen, weil sie in Bonn wohnte und Verwandte in der DDR hatte. Die Verbindung stellten wir über ihren Bruder her, und sie erklärte sich auch bereit, für uns zu arbeiten. In relativ kurzer Zeit warb sie ihren Ehemann Karl-Heinz Knollmann als Quelle mit Decknamen Stein an. Als Oberstleutnant beim Bundesgrenzschutz war er für die Absicherung zentraler Regierungsobjekte verantwortlich, und durch ihn erfuhren wir sowohl den Baubeginn als auch Betriebsdetails des Regierungsbunkers in Ahrweiler bei Bonn.

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Nach der Scheidung von Knollmann warb »Gerlinde« ihren zweiten, sieben Jahre jüngeren Ehemann Norbert Moser, ebenfalls Offizier, für unseren Dienst an, auch diesmal wieder aus eigener Initiative. Er informierte uns über Ausrüstung und Leistungsfähigkeit der Luftwaffentransportverbände und später, als er Verbindungsoffizier zum Stab einer Panzerbrigade war, der Einblick in Verschlußsachen höchster Nato-Geheimhaltungsstufe hatte, über die Panzer Leopard 2 und Gepard. Ihm verdankten wir aufschlußreiche Einblicke in das militärpolitische und strategische Verteidigungskonzept der Bundesrepublik und einiger ihrer Nato-Partner. Anfang der 80er Jahre lernte ich das Ehepaar erstmals persönlich kennen; Ruth Moser war es gerade gelungen, ihren Mann nach vier Jahren Haft im Austausch gegen Spione der Bundesrepublik in die DDR zu holen. Bei beiden hatte ich den Eindruck, daß sie aus innerer Überzeugung, zu der sie nach wie vor standen, für die Aufklärung gearbeitet hatten.

Anders verhielt es sich da mit dem westdeutschen Journalisten Helmut Ernst, der unter dem Decknamen Henry für uns aktiv war. Seine Spionagekarriere endete tatsächlich angemessen, nämlich wie in einem James-Bond-Film, als sein Wagen eines Dezembermorgens auf vereister Landstraße zwischen Bad Ems und Arzbach auf einen verunglückten Lastwagen prallte. »Henry« wurde mit Bein- und Beckenbruch ins Krankenhaus eingeliefert, und die Polizei staunte nicht schlecht, als sie in seinem Auto unter anderem eine Minox-Kleinstkamera, wie sie damals zu unserer Standardausrüstung gehörte, Filme, eine Pistole und einen Radioempfänger entdeckte, der mit einigen Extras versehen war, die erforderlich waren, damit unsere Leute die mysteriösen Stimmen hören konnte, die über Kurzwelle unsere Anweisungen in Form von Zahlenkombinationen übermittelten. Das Glatteis hatte dem Verfassungsschutz zu einem unverhofften Erfolg verholfen.

Mittelbar wurden über »Henry« gleich drei Frauen enttarnt.

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Sein etwas bizarres Privatleben, das im Prozeß ausführlich gewürdigt wurde, hatte er sich allerdings nicht in unserem Auftrag so eingerichtet. Mit der einen Dame – Deckname Lilo -, die als Kurier seine Informationen zu uns beförderte, führte er offenbar eine sogenannte Onkelehe. In beider Haushalt lebte »Lilos« geschiedene Tochter, Deckname Heike, die für unseren Mann im Bundesamt für Wehrtechnik in Koblenz Pläne von elektronischen Waffensystemen beschaffte, und »Henrys« Geliebte, Deckname Blanche, arbeitete als Sekretärin im Haushaltsreferat des Verteidigungsministeriums und lieferte Strukturpläne, Mitarbeiterverzeichnisse und Dokumente über Finanzoperationen zwischen der Bundeswehr und den USA. Bei der Gerichtsverhandlung stellte sich heraus, daß »Blanche« im Glauben gelebt hatte, für einen französischen Dienst tätig zu sein. »Henry« selbst wurde krankheitshalber für verhandlungsunfähig erklärt.

Unsere ranghöchste Quelle bei der Bundeswehr war lange Zeit Major Bruno Winzer, Deckname Südpol, Presseoffizier beim Stab der Luftwaffengruppe Süd in Karlsruhe. Zur Zusammenarbeit war es gekommen, weil er als strikter Gegner eines Dritten Weltkriegs jede forcierte Aufrüstung der Bundeswehr ablehnte. Das Ende seiner Tätigkeit für uns war wiederum ein Unfall, diesmal von seinem Kurier verursacht, der Informationen aus einem Versteck abgeholt hatte. Die Papiere des Kuriers hätten nicht einmal die oberflächlichste Verkehrskontrolle überstanden, und deshalb flüchtete er zu Fuß. Die Informationen von »Südpol« waren im Wagen geblieben. Es blieb uns nichts anderes übrig, als Winzer zu warnen, der daraufhin – im Mai 1960 – aus seinem Urlaub in die DDR überwechselte, wo wir ihn mit Propagandafanfaren auf einer Pressekonferenz als Deserteur aus Gewissensgründen präsentierten.

Eine unserer ergiebigsten Bonner Quellen jener Jahre war ein einfacher Bote im Innenministerium, ein sogenannter

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Amtgehilfe, der den stolzen Decknamen Minister trug. Er besaß einen nachgefertigten Schlüssel für die Kuriertaschen seines Hauses, die er erbarmungslos plünderte. Er war das lebende Beispiel dafür, daß der Dienstrang noch lange nicht die wahre Bedeutung eines Agenten ausmacht. Die Papiere, die er uns verschaffte, zeigten, wie weit die Planung für den Ernstfall vorangeschritten war – lange vor der Verabschiedung der Notstandsgesetze. Alles war bis ins einzelne vorbereitet: das Lenken der Flüchtlingsströme, die Requirierung ziviler Fahrzeuge, Benzin- und Lebensmittelrationierung, Internierung als gefährlich eingestufter Personen und Ausländer. Die durchkoordinierte Planung überraschte uns nicht, war sie doch von Fachleuten ersonnen, die unter Hitler einen Weltkrieg vorbereitet und in diesem Krieg ihre Erfahrungen gesammelt hatten.

Spitzenquellen im militärischen Bereich waren in der Folgezeit Lothar-Erwin Lutze, seine Frau Renate und sein Freund Jürgen Wiegel, die alle drei im Bonner Verteidigungsministerium beschäftigt waren. Anläßlich ihrer Enttarnung sprach die westdeutsche Presse vom schwersten und folgenreichsten Spionagefall in der Bundesrepublik. Sie hatten uns nicht nur Konstruktionspläne für den Kampfpanzer 3, Baupläne für Raketenbasen und Atomwaffendepots und Notfallpläne der Nato besorgt, sondern auch regelmäßig die jährlichen Zustandsberichte der Bundeswehr, die, wie das Bonner Verteidigungsministerium selbst erklärte, »ein zuverlässiges und vollständiges Bild über den Ist-Zustand der Bundeswehr« lieferten.

Erste Erkundungen über die Nato stellten die Informationen dar, die uns Peter Kranick, Deckname Bruno, ein ehemaliger Fremdenlegionär, beschaffte. Wir warben ihn an, als er im Stabsquartier der französischen Streitkräfte in West-Berlin arbeitete. Später frischte er seine Freundschaft zu einer Sekretärin auf, die inzwischen in der Botschaft der

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Bundesrepublik in Paris eine Stelle hatte, und nachdem es ihm gelungen war, sie für uns anzuwerben, siedelte er nach Paris über und zählte von da an zu unseren Spitzenleuten im Hinblick auf das Nato-Hauptquartier.

Hinweise auf konkrete Vorbereitungen für den von unserer Führung gefürchteten kleinen Krieg erhielten wir von keiner unserer Quellen. Statt dessen erfuhren wir durch sie, wie die Bundesrepublik die sogenannte verdeckte Kriegführung vorbereitete, die auf den Fall eines sowjetischen Angriffs abzielte. Offenbar befürchtete man auch in Bonn den kleinen Krieg, nur mit Stoßrichtung von Ost nach West.

Als das Jahr 1956 zu Ende ging, hatte kein Dritter Weltkrieg stattgefunden; die stalinistischen Dogmatiker in den Ländern des Warschauer Pakts hatten eine Niederlage erlitten, aber sie waren nicht geschlagen, geschweige denn ausgeschaltet, und sie nutzten jede Chance, die sich ihnen bot, ihre erschütterte Position erneut zu festigen.

In der DDR kam es abermals zu einem Eklat innerhalb der SED, abermals verbrämt mit dem Spektakel um eine »parteifeindliche Fraktion«. Der Spielleiter hieß diesmal Mielke, und als Sündenböcke hatte er sich Ernst Wollweber und Karl Schirdewan auserkoren. In meinen Augen war das Ganze so fingiert wie 1953 die sogenannte Zaisser-Herrnstadt-Fraktion. Allerdings gab es für mich einen signifikanten Unterschied, denn diesmal war auch ich involviert, da ich als enger Vertrauter Wollwebers galt.

Mielkes Intrige gegen Wollweber traf sich mit Erich Honeckers Ambitionen, dem bei seinem Aufstieg Schirdewan, der zweite Mann hinter dem Generalsekretär, im Weg stand, und bei dem chronisch mißtrauischen Ulbricht fielen ihre Einflüsterungen auf fruchtbaren Boden. Schirdewan und Wollweber waren in den ersten Nachkriegsjahren Nachbarn gewesen, aber meines Wissens hatten sie nie engere Beziehungen unterhalten.

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Auf einer Tagung der Parteiorganisation der HVA zog Mielke im Beisein Wollwebers über uns her, ohne daß Wollweber etwas dagegen sagte, und ich begriff, was auf uns zukam. Kernpunkt des Gepolters war die Anschuldigung, wir unterschätzten das, was er »ideologische Diversion« nannte.

Karl Schirdewan 1958

Robert Korb, meinen Stellvertreter, und mich griff er persönlich an, hatten wir uns doch beide für eine differenzierte Beurteilung der verschiedenen Strömungen innerhalb der Sozialdemokratie ausgesprochen, während Mielke die gesamte SPD mit ihrem Ostbüro gleichsetzte und in Herbert Wehner den schlimmsten Anstifter überhaupt zur »ideologischen Diversion« sah.

In diesem Zusammenhang sei nicht verschwiegen, daß Mielke immer sehr stolz darauf war, diesen Begriff erfunden zu haben. Erst später wurde dieser Terminus auch von anderen Sicherheitsdiensten – leider auch von sowjetischen – übernommen und floß zuletzt sogar in den Sprachgebrauch der kommunistischen Parteien ein, wo er bei der Einschätzung

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politisch Andersdenkender einem simplifizierenden Schwarz-Weiß-Denken Vorschub leistete, das weit von jeder Realität entfernt war. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wurde dieser Kautschukbegriff, der jede Auslegung zuließ, die der politischen Führung gerade opportun erschien, sogar durch Paragraphen des Strafrechts legitimiert und als Ordnungsmittel angewandt. »Politischideologische Diversion« – der deutschen Abkürzungssucht folgend PID genannt – wurde zu einem bestimmten Element der Sicherheitsdoktrin und zur Grundlage der verfassungswidrigen Repression Oppositioneller, PID war die entscheidende Waffe, mit der die Dogmatiker ihre verkrustete Macht behaupteten, bis sie zerbrach.

Ernst Wollweber 1955

Als Mielke mich mit Unterlagen über Gespräche, die Wilhelm Girnus am Rande der Genfer Außenministerkonferenz mit Wehner geführt hatte, und mit Unterlagen zur Person von Girnus zu sich ins Ministerium bestellte, ahnte ich, was er bezweckte. Girnus sollte wohl als Kurier zwischen dem »Parteischädling« Schirdewan und dem ideologischen Verderber Wehner angeschwärzt werden, und zwar darüber, daß Girnus

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Schirdewan aus der gemeinsamen Haft im Konzentrationslager Sachsenhausen kannte. Ich brachte ihm Kopien jener Gesprächsberichte, die Ulbricht selbst abgezeichnet und teilweise mit handschriftlichen Bemerkungen versehen hatte. Die Originale schloß ich in meinen Safe ein und informierte Robert Korb. Damit hatte ich nicht nur Girnus, sondern möglicherweise auch mich selbst vorerst aus der Schußlinie gebracht.

Der Vorwurf, Wollweber habe die Staatssicherheit und sich selbst über die Partei zu stellen versucht, sollte mit einem Befehl bewiesen werden, der die Kontakte zwischen leitenden Ministeriumsmitarbeitern und dem Apparat des Zentralkomitees betraf, obwohl Wollweber diese Kontakte stets seinen Stellvertretern überlassen hatte. Obwohl das alle wußten und ich es auch laut sagte, als Ulbricht die Leitung des Ministeriums vorlud, um das Belastungsmaterial zu testen, änderte diese Reaktion nichts an dem abgekarteten Spiel.

Karl Schirdewan und Ernst Wollweber wurden im Oktober 1957 aller Funktionen enthoben mit der Begründung, sie hätten »in der Zeit verschärften Klassenkampfs schädliche Auffassungen« vertreten. Wieder einmal hatte der politische Fuchs Ulbricht eine für ihn bedrohliche Situation zu seinem Vorteil zu wenden verstanden. Hatten ihn im Sommer 1953 ausgerechnet die gegen seine Politik gerichteten Unruhen gerettet, so bewahrte ihn jetzt die antistalinistische Rebellion in Polen und Ungarn vor den Konsequenzen des XX. Parteitags der KPdSU, den lauter werdenden Forderungen nach Reformen, nach innerparteilicher Demokratie und nach seiner Ablösung. Und auch Mielke konnte sich die Hände reiben. Er hatte sein Ziel erreicht: Er wurde Minister für Staatssicherheit.

Ich befand mich nun in einer wenig beneidenswerten Lage. Einerseits wußte ich, daß Mielke bei Ulbricht meine Ablösung verlangt hatte, andererseits war ich stark versucht, öffentlich Stellung zu Mielkes Ränken zu nehmen und die »Schirdewan-

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Wollweber-Fraktion« als das zu bezeichnen, was sie war, nämlich pure Erfindung. Damit hätte ich mich selbst ins Aus manövriert und der relativen Selbständigkeit meines Dienstes ein Ende bereitet. Wollweber selbst riet mir eindringlich davon ab, die Konfrontation zu suchen. So geriet ich in eine der peinlichsten Situationen meines politischen Lebens: Auf einer Parteikonferenz des Ministeriums verlas ich in Anwesenheit Ulbrichts einen Diskussionsbeitrag, der das erforderliche Maß an »Selbstkritik« aufwies. Jetzt konnte ich nachvollziehen, wie andere sich gefühlt haben mußten, wenn sie dazu erpreßt worden waren, dem Ritual der Parteidisziplin ihre Reverenz zu erweisen. Die Frage, die sich von nun an nie ganz verdrängen ließ, war die, ob meine vermeintliche Selbständigkeit an der Spitze des Nachrichtendienstes nicht bloß eine Illusion war.

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5 Die Betonlösung

Das wirtschaftliche und soziale Gefalle zwischen DDR und Bundesrepublik machte sich 1960 und 1961 bemerkbarer denn je zuvor, und die Folgen waren gravierend. Der Flüchtlingsstrom nach Westen schwoll von Monat zu Monat weiter an; 1961 wäre die Rekordzahl des Jahres 1953 von mehr als 300000 Aussiedlern wahrscheinlich weit überschritten worden. Am 9. August hatte die Zahl der in West-Berliner Aufnahmelagern erfaßten Flüchtlinge den höchsten je an einem Tag registrierten Stand von 1926 Personen erreicht. Und wer hätte es den Arbeitern, Medizinern, Ingenieuren, den jungen Menschen am Beginn ihres Lebensweges verübeln wollen, daß es sie dorthin zog, wo sie gutes Geld verdienen und sich einen entsprechenden Lebensstandard leisten konnten? In ihrem Selbstverständnis verrieten sie nicht die DDR, sondern zogen von einem Teil Deutschlands in einen anderen, wo Verwandte oder Freunde sie oft schon erwarteten.

Doch dieser unablässige Aderlaß war für die wirtschaftlich ohnehin geschwächte DDR nicht länger zu verkraften. Daß etwas geschehen mußte, um dem Einhalt zu gebieten, war allen klar.

Was geschah, war allerdings nicht nur für den Westen eine Überraschung, sondern auch für die meisten Bürger der DDR. Auf die Gefahr, meinen Nimbus als einer der bestinformierten Männer der DDR zu verlieren, muß ich gestehen, daß die Schließung der Grenzen der DDR am 13. August auch für mich unerwartet kam; wie die meisten erfuhr ich von den Straßensperren und Abriegelungen, aus denen die Berliner Mauer entstand, durch die Radionachrichten. Bis heute kann ich nicht mit Gewißheit sagen, ob der Grund dafür in der beinahe krankhaften Geheimhaltungssucht unserer politischen Führung zu sehen ist oder in Mielkes Mißtrauen gegenüber der

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Aufklärung, denn er war selbstverständlich eingeweiht und an allen Vorbereitungen beteiligt.

Grenzkontrolle an der geschlossenen Sektorengrenze

Für meinen Dienst und mich war die Situation zunächst katastrophal. Meine Mitarbeiter zweifelten an meiner Ahnungslosigkeit und mußten mir mangelndes Vertrauen in sie unterstellen, aber schlimmer als das war die durch die Grenzschließung völlig veränderte Lage, auf die wir nicht vorbereitet waren; ab sofort war der Grenzübertritt innerhalb Berlins in beide Richtungen nicht mehr ohne weiteres möglich.

Bevor die Mauer – von unserer Führung als »antifaschistischer Schutzwall«, vom Westen als »Schandmauer« bezeichnet – vollendet und die Stadt mit deutscher Gründlichkeit zweigeteilt war, spielten sich erschütternde Szenen ab: Kinder und Greise wurden an zusammengeknoteten Bettlaken aus den Fenstern jener Häuser, die auf der Grenzlinie standen, in den Westteil Berlins abgeseilt;

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viele ließen sich in die Sprungtücher der West-Berliner Feuerwehr fallen; Dutzende primitiver Tunnel wurden gegraben, durch die Hunderte unter Lebensgefahr den Weg in den Westen suchten, und manche krochen durch die Kanalisation, bis auch sie mit Gittern versperrt wurde.

Ausbesserung an der Mauer

Die Begründung unserer Führung, mit der Schließung der Grenze sei ein Schutzwall gegen einen bevorstehenden Angriff oder das Eindringen von Agenten und Saboteuren errichtet worden, war schon damals unglaubwürdig, weil soziale und wirtschaftliche Faktoren als Ursache auf der Hand lagen. Die DDR hatte nicht nur ungünstigere Startbedingungen als die Bundesrepublik gehabt, sondern auch ungleich mehr Reparationsleistungen als Wiedergutmachung erbringen müssen. Wie viele andere glaubte ich damals, eine Atempause würde uns helfen, nach und nach die Vorzüge des Sozialismus zur Geltung zu bringen.

Die Menschen vom attraktiven Westen Deutschlands abzusperren, war keine Lösung, sondern betonte die Diskrepanz zwischen den beiden deutschen Staaten. Durch die zugemauerte

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Grenze gewannen das Pochen des Westens auf die Menschenrechte und die Forderung nach Reisefreiheit an Überzeugungskraft und beeinflußten den Ausgang des kalten Krieges, auch wenn das damals von mir so nicht erkannt wurde.

Flucht aus dem Fenster auf die Bernauer Straße

Die wesentlichen Gründe, die der DDR-Führung und ihren Verbündeten den Bau einer Mauer als letzte Rettung erscheinen ließen, sind zweifellos innerhalb und nicht außerhalb des Landes zu suchen. Mag sein, daß Ulbricht der Initiator war, der auf Schließung der Grenzen drängte. Die Entscheidung aber fiel in Moskau. Was 1961 in der Mitte Europas an der sensiblen Grenze zwischen den zwei feindlichen Machtblöcken geschah, wurde von den Großmächten und niemandem sonst entschieden.

Nach dem Ende der DDR unterhielt ich mich mit Valentin Falin, einem der besten Kenner der sowjetischen Deutschlandpolitik, über den Mauerbau, und er sagte: »Nach den Ereignissen in Ungarn, im Nahen Osten und in Polen gewann das Thema Stabilität für Chruschtschow an Aktualität. Der zentrale Punkt war die innere Stabilität der DDR. Ich denke, daß die Krise der DDR, die mit der Katastrophe von 1989

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endete, bereits 1953 begonnen hat. Die Zahl derer, die das Regime in der DDR unterstützten, war nie höher als dreißig Prozent, in der Regel niedriger. Folglich stellte sich irgendwann die Frage, die DDR entweder aufzugeben oder an der Grenze zur Bundesrepublik eine Ordnung einzuführen, die es ermöglichte, die Menschen daran zu hindern, das Land zu verlassen.«

Zugemauerte Häuserfront

Falin erinnerte sich, daß Ulbricht im Sommer 1961 erklärt hatte, falls die Abwanderung anhalte, werde es unmöglich sein, die DDR stabil zu erhalten. Die Entscheidung über den Bau der Mauer verlief bekanntlich so, daß die Mitgliedsländer des Warschauer Vertrags via Beschluß die DDR aufforderten, eine wirksame Grenzkontrolle einzurichten. »Damit«, sagte Falin, »wurde Ulbricht formal zum Vollzug des Beschlusses autorisiert. Er handelte also nicht in nationaler Selbständigkeit,

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sondern im Auftrag des Bündnisses.« Daß Ulbricht im Frühsommer 1961 Chruschtschow durch den

sowjetischen Botschafter Perwuchin mitteilen ließ, bei weiterhin offener Grenze sei der Zusammenbruch der DDR unvermeidlich, und daß Chruschtschow Ulbricht durch den Botschafter die Genehmigung überbringen ließ, die Grenze zu schließen und unter äußerster Geheimhaltung sofort mit den Vorbereitungen zu beginnen, bestätigte Julij Kwizinskij, später selbst Botschafter der UdSSR in Bonn, der Perwuchin damals begleitete.

Es steht also außer Frage, daß Chruschtschow und nicht Ulbricht die Hauptrolle in dem Drama spielte, das im Sommer 1961 über die Bühne ging.

Absprachen zum Bau der Mauer zwischen den beiden Großmächten hat es zwar nicht gegeben, wohl aber Kontakte: auf der offiziellen Ebene ziemlich frostige, auf der inoffiziellen jedoch versicherte die UdSSR Washington ihr Interesse an guten Beziehungen. Am Vorabend der Grenzschließung ließ Moskau, ohne die bevorstehende Aktion zu erwähnen, die USA wissen, daß die Sowjetunion nie etwas gegen West-Berlin unternehmen würde, was die USA provozieren könnte.

Nach dem Krisenjahr 1956 hatte die sowjetische Führung unter Chruschtschow sich bemüht, Konflikte und Spannungen aufzulösen oder wenigstens unterhalb einer bestimmten Schwelle zu halten, um sich den eigenen hochgesteckten wirtschaftlichen Zielen widmen zu können. Chruschtschows protzige Zahlen und seine optimistischen Reden lösten zwar bei manchen Zuhörern ein eher ironisches denn bewunderndes Lächeln aus, aber er selbst glaubte an seine ehrgeizigen Pläne. Er nannte Fristen, in denen die USA-Wirtschaft eingeholt und überholt werden sollte. Obwohl solche Ankündigungen in der DDR von Fachleuten mit einem Achselzucken abgetan wurden, überbot die Führung in Berlin die Moskauer Parole mit der abenteuerlichen, jeder Logik hohnsprechenden Losung:

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»Überholen, ohne einzuholen.« Nikitas (wie Chruschtschow in der DDR nicht unfreundlich von vielen genannt wurde) Glaube an den Mais als Wunderwaffe zur Lösung der Versorgungsprobleme ließ findige Agitatoren zu seiner Freude den Begriff Wurst am Stengel für Maiskolben prägen.

Bei seinen Besuchen in der DDR erlebte ich Chruschtschow aus nächster Nähe, zum erstenmal, als er 1957 mit Anastas Mikojan, dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets, von Mielke und mir als »Ehrensicherheitsbetreuern« begleitet wurden. Es war im Sommer, und wir fuhren in einer großen SIL-Limousine mit aufgeklapptem Verdeck, Chruschtschow und Mikojan in der Mitte, Mielke vorn neben dem Fahrer, der Dolmetscher und ich hinten. Das fast eine Woche umfassende Programm strapazierte alle bis zur Erschöpfung – alle außer Chruschtschow, dessen Vitalität jede Vorstellung übertraf. Selbst während der seltenen Atempausen, die Mikojan meist zum Schlafen nutzte, war er immer zum Plaudern und Scherzen aufgelegt. Zur Begrüßung standen überall Menschenmengen am Straßenrand. Natürlich war das organisiert, doch viele Gesichter spiegelten freundliche, sogar herzliche Gefühle. Chruschtschow hielt volkstümliche Reden, die er gern mit witzigen Beispielen und Anekdoten ausschmückte. Er wirkte überzeugend, weil er im Unterschied zu Ulbricht frei sprach.

Bei großen Teilen der DDR-Bevölkerung genoß er eine Sympathie wie vor und nach ihm kein anderer sowjetischer Politiker mit Ausnahme Gorbatschows, doch anders als dieser besaß Chruschtschow die Ausstrahlung des einfachen Mannes. Er wirkte wie ein russischer Bauer und erzählte oft von seinem Heimatort Kalinowka.

Unvergessen ist jene Szene, als er seinen Protest vor den Vereinten Nationen mit dem Schuh auf das Pult hämmerte. Doch gerade diese Spontaneität, die naiv wirkende Art, mit der er in den USA die Propagandatrommel für den Sieg des Kommunismus über den Kapitalismus rührte, imponierte vielen

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Amerikanern.

Nikita Chruschtschow beim Staatsbesuch in der DDR 1957

(Autor: 2. von rechts) Ohne Zweifel besaß Chruschtschow einen starken Willen.

Wie er mit dem gefürchteten Widersacher Berija fertig wurde, ist vielfach beschrieben worden. Als er 1957 die DDR besuchte, hatte er kurz zuvor den Versuch seiner Gegner im Politbüro, ihn zu stürzen, entschlossen durchkreuzt. Unterstützt von Marschall Shukow hatte er die Mitglieder des Zentralkomitees mit Militärflugzeugen zu einer Sondersitzung nach Moskau befördern lassen und auf dieser Sitzung durchgesetzt, daß der von Molotow geführte konservative Flügel aus der Parteispitze entfernt wurde. In der DDR war davon nichts bekannt. Zur Überraschung nicht nur seiner sowjetischen Begleitung, sondern auch der anwesenden DDR-Politiker referierte Chruschtschow bei seinem Besuch der sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf vor großem Publikum in epischer Breite den parteiinternen Konflikt und das Vorgehen »gegen die Fraktionsmitglieder Molotow, Kaganowitsch, Malenkow und Bulganin« sowie den »zu ihnen gestoßenen Schepilow«. Ulbricht, Grotewohl und Mielke dürften dieser offenherzigen Rede mit gemischten

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Gefühlen gelauscht haben. Gewiß fehlte es Chruschtschow an allgemeiner Bildung und

an Realitätssinn. Er neigte dazu, wichtige Entscheidungen spontan zu fällen, und nicht zu Unrecht wurde ihm Voluntarismus vorgeworfen. Bei der Auswahl seiner Berater hatte er nicht immer eine glückliche Hand. Er hatte feste Wurzeln in seiner Vergangenheit und war ebenso fest eingebunden in ein System, das viele seiner vernünftigen Ideen abbremste und schließlich zunichte machte. Aber er war ein Vollblutpolitiker, der an seine Ideale glaubte. Überzeugend war er nicht nur auf Massenkundgebungen, sondern auch bei vertraulichen Verhandlungen mit Politikern der anderen Seite.

Die Entspannung, die für die Sowjetunion lebenswichtig war, hat Chruschtschow nie aus dem Auge verloren. Es wäre ein Irrtum, die Ausschaltung der »Molotow-Fraktion« für einen rein innenpolitischen Vorgang zu halten. Chruschtschow brauchte freie Hand für den angestrebten Ausgleich mit den USA. Für Chruschtschow war der Begriff der friedlichen Koexistenz keine leere Floskel.

Meinem Dienst waren die dem Bonner Auswärtigen Amt vorliegenden Berichte bekannt, aus denen hervorging, daß das State Department in Washington Moskaus erneute Vorschläge zu einem Friedensvertrag mit Deutschland unter Rückgriff auf den alten Plan einer Konföderation der beiden deutschen Staaten so skeptisch beurteilte wie ehedem. Auch dem Plan des polnischen Außenministers Rapacki, Mitteleuropa zur atomwaffenfreien Zone zu machen, stand es ablehnend gegenüber, und besonders empfindlich schien es auf die Idee zu reagieren, Berlin in eine »freie Stadt« umzuwandeln, denn so etwas hätte essentielle Rechte der westlichen Siegermächte tangiert.

Dennoch schien sich beim Gipfeltreffen zwischen Präsident Eisenhower und Chruschtschow 1959 in Camp David eine neue Phase der Verständigung anzubahnen. Eilfertige

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Kommentatoren kündigten bereits das Ende des kalten Krieges an, die Medien feierten den »Geist von Camp David«. Von gut informierten amerikanischen Quellen – nicht etwa von unseren sowjetischen Partnern – erfuhren wir, daß beide Staatsmänner sich in der heiklen Berlin-Frage nähergekommen seien und für ihr nächstes Treffen in Paris eine Vereinbarung anstrebten, die die sowjetischen Vorschläge berücksichtigte.

Aber das Pariser Gipfeltreffen kam nicht zustande, weil die sowjetische Raketenabwehr ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug vom Himmel holte, den überlebenden Piloten Gary Powers vor Gericht stellte und bei nächs ter Gelegenheit gegen den sowjetischen Kundschafter Rudolf Abel austauschte, der in den USA zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilt worden war.

Ein halbes Jahr darauf kündigte sich der Führungswechsel im Weißen Haus an. Fieberhaft versuchten wir, uns Kenntnisse über John F. Kennedy und seine neue Mannschaft zu beschaffen. Es war nicht leicht, zu einer eigenen Wertung zu gelangen, selbst wenn man alle wichtigen Zeitungen las und die Berichte der bundesdeutschen Botschaft in Washington studierte, soweit wir Zugang zu ihnen hatten.

Die Einschätzung des Auswärtigen Amtes verriet zusammen mit anderen Quellen Adenauers Sorge, die USA könnten ihre eigenen Interessen über die ihres deutschen Verbündeten stellen. Mit den Republikanern Eisenhower und Dulles hatte Adenauer sich gut verstanden, während er dem Demokraten Kennedy mißtraute.

Allmählich begann sich für mich ein Bild der unkonventionellen Art abzuzeichnen, mit der Kennedy sein Amt und die Probleme seiner Regierung anging. Daß die sowjetische Presse seine Antrittsrede in vollem Wortlaut abdruckte, setzte auch von Moskau aus ein positives Zeichen.

Doch dann überschlugen sich die Ereignisse, die in die

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gegenteilige Richtung wiesen und Schlimmes befürchten ließen. Was hatten wir von einer amerikanischen Regierung zu erwarten, die ein Unternehmen wie die Intervention in der kubanischen Schweinebucht vom April 1961 nicht nur tolerierte, sondern unterstützte? Denn daß die dort gelandeten Exilkubaner von den USA unterstützt worden waren, unterlag keinem Zweifel.

Der Fehlschlag der Schweinebucht-Invasion bewegte Chruschtschow und seine außenpolitischen Berater dazu, die West-Berlin-Frage offensiver anzugehen. Die wie eine Insel mitten in der DDR liegende Teilstadt war ein gewichtiges Faustpfand, und das war Kennedy bewußt. Anders als Eisenhower 1954 in Guatemala, zögerte er, eigene Streitkräfte gegen Kuba zu entsenden. Die sowjetische Führung wußte, daß die USA mit der Minuteman-Rakete eine Erstschlagwaffe besaßen und daß das Verhältnis bei den Nuklearsprengstoffen 20 : 1 zugunsten der USA stand. Das Bündnis zwischen Sowjetunion und China war zerbrochen, und aus der DDR strömten immer mehr Menschen über die offene Grenze in den Westen. Innerhalb der sowjetischen Führung bildete sich erneut eine Gruppe, die gegen Zugeständnisse an den Westen opponierte. Andererseits konnte Chruschtschow unmittelbar vor der gescheiterten Invasion in der Schweinebucht, die er als Indiz der Führungsschwäche Kennedys deutete, mit dem ersten beinannten Weltraumflug am 12.. April 1961 einen spektakulären Erfolg verbuchen, der psychologisch das nukleare Ungleichgewicht der Supermächte minderte.

In dieser Situation schlug Chruschtschow dem amerikanischen Präsidenten, der mit seinen Beratern nach einer tragfähigen Grundlage für den Umgang mit der Sowjetunion suchte, ein baldiges Gipfeltreffen als Ersatz für den geplatzten Pariser Gipfel vor. Keine unserer Quellen konnte die Haltung der USA zur Berlin-Frage einschätzen. Aufgefallen war ihnen lediglich eine gewisse Zurückhaltung; Kennedys Reden

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enthielten nicht einmal ein Minimum der üblichen Treuebekenntnisse zu Berlin.

Die Fernsehbilder vom Gipfeltreffen in Wien zeigten der Öffentlichkeit zwei fröhliche Politiker, die freundschaftlich miteinander umgingen, doch in den Verhandlungen, die abwechselnd in der amerikanischen und in der sowjetischen Botschaft stattfanden, prallten die Standpunkte hart und unvereinbar aufeinander.

Chruschtschow beharrte für eine Übereinkunft in der deutschen Frage auf der Bedingung, daß West-Berlin in eine »freie Stadt« umgewandelt würde, und drohte, andernfalls bis Ende des Jahres ultimativ mit der DDR einen separaten Friedensvertrag mit allen Konsequenzen zu schließen – womit vor allem die Kontrolle der Verbindungswege nach West-Berlin inklusive der Luftkorridore gemeint war.

Als er entgegen seinen Erwartungen in Kennedy alles andere als einen zögernden oder schwachen Kontrahenten vorfand, reagierte er zornig. Da Chruschtschow nun – womit die US-Experten nicht gerechnet hatten – auch hinsichtlich Laos und des Atomtest-Abkommens kein Entgegenkommen zeigte, unternahm Kennedy in einem Gespräch unter vier Augen den Versuch, die gefährliche Konfrontation in der Berlin-Frage zu entschärfen. Vergeblich. Im nachhinein wissen wir, daß die Kontrahenten sich gegenseitig die Verantwortung für den Fall zuschoben, daß es zum Krieg gekommen wäre. Kennedy soll nach dem Gespräch gesagt haben: »Es kann ein kalter Winter werden.«

Unsere Informationen aus Washington besagten inzwischen, daß im Pentagon hektisch militärische Gegenmaßnahmen für den Fall einer Berlin-Blockade erarbeitet würden, und Washington lancierte ähnlichlautende Meldungen in der Öffentlichkeit.

Aus westlichen Militärstäben hatten wir uns Dokumente zu

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einem Stufenplan verschafft, der Fahrten amerikanischer Garnisonen nach West-Berlin vorsah, die mögliche Sperren mit Waffengewalt durchbrechen sollten, um die Reaktion der Sowjets zu testen. Verteidigungsminister McNamara schlug vor, den nationalen Notstand zu verkünden, und ein anderer Plan sah für den Fall einer Blockade West-Berlins sogar den begrenzten atomaren Erstschlag als Warnung vor. Natürlich mußten wir mit der Möglichkeit rechnen, daß die Konfidenten unserer Quellen diese Informationen absichtlich durchsickern ließen, doch am Ernst der Lage nach dem Gipfel von Wien war nicht zu zweifeln.

Für Klarheit sorgte eine Fernsehansprache Kennedys Ende Juli 1961, in der er sich unmißverständlich zu den Verpflichtungen gegenüber West-Berlin bekannte und jede Aggression gegen die Stadt als »Angriff auf uns alle« bezeichnete. Auch wenn Chruschtschow noch für eine Weile seinen separaten Friedensvertrag mit der DDR im Munde führen sollte, waren die Würfel nunmehr gefallen. Chruschtschow, nicht Kennedy, trat den Rückzug an.

Die unerwartet entschiedene Haltung Kennedys und die Betonung der drei essentials in der Berlin-Frage – Anwesenheit der westlichen Alliierten, freier Zugang und Lebensfähigkeit der Stadt – hatten die Grenze zwischen Krieg und Frieden abgesteckt. So sah die Situation aus, die bis zum Morgen des 13. August 1961 bestanden hatte.

So groß der Schock, die Empörung und die Verzweiflung der Berliner und des Regierenden Bürgermeisters von West-Berlin, der vergeblich energische Reaktionen der Westmächte einforderte, an jenem Sonntag morgen waren, so erleichtert atmeten die Politiker in Washington, London und Paris auf, da die bedrohliche Krise um Berlin entschärft war. »Ihre Rechte, auf West-Berlin bezogen, blieben unangetastet, die befürchtete Kriegsgefahr war abgewendet«, schrieb Willy Brandt in seinen Erinnerungen.

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Sämtliche westliche Geheimdienste traf der 13. August so unvorbereitet wie meinen Dienst. Kennedy wurde erst Stunden später informiert, setzte aber seine unterbrochene Segelpartie fort, nachdem er den obligatorischen »feierlichen Protest« ausgesprochen und Weisung gegeben ha tte, die Lage nicht zu verschärfen, sondern der Sowjetunion zu signalisieren, daß man Ruhe bewahren werde.

Auch Chruschtschow befand sich an diesem Sonntag fernab von Moskau am Schwarzen Meer. Die Reaktion Washingtons, die er richtig voraussah, konnte er in seinem Urlaubsdomizil Pizunda auf der Krim gelassen abwarten, hatte er doch peinlich darauf geachtet, daß die drei essentials nicht verletzt wurden, und Ulbrichts Wünschen, an der Schraube des freien Zugangs nach West-Berlin zu drehen, einen Riegel vorgeschoben.

Ein Fernsehinterview des amerikanischen Senators Fulbright vom 30. Juli – keine zwei Wochen vor dem Mauerbau – war von der deutschen Öffentlichkeit seltsamerweise nicht beachtet worden; darin hatte der einflußreiche Außenpolitiker unter anderem gesagt: »Wenn sie die Grenze abriegeln wollen, können sie das nächste Woche tun – und sogar ohne vertragsbrüchig zu werden. Ich verstehe nicht, weshalb die Ostdeutschen ihre Grenzen nicht schon längst zugemacht haben, denn ich glaube, sie haben jedes Recht dazu.« Jahre später wurde Kennedys drastische Bemerkung bekannt, die lautete: »Eine Mauer ist, verdammt noch mal, besser als ein Krieg.«

Die erste große Aufregung schien verflogen, als ein Zwischenfall noch einmal für Schrecken sorgte. Kennedy hatte General Lucius D. Clay, seinerzeit als »Held der Luftbrücke« gefeiert, als Boten der »moralischen Aufrüstung« nach West-Berlin entsandt, wo dieser, bekannt als erbitterter Kommunistenfresser und hitziger Amateurpolitiker, einen relativ unbedeutenden Vorfall benutzte, um große Politik zu machen, wie er sie verstand.

Allan Lightner, der höchste Zivilbeamte der US-Mission in

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West-Berlin, war am Checkpoint Charly von einem DDR-Posten aufgefordert worden, sich auszuweisen, obwohl die militärischen wie die zivilen Angehörigen der Westmächte das Recht auf ungehinderten Zugang nach Ost-Berlin besaßen. Sogleich sah Clay die Stunde gekommen, um ein Exempel zu statuieren. Er entsandte zunächst zwei Militärpolizisten in Zivil samt riesigem Presseaufgebot an einen Grenzübergang nach Ost-Berlin, wo sie versuchten, die Posten zu passieren, ohne sich auszuweisen. Zurückgewiesen, kehrten sie in Begleitung von drei Jeeps mit Soldaten in voller Kampfausrüstung zurück, wiederholten das ganze Spektakel an drei Tagen hintereinander, und am dritten Tag ließ Clay zur Krönung der Veranstaltung Panzer am Checkpoint Charly auffahren, worauf hinter der Grenze sowjetische Panzer erschienen. Dann wurde es Moskau und Washington zu bunt; beide Seiten zogen ihre Panzer ab, und Washington rief Clay aus West-Berlin zurück.

Eine aktuelle Krise war wieder einmal überwunden, nicht aber der kalte Krieg. Das wurde uns mehr als deutlich, als Kennedy fast zwei Jahre nach Errichtung der Mauer im Juni 1963 West-Berlin besuchte und vor fast 400000 Menschen die berühmten Worte »Ich bin ein Berliner!« rief, Worte, die eine Absage an Chruschtschow waren.

Und dennoch nahm beinahe unmerklich eine neue Phase in der Weltpolitik ihren Beginn. Mit seinem Rücktritt im Oktober 1963 zollte der siebenundachtzigjährige Kanzler Adenauer nicht nur dem Alter Tribut. Seine Zeit war auch im übertragenen Sinn abgelaufen. Mit ihm war keine Entspannung möglich gewesen, und selbst in seiner eigenen Partei mehrten sich Anzeichen der Unzufriedenheit. Auch wir merkten, daß bundesdeutsche Politiker vermehrt vom Gedanken der Konfrontation mit der östlichen Großmacht abrückten, wobei das Beispiel der Flexibilität des bewunderten amerikanischen Präsidenten sicher keine geringe Rolle spielte. Eine Woche nach Kennedys Berlin-Besuch hielt Egon Bahr eine vielbeachtete Rede vor der

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Evangelischen Akademie in Tutzing, deren Tragweite damals nicht vorauszusehen war. Sie hatte das Thema »Wandel durch Annäherung« und ist später als Konzeption einer neuen Ostpolitik in die Geschichte eingegangen. Willy Brandt erklärte auf derselben Tagung: »Es gibt eine Lösung der deutschen Frage nur mit der Sowjetunion, nicht gegen sie.« Durch die Grenzschließung am 13. August 1961 war mein Dienst nicht nur in der prekären Lage, den Grenzverkehr unserer Kuriere und Agenten neu organisieren zu müssen, sondern sah sich obendrein den Bestrebungen der Mielke unterstellten Abwehr ausgesetzt, an die Identität unserer Quellen und Illegalen heranzukommen, was wir strikt ablehnen. So kam es zu der paradoxen Situation, daß die Grenzkontrollen der eigenen Seite für unseren Nachrichtendienst das weitaus größere Problem waren als die relativ harmlosen Kontrollen auf der Westseite.

Sogar Treffen am Rand der Transitautobahnen, die für unsere westlichen Informanten oft leichter zu bewerkstelligen waren als DDR-Besuche, mußten nun so eingerichtet werden, daß wir dabei nicht ins Visier unserer Abwehr gerieten. Bis zur Grenzschließung war es ein leichtes gewesen, unsere Mitarbeiter im großen Flüchtlingsstrom nach Westen mitschwimmen zu lassen. Jetzt war dieser Weg versperrt. Eine Reihe von Aussiedlungskandidaten steckte mitten in der Vorbereitung, und da die grüne Grenze noch nicht so dicht war, gingen wir das Wagnis ein, unsere Leute über Fluchtwege auszuschleusen.

Die Praxis der Übersiedlung mußte völlig neu durchdacht werden. Sie wurde sehr viel aufwendiger, angefangen bei den erforderlichen Papieren bis hin zur Durchforstung des bundesdeutschen Meldesystems nach Lücken bei Zuzügen aus dem Ausland. Manche unserer Kandidaten statteten wir mit der Identität von Opfern der Luftangriffe auf Dresden aus, weil die vielen Flüchtlinge unter den Toten nicht vom zentralen Melderegister erfaßt waren. Es konnte vorkommen, daß der ursprüngliche Inhaber einer solchen Identität noch lebte und sich

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in der Bundesrepublik aufhielt, aber oft kam es nicht vor. Zwischen der Abteilung VI unserer HVA, die für die

Übersiedlungen zuständig war, und der sogenannten illegalen Linie der Ersten Hauptverwaltung des KGB entwickelten sich im Lauf der Jahre enge, ja freundschaftliche Arbeitsbeziehungen, die auch darin gründeten, daß Jurij Andropow, der Vorsitzende des KGB, die Grenzen der nachrichtendienstlichen Möglichkeiten legaler Residenturen in Auslandsvertretungen richtig einschätzte und sich für die Stärkung der illegalen Linie aussprach.

Unsere Abteilung VI war für die Herstellung sämtlicher Dokumente zuständig, die benötigt wurden. Eine wahre Meisterleistung vollbrachten die Experten dieser Abteilung nach meinem Ausscheiden aus dem Dienst: die weltweit von Kennern neidlos bewunderte Fälschung der vermeintlich fälschungssicheren neuen bundesdeutschen Reisepässe und Personalausweise.

Da unsere Vorkehrungen auch im Ernstfall, also bei Unterbrechung aller im Frieden offenen Verbindungswege, funktionieren mußten, bildeten wir die illegalen Residenten im Senden und Empfangen verschlüsselter Funksprüche aus. Dazu dienten ihnen eigens gefertigte getarnte Kleinstgeräte, die ständig verbessert wurden. In den ersten Jahren mußten unsere Männer und Frauen das Funken noch mühselig an Morsetasten lernen und üben, während sie zuletzt den chiffrierten Text ohne viel Aufhebens in wenigen Sekunden über einen Schnellgeber absetzen konnten, der nicht größer als eine Zigarettenschachtel war. Sie lebten im ständigen Zweikampf mit der Peiltechnik der gegnerischen Abwehr, doch keiner unserer Leute wurde durch das Funken entdeckt.

Der einseitige Funk, das Senden von der Zentrale ins Einsatzgebiet, blieb immer eines der wichtigsten Verbindungsmittel. Mit einem im Handel erhältlichen Gerät – möglichst mit gespreizter Kurzwelle – konnte der Empfänger

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die verschlüsselten Funksprüche empfangen. Der Bundesnachrichtendienst praktizierte übrigens das gleiche System, das er Rundspruchdienst nannte. So gut und einfach diese Methode war, hing doch alles von der Zuverlässigkeit des Chiffresystems ab. Auf die fatalen Folgen der Entschlüsselung unserer Funksprüche aus der Zeit vor 1961 komme ich später noch zurück.

Um die Mitte der 70er Jahre tauchte ein neues, bis dahin kaum für möglich gehaltenes technisches Phänomen auf: Normale Radioempfänger konnten durch eine bestimmte Abstrahlung zur Gefahr werden. Das bedeutete die schwere Entscheidung, entweder mit einem normalen Gerät die geringe Wahrscheinlichkeit in Kauf zu nehmen, daß man angepeilt wurde, oder einen speziellen Empfänger zu benutzen, der einen im Fall der Entdeckung der Spionage überführen mußte.

In Anbetracht all dessen war es nur zu verständlich, daß die Regeln der Konspiration von uns ernster denn je genommen wurden, sowohl innerhalb unserer Hauptverwaltung als auch gegenüber den sowjetischen Verbindungsoffizieren und erst recht gegenüber der Abwehr unseres Ministeriums. Niemand außer den unmittelbar mit einem Vorgang befaßten Mitarbeitern durfte irgendwelche Kenntnisse über das Netz und die Identität unserer Agenten besitzen. Die ständig wiederkehrenden Bestrebungen Mielkes und der Abwehr, bestehende Sonderregelungen aufzuheben und eine zentrale Erfassung der Agenturen durchzusetzen, gegen die ich mich ebenso unermüdlich zur Wehr setzte, sorgten für dauerhafte Reibung. Da er selbst die Konspiration in jedem Befehl und jeder Rede bemühte, konnte er schlecht etwas dagegen sagen. Bis ich den Dienst verließ, war die zentrale Erfassung für die HVA ausschließlich mit vier Grunddaten zur Person möglich, so daß unsere Quellen in keinerlei Weise von zehntausenden anderer Personen, die irgendwann in unser Blickfeld gerieten, zu unterscheiden waren oder sind.

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Die erschwerten Bedingungen beim Grenzübertritt und der Hickhack mit der Abwehr waren nicht unsere einzigen Probleme; schwere personelle Verluste zwangen uns zu erhöhten Anstrengungen. Der für die christlichen Parteien der Bundesrepublik verantwortliche Referatsleiter der Aufklärung, Max Heim, hatte sich in den Westen abgesetzt und sein gesamtes Wissen der Gegenseite verraten. Es kam zwar nicht zu einer Wiederholung der seinerzeitigen »Vulkan-Affäre«, aber einige Quellen wurden festgenommen. Besonders hart traf uns die Verhaftung Wolfram von Hansteins, des Generalsekretärs der Liga für Menschenrechte, der zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.

Von Hanstein hatte sich unserer Zusammenarbeit mit Leib und Seele verschrieben und eine große Zahl wichtiger Verbindungen aufgebaut. Er entstammte einer alten Adelsfamilie; sein Vater und Großvater waren bekannte Wissenschaftler und Schriftsteller gewesen, Anhänger eines humanistischen Weltbilds. Wolfram von Hanstein folgte dieser Tradition, als er sich gegen die aufkommende NS-Bewegung wandte. Nach 1933 verdiente er seinen Lebensunterhalt mit historischen Romanen. Der Einberufung zur Wehrmacht entzog er sich, indem er in der Illegalität untertauchte.

Den ersten Hinweis auf von Hanstein hatte ich von Wilhelm Zaisser erhalten. Von Hanstein war einige Jahre in der Sowjetunion inhaftiert gewesen und lebte seit seiner Freilassung in Dresden. Wider Erwarten fand sich nicht nur er, sondern auch seine Frau ohne Zögern bereit, für uns zu arbeiten und deshalb nach Westdeutschland überzusiedeln. Ihr Grundstück samt Villa traten sie an die vom Krieg schwer heimgesuchte Stadt Dresden ab, die wertvolle Einrichtung überließen sie uns zur Nutzung.

Es war erstaunlich, mit welcher Zielstrebigkeit und Energie der auf die Sechzig zugehende von Hanstein Verbindungen knüpfte und aktivierte. Als besonders wertvoll erwiesen sich seine Kontakte zu Heinrich Krone, Adenauers engstem

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Vertrauten, der als Sonderminister für Sicherheitsfragen zuständig war, und zu Ernst Lemmer, dem Minister für Gesamtdeutsche Fragen und führenden Kopf des Kuratoriums Unteilbares Deutschland (KUD). Von Hanstein konzentrierte sich vorrangig auf alle Aktivitäten, die gegen die DDR und andere sozialistische Staaten gerichtet waren. Seine Tätigkeit im Kuratorium Unteilbares Deutschland ermöglichte uns Einblicke in die konzeptionellen Vorstellungen der Bonner Regierung und die Koordinierung der Opposition. Sein besonders enger Kontakt zu Stephan Thomas, dem Leiter des Ostbüros der SPD, und seine Kontakte zu den Komitees »Rettet die Freiheit« und »Vereinigung der Opfer des Stalinismus« verhalfen uns frühzeitig zu allem Wissenswerten über diese Organisationen.

Wie sehr von Hanstein uns verbunden war, zeigt am deutlichsten vielleicht der Umstand, daß er während seiner Haft für uns die Verbindung zu drei interessanten Mithäftlingen herstellte. Nach seiner Freilassung kehrte er in die DDR zurück, wo er 1965 verstarb.

Ebenfalls von Heim verraten wurde Freiherr von Epp, der Träger eines in Deutschland bekannten Namens, ein Verwandter jenes berüchtigten Ritters von Epp, der in den Anfängen der NSDAP eine Rolle gespielt hatte. Von Epp trat aus freien Stücken mit uns in Verbindung. Er war von dem Drang erfüllt, Wiedergutmachung zu leisten und eine eventuelle Wiederkehr des Nationalsozialismus in Deutschland zu verhindern. Bei den ersten Gesprächen unterbreitete er mir abenteuerliche Vorschläge, die bis an die Grenze des Terrorismus gingen, und nur durch längere Debatten war er von diesen Vorstellungen abzubringen. Als er verraten wurde, hatte er gerade eine vielversprechende Quelle in der CDU erschlossen.

Zum gleichen Zeitpunkt eröffneten sich in Bonn neue Perspektiven. Mit zwei Millionen hinzugewonnener Stimmen erreichten die Sozialdemokraten ihr bestes Wahlergebnis seit Kriegsende. Zum erstenmal war nicht nur in haltlosen

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Spekulationen von einer möglichen Regierungsbeteiligung der SPD die Rede. Es kam nicht zur großen Koalition; die Regierungspolitik wurde weiterhin von Christdemokraten und Freien Demokraten bestimmt. Doch für uns galt es, auch die geringsten Anzeichen zu verfolgen und zu bewerten, die zum Abbau des kalten Krieges und zu eine r dauerhaften Entspannung führen konnten.

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6 Spionage aus Liebe

Die enge Verbindung zwischen Spionage und Liebesgeschichten ist weder eine Erfindung der Kolportage noch der Geheimdienste, sondern so alt wie das Zweitälteste Gewerbe der Welt selbst.

Im 4. Buch Mose wird geschildert, wie der Herr Mose gebot, Männer als Kundschafter in das Land Kanaan zu entsenden, und wie Mose zwölf Männer auswählte, aus jedem Stamm einen. Einem der Männer, Hosea, dem Sohne Nuns, gab er in bester geheimdienstlicher Tradition den Decknamen Josua. Nachdem die Kundschafter Informationen über die Bewohner Kanaans und die Wirtschaftspolitik des Landes, in dem Milch und Honig floß, gesammelt hatten, schnitten sie eine Weinrebe ab, mit einer Traube, die so schwer war, daß zwei der Männer sie an einer Stange nach Hause tragen mußten. Im Buch Josua erfahren wir, wie Josua als Amtsnachfolger Mose zwei Kundschafter nach Jericho entsandte, wo diese im Hause der Rahab, einer Dirne, übernachteten – ein erstes Aufeinandertreffen der zwei weltältesten Gewerbe. Die Abwehrleute des Königs von Jericho informierten ihn von der Anwesenheit der Fremden in Rahabs Haus. Als Rahab die nahenden Tugendwächter erspähte, versteckte sie die Spione auf dem Dach und behauptete gegenüber den Ermittlern, sie habe zwar Fremde bewirtet, diese seien aber bereits abgereist. So rettete sie zwei sehr geheimen Agenten das Leben, die sich später revanchierten, indem sie ihr das Leben retteten.

Weniger launig läßt sich feststellen, daß die Verknüpfung von Spionage und Liebe naheliegend, ja zwangsläufig ist. Zu den vielfältigen Ursprüngen, in denen die Motivation derer, die sich für meinen Dienst engagierten, gründete, gehört neben der politischen Überzeugung, dem Idealismus, den finanziellen Motiven und denen des unbefriedigten Ehrgeizes auch das der

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Liebe, der Zuneigung zu einem Mitarbeiter meines Dienstes. Die wohl eher mediengerechte Behauptung, meine HV

Aufklärung habe regelrechte Romeo-Spione auf unschuldige weibliche Wesen in der Bundesrepublik angesetzt, gewann schnell ein unausrottbares Eigenleben, und seitdem haftet meinem Dienst der zweifelhafte Ruf an, Herzensbrecher ausgebildet zu haben, um auf diesem Weg die Geheimnisse der Bonner Regierung auszukundschaften.

Ich brauche wohl nicht eigens zu betonen, daß eine solche Abteilung in den gleichen Bereich gehört wie die des MI 5, in der die jeweils neuesten Hilfmittel für den Agenten 007 erfunden und getestet werden, den Bereich der Phantasie. Daß dieses Romeo-Klischee überhaupt entstehen konnte, hat damit zu tun, daß die meisten Kundschafter, die wir in den Westen entsandten, alleinstehende Männer waren.

Glaubhafte »Legenden« waren für Ehepaare weit schwieriger zu erstellen als für Alleinstehende. Alleinstehende, die sich für die HVA in die Bundesrepublik aufmachten, waren in den weitaus meisten Fällen Männer und nicht Frauen. Daß sie im Westen Freundinnen kennenlernten, war von unserer Seite aus nicht untersagt, und wenn sich dabei Bekanntschaften ergaben, die für unseren Dienst lohnende Aussichten beinhalteten, sahen wir es nicht als geboten an, unsere Leute davon abzuhalten. Das aber bedeutete noch lange nicht, daß wir »Agenten mit spezieller Auftragsstruktur« in Herzensdingen in die Bundesrepublik aussandten, damit sie dort den ledigen Fräulein den Kopf und den Verstand verdrehten.

Ein erster »Romeo« war zweifellos »Felix«, dessen Liebe zu seiner Quelle »Norma« in Bonn so unglücklich endete, als wir ihn Hals über Kopf abziehen mußten. Was blieb, waren ein gebrochenes Herz, eine moralische Bürde, an der »Felix« noch lange zu tragen hatte, und die Erinnerung an eine entfernte Bekannte, die er uns als mögliche Quelle empfahl. Es handelte sich um eine Sekretärin in Globkes Büro, von der er den

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Eindruck hatte, sie könne durch den richtigen Mann möglicherweise beeinflußbar sein.

Wir entschieden uns für Herbert S., Deckname Astor, als Kandidaten. Er war Sportflieger und ehemaliger Major im Stab des Generalfeldmarschalls Kesselring. Ähnlich anderen Offizieren hatte er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft eine politische Wandlung durchgemacht. Nach seiner Entlassung bekannte er sich zu den Zielen der DDR und trat der Nationaldemokratische Partei Deutschlands – NDPD – bei, in der zahlreiche ehemalige Offiziere und kleine Mitläufer der Nazis eine neue politische Heimat fanden. Seine Mitgliedschaft in der NSDAP, die er nicht verschwiegen hatte, kam uns ebenso wie seine Beziehung zu anderen einstigen Offizieren aus der Umgebung Kesselrings zugute, um seine Möglichkeiten in Richtung Bonn zu aktivieren und eine glaubwürdige Geschichte für seinen Weggang aus der DDR zu ersinnen.

Mitte der 50er Jahre machte er sich auf nach Bonn. Er wurde Immobilienmakler und trat in den exklusiven Fliegersportklub von Hangelar ein, wo Regierungsmitglieder verkehrten. Vor diesem Hintergrund knüpfte er unaufdringlich eine Beziehung zu »Gudrun« an, der Dame, die »Felix« genannt hatte. Schon in der ersten Phase der Bekanntschaft »Astors« mit »Gudrun« erhielten wir Informationen über Personen und Vorgänge aus Adenauers unmittelbarer Umgebung, ebenso über Gehlens Kontakte zum Kanzler und dessen Staatssekretär Globke.

Sie wurden ein Paar. Nach einiger Zeit schlug »Astor« vor, seine Freundin anzuwerben, indem er sich als sowjetischer Aufklärungsoffizier ausgab. Das fanden wir merkwürdig, aber sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen: Eine Großmacht wie die UdSSR war für seine Geliebte etwas ganz anderes als ein Staat wie die DDR, dessen Souveränität sie nur belächeln konnte. In einem abgelegenen Wintersportort in der Schweiz fand die offizielle Anwerbung statt.

Leider verschlimmerte ein Lungenleiden »Astors« sich so

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dramatisch, daß wir ihn zurückholen mußten, und das bedeutete das Ende der Zusammenarbeit mit »Gudrun«, seiner Freundin. Sie hatte aus Liebe zu ihm spioniert, nicht aus Neugierde oder Abenteuerlust. Das Ende der Beziehung gab uns jedoch Gelegenheit, das Wissen, das wir durch »Gudrun« erworben hatten, in unserer Kampagne gegen Globke zu verwenden, dessen Rücktritt im Jahr 1963 wir um einiges beschleunigt haben.

Eine gute Besetzung war auch Roland G., Direktor eines angesehenen Theaters in Sachsen, der auf der Bühne vielleicht eher den Don Giovanni als den jugendlichen Romeo gegeben hätte. Er war ein hochintelligenter, gutaussehender Mann mit dem Naturtalent, in jede Rolle zu schlüpfen, kurzum, der geborene Kandidat für das, was uns vorschwebte. 1961 fuhr er in unserem Auftrag nach Bonn, um dort eine Frau kennenzulernen, die als Dolmetscherin an der Nato-Zentrale in Fontainebleau bei Paris arbeitete.

Zu diesem Zweck schlüpfte er in die Rolle eines dänischen Journalisten namens Kai Petersen und sprach Deutsch mit dänischem Akzent. Unser Zielobjekt, passenderweise mit dem Namen Margarete, war hübsch und katholisch, fleißig, sittsam und scheu. Andere Romeo-Agenten hatten sich bereits vergeblich um sie bemüht. Doch Roland G. kannte das Wort Niederlage nicht. Es gelang ihm, Margarete zu einer Reise nach Wien zu überreden, wo er als galanter Verehrer glänzte, der im Kunsthistorischen Museum ebenso zu Hause war wie im Prater oder beim Heurigen. Im Verlauf dieser Reise verführte er die junge Dame und enthüllte ihr seine Identität als Spion, indem er sich als Offizier der dänischen militärischen Aufklärung ausgab.

Eine Zeitlang ging alles gut: Margarete beschaffte ihrem Geliebten Nato-Geheiminformationen, die er an uns weitergab. Eines Tages jedoch eröffnete sie ihm, daß sie zunehmend Gewissensbisse habe, verstärkt durch den Umstand, daß sie in der Sünde mit ihm zusammenlebte. Unser Mann überlegte, was

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zu tun sei, beriet sich mit seinen Verbindungsleuten in Karl-Marx-Stadt und begab sich zusammen mit Margarete nach Jutland. Dort erwartete sie ein Mitarbeiter unseres Dienstes, der eigens hatte Dänisch lernen müssen, als Feldkaplan verkleidet, um Margarete die Beichte abzunehmen.

Als wir Roland G. zurückziehen mußten, weil wir fürchteten, er sei ins Visier der Abwehr geraten, blieb Margarete im Westen. Obwohl sie eine Zeitlang sogar bereit war, einen anderen Agenten mit Material zu versorgen, verlor sie bald das Interesse daran. Wie »Gudrun« hatte auch sie nur um des geliebten Mannes willen spioniert.

Wenn diese Romeo-Fälle etwas beweisen, dann beweisen sie, daß niemand – und schon gar keine Frau – gegen den eigenen Willen zur Spionage gezwungen werden kann. Das bestätigt auch der Fall einer Quelle mit Decknamen Schneider, die uns über Jahre hinweg wertvolle Informationen aus dem Bundeskanzleramt lieferte. Sie hatte sich in unseren Mitarbeiter verliebt und sogar um seinetwillen dessen politische Überzeugung zu der ihren gemacht; bei einem Treffen in der DDR bat sie um Aufnahme in die SED. Nach seinem Abzug war sie weiterhin für uns tätig, doch eines Tages trat ein anderer Mann in ihr Leben, dem sie alles gestand und der sie dazu bewegte, ihre Stelle zu kündigen, um ein neues Leben mit ihm zu beginnen. Obwohl sie auch danach noch zu Treffs nach Ost-Berlin kam, mußten wir ohnmächtig mitansehen, wie uns eine unserer besten Quellen verlorenging.

Weniger Glück hatten wir mit der Quelle »Hulda«. Unser Mann mit dem Decknamen Reggentin fand keinen anderen Weg, als sie zu ehelichen, um an die gesuchten Informationen heranzukommen, doch selbst nach der Eheschließung blieb »Hulda« ihrem Dienstherrn Rainer Barzel gegenüber loyal und ihrem Ehemann gegenüber enttäuschend zugeknöpft. Als die Abwehr unserem Mann auf die Fährte kam und wir ihn überstürzt abziehen mußten, war es ein herbes Erwachen für die

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Getäuschte. Gerda O. hatte zu Beginn der 60er Jahre als Neunzehnjährige

an der Pariser Sprachenschule Alliance Française ihren späteren Ehemann und Führungsoffizier Herbert S. kennengelernt. Aus der Liebelei wurde Liebe. Herbert – Deckname Kranz – entdeckte Gerda seine wahre Identität, und sie arbeitete von da an bewußt für unseren Dienst unter dem Decknamen Rita, und das mit außergewöhnlicher Effizienz. Ab 1966 war sie in der Abteilung Telco tätig, dem Nachrichtenzentrum des Auswärtigen Amtes, wo die Telegramme aller bundesdeutschen Botschaften dechiffriert und weitergeleitet wurden.

Der Arbeitsstil bei Telco war lässig, um es euphemistisch auszudrücken, und »Rita« war kein ängstliches Naturell; immer wieder stopfte sie kaltblütig meterlange Telegrafenpapierstreifen in ihre geräumige Handtasche und spazierte damit aus dem Haus, ohne daß man sie durchsucht hätte. Als sie für drei Monate als Chiffreuse an die deutsche Botschaft in Washington versetzt wurde, erhielten wir durch sie ungeahnte Einblicke in Interna der deutschamerikanischen Beziehungen.

Anfang der 70er Jahre wurde »Rita« dann an die Bonner Mission in Warschau versetzt. Doch nun begann es in unserer Zusammenarbeit zu kriseln, was leider den Zustand der Ehe zwischen »Rita« und »Kranz« widerspiegelte. Herbert S. hatte in der Bundesrepublik bleiben müssen, und seine Frau hatte in Warschau einen westdeutschen Journalisten kennengelernt, einen getarnten Agenten des BND, in den sie sich verliebte und dem sie ihr Herz ausschüttete. Die Zuneigung zu »Kranz« war immerhin noch so lebendig, daß »Rita« ihn anrief und ihm eine Warnung zukommen ließ.

Was dann geschah, klingt eher wie ein Spionagekrimi als wie die nüchterne Realität: Herbert S., der Enttarnung knapp entronnen, saß bei uns, Gerda S. wurde in der Warschauer Villa des bundesdeutschen Botschafters argusäugig bewacht. Noch hofften wir, daß sie ihre Meinung ändern und nicht nach Bonn

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zurückkehren würde, doch vergebens. Meine polnischen Kollegen versprachen mir, die geringste Chance zu nutzen, um »Ritas« Abflug zu verhindern, doch eine solche Chance ergab sich nicht. Als der Botschafter und ein Botschaftsrat zusammen mit zwei BND-Mitarbeitern »Rita« zur Abfertigung am Flughafen begleitete, trat dort ein polnischer Offizier vor und bot ihr Asyl in Warschau an. Sie zögerte für einen Augenblick – der dem Botschafter zweifellos wie eine Ewigkeit vorgekommen sein muß –, doch dann schüttelte sie den Kopf und stieg ins Flugzeug.

Für meinen Dienst war das kein Ruhmesblatt. »Rita« hatte den westdeutschen Behörden bereitwillig alles über uns erzählt, was sie wußte, und »Kranz« war in der Bundesrepublik durch seine Enttarnung verbrannt. Doch kaum aus dem Westen abgezogen, lernte er im Urlaub an der Schwarzmeerküste Bulgariens eine Frau kennen, die eine feste Beziehung mit ihm einging, obwohl er ihr notgedrungen reinen Wein einschenkte, als sie in einer Illustrierten in einem Bericht über »Ritas« Prozeß auf sein Foto und seinen Namen stieß. Seine neue Liebe, Deckname Inge, suchte sich zielstrebig eine Stelle in Bonn und fand tatsächlich in relativ kurzer Zeit eine Anstellung im Bundeskanzleramt. Jahrelang versorgte sie uns von dort mit Informationen. In ihrem Büro war sie beliebt, weil sie gern für Kolleginnen einsprang, wenn abends länger gearbeitet werden mußte, denn dann konnte sie in Ruhe die Extrakopien für unseren Dienst machen.

Obwohl »Inge« wußte, daß ein Eheleben mit »Kranz« in der Bundesrepublik nicht möglich gewesen wäre, wollte sie ihn unbedingt heiraten, wenigstens in der DDR. Trotz unserer Bedenken ließen wir ihr Papiere auf ihren Mädchennamen ausstellen, und in einem Standesamt in Lichtenberg gaben die beiden sich das Jawort. Was sie nicht wußten, war, daß die Seite im Heiratsregister mit ihrem Eintrag nach der Veranstaltung entfernt und vernichtet wurde. Erst Jahre später, als »Inge« ohne

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eigenes Verschulden enttarnt und verurteilt wurde, erfuhren die beiden zu ihrer Empörung, daß ihre Ehe bislang null und nichtig gewesen war.

Das Jahr 1979 war ein schwarzes Jahr für meinen Dienst. Ingrid Garbe, Sekretärin in der bundesdeutschen Nato-Botschaft, wurde Anfang des Jahres enttarnt und verhaftet. Die Medien behaupteten, sie sei »so gefährlich wie Guillaume« gewesen. Im März trat Ursel Lorenzen, Mitarbeiterin des Nato-Generalsekretariats, in die DDR über und erklärte in einem Fernsehauftritt, daß sie aus Gewissensgründen diesen Schritt getan habe. Am gleichen Abend wurde in den Nachrichten gemeldet, Ursula H., eine Sekretärin in der CDU-Führung, sei enttarnt und mitsamt ihrem Ehemann verhaftet worden. Der Name sagte mir zunächst nichts – war es »Christel«, die für den Generalsekretär der CDU arbeitete? Oder »Herta«, die im Vorzimmer des außenpolitischen Sprechers der Fraktion saß? Oder »Uta«, die in der Bundesgeschäftsstelle der Partei beschäftigt war? Sicher war nur, daß allen drei Frauen eines gemeinsam war: Ihre Ehemänner oder Lebensgefährten stammten aus der DDR, lebten unter falscher Identität in der Bundesrepublik und führten mit den Papieren eines Ausgewanderten oder eines Verstorbenen, dessen Tod nicht registriert war, eine sogenannte Doppelgängerexistenz. Offenbar war es der westdeutschen Abwehr gelungen, diese Tarnung, die uns bisher sicher vorgekommen war, zu entschlüsseln.

Alarmiert durch die Festnahmen innerhalb weniger Wochen, beschloß ich, kein weiteres Risiko einzugehen und vor allem die möglicherweise gefährdeten Quellen in der Bundesrepublik keinem unnötigen Risiko auszusetzen. Am selben Abend noch ordnete ich den Rückzug an, ohne Aufsehen, aber unverzüglich. So kam es, daß sich kurz darauf Inge G., die Sekretärin von Dr. Werner Marx, und ihr Ehemann, Kurt Biedenkopfs Sekretärin Christel B. samt Lebensgefährten und Helga R., Sekretärin des Staatssekretärs Manfred Lahnstein, ebenfalls mit ihrem

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Lebensgefährten, in die DDR absetzten. Die Boulevardpresse überschlug sich – Sekretärinnen, die aus

Liebe zu Spioninnen wurden, vielleicht gar aus Gründen sexueller Abhängigkeit oder Angst vor Schlägen, das ließ sich weidlich ausschlachten. Heribert Hellenbroich, damals Abteilungsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz, sah die Sache wesentlich differenzierter und sagte dazu: »Die besondere Beziehung entsteht in der Regel ohne Druckmittel, ohne Erpressung, auch Geld spielt keine Rolle, sondern eben nur dieses ideelle Motiv.«

Wie aber war die Gegenseite uns mit einemmal auf die Doppelgänger-Identität unserer Männer gekommen?

Als in den Nachwehen der Guillaume-Affäre Dr. Richard Meier Günther Nollau als Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz abgelöst hatte, waren in dieser Behörde mit einem Schlag größere Professionalität und höhere Effizienz eingekehrt, und das bekamen wir durch Rückschläge und Erschwernisse unserer Arbeit schmerzlich zu spüren.

Die Verhaftungen unserer Quellen Anfang 1979 und mein Entschluß, alle eventuell gefährdeten Personen zurückzurufen, waren die späte und für meinen Dienst schmerzlichste Folge der sogenannten Aktion Anmeldung, durch die der Verfassungsschutz seit Beginn der 70er Jahre gezielt alle aus dem Ausland in die Bundesrepublik einreisenden Personen auf bestimmte Rastermerkmale überprüfte. Scharen von Rentnern durchkämmten die Karteien der westdeutschen Meldebehörden, und Zollbeamte waren angewiesen, männliche Einzelreisende aus der DDR im Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig Jahren mit auffallend wenig Gepäck und unmodischem Haarschnitt besonders scharf ins Auge zu fassen und auszufragen.

Immer wieder hatten wir uns den Kopf zerbrochen, wenn ausgerechnet Mitarbeiter mit guten Papieren den Argwohn der

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bundesdeutschen Abwehr erregten, doch diese Einzelfälle hatten wir dem Zufall oder – Alptraum jedes Geheimdienstes der Tätigkeit eines Maulwurfs zugeschrieben. Erst die unnatürliche Häufung von Enttarnungen in den ersten Monaten des Jahres 1979, gekrönt von einem Fernsehauftritt Dr. Meiers, in dem er die Verhaftung von sechzehn DDR-Spionen bekanntgab, sorgte für unmißverständliche Klarheit.

Wir zogen alle Mitarbeiter zurück, die möglicherweise gefährdet waren. Das war zwar aufwendig, aber kein Ding der Unmöglichkeit. Unverständlich bleibt mir, warum der Verfassungsschutz seine »Aktion Anmeldung« damals publik gemacht und uns von sich aus über seine Rasterfahndung aufgeklärt hat. Auf lange Sicht hätte er meinem Dienst mit einer wohldosierten Salamitaktik weit mehr schaden können – materiell mit gezielten Festnahmen und psychologisch durch die Ungewißheit und die Zweifel, die er bei uns gesät hätte. So, wie die Dinge nun lagen, blieben die Auswirkungen der Aktion begrenzt. Nach den ersten spektakulären Festnahmen wurden bis Mitte der 80er Jahre noch etwa zweihundert Falschidentitäten herausgefunden, von denen nur ein minimaler Prozentsatz geheimdienstlich relevant war.

Humor bewies die Katholische Nachrichtenagentur, aus der wir wegen der »Aktion Anmeldung« eine Quelle hatten abziehen müssen. Die Agentur schrieb daraufhin einen Brief an Mielke, in dem sie erklärte: »Dieser Mitarbeiter steht in den Diensten Ihres Hauses und ist inzwischen in seine Heimat zurückgekehrt.« Da »entgegen den Sitten des Hauses kein sogenannter Ausstand gegeben wurde«, möge Minister Mielke so freundlich sein, an Stelle des Betreffenden die Mitarbeiter der Katholischen Nachrichtenagentur zu einem Umtrunk einzuladen, da dies »der bewährten Zusammenarbeit unserer Häuser« nur zuträglich sein könne.

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Helga Rödiger 1981

Die Ehen von Inge G. und Ursula H., in der Bundesrepublik unter den falschen Namen ihrer Partner geschlossen, blieben in der DDR – nun unter richtigem Namen – stabil. Wie Christel B. konnte auch Helga Rödiger ihren Lebensgefährten erst in der DDR heiraten, und mit ihrer Geschichte, in die ich auch persönlich einbezogen bin, will ich dieses Kapitel beschließen.

Unter dem Decknamen Hannelore war Helga Rödiger im Bundeskanzleramt für uns aktiv. Als wir ihren ursprünglichen Verbindungsmann zurückziehen mußten und ihn durch Gerd K. ersetzten, beschloß ich, beim Vorstellungsgespräch der beiden selbst dabei zu sein, da »Hannelore« wissen wollte, ob sie ihrem Chef Manfred Lahnstein in das Finanzministerium folgen sollte oder nicht.

Unter dem Deckmantel der Olympischen Winterspiele 1976 trafen wir uns in Innsbruck. Die Gespräche verliefen problemlos, das winterliche Alpenpanorama und der Charme der alten Stadt taten das ihre, und zu meiner großen Erleichterung

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waren sich die beiden auf Anhieb sympathisch. Bald merkte ich, daß zwischen ihnen mehr war als bloße Sympathie.

Daß eine Heirat ausgeschlossen war, wußten beide. Dennoch fanden sie einen Weg, ihre Beziehung zu besiegeln, von dem ich erst aus der westdeutschen Boulevardpresse erfuhr, als »Hannelore« enttarnt worden war und beide in die DDR geflüchtet waren. An ihrer Wohnungstür war auf dem Namensschild nicht nur ihr Name zu lesen gewesen, sondern auch der Name K., unter dem ihr Verbindungsmann und Lebensgefährte in der Bundesrepublik firmierte.

Das Happy-End dieser Geschichte erlebte ich ebenso mit wie ihren Anfang. Schauplatz der Trauung des überglücklichen Paares war das mittelalterliche Städtchen Wernigerode im Harz, ein kaum weniger romantischer Rahmen als Innsbruck. Leider fand ihr Eheglück nach wenigen Jahren durch den Tod Gerds nach schwerer Krankheit ein allzu frühes Ende.

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7 Der deutschdeutsche Dschungel

Schon Anfang der 50er Jahre kam ich zu dem Schluß, daß eine Wiedervereinigung Deutschlands auf absehbare Zeit unmöglich sein würde. Die Politik der Westmächte und der Bonner Regierung verfolgte andere Ziele. Die Unruhen vom Juni in der DDR 1953 bestärkten sie in ihrer Überzeugung, daß sie mit einer rollback-Strategie den Kommunismus besiegen könnten – durch politischen, wirtschaftlichen und auch militärischen Druck.

Konrad Adenauer hatte schon vor Gründung der Bundesrepublik insgeheim einen Kurs verfolgt, der die schnelle Wiederbewaffnung und die Integration Westdeutschlands in ein westeuropäisches Militärbündnis vorbereitete. Obwohl er in seinen öffentlichen Reden die deutsche Einheit beschwor, war uns klar, daß seine Politik eine Annäherung der beiden deutschen Teilstaaten ausschloß.

Noch als ich bei Robert Korb in der Informationsabteilung saß, kamen wir konspirativ in den Besitz eines Dokuments, das unsere Befürchtungen bestätigte. Es war der geheime Entwurf des »Generalvertrags«, in dem die Aufrüstung der BRD unter dem Dach einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft konzipiert war. Diese Pläne aufzudecken und nach Möglichkeit zu verhindern, war unsere wichtigste politische Aufgabe in diesen Jahren.

Wir fanden dabei nicht wenige Verbündete auch in Westdeutschland, denn Adenauers Kurs war selbst in seinen eigenen Reihen umstritten. Dem Rheinländer wurde vorgeworfen, daß ihm die Franzosen näherstünden als die protestantischpreußischen Deutschen jenseits der Elbe und daß er die Spaltung nutzen wolle, um einen katholisch dominierten Rheinbund zu schaffen.

Der Widerstand gegen die Politik Adenauers kam daher auch

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aus rechten Kreisen – von Nazigruppierungen über nationalkonservative Mitglieder der Unionsparteien bis zum nationalliberalen Flügel der FDP. Einige dieser Kanzlergegner suchten den Kontakt mit uns, so Gereke mit seiner 1950 gegründeten Partei, denn die DDR-Führung propagierte zu jener Zeit noch die Wiedervereinigung als Ziel ihrer Deutschlandpolitik.

Den Entwurf des »Generalvertrags« lieferte uns eine Agentengruppe, die unter dem Decknamen Kornbrenner arbeitete. An ihrer Spitze stand ein ehemaliger Mitarbeiter des NS-Sicherheitsdienstes SD. Geführt wurde der Agent von einem Widerstandskämpfer jüdischer Abstammung, was für diesen Mann eine beinahe unzumutbare Belastung war. Entgegen allen Legenden, die später in Umlauf gesetzt wurden, war der »Kornbrenner«-Kontakt der einzige Fall, in dem wir die Netze ehemaliger SS- und SD-Angehöriger nutzten. Hätten wir weniger Skrupel gehabt, wären wir schon in den Anfangsjahren unseres Dienstes leichter und schneller in die Spitzen der westdeutschen Geheimdienste und der Bundeswehr eingedrungen. Der sowjetische Nachrichtendienst ging in dieser Hinsicht mit großem Erfolg sehr viel pragmatischer vor.

Trotzdem flössen Informationen aus allen möglichen politischen und nachrichtendienstlichen Quellen in unsere Kanäle. Zu einigen Abgeordneten aus dem rechten Lager des Bundestages hatten sich vertrauliche Beziehungen entwickelt. Sie waren unterschiedlicher Natur. Es gab konspirative und politische Kontakte und auch Fälle, in denen die Politiker nur von einem Mitarbeiter »abgeschöpft« wurden, der sie aushorchte, ohne daß es ihnen bewußt war.

Einer dieser Kontakte war Erwin Feller von der Partei Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), einem Sammelbecken Rechtskonservativer und ehemaliger Nazis, zeitweiligem Koalitionspartner Adenauers. Feller überredete seinen Fraktionsvorsitzenden Dr. Karl Mocker zu

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deutschlandpolitischen Erklärungen, die im Gegensatz zur Bonner Politik standen und mit den damaligen Positionen der DDR-Führung vereinbar schienen. Bei diesen Kontakten vermengte sich der nachrichtendienstliche Aspekt mit dem Interesse, Einfluß zu nehmen.

Gleiches galt für den Minister für Gesamtdeutsche Fragen im Kabinett Adenauer, Ernst Lemmer. Wir waren im Besitz einer Verpflichtungserklärung, die der CDU-Politiker für den sowjetischen Nachrichtendienst unterschrieben hatte. Es wurde von unserer Seite aber nie versucht, ihn damit zu konspirativer Zusammenarbeit zu nötigen. Sein Wissen abzuschöpfen war uns ein leichtes, da er in engem Kontakt zu Wolfram von Hanstein, der für uns arbeitete, und zu unserer amerikanischen Quelle »Maler« stand.

Lemmer gehörte zu der Minderheit von Unionspolitikern, die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewesen waren und nach der Kapitulation in die Politik gingen, um beim Aufbau eines demokratischen Deutschlands mitzuwirken. Hilflos mußten sie mit ansehen, daß Spitzenfunktionen in der Bundesrepublik mit ehemaligen Nationalsozialisten besetzt wurden. Eine antifaschistische Vergangenheit war in Westdeutschland bald ein Karrierehindernis, unter anderem deshalb, weil man Leuten aus dem Widerstand mangelnde antikommunistische Standfestigkeit vorwarf. Dieses Mißtrauen war nicht ganz unberechtigt, denn einige unserer wichtigsten Quellen und politischen Gesprächpartner kamen aus dem Kreis konservativer Nazigegner. Viele hatten wie Lemmer schon im Widerstand Kontakt zu kommunistischen Kreisen gehabt. Sie sahen es als patriotische Pflicht an, gegen den deutschland- und innenpolitischen Kurs Adenauers zu wirken.

Gute Kontakte hatten wir schon früh in die bayerische CSU, und sie sollten bis zur Wende nicht abreißen. Eine unserer Quellen gehörte zum Kreis um den Vorsitzenden Dr. Josef Müller, genannt »Ochsensepp«, der Adenauers Politik kritisch

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gegenüberstand. Durch sie erfuhren wir auch erstmals von einem Nachwuchstalent namens Franz Josef Strauß. Politisch schien Strauß damals wie sein Ziehvater Müller undogmatisch und aufgeschlossen zu sein. Uns wurde zugetragen, er habe sich nach Kriegsende sogar zunächst um die Mitgliedschaft in der KPD beworben.

Überraschendes erfuhren wir auch über den einflußreichsten CSU-Politiker, den Bundesfinanzminister und Vizekanzler Fritz Schäffer. Den Kontakt zu ihm hielt ein westdeutscher Geschäftsmann, der unter dem Decknamen Markgraf Informant unserer Hauptabteilung Wirtschaft war. »Markgraf« berichtete, daß Schäffer deutschlandpolitische Vorstellungen hege, die in krassem Widerspruch zur Politik seines Regierungschefs standen. Der Vizekanzler dachte angeblich über die Möglichkeit einer deutschen Konföderation nach. Diese Berichte schienen uns wenig glaubwürdig, weil wir es für ausgeschlossen hielten, daß der zweite Mann in der Bonner Regierung Pläne entwickelte, die mit Adenauers Politik unvereinbar waren.

Die Skepsis wurde nicht geringer, als »Markgraf« einen Besuch Schäffers in Ost-Berlin ankündigte, bei dem der Vizekanzler mit hochrangigen Vertretern der Sowjetunion und der DDR über seine Konföderationspläne sprechen wollte. Gespräche mit Repräsentanten der »Sowjetzone« waren für Bonn damals ein Tabu, über das sich kein westdeutscher Politiker ungestraft hinwegsetzen durfte. Wir glaubten deshalb »Markgraf« so wenig, daß wir die Nachricht weder an die SED-Führung noch nach Moskau weitergaben, da wir fürchteten, uns zu blamieren.

Zu unserer Überraschung stieg dann am 11. Juni 1955 zur angegeben Zeit tatsächlich der Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland nur in Begleitung unseres Informanten am Bahnhof Marx-Engels-Platz aus der S-Bahn. Dort empfingen ihn ein Oberst und der Major, der für die Führung »Markgrafs« verantwortlich war. Zum Glück hatten wir wenigstens einen

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Fotografen verdeckt postiert, der das historische Ereignis im Bild festhielt.

Konspirative Aufnahme von Fritz Schäffers Ankunft in Ost-

Berlin 1955 (»Markgraf«: 2. von rechts)

Konspirative Aufnahme der Begrüßung Fritz Schäffers

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Vincenz Müller

Der vorgeschobene Anlaß für Schäffers Ausflug in den Osten war ein Besuch bei General a. D. Vincenz Müller, mit dessen Familie der Vizekanzler befreundet war. Unser Oberst brachte den Gast zunächst in Müllers Wohnung und benachrichtigte mich dann davon, daß das Unglaubliche wahr geworden war. Ich befand mich nun in keiner beneidenswerten Lage.

Schäffer erklärte bei Müller, daß er ein Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter Puschkin erwarte. Gegen eine Zusammenkunft mit dem Ministerpräsidenten Grotewohl habe er allerdings noch Bedenken. Er wolle lieber fürs erste mit einem DDR-Vertreter unterhalb des Kabinettsrangs reden. Der Vizekanzler behauptete, Adenauer von dem Besuch informiert zu haben. Der »Alte« habe ihm allerdings geraten: »Fahren Sie nicht.« Er habe ihn auch vor den persönlichen Konsequenzen des Abenteuers gewarnt.

Der Zeitpunkt für Schäffers Mission war kein Zufall. Wenige Wochen zuvor hatte der österreichische Bundeskanzler Julius

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Raab in Moskau die Verhandlungen über einen Staatsvertrag abgeschlossen, der Wiedervereinigung und Neutralität der Alpenrepublik festschrieb. In der sowjetischen Führung gab es ernsthafte Erwägungen, das österreichische Modell auch auf Deutschland zu übertragen. Der Nato wäre dadurch Westdeutschland als Aufmarschgebiet verlorengegangen.

Adenauer hatte entsprechende Vorstöße Moskaus immer als Propagandamanöver abgetan. Am 5. Mai 1955 sollten die Pariser Verträge in Kraft treten, die die Bundesrepublik an das westliche Militärbündnis banden. Verhandlungen über Neutralität und Wiedervereinigung schienen damit obsolet.

Für die Gegner von Adenauers Politik der Westintegration gab es im Frühjahr 1955 nur noch eine letzte Chance. Der Vizekanzler suchte sie zu ergreifen, indem er unter hohem persönlichen Risiko nachrichtendienstliche Wege nutzte, um mit dem Osten Kontakt aufzunehmen. Motiv seines Besuchs war offensichtlich zu signalisieren, daß es auch im Bonner Regierungslager einflußreiche Kräfte gab, die eine Wiedervereinigung auf dem Verhandlungsweg noch nicht abgeschrieben hatten. Er hoffte auf konkrete Vorschläge aus dem Osten, mit denen die Meinungsbildung im Kabinett und in der Öffentlichkeit noch zu beeinflussen gewesen wäre.

Wir waren also zu überrascht, um auf diese Mission vorbereitet zu sein. Ich rief Ministerpräsidenten Grotewohl an, schilderte ihm die Situation und fragte, was zu tun sei. Da ich mit meinem sowjetischen Verbindungsoffizier abgesprochen hatte, die unglaubwürdige Ankündigung des Besuchs nicht nach oben weiterzugeben, war es unmöglich, den nicht eingeweihten Botschafter Puschkin zu mobilisieren. Grotewohl entschied, da Schäffer ohnehin nicht mit ihm reden wolle, solle ich den Part des Regierungsvertreters übernehmen. Als Vertreter der sowjetischen Seite könne mein Verbindungsoffizier Semjon Logatschow fungieren, der offiziell als Botschaftsrat akkreditiert war.

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Fritz Schäffer wurde in die kleine Villa am Zeuthener See gefahren, die uns schon während der Außenministerkonferenz für weniger diplomatische Zwecke gedient hatte. Er war sichtlich enttäuscht, als er statt des sowjetischen Botschafters und eines hochrangigen DDR-Vertreters nur uns traf: zwei junge Männer, deren Namen ihm unbekannt waren und die ihm viele Fragen stellten, ohne selber konkrete Antworten geben zu können.

Trotzdem entwickelte der Vizekanzler über annährend zwei Stunden seine Vorstellungen. Er zeigte sich gründlich vorbereitet und begann mit einem historischen Exkurs. Schäffer erinnerte an die Vorgeschichte der deutschen Einigung von 1871, die schon 1834 mit der Gründung des deutschen Zollvereins eingeleitet worden war. Daraus könne man lernen, meinte er, daß es zunächst zu Vereinbarungen zwischen den beiden Staaten auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet kommen müsse. Voraussetzung für die Vereinigung sei, daß die deutschen Staaten keinem Machtblock angehörten.

Auf unseren Einwand, daß gerade wegen dieser Frage alle Vorschläge der sozialistischen Seite von Bonn zurückgewiesen worden seien und die BRD gerade im Begriff stehe, sich an das Lager der USA zu binden, entgegnete Schäffer, ein vereintes Deutschland könne sich für neutral erklären, das ließen auch die Pariser Verträge zu. Bis dahin müßte die Stärke der Streitkräfte entsprechend der Bevölkerungszahl in beiden Staaten begrenzt werden. Eine atomare Bewaffnung käme nicht in Frage.

Gingen diese Vorstellungen, gemessen an den entgegengesetzten Plänen Adenauers, schon sehr weit, so waren die Kompromisse, die er innenpolitisch machen wollte, noch bemerkenswerter. Er sagte, persönlich sei er ein überzeugter Anhänger der Marktwirtschaft. Er verstehe aber, daß die Entwicklung der letzten zehn Jahre im östlichen Teil Deutschlands nicht einfach rückgängig gemacht werden könne. Man müsse sich da annähern und nicht die Differenzen in den

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Vordergrund stellen. Das wichtigste sei, daß sich die beiden Staaten nicht mehr feindlich gegenüberstünden.

Es waren nicht allein nationale Motive, die Fritz Schäffer zu seiner gewagten Initiative trieben. Wichtiger noch schien ihm zu sein, daß eine Annährung der deutschen Staaten die Kriegsgefahr verminderte. In meinem Bericht zitierte ich ihn wörtlich: »Ich habe im Zweiten Weltkrieg meinen Sohn verloren, und darum will ich verhindern, daß noch einmal Millionen von Familien von solch einem Unglück getroffen werden.«

Auch dieser kleine, eher bescheidene und unauffällige Mann hatte eine andere Vergangenheit als die große Mehrheit der Funktionsträger im Bonner Staat, die dem Nationalsozialismus aktiv oder zumindest als Mitläufer gedient hatten. Schäffer war aus politischen Gründen mehrfach von der Gestapo verhaftet und schließlich in das KZ Dachau gebracht worden, aus dem er 1945 befreit worden war.

Er hat sich uns damals nicht ganz offenbart. Auf der Rückfahrt sagte er voller Enttäuschung zu unserem Gewährsmann: »Ich habe eine Schlappe erlebt. Vielleicht hätte ich mit einem Gespräch bei Botschafter Puschkin der deutschen Situation helfen können. Ich war bereit, Geheimverhandlungen zu führen. Doch als ich die zwei jungen Männer sah, habe ich nicht alles gesagt.«

Über unsere Kanäle erfuhren wir, warum Adenauer, wenn auch widerstrebend, seinen Stellvertreter nach Ost-Berlin hatte fahren lassen. Der alte Fuchs hatte das Scheitern des Alleingangs vorausgesehen. Gegenüber den USA konnte er Schäffers Initiative als Trumpfkarte ausspielen. Sie demonstrierte, wie stark selbst im Kabinett der Widerstand gegen die Bindung der Bundesrepublik an die USA war. Adenauer konnte sich als unverzichtbarer Garant der Westintegration präsentieren, auf dessen Wünsche man deshalb Rücksicht zu nehmen hatte.

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Doch Schäffer gab nicht auf, und wir bemühten uns, die Scharte auszuwetzen. Die Kontakte wurden mit Hilfe von Vincenz Müller aufrechterhalten. Am 20. Oktober 1956 kam der Vizekanzler wieder nach Berlin und sprach diesmal auch mit Botschafter Puschkin. Schäffer legte weiter Wert auf strikte Geheimhaltung. Für den Fall, daß die Kontakte doch bekannt würden, gab es die Sprachregelung, man habe über aktuelle Themen gesprochen, zum Beispiel über die Gebührenpauschale für die Transitautobahn.

Nach einigem Zögern erklärte sich Schäffer zu regelmäßigen Kontakten auch mit unserer Seite bereit. Auf meinen Vorschlag übernahm der Volkskammerabgeordnete der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD), Professor Otto Rühle, die Rolle als Verbindungsmann zum Vizekanzler. Er traf den Unionspolitiker in München und Bonn. Fern von der politischen Realität entwarf Schäffer Vorschläge, die beide deutsche Staaten zusammenführen sollten. Da sein Ziel – die Vereinigung – immer utopischer zu werden schien, strebte er zunächst eine deutschdeutsche Zusammenarbeit nach dem Vorbild der Benelux-Länder an. Schäffer betonte, daß Parteifreunde in seine Pläne eingeweiht seien. Als einen seiner engsten Vertrauten beschrieb er Franz Josef Strauß.

Die Direktiven, die ich dem Kontaktmann Rühle für die Gespräche geben konnte, waren vage. Es blieb zunächst dabei, daß Schäffer immer neue Fragen gestellt wurden, ohne daß er konkrete Antworten erhielt. Die DDR-Führung hatte kein Verhandlungskonzept. Einerseits wollte man die vom Vizekanzler angestrebten direkten Verhandlungen zwischen den deutschen Staaten, weil das die Hallstein-Doktrin ausgehebelt hätte. Andererseits sah man Konföderationspläne mit gemischten Gefühlen, weil immer das Mißtrauen blieb, Moskau könne für eine gesamtdeutsche Neutralität die DDR aufgeben.

Der Einmarsch der Roten Armee in Ungarn zerstörte endgültig alle Wiedervereinigungsillusionen, auch bei Schaffen

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Doch im Jahr 1958 machte Ulbricht plötzlich den Vorschlag einer deutschdeutschen Konföderation, der im wesentlichen mit den ursprünglichen Vorstellungen Schäffers übereinstimmte. Bonn lehnte brüsk und herablassend ab.

Ulbricht hatte dabei offensichtlich auf meine Berichte über den Schäffer-Kontakt zurückgegriffen, die Grotewohl im Oktober 1956 mit dem Vermerk versehen hatte: »Einstweilen abwarten.« Nun aber brach Ulbricht um eines schnellen Propagandaerfolgs willen die Zusage strikter Vertraulichkeit, die ich dem Vizekanzler hatte geben lassen. Ulbricht erklärte, in seinem Plan habe er doch nur die Vorschläge eines Bonner Regierungsmitglieds aufgegriffen.

In Bonn wurde diese Erklärung als »unverschämte Lüge« zurückgewiesen. Das wiederum brachte den mit Berichten wohlgerüsteten Ulbricht dazu, den Vertrauensbruch noch weiter zu treiben. Er ließ General Müller und Professor Rühle, die in Absprache mit mir den Kontakt zu Schäffer aufrechterhalten hatten, eine öffentliche Erklärung verfassen. Darin wurde die Initiative des Vizekanzlers korrekt wiedergegeben, allerdings ohne den nachrichtendienstlichen Hintergrund und meinen Part.

Bonn reagierte hektisch. Zu unserer großen Überraschung hatten die Enthüllungen für Schäffer keine Konsequenzen. Adenauer ließ die Untersuchungen der Affäre schnell beenden und nahm seinen Stellvertreter unter den Mantel der Nächstenliebe. Später wurden in Publikationen für Zeitgeschichte sogenannte Dokumentationen des Falles veröffentlicht, die allenfalls Halbwahrheiten enthielten. Sie belegten allerdings, wie selektiv Schäffer den Kanzler informiert hatte.

Eine abenteuerliche Version der Schäffer-Initiative gibt Franz Josef Strauß in seinen Erinnerungen zum besten. Er behauptet, der Vizekanzler habe die Verbindung zu General Müller gesucht, weil der ihm »weitreichende Andeutungen« über einen bevorstehenden Putsch der NVA gemacht habe, »bei dem

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Ulbricht verhaftet und die ganze Regierung abgesetzt werde«. Strauß veröffentlichte diesen Unsinn wider besseres Wissen.

Wir wußten nicht nur von Schäffer, daß Strauß in die Konföderationspläne eingeweiht war. Unsere Kontakte zu einem seiner engsten Vertrauten, dem Verleger und Chefredakteur der Passauer Neuen Presse, Hans Kapfinger, bestätigten die Mitwisserschaft von Strauß. Im übrigen waren alle Gespräche zwischen Schäffer und Müller unter unserer Kontrolle, denn der General kooperierte in dieser Sache aus politischer Überzeugung mit meinem Dienst.

Der Versuch des Vizekanzlers, schon in den 50er Jahren eine Politik der Wiedervereinigung einzuleiten, ist eine jener Episoden, die offenbar aus der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte gestrichen werden sollten.

Über vielfältige Kontakte in die Unionsparteien hatten wir immer ein ziemlich genaues Bild von den Aktivitäten auf der politischen Rechten in der Bundesrepublik bis ins Bundeskanzleramt. Mit Glück und Voraussicht hatten wir unseren dienstältesten Kundschafter in Westdeutschland, Adolf Kanter, in der Umgebung eines rheinlandpfälzischen Nachwuchspolitikers namens Helmut Kohl plaziert. Kanter, Deckname Fichtel, war von der Parteiaufklärung zu unserem Dienst gekommen. Nach dem Krieg hatte er die FDJ in Rheinland-Pfalz mit aufgebaut und gehörte ihrem Landesvorstand an. 1949 verließ er die kommunistische Jugendorganisation und trat nach einer Schamfrist der Jungen Union bei, in der er Kreisvorsitzender und Bezirksschulungsreferent wurde.

Kanter schloß sich der jungen CDU-Truppe an, die gegen den Widerstand der Parteihonoratioren den Weg für die Karriere von Helmut Kohl bahnte. Zu Kanters politischen und persönlichen Freunden zählte der Flick-Manager Eberhard von Brauchitsch. Über ihn besorgte er schon früh Spenden für Kohls Mannschaft. Er kannte dadurch den späteren Kanzler persönlich und konnte

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vertrauliche Beziehungen zu einigen der Männer aufbauen, die Kohl zunächst in Mainz und später in Bonn um sich scharte.

Adolf Kanter war einer unserer wenigen Männer mit einer erfolgversprechenden Perspektive in der Bunderepublik. Der erhoffte Aufstieg in der CDU an der Seite Kohls wurde allerdings 1967 gebremst, als Kanter die Zweckentfremdung von Spenden vorgeworfen wurde. Zwar endete das Strafverfahren mit einem Freispruch, doch sein Ruf hatte Schaden genommen, und eine politische Karriere an der Seite Kohls war unrealistisch geworden. Die engen Verbindungen zum Kreis um Kohl und zum Flick-Manager von Brauchitsch blieben allerdings erhalten.

Mit unserer Hilfe etablierte er ein Bonner Büro für Finanz- und Wirtschaftsberatung. Außerdem ermöglichten wir ihm die Herausgabe eines Hintergrunddienstes für Verantwortliche aus Wirtschaft und Politik. Viele der Beiträge in dem Dienst wurden von unserem Verbindungsmann zu »Fichtel«, Dr. Werner K., geschrieben. K., der sich seit 1962 regelmäßig mit Kanter traf, war ein hervorragender Wirtschaftsfachmann. Vor seinem Wechsel zur HVA hatte er als Vorstandsmitglied im Verband Deutscher Konsumgenossenschaften gearbeitet.

Daß es sich gelohnt hatte, eine so hochqualifizierte Kraft als Instrukteur Kanters einzusetzen, wußten wir spätestens 1974. »Fichtel« wurde Prokurist und stellvertretender Leiter im Bonner Büro des Flickkonzerns. Es entbehrte nicht der Ironie, daß ein Mann, der sich dem Sozialismus verpflichtet fühlte, die politische Stabsabteilung eines der mächtigsten Konzerne führte.

Kanters Aufgabe war es, für Flick bei Parteien und Regierung Informationen zu sammeln und politisch im Sinne des Konzerns Einfluß zu nehmen. Ähnliches erwarteten auch wir vom ihm. Seine Arbeit für uns wurde durch die neue Position natürlich noch effektiver. Dem Vertreter des Flickkonzerns vertrauten Politiker Geheimnisse an, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Gepflegt wurden die Beziehungen durch großzügige

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Spenden des Flickkonzerns. Kleinere Beträge konnte Kanter in eigener Verantwortung vergeben, während er auf die Verteilung großer Summen zumindest Einfluß hatte, was ihm viele Türen bei CDU und FDP öffnete.

Lange bevor die illegale Spendenpraxis des Flickkonzerns der Öffentlichkeit bekannt wurde, waren wir bis in die Details informiert. Was »Fichtel« uns an Informationen über die Verbindung von Kapital und Politik lieferte, illustrierte die marxistische Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus recht deutlich.

Schon um unsere Quelle zu schützen, widerstanden wir der Versuchung, das Material westdeutschen Medien zuzuspielen. Zur Aufdeckung des Parteispendenskandals im Jahr 1981 hat mein Dienst nicht beigetragen. Allerdings wurde auch damals nur die Spitze eines Eisbergs bekannt.

Das Bonner Flick-Büro mußte als Folge der Affäre von 1981 geschlossen werden. Adolf Kanter wurde mit 320000 DM vom Konzern abgefunden. Er blieb, wie er es nannte, offiziell »Dolmetscher zwischen Wirtschaft und Politik« und inoffiziell Dolmetscher zwischen West und Ost. Seine Informationen versetzten uns in die Lage, auch die Politik der neuen Bonner Regierung unter Helmut Kohl realistisch zu analysieren. Nun zahlten sich »Fichtels« Verbindungen aus der Zeit in Rheinland-Pfalz aus, die er als Flick-Repräsentant hatte weiter pflegen können. Nutzen konnte er vor allem die alte Freundschaft zu Philipp Jenninger, der als Kanzleramtsminister zu den engsten Vertrauten Kohls gehörte. Kanter hatte nicht den direkten Zugang zur Regierungsspitze wie Günther Guillaume, aber seine Informationen waren kaum weniger wertvoll.

Alle Alarmglocken schrillten deshalb bei uns, als 1983 eine Eilmeldung von einer Quelle im Verfassungsschutz kam: Unser Kontaktmann zu Kanter, Dr. Werner K., gerade auf dem Weg in die Wohnung, die Kanter als Unterkunft für seinen regelmäßigen Besucher gemietet hatte, war enttarnt worden. Er

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stand seit dem Grenzübertritt unter Beobachtung. Die Beschatter folgten ihm bis vor die konspirative Wohnung. Seine Verfolger warteten noch mit dem Zugriff, weil sie natürlich K.s Gastgeber in flagranti überraschen wollten. In der Wohnung erreichten wir unseren Mann endlich, und ihm gelang eine abenteuerliche Flucht.

Wir fürchteten, eine unserer wichtigsten Quellen zu verlieren. Kanter mußte zum Verhör, dann aber wurden überraschend die Ermittlungen gegen ihn eingestellt. Unser Mann beim Verfassungsschutz, Klaus Kuron, gab Entwarnung: Auf höhere Weisung seien die Untersuchungen gestoppt worden. Seinen Instrukteur K., der in Jahrzehnten der Zusammenarbeit längst zu einem guten Freund geworden war, konnte Kanter allerdings nur noch im Ausland treffen.

Als Adolf Kanter im Frühjahr 1994 dann doch noch verhaftet wurde, blieben die in solchen Fällen üblichen Triumphmeldungen über die Enttarnung eines weiteren »Topspions« aus. Die sonst so auf Öffentlichkeit bedachte Bundesanwaltschaft hielt sich zurück. Die Behandlung dieses Falles unterschied sich bemerkenswert von vergleichbaren Verfahren, etwa dem endlosen Spektakel des Prozesses gegen Karl Wienand.

Das Hauptverfahren wurde binnen eines Monats durchgezogen. Es fand praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Einige Journalisten wurden erst später auf den Fall aufmerksam und wunderten sich, mit welcher Diskretion er über die Bühne gebracht worden war. Während des Verfahrens wurde Kanter nie in die Verlegenheit gebracht, sein umfangreiches Wissen über Interna der Regierungsparteien und ihre Verbindungen zur Industrie, über ihre Tarnfirmen und Geldwaschanlagen preisgeben zu sollen. Adolf Kanter wurde unter anderem mit Rücksicht auf die »geringe Brauchbarkeit des Verratsmaterials« zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt.

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Zu Recht hatte das Gericht festgestellt, daß durch Kanters »Verrat« der Bundesrepublik wohl kaum Schaden entstanden sei. Der Entspannungspolitik hat er genützt. Das Bild, das er von westdeutschen Politikern und Wirtschaftsführern mit seinen Informationen vermittelte, war zwar nicht immer schmeichelhaft, aber es widersprach dem Stereotyp der dogmatischen kalten Krieger im konservativen Lager, wie es manche in der DDR-Führung pflegten. Durch Kanter erfuhren wir – wie später auch durch »Lydia« mit ihrem Salon -, daß man im Lager von Kohl, Strauß und Flick sehr viel pragmatischer dachte, als es den Anschein haben mochte, und das nicht nur, wenn es um Geld ging.

Durch die Vereinigung von KPD und SPD und die vielen Bindungen, die im gemeinsamen antifaschistischen Widerstand gewachsen waren, ergab sich für die Aufklärung beider Seiten die Möglichkeit, relativ problemlos Leute beim Gegner einzuschleusen. Das Ostbüro der SPD konnte in großer Zahl Sozialdemokraten rekrutieren, die gegen ihren Willen zu Mitgliedern der SED geworden waren. Bei uns gab es Kommunisten, die unverdächtig zur West-SPD wechseln konnten, weil sie freundschaftliche Beziehungen zu Sozialdemokraten hatten. Als plausible Erklärung für ihren Wechsel bot sich die Ablehnung des Stalinismus an. Ein Problem für uns war, daß es einigen der besten dieser Leute ernst war mit ihren Vorbehalten gegen das stalinistische System in der DDR und daß sie gegenüber der SPD Loya lität entwickelten.

Ein solcher Problemfall war »Freddy«. Er war in seiner Jugend KPD-Mitglied geworden und nach dem Krieg zur Parteiaufklärung gekommen. Paul Lauffer, der später auch die Guillaumes auf ihren Einsatz vorbereitete, hatte »Freddy« in die West-Berliner SPD geschickt. »Freddy« wurde somit der erste von Lauffers Leuten, die in unmittelbarer Nähe Willy Brandts plaziert waren.

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Er hätte sicherlich nichts dagegen gehabt, daß ich heute seinen Namen preisgebe, denn er konnte immer zu dem stehen, was er tat. Aber mit Rücksicht auf seine Familie nenne ich nur seinen Decknamen. Wer ihn erlebt hat, wird ihn in der Beschreibung erkennen.

»Freddy« machte in der West-Berliner SPD schnell Karriere, doch seine Bereitschaft, mit uns zu kooperieren, wurde immer geringer. Die Tonbänder, die wir ihm gaben, blieben unbesprochen. Er weigerte sich, über Personen seiner näheren Umgebung zu informieren, und lehnte es kategorisch ab, Angehörige des Ostbüros zu benennen.

»Freddy« hatte seinen Eintritt in die SPD als politischen Parteiauftrag begriffen. Er wollte in der SPD seiner Überzeugung gemäß gegen Rechtsopportunismus und Antikommunismus streiten. Daß er automatisch von unserem Dienst übernommen worden war, paßte ihm nicht. Er verstand sich nicht als »Agent«. Den Residenten in West-Berlin, der ihn führte, verwickelte er in hartnäckige Diskussionen über den Kurs der SED unter Ulbricht. Auf unserer Seite wuchs das Mißtrauen gegen ihn.

Andererseits wurde immer deutlicher, daß die Berliner SPD entscheidenden Einfluß auf die Deutschlandpolitik der Gesamtpartei nahm und daß sie in ihrer Mitte einen Mann mit Führungsqualitäten und großer Perspektive hatte: Willy Brandt. Eine Quelle in seiner Nähe war wichtig für uns. Außerdem fühlte ich mich angezogen von dem außergewöhnlichen Charakter »Freddys«, den er gerade dadurch bewies, daß er uns Probleme bereitete.

Ich beschloß, ihn persönlich zu führen. Wir trafen uns in dem winzigen Mansardenzimmer eines Genossen. Wir rauchten, bis wir uns in dem Qualm kaum noch sahen. »Freddy« blieb unerbittlich in seiner Kritik an den bürokratischen Auswüchsen unseres Systems. Walter Ulbricht war für ihn eine Reizfigur. Mit Harne imitierte er die Fistelstimme des SED-Chefs. Ich stimmte

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in vielem mit ihm offen oder heimlich überein. Aber wirklich zusammen kamen wir noch nicht.

Dazu bedurfte es eines besonderen Ereignisses, und das war der XX. Parteitag in Moskau mit Chruschtschows Enthüllungen über die Verbrechen Stalins. »Freddy« konnte triumphieren: »Habe ich es nicht schon immer gesagt!« Dieser Parteitag war auch der Wendepunkt in unserer Beziehung. Gemeinsam träumten wir von der Zukunft eines Sozialismus, der sich von den furchtbaren Irrtümern der Vergangenheit befreite.

Wir beschlossen, uns einmal ohne zeitliche Beschränkung zu treffen, und verabredeten eine Vorfeier seines 50. Geburtstags zu zweit. Das Gespräch fand in jener kleinen Villa am See statt, in der ich schon andere wichtige Begegnungen hatte, die keine Zeugen vertrugen. Es war ein herrlich sonniger Tag, den wir beide nie vergessen sollten. Wir saßen auf der von fremden Blicken abgeschirmten Veranda und tranken eisgekühlten Sekt. Das war ganz nach »Freddys« Geschmack.

Statt die SED zu kritisieren, ging er nun mit der SPD ins Gericht. Er nannte den sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer einen Mann ohne Rückgrat, der sich von der Rechten einwickeln lasse. Am bissigsten waren seine Kommentare zu Willy Brandt. Er schien voller Verachtung für den Mann, den er für einen Renegaten hielt, weil dieser seiner Ansicht nach von einer radikal linken Position während der Emigration zum rechten Flügel seiner Partei gewechselt war.

Wir waren uns in dieser Beurteilung damals ziemlich einig. Wir kamen überein, nicht nur an die Reformierbarkeit des sozialistischen Systems zu glauben, sondern gemeinsam auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln gegen die Aufrüstung der BRD und die Unterstützung dieses Kurses durch die SPD zu kämpfen. Ich glaube, daß ich durch meinen persönlichen Einsatz eine wichtige Quelle für uns erhalten habe. Die nachrichtend ienstliche Beziehung entwickelte sich zur Freundschaft, die auch mir viel gab. Die ungewöhnliche Praxis,

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daß ein Geheimdienstchef selber Quellen führt, hat sich für mich nicht nur in diesem Fall ausgezahlt.

Die Einstellung »Freddys« zu Willy Brandt sollte sich übrigens bald ändern. Nicht ohne Stolz zeigte er mir später einen handschriftlichen Brief des Parteivorsitzenden Brandt an ihn, der belegte, wie vertrauensvoll die beiden zusammenarbeiteten.

An jenem Tag in der Villa am See gingen die reichlichen Sektvorräte irgendwann aus. Wir wechselten zu Bier, und obgleich ich von meinen russischen Freunden gestählt war, hatte ich Mühe, mit »Freddys« Trinktempo Schritt zu halten.

Zum Glück hatte ich den Mitarbeiter, der mit der praktischen Durchführung des Treffens betraut war, angewiesen, keinen Alkohol anzurühren. Kurz vor Mitternacht fuhr er uns in die Stadt zurück. Ich ließ den Wagen in einiger Entfernung vom Grenzübergang halten. Wir schwankten durch den Treptower Park und waren schon in Hörweite der Grenzposten, als »Freddy« aus vollem Halse zu singen begann. Erst: »Wenn wir schreiten Seit' an Seit'« und dann die »Internationale«. Ich wurde schlagartig wieder nüchtern und herrschte ihn wenig freundschaftlich an: »Halt die Klappe!«

Ich mußte ihn zu einem anderen Übergang bringen. Ich versuchte, ihm einzuschärfen, den Kopf einzuziehen und kein unnötiges Wort bei der Kontrolle zu sagen. Mit klopfendem Herzen sah ich, wie er auf den Posten zuschwankte. Er drehte sich noch einmal um, fuchtelte mit den Armen in meine Richtung und rief: »Wir trinken noch tausend Tassen zusammen, du und ich!«

Ich befürchtete, daß die Polizisten auf der Westseite die lokale Politgröße erkennen würden. Für die Springer-Presse wäre das ein gefundenes Fressen gewesen: SPD-Politiker sturzbetrunken im Osten. Mit gespannter Sorge blätterte ich in den folgenden Tagen die West-Berliner Zeitungen durch. Die Geschichte wurde nicht publik.

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So war »Freddy«: eine imposante Erscheinung, lebensfroh, abenteuerlustig, arbeitswütig, oft auch sehr ernst und immer politisch engagiert. Er zog die personalpolitischen Fäden in der West-Berliner SPD und wurde Bundestagsabgeordneter. Auch in der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit behielt er seinen eigenen Kopf. Er informierte mich, wenn er es für richtig und wichtig hielt; über ihn erfuhr ich von den wirklichen Intentionen Brandts; er analysierte die Konflikte und Machtverhältnisse innerhalb der SPD. Er war eine Quelle von unschätzbarem Wert, die ganz wesentlich dazu beitrug, das Verhältnis der SED-Führung zu den Sozialdemokraten zu versachlichen. So hatte »Freddy« auch seine Verdienste beim Zustandekommen der zunächst meist noch geheimen Kontakte unserer Seite zum West-Berliner Senat.

Viel Gelegenheit, die tausend Gläser zusammen zu leeren, hatten wir allerdings nicht mehr. Es war auch ohne Gelage riskant für ihn, zu unseren Treffen in den Osten zu kommen. Nach dem Mauerbau mit all seinen Konsequenzen trafen wir uns auf der Transitstrecke, wenn »Freddy« zum Bonner Bundestag fuhr. Diese Lösung erforderte allerdings minutiöse und operativ komplexe Planung.

Die Zeit der Ein- und Ausfahrt auf der Transitautobahn wurde von den Grenzwächtern beider Seiten festgehalten. Da die Höchstgeschwindigkeit von hundert Stundenkilometern vorgeschrieben war, ließ sich unschwer errechnen, wieviel Zeit ein Wagen für die Strecke brauchte. Eine längere Unterbrechung der Fahrt war also nicht möglich, ohne daß man sich verdächtig gemacht hätte. Polizei und Abwehr kontrollierten die Strecke; Raststätten, Parkplätze und unübersichtliche Teile der Route wurden von Kameras überwacht, denn die Transitstrecke war für westliche Agenten, Fluchthelfergruppen oder Geschäftemacher ein beliebtes Aktionsfeld.

Wie auch in anderen Fällen wollte ich die Abwehr möglichst nicht von meinen Treffen informieren, um die Identität meiner

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Quellen zu schützen. Ganz nebenbei war für mich ein bißchen Abenteuer eine erfrischende Abwechslung in der Routine und bot die Möglichkeit, einmal so zu agieren, wie man sich gemeinhin die Arbeit eines Spions vorstellt. Außerdem war die Sache auch nach »Freddys« Geschmack.

Das erstemal stieg ich am späten Nachmittag in einen dunkelblauen Mercedes mit Kölner Kennzeichen. Ich war getarnt im Tuch des westdeutschen Geschäftsmannes, mit falschen BRD-Papieren und Westzigaretten. Mein Fahrer war entsprechend ausstaffiert. Wir fuhren auf die Transitautobahn. Ich wußte, daß »Freddy« etwas später in West-Berlin startete.

Wie hielten an der ersten Tankstelle, tranken unter den Überwachungskameras eine Tasse Kaffee und vertraten uns an einer Stelle des Parkplatzes die Beine, von der aus wir die passierenden Autos im Blick hatten. Das Warten wurde kurzweilig. Nachdem ich einigen ostdeutschen Lkw-Fahrern meine Westzigaretten angeboten und mich als Fabrikant aus dem Ruhrgebiet vorgestellt hatte, wurden sie redselig. Sie zogen über die ostdeutschen Bonzen her. Einer meinte: »Diese Apparatschiks bei uns leben wahrscheinlich genauso gut wie ihr. Der Unterschied ist nur: Ihr schafft was, und die bringen nichts zustande.« Solche seltenen Begegnungen mit der Wirklichkeit im real existierenden Sozialismus waren aufschlußreicher als die Berichte von Mielkes Spähern. Hätten die guten Lkw-Fahrer gewußt, daß sie gerade mit einem dieser Bonzen redeten, wäre ihnen wohl vor Schreck die Westzigarette aus der Hand gefallen.

Als »Freddys« Auto uns bei einbrechender Dunkelheit passierte, mußten wir uns abrupt verabschieden. Wir folgten dem Wagen mit verboten hoher Geschwindigkeit. Alles war fast auf die Sekunde geplant. Wir überholten »Freddy« kurz vor einer der Abfahrten, die für Polizei und Forstfahrzeuge reserviert waren. Beide Autos bogen mit ausgeschalteten Scheinwerfern ab und hielten hinter der nächsten Wegbiegung.

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Ich rutschte auf den Fahrersitz. »Freddy« schob sich, so schnell es sein Bauch erlaubte, neben mich. Mein Fahrer saß da schon am Steuer von »Freddys« Wagen. Es dauerte nur Sekunden, bis wir wieder auf der Autobahn waren.

Wir waren glücklich wie nach einem gelungenen Streich. »Freddy« stöhnte: »Das ist doch mal was anderes als die ewige Politik.« Er überreichte mir Material und erklärte mir die aktuelle Situation in der SPD und Willy Brandts jüngste Schachzüge. Ich gab ihm neue Instruktionen. Dann hatten wir noch genügend Zeit zum Diskutieren und Philosophieren, über Politik und das Leben an und für sich. Nur der kalte Sekt fehlte. Kurz vor der Grenze wiederholten wir dann das Manöver des Autotauschs.

So trafen wir uns etliche Male. Das Problem war nur, daß offenbar auch westliche Dienste und Fluchthelfer mit dieser Methode unsere Abwehr narrten, die wiederum reagierte, so daß die Überwachung der Waldwege an der Autobahn allmählich immer lückenloser wurde. Es blieb uns nichts anderes übrig, als die Umstände unserer Treffen immer wieder zu variieren und immer vorsichtiger zu werden. Nicht ohne Stolz kann ich verraten, daß wir dabei so routiniert wurden, daß uns die eigene Abwehr dabei im Verlauf der Jahre kein einziges Mal auf die Schliche kam.

Ende der 60er Jahre, wenige Tage nach einem Treffen, versagte »Freddys« Herz – viel zu früh. Sein intensives Leben, die harte Arbeit, die psychische Doppelbelastung als SPD-Politiker und HVA-Kundschafter, die Leidenschaft für Politik, Essen und Trinken hatten ihren Tribut gefordert.

Eine der Belastungen, die »Freddy« zu schaffen gemacht hatten, war die Angst, seine junge Frau könne von seiner Tätigkeit für uns erfahren. Er hatte immer gemeint, sie würde seine Motive nicht verstehen. Ich stand nun vor der schwierigen Entscheidung, die Witwe im Unwissen zu lassen oder ihr die Pension zu zahlen, auf die Hinterbliebene unserer Quellen

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Anspruch hatten. Ich schickte einen Mitarbeiter zu »Freddys« Frau, der ihr behutsam erklärte, warum wir ihr Geld schuldeten. Sie schien nicht wirklich überrascht. »Freddy« hatte sie zwar nie eingeweiht, aber geahnt hatte sie immer etwas. Für mich war das ein neuer Beleg dafür, daß Frauen meist mehr über ihre Ehemänner wissen, als diese glauben.

Fritz Erler 1966

Heinz Kühn 1982

In der Bundesrepublik war es nach der Wende üblich, alle

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Westdeutschen, zu denen wir intensivere Verbindungen hatten, als »Landesverräter« und »Agenten« abzuqualifizieren. Mit der Wirklichkeit hat dieses Pauschalurteil nichts zu tun. Zu unterschiedlich waren die Kontakte und ihre Motive. Unter unseren westdeutschen Partnern waren Idealisten wie Pragmatiker und auch vornehmlich materiell Interessierte. Es gab rein politische Kontakte, neudeutsch back channels genannt, die dem Informationsaustausch und oft auch der Vorbereitung offizieller Verhandlungen dienten. In einigen Fällen konnten solche Beziehungen auch nachrichtendienstlich interessant werden. Es gab Partner, die uns gelegentlich bewußt Interna anvertrauten, und zwar aus den unterschiedlichsten Gründen, und es gab jene, die sich an unseren Dienst banden.

Vertrauliche politische Kontakte meines Dienstes gab es zum Beispiel zu zwei der einflußreichsten sozialdemokratischen Politikern der Nachkriegszeit, Fritz Erler und Heinz Kühn. Erler war Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag und stellvertretender Parteivorsitzender, Kühn war Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Beide kamen aus linken Gruppierungen der Sozialdemokratie, die vor und während der NS-Herrschaft in Opposition zur SPD-Führung gestanden hatten. Unabhängig voneinander hielten sie Kontakte zu Mitkämpfern des antifaschistischen Widerstands aufrecht, die nun in der DDR lebten. Natürlich war ihnen klar, daß die regelmäßigen Besuche der alten Freunde mit Billigung einer offiziellen Institution in der DDR stattfanden. Sie wußten, was Konspiration war, und nutzten diesen Kanal bewußt.

Die gemeinsame Erfahrung des Widerstands und die Sorge um die weltpolitische Lage bestimmten den Charakter der Kontakte. Weder Erler noch Kühn hielten mit ihrer Kritik am System der DDR zurück; andererseits sahen sie auch die Entwicklung im Westen mit einiger Skepsis, und sie hielten es für ihre moralische Pflicht, uns über innen- und außenpolitische Tendenzen, die ihnen gefährlich erschienen, zu informieren.

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Ein alter Freund Erlers, der fest in unsere nachrichtendienstliche Arbeit eingebunden war, hielt den Kontakt zum Fraktionsvorsitzenden und machte meine Mitarbeiter mit den Problemen vertraut, die ehemals linke Sozialdemokraten mit ihrer Einbindung in das reformistische Partei-Establishment hatten. Gerade diese Probleme machten sie ansprechbar für uns.

Erler war vom SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher dazu bestimmt worden, als Wehrexperte der Partei zu fungieren. Es hieß, Schumacher habe damit den Linken von der innerparteilichen Diskussion fernhalten wollen. Erler mußte sich nun um ein gutes Verhältnis zu den ehemaligen Offizieren der Hitler-Wehrmacht bemühen. Das war natürlich nicht einfach für ihn, aber für uns war es von großem Nutzen. Seine Analysen der Vorgänge innerhalb der Nato oder seine Hinweise auf die Pläne der »Falken« in Washington brachten uns wichtige Erkenntnisse. Auch seine Einschätzung der innenpolitischen Situation half uns bei der richtigen Bewertung der Entwicklungen in Westdeutschland.

Der frühe Tod Fritz Erlers hinterließ eine spürbare Lücke. Seine scharfsichtige Beurteilung der Dinge fehlte uns sehr, als sich die Stationierung neuer Kernwaffenträger in Europa abzeichnte und die politischen Absichten Washingtons immer schwerer zu deuten waren.

Die Beziehungen zu Erler und Kühn beschränkten sich auf die Ebene politischer Kontakte. Die beiden Sozialdemokraten verfolgten politische Ziele mit ihren Informationen, sie wollten gefährlichen Entwicklungen entgegentreten und uns zudem mit ihrer sozialdemokratischen Sicht der Dinge beeinflussen. Nicht in allen Fällen lassen sich Kriterien, Motive und Ausmaß einer Zusammenarbeit so eindeutig bestimmen.

Ein Beleg dafür ist der Fall Wienand. Der SPD-Politiker Karl Wienand wurde von uns zunächst nur durch einen Agenten abgeschöpft. Er unterhielt geschäftliche und persönliche

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Beziehungen zu dem Ost-West-Händler Horst Bosse, der unter dem Decknamen Jäger unser Informant war. Wienand war gegenüber dem Geschäftsfreund sehr freigebig mit Informationen, obwohl er von dessen vielfältigen Beziehungen in die DDR wußte.

Als Bosse auf einer seiner Reisen in die DDR bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, drohte der Kontakt zu Wienand abzureißen. Aufgrund des Persönlichkeitsprofils, das wir von Wienand erarbeiteten, schien es uns erfolgversprechend, ihn direkt anzusprechen. Das übernahm einer unserer Mitarbeiter, der Wirtschaftsexperte Alfred Völkel – Deckname Krüger -, der Wienand aus dem Kreis um Bosse bekannt war und der seine Qualifikation schon in anderen Operationen bewiesen hatte. Unser Mann gab sich wie üblich als Mitarbeiter des DDR-Ministerrats aus.

Wienand reagierte aufgeschlossen. Er bekam den Decknamen Streit. Im Lauf des Jahres 1970 gelang es Völkel, die Verbindung auf eine feste Grundlage zu bringen. Die beiden trafen sich regelmäßig, und ihre Zusammenarbeit war so erfolgversprechend, daß wir Völkel ganz für diese Aufgabe freistellten.

Fast zwanzig Jahre, bis zur Wende, blieb er hauptberuflich Wienand-Besucher.

Karl Wienand war 1970 Geschäftsführer der Bonner SPD-Fraktion und galt als der einzige Vertraute Wehners. Niemand war so umfassend über die Bonner SPD-Interna informiert wie er. Mit dieser zusätzlichen Quelle hatte ich von da an einen beneidenswerten Einblick in die unterschiedlichen Vorstellungen, Absichten und Grabenkämpfe innerhalb der SPD-Troika Brandt-Wehner-Schmidt.

Ob Herbert Wehner von dem Kontakt seines engs ten Mitarbeiters zu Völkel wußte, ob Wienand sogar im Auftrag des »Onkels« mit uns kooperierte, weiß ich nicht. Da Wienand im

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Geruch außergewöhnlicher materieller Interessiertheit stand, wagten wir es, die direkte Werbung ins Auge zu fassen. Nun war uns aber zugetragen worden, daß das Objekt unserer Werbung nicht nur gute Geschäfte schätze, sondern eine noch größere Leidenschaft für die Jagd hege. Statt die Unterschrift unter eine Verpflichtungserklärung zu verlangen, was wir in solchen Fällen ohnehin selten taten, wollten wir Wienand über Völkel zur gemeinsamen Pirsch mit mir auf Mufflons einladen, da die seltenen Wildschafe ihm offenbar noch in seiner Trophäensammlung fehlten.

Karl Wienand wies die Einladung nicht zurück, einer konkreten Verabredung aber wich er immer aus. Ich bin ihm deshalb nie persönlich begegnet. Er war ein vorsichtiger Mann. Nur ein einziges Mal kam er zu Gesprächen in eines unserer Berliner Objekte, sonst traf Völkel ihn immer im Ausland.

Als Folge verschiedener Affären mußte Wienand alle Bonner Ämter aufgeben, blieb aber ein geschätzter Berater führender Sozialdemokraten und pflegte seine engen Beziehungen insbesondere zu Herbert Wehner und Helmut Schmidt. Nach der Verhaftung Guillaumes waren wir in großer Sorge vor einer Entdeckung der Wienand-Verbindung, Wir wollten nicht Anlaß zu einem weiteren Kanzlersturz geben. Es wurde deshalb erwogen, die Kontakte zeitweise ruhen zu lassen.

Mit einigem Unbehagen genehmigte ich eine Reise Völkels an den Gardasee zu Wienand, der die Verbindung aufrechterhalten wollte. Völkel berichtete hinterher, Wienand habe in einem langen, persönlichen Gespräch seine politische Nähe zu uns bekannt.

Die beiden setzten ihre regelmäßigen Treffen unter noch größeren Vorsichtsmaßnahmen fort. Die Kontakte wurden nur einmal für etwas mehr als ein Jahr unterbrochen, als wir erfuhren, daß der KGB allem Anschein nach mit Wienand ins Geschäft zu kommen versuchte. Es ist immer mißlich, wenn zwei Dienste, auch wenn sie befreundet sind, sich um dieselbe

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Quelle kümmern. Ich konnte schließlich die sowjetischen Kollegen mit energischen Argumenten davon abbringen, sich an Wienand heranzumachen. Der KGB zog sich von »Streit« zurück.

Karl Wienand und Herbert Wehner 1973

Karl Wienand (rechts) und Alfred Völkel bei Wienands

Prozeß 1996

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Die Verbindung zu Wienand gehörte über die Jahre zu

unseren kostspieligsten Unternehmungen, wenngleich sie unsere hochgesteckten Erwartungen am Ende nicht erfüllt hat. Wienand war auf keine Rolle festzunageln und blieb schwer zu kontrollieren. So erfuhr ich, daß er an einem Projekt beteiligt war, das der DDR dringend benötigte Kredite bringen sollte, dem sogenannten Züricher Modell. Geplant war Anfang der 80er Jahre, mit Unterstützung Bonns und unter DDR-Beteiligung eine Bank in der Schweiz zu gründen, über die Devisen vom internationalen Kapitalmarkt in die DDR fließen sollten. Wienand erhoffte sich für seine Mitwirkung nicht nur Provisionen, sondern auch den Posten eines Bankdirektors. Eingeweiht in das Projekt war auch der Kohl-Vertraute Philipp Jenninger, ein alter Freund Wienands.

Das Unternehmen lief hinter unserem Rücken ab, und zwar ausschließlich über die Schiene Schalck-Mielke; mein Minister hatte mich nicht informiert. Als ich Mielke zur Rede stellte, tat er die ganze Sache als »Hirngespinst« ab und meinte, ich sei einer Desinformation aufgesessen. Tatsächlich hatte ich jedoch aus der Umgebung von Kohl und Jenninger sowie durch die Verbindung zu Wienand Entsprechendes in Erfahrung gebracht.

Eines der Motive für die Geheimniskrämerei Mielkes war, daß er die Meriten als Retter der DDR vor dem Bankrott nur mit Schalck teilen wollte. Ein anderer Grund war, daß weder die meisten Mitglieder des Politbüros noch die Führung in Moskau offiziell in diese Verhandlungen eingeweiht waren, obwohl es dabei auch um wichtige politische Zugeständnisse unserer Seite ging. Die Sowjets, informiert von den eigenen Quellen, mißtrauten dieser unkontrollierten und undurchsichtigen Kungelei, bei der sich private mit politischen Interessen mischten. Die Verhandlungen um das Züricher Modell scheiterten. Der bitter benötigte Devisensegen sollte sich aber dennoch einstellen. Die von Schalck über seine Verbindung zu

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Franz Josef Strauß eingefädelten Verhandlungen über einen weiteren Milliardenkredit wurden mit dem Beauftragten Helmut Kohls fortgesetzt. Wienand ging dabei leer aus.

Karl Wienand war nicht der einzige, der seine politische Mission mit dem Geschäft zu verbinden suchte. Franz Josef Strauß rechnete in größeren Summen. Ich erinnere mich, daß die sowjetischen Kollegen zur Zeit der sozialliberalen Koalition um ein Persönlichkeitsprofil des CSU-Politikers baten. In Moskau hielt man ihn damals für einen radikal rechten ideologischen Dogmatiker. Ich berichtete ihnen, Strauß sei zwar der Repräsentant des militärischindustriellen Komplexes in der BRD, aber kein ideologisch verbohrter Antikommunist, sondern eher jemand, der Geschäfte macht – politische wie persönliche -, wo sie sich anbieten.

Für uns war Strauß seit den 50er Jahren kein Unbekannter mehr. Schon Josef Müller und Fritz Schäffer hatten uns den jungen Strauß als »klugen und flexiblen Kopf« beschrieben, der sicherlich bereit sei, mit uns zu reden. Als Strauß Atomminister wurde, ging die Initiative zu Kontakten von ihm aus. Er ließ sie ruhen, als er Verteidigungsminister wurde, und nahm sie nach der Entlassung aus dem Amt wieder auf. Der bayerische Politiker versuchte in der Tradition seiner Vorgänger Müller und Schäffer, auf eigene Faust in der Deutschlandpolitik mitzumischen. Eines seiner Interessengebiete war dabei der innerdeutsche Handel.

Eine wichtige Verbindung zu Strauß lief folglich über einen der wenigen privaten Außenhändler in der DDR. Das war Simon Goldenberg, der in Zusammenarbeit mit der HVA seine Außenhandelsfirma betrieb. Einer der Handelspartner Goldenbergs war der Großschlachter März, Geschäftsfreund, Jagdgenosse und Intimus von Franz Josef Strauß. Dieser Verbindung verdankten die DDR-Bürger, daß Steaks und andere gute Stücke vom Rind Mangelware blieben in der DDR. Das Qualitätsfleisch ging zu Dumpingpreisen an den Strauß-Freund

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März. Für die Zusammenarbeit mit privaten Außenhändlern wie

Goldenberg war mein Stellvertreter Hans Fruck zuständig. Er hatte dafür zu sorgen, daß sie einen Teil ihrer Gewinne an die SED abführten und sich auch nachrichtendienstlich nützlich machten.

Da wir bei der Devisenbeschaffung durch private Händler mehr staatliche Ordnung wünschenswert fanden, wurde Mitte der 60er Jahre begonnen, die Außenhandelsaktivitäten straffer zu koordinieren, Fruck schlug für diese Aufgabe Alexander Schalck-Golodkowski vor, Parteisekretär im Ministerium für Innerdeutschen- und Außenhandel. Schalck baute in den nächsten Jahren eine eigene Handelsorganisation auf, die Kommerzielle Koordinierung (KoKo), arbeitete aber weiter mit den privaten Außenhändlern zusammen. Über Goldenberg stieg er auch in die Strauß-Verbindung ein.

Schalcks Bereich wurde schließlich weitgehend von der HVA abgekoppelt und direkt dem Minister unterstellt. Wie Rechtsanwalt Vogel durfte Schalck allein Mielke berichten. Daß Mielke zwei so wichtige Männer selber führte, schmeichelte nicht nur seinem Geltungsbedürfnis, sondern erhöhte auch sein politisches Gewicht bei Honecker. Zudem hoffte er, daß die Informationen, an die er so gelangte, die Rolle meines Dienstes bei den Sowjets schmälern würden.

Ich wurde über Schalcks Aktivitäten von Mielke nur noch informiert, wenn es um außenpolitisch besonders relevante Erkenntnisse ging. Solche Erkenntnisse brachte der Strauß-Kontakt. Mit nicht geringem Erstaunen las ich in den Schalck-Berichten, wie locker Strauß gegenüber seinem DDR-Partner politische und militärische Interna der BRD und des westlichen Bündnisses ausplauderte.

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Franz Josef Strauß (links) und Alexander Schalck-

Golodkowski auf der Leipziger Herbstmesse Ich habe Alexander Schalck-Golodkowski als einen

intelligenten, sehr amüsanten, aber auch eiskalten Mann erlebt, dem es nur noch verbal um Ideologisches und tatsächlich weit mehr um sein Ansehen bei der Führung und ums Geschäft ging. Ähnlichen Pragmatismus hatte ich schon bei Strauß konstatiert. Es war also nicht weiter verwunderlich, daß die beiden sich verstanden. Wie auch in anderen Fällen war aus einer konspirativen Verbindung eine Männerfreundschaft geworden.

Ich hatte wenig persönlichen Kontakt zu Schalck. Der Zufall wollte es, daß Schalck und ich nach den ersten drei Geheimtreffen zwischen ihm und Strauß zur selben Zeit Urlaub in Bulgarien machten. Ein Foto, das uns beim Fischessen in Varna zeigt, suggeriert ein vertrauliches Verhältnis zwischen uns, doch das Bild täuscht. Selbst an der Bar hielt sich der Devisenbeschaffer streng an die Weisung, nur Mielke über seine Aktivitäten zu berichten.

Bei der Beobachtung der geheimen Kontakte zwischen Strauß und Schalck war ich bisweilen auf den Augenschein angewiesen. Etwa einen Monat nach unserer Urlaubsbegegnung

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überholte mich auf dem Weg nach Dresden ein Konvoi von Nobelkarossen mit Münchner Kennzeichen, dazwischen ein Volvo. Schalck und Strauß kamen von einem Ausflug aus der Schorfheide, wo sie in Honeckers Revier gejagt hatten. In Erfurt stieß ich wenig später wieder auf die Spuren von Strauß. Ich fand einen verwirrten Parteisekretär vor, der ohne Vorwarnung und Erklärung in seiner Stadt mitbekommen hatte, wie der oberste westdeutsche »Kriegstreiber« mit Huldigungen und Geschenken überhäuft wurde, bevor er sein Flugzeug zurück in die Bundesrepublik steuerte. Der Parteisekretär hatte nun große Probleme, dieses Phänomen seinen Mitarbeitern zu erklären. Ich konnte ihm auch nicht helfen.

Einmal im Jahr traf ich Schalck, um die Aufgaben zu koordinieren. Es ging dabei um die Führung der von der HVA genutzten Firmen und um Devisen, die Schalck für die Arbeit meines Dienstes zur Verfügung stellte. Die Strauß-Verbindung durfte dabei nie erwähnt werden. Sie war auch bei allen anderen Kontakten zwischen HVA und KoKo ein Tabu.

Folglich war die Meldung, daß die DDR auf Vermittlung von Franz Josef Strauß einen Milliardenkredit bekam, eine Überraschung für mich. Die Verhandlungen mit Schalck waren so diskret geführt worden, daß unsere Quellen in Bonn nichts erfahren hatten. Auch ich kann die Frage nicht beantworten, warum ausgerechnet der bayerische Ministerpräsident die DDR vor der Zahlungsunfähigkeit bewahren wollte. Die Hintergründe des Handels blieben Mielkes und Schalcks Geheimnis.

Ende der 70er Jahre war ich noch einmal mit einem Problem der Strauß-Verbindung befaßt. Der Initiator des Kontakts, Simon Goldenberg, meldete sich von einer Geschäftsreise ins westliche Ausland. Er war erkrankt, lag in einem Wiener Hospital und erklärte, daß er nicht in die DDR zurückkehren werde.

Die Erklärung für diesen Schritt lag nahe. Die Abwehr hatte Goldenberg seit langem im Visier und wollte ihn verhaften

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lassen, denn manche seiner Geschäfte waren selbst bei großzügigster Auslegung auch mit DDR-Recht unvereinbar. Da Schalck die wichtigsten seiner Verbindungen übernommen hatte, war Goldenberg auch nicht mehr unentbehrlich.

Andererseits war es ohne Beispiel, daß sich ein nicht ganz unbedeutender inoffizieller Mitarbeiter des MfS einfach fernmündlich aus der DDR abmeldete – und das, als wäre nichts weiter dabei. Er verlangte noch, daß seiner Frau die Ausreise in den Westen gestattet würde und daß er sein luxuriöses Anwesen in Berlin verkaufen könne. Seltsam war es dann, daß Mielke, der sonst jedem Fahnenflüchtigen Tod und Teufel an den Hals wünschte, von Fruck nicht lange dazu überredet werden mußte, Goldenbergs Wünschen nachzugeben.

Goldenbergs Ansinnen wunderte mich auch deshalb, weil wir wußten, daß in der Bundesrepublik ein Haftbefehl gegen ihn vorlag. Dort war nicht nur seine Verbindung zum MfS bekannt geworden, ihm wurde auch die Beteiligung an einer Entführung vorgeworfen. Um so erstaunlicher war es, daß wir ihn wenig später in Bayern orteten, wo er unbehelligt seinen Lebensabend genoß. Es muß eine starke Hand gewesen sein, die ihn vor dem Verfassungsschutz und der bundesdeutschen Justiz schützte.

Die Geschichte der Strauß-Verbindungen zeigt beispielhaft, wie komplex die Problematik der geheimen deutschdeutschen Kontakte ist und wie selektiv diese Kontakte nach der Wende verurteilt oder gar kriminalisiert wurden. Was konservativen Politikern als gesamtdeutsche Politik nachgesehen wird, rückt Sozialdemokraten in die Nähe des Landesverrats. Mitarbeiter und Kontaktpersonen von uns, die auf der politischen Rechten und der Industrie umfangreiches internes Wissen sammelten, konnten im allgemeinen auf eine sehr diskrete und gnädige Behandlung durch die Bundesanwaltschaft rechnen oder wurden erst gar nicht verfolgt.

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8 Herbert Wehner

Herbert Wehner blieb für mich immer ein Mensch unauflösbarer Widersprüche. In all den Jahren, die ich mich mit dieser herausragenden Figur der deutschen Nachkriegsgeschichte beschäftigte, wurden stets nur einige Konturen des Mannes deutlicher. Das heute verbreitete, schon legendäre Bild vom »politischen Urgestein«, Demokraten und Patrioten, dem die Stasi zeitweilig nach dem Leben trachtete, wird gewiß von der historischen Forschung zu differenzieren sein. Ohne Kenntnis von Wehners Einstellung gegenüber der DDR und seinen intensiven geheimen Kontakten zum realsozialistischen deutschen Staat sind manche verschlungenen Wege der Deutschlandpolitik kaum nachzuvollziehen.

Die Hintergründe sind selbstverständlich nicht nur mir bekannt. In den Panzerschränken Honeckers und Mielkes befanden sich die Wehner-Dossiers. Dazu gehörten die Protokolle über seine Treffen mit Abgesandten der DDR, insbesondere die Niederschriften der Gespräche, die Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Vogel über fast eineinhalb Jahrzehnte hinweg mit Wehner führte.

Die Akten aus diesen Panzerschränken wurden bekanntlich während der Wendewirren nach Westdeutschland gebracht. Warum sie bis heute weder der Öffentlichkeit noch – allem Anschein nach – den mit der Person Wehner befaßten Historikern zugänglich gemacht wurden, darüber kann man nur spekulieren.

Die Protokolle der Wehner-Kontakte waren so geheim, daß von den jeweiligen von Mielke redigierten Berichten Vogels nur drei Exemplare angefertigt wurden, von denen eines an Honecker, eines an Mielke und eines an mich ging. Diese Unterlagen standen mir bei Abfassen des Buches zur Verfügung. Nach Lage der Dinge sehe ich keinen Anlaß, Dinge zu

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verschweigen, deren Kenntnis zum Verständnis der deutschdeutschen Vergangenheit beitragen kann.

Herbert Wehners Bruch mit der Vergangenheit war nicht so konsequent und endgültig, wie es der Öffentlichkeit erscheinen mag. Nach seinem Ausschluß aus der KPD 1942 hat er die Verbindung zu seinen ehemaligen Genossen nie ganz abgebrochen. Ein Kontakt von ihm zur DDR war schon installiert, als ich 1951 zur Aufklärung kam. Eingefädelt hatte ihn Kurt Vieweg, damals ZK-Sekretär für Landwirtschaft, verantwortlich aber auch für konspirative Westkontakte mit Hilfe seines Gesamtdeutschen Arbeitskreises Land- und Forstwirtschaft (GAK). Vieweg kannte Wehner aus der skandinavischen Emigration. Auf den Rat unseres sowjetischen Beraters Grauer und nach Rücksprache mit Ulbricht nahm mein Dienst im November 1951 Kontakt zu Vieweg auf, und seitdem kontrollierten wir seine Westverbindungen. Als Verbindungsmann fungierte der Journalist Ernst Hansch, später inoffizieller Mitarbeiter der HVA und Chefredakteur der Ost-Berliner BZ am Abend.

Die Treffen mit Hansch waren für Wehner ein Risiko, denn er stand bei der Rechten in der Bundesrepublik im Verdacht, ein heimlicher Kommunist und »Ostagent« zu sein. Wir mußten davon ausgehen, daß die Kontakte von westlichen Diensten beobachtet wurden. Eine Enttarnung der Hansch-Besuche hätte ihm erheblich geschadet. Wehner waren diese Besuche aber offenbar das Risiko wert.

Die Informationen von Hansch, Deckname Henkel, über seine Gespräche mit Wehner paßten schlecht zum Bild des »Arbeiterverräters«, das wir von ihm hatten, oder zu dem des antikommunistischen Vorreiters, als der er sich öffentlich präsentierte.

Die politische Führung der DDR blieb äußerst mißtrauisch gegenüber seinen vorsichtigen Annährungsversuchen. Für Walter Ulbricht war er aus unerfindlichen Gründen ein

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»englischer Agent«. Er galt als einer unserer gefährlichsten Feinde. Seine Akte wurde in der HVA unter dem Decknamen Wotan geführt.

Einige Verwirrung stiftete eine Eilbotschaft, die uns Wehner, damals stellvertretender SPD-Vorsitzender, im November 1956 zukommen ließ. Er warnte vor möglichen Unruhen in der Region Magdeburg und riet uns, öffentliche Proteste in Grenznähe unter allen Umständen zu verhindern. Zu dieser Warnung paßte ein uns zugespieltes Memorandum des SPD-Sicherheitsreferenten Beermann, das sich mit der Möglichkeit befaßte, im Falle »grenzüberschreitender Unruhen an der Demarkationslinie« die Bundeswehr einzusetzen. Darin wurde ausgeführt, daß sich einzelne Gebiete von der DDR lösen, den Anschluß an die Bundesrepublik proklamieren und danach von der Bundeswehr besetzt werden könnten.

Dies wiederum stimmte überein mit Erkenntnissen der Abwehr, daß in und um Magdeburg sozialdemokratische »Agitatoren« Unzufriedenheit schürten und zum Widerstand aufriefen. Es gab damals erhebliche Versorgungsschwierigkeiten, und nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstands und den Enthüllungen Chruschtschows über den Stalin-Terror war die Stimmung in der DDR insgesamt angespannt. Die Abwehr vermutete eine gezielte Kampagne, vom Ostbüro der SPD über V-Leute gesteuert. Da Herbert Wehner der direkt Verantwortliche für das Ostbüro war, mußte er also wissen, wovor er warnte.

Ganz offensichtlich gingen ihm die Konsequenzen der sozialdemokratischen Destabilisierungsversuche in der DDR zu weit, und er befürchtete, daß im Verteidigungsministerium allzusehr mit dem Gedanken eines militärischen Einsatzes der Nato an der deutschdeutschen Grenze geliebäugelt wurde.

Im Rückblick wird am Fall Magdeburg deutlich, was den SPD-Politiker Wehner mit den Erfahrungen seiner kommunistischen Vergangenheit offenbar schon damals zum

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»Geheimnisverrat« motivierte: alles zu tun, was in seinen Kräften stand, damit von deutschem Boden nicht wieder ein Krieg ausging. In seinen späteren geheimen politischen Botschaften ließ er wesentlich deutlicher durchblicken, daß er von rechtskonservativen Politikern in der Bundesrepublik und vor allem von den »Falken« in der CIA und der US-Führung befürchtete, daß sie die Welt in die atomare Katastrophe treiben könnten. Er schien schon damals verläßliche Partner einer Friedenspolitik im Osten zu suchen.

Eine Erklärung für sein Verhalten fand ich auch in den Aufzeichnungen über seine Vergangenheit, die er einem Kreis führender Sozialdemokraten anvertraut hatte. Dieses Bekenntnis war uns bekannt und bildete für mich gewissermaßen den Prolog zum Vorgang »Wotan«. Das seltsame Papier war eine Mischung aus offener Darstellung dunkler Punkte seiner Biographie und subjektiver Rechtfertigung. Wer es im Wissen um den Lebensweg Wehners las, erkannte darin den Versuch, sich nach beiden Seiten von den Sünden der eigenen Vergangenheit loszukaufen.

Zunächst bemühte er sich im Westen als scheinbar militanter Antikommunist um politische Vergebung und Anerkennung. Doch selbst in dieser Zeit unterließ er es nicht, der östlichen Seite unter der Hand zu signalisieren, daß er nicht der Renegat und Verräter war, für den wir ihn hielten. Nachdem er in der Bundesrepublik als führender Sozialdemokrat akzeptiert und respektiert war, lag ihm nun die Rehabilitierung durch die ehemaligen Genossen und schließlich die persönliche Freundschaft zu Erich Honecker besonders am Herzen. Unsere frühen Kontakte, von Ulbricht und Mielke noch argwöhnisch beobachtet, bereiteten diesen Weg vor.

Das Magdeburg-Signal dokumentierte schon früh einen Widerspruch in Wehners Ostpolitik. Während er öffentlich den Zusammenbruch des kommunistischen Systems voraussagte, wirkte er insgeheim, um eine DeStabilisierung im

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sozialistischen Lager zu verhindern. Es gibt in den Kontakten zu uns eine Linie von 1956 bis zu seiner Aufforderung im Jahr 1980, konsequent gegen die polnische Solidarnosc-Opposition vorzugehen, auch wenn das Gewalt bedeutete.

Solche Zeichen eines zwiespältigen Verhaltens gab es auch im Fall Kurt Viewegs, des Mannes, der den Kontakt zu Wehner hergestellt hatte. Vieweg drohte Maßregelung wegen abweichender Auffassungen in der Landwirtschaftspolitik, und eine außereheliche Beziehung belastete ihn zusätzlich. Im März 1957 floh er Hals über Kopf in die Bundesrepublik, stellte sich dort aber nicht den Behörden, sondern suchte bei Herbert Wehner Zuflucht. Bei uns wurde Großalarm ausgelöst. Der Altkommunist Vieweg war nicht nur eine politische Größe, deren Frontwechsel vom Gegner propagandistisch ausgenutzt werden konnte, als Geheimnisträger wußte er um zahlreiche konspirative Kontakte und Verbindungen nach Westen, die unser Apparat von ihm übernommen hatte.

Es drohte, was damals für beide Seiten Waffe im Propaganda-Krieg war: die medienwirksame Präsentation eines präparierten Überläufers. Ich bekam den Auftrag, Vieweg in die DDR zurückzuholen. Die Mittel, mit denen fahnenflüchtigen Funktionsträgern und Geheimdienstlern nachgestellt wurde, waren damals nicht zimperlich, doch für mich war Gewalt nie eine vernünftige Lösung, weil sie meist mehr Schaden anrichtete als verhinderte. Ich setzte auf die »Wotan-Verbindung« – mit nicht eben viel Optimismus, aber in der vagen Hoffnung, daß Wehner schon aus Eigeninteresse möglicherweise Hilfestellung leisten könnte.

Gemeinsam mit Viewegs zurückgelassener Frau entwarf ich einen Brief, der von Hansch überbracht wurde. Daß Wehner sich auch unseren Kopf zerbrach, konnte ich aus seiner ersten Reaktion ersehen. Über Hansch belehrte er uns, Vieweg sei unklug und ungerecht behandelt worden. Vor Vertretern des britischen und des US-Geheimdienstes, die an Gesprächen

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interessiert waren, hatte er Vieweg bereits gewarnt. Und er zeigte sich überraschenderweise bereit, den Überläufe r zur Rückkehr zu überreden, wenn wir Straffreiheit garantierten. Nachdem Ernst Wollweber, damals Minister für Staatssicherheit, mir diese Zusicherung gegeben hatte, ließ ich Wehner mitteilen, sein Schutzbefohlener habe in der DDR nichts zu befürchten. Wehner schien dieser Garantie zu vertrauen, obwohl er die Unerbittlichkeit des Machtapparates in solchen Fällen eigentlich kannte. In Wehners Hamburger Wohnung wurde mit dessen Vertrauten Peter Blachstein das weitere Prozedere beraten.

Vieweg kehrte am 19. Oktober 1957 freiwillig in die DDR zurück. Trotz der gegebenen Zusage und gegen meinen Protest wurde er verhaftet und am 1. Oktober 1959 verurteilt; erst am 17. Dezember 1964 kam er wieder frei. Die »Wotan-Verbindung« wurde durch den Vertrauensbruch nicht gestört.

Den Vernehmern des Ministeriums für Staatssicherheit offenbarte Vieweg 1957 Erstaunliches: Wehner habe zwar Einwände gegen den Staatsaufbau in der DDR und bemängele das Fehlen jeglicher parlamentarischen Kontrolle, halte aber die DDR für einen sozia listischen Staat. Er stehe weiterhin auf dem Boden des Marxismus-Leninismus und betrachte den Sturz des Kapitalismus in der DDR als einen positiven Impuls für ganz Deutschland. Erste Bedingung für eine Verständigung zwischen SED und SPD sei die Beseitigung des gegenseitigen Mißtrauens. Diese als Botschaft zu verstehende Aussage Viewegs gelangte schon nicht mehr auf den Schreibtisch Wollwebers, da dessen Sturz zu jener Zeit bereits vorbereitet wurde.

Das Verhalten Wehners in diesem Fall ist am ehesten so zu deuten, daß er einerseits Vieweg als Boten für sein Angebot der Verständigung benötigte und andererseits fürchten mußte, daß Vieweg in den Verhörmühlen der westdeutschen und amerikanischen Dienste alles preisgeben konnte, sogar das Wissen um seinen, Wehners, Kontakt zu Hansch. Vieweg war

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also aus Wehners Sicht in der DDR sicherer aufgehoben. Obendrein schien es aber auch, als wolle er uns beweisen, daß wir ihm zu Unrecht mißtrauten.

Ähnlich überraschend verhielt er sich bei einer anderen Gelegenheit. Einem einflußreichen Bundestagsabgeordneten, der mit uns zusammenarbeitete, grummelte er im Vorbeigehen zu: »Paß auf, über dir zieht sich ein Netz zusammen.« Unsere sofortigen Nachforschungen ergaben, daß die Quelle in das Fadenkreuz des Verfassungsschutzes geraten war. Wir konnten sie noch rechtzeitig schützen.

Mein Mißtrauen gegenüber dem janusköpfigen Renegaten aber blieb trotz solcher Vorkommnisse. Ich fragte mich, wer denn nun der echte Wehner war. War es der Mann, der die Linke in der SPD kaltstellte, der mit dem Godesberger Programm das sozialistische Erbe der Sozialdemokraten verleugnete, der mit seiner Rede vom 30. Juni 1960 die Partei zur Akzeptanz von Aufrüstung und bedingungsloser Westintegration trieb? Und das ohne Abstimmung mit führenden Sozialdemokraten, zum Beispiel Willy Brandt, wie wir von unserer Quelle »Freddy« wußten. Oder war der Herbert Wehner, der sich uns als verläßlicher Partner anbot, ein zwischen den Systemen Schwankender?

Wir hatten früh erkannt, daß Wehner zum mächtigsten Mann in der SPD aufstieg und die westdeutsche Politik gegenüber dem Osten entscheidend beeinflußte. Dementsprechend aufwendig waren unsere Anstrengungen, ihn unabhängig vom direkten Kontakt unter Beobachtung zu halten. Schon Anfang der 50er Jahre warben wir einen seiner wenigen Freunde und politischen Vertrauten an, den Journalisten Otto W, Deckname Wanger. Er gab mit unserer Unterstützung einen Pressedienst in Bonn heraus. »Wanger« arbeitete aus politischer Überzeugung für uns. Zudem hatte er sein Herz an eine junge DDR-Journalistin verloren, die uns nahestand. Ob Wehner ahnte, daß sein Freund für den Nachrichtendienst der DDR arbeitete, weiß ich nicht.

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Auch »Wanger« beschrieb in seinen Berichten einen doppelgesichtigen Wehner: den antikommunistischen Polterer vor Publikum und den Nachdenklichen im vertraulichen Gespräch, der von gemeinsamen Interessen der beiden deutschen Staaten ausging, der sich um den Frieden und um die Stabilität der DDR sorgte.

Mein Mißtrauen gegenüber Wehner blieb. Geschürt wurde es durch das, was ich von Richard Stahlmann erfuhr, der in der schwedischen Emigration enger Mitarbeiter Wehners gewesen war. Stahlmann erzählte, wie Wehner in einem seiner Wutausbrüche die Pfeife zerbiß, als er aus Moskau den Auftrag bekam, nach Deutschland zu gehen, um dort die illegale Partei zu führen. Er wußte natürlich, daß das ein Himmelfahrtskommando war, denn die Organisation der KPD im Untergrund war von der Gestapo schon zerschlagen. Daß trotzdem eine zentrale Führung in Deutschland agieren sollte, war einer der sinnlosen Beschlüsse der Partei, denen Menschen geopfert wurden.

Um dem zu entgehen, so Stahlmann, habe Wehner seine Verhaftung durch die schwedische Polizei provoziert. Bei den Vernehmungen soll er sich nicht nur vom Kommunismus distanziert, sondern auch Namen von Genossen preisgegeben haben, die er nach Deutschland geschickt hatte, und das, obwohl er wußte, daß die schwedische Polizei mit den Nazis kooperierte. Wir fanden später in Gestapo-Akten Hinweise darauf, daß Wehners Aussagen in Akten von Widerstandskämpfern vorkamen, die verhaftet und hingerichtet worden waren.

Dieser Verrat – als solchen mußte ich es sehen – bewegte mich persönlich, weil ich Genossen kannte, deren Namen Wehner im Verhör offenbar genannt hatte, darunter Charlotte Bischoff, eine bescheidene Frau und eine Heldin des Widerstands. Sie hatte schon an den Straßenkämpfen während der Novemberrevolution in Berlin teilgenommen. Auf Wehners

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Befehl war sie ohne irgendwelche Papiere 1941 als Matrose verkleidet von Schweden nach Deutschland gereist, hatte sich nach Berlin durchgeschlagen und dort bis Kriegsende in der Illegalität ausgeharrt. Wie durch ein Wunder war sie der Gestapo immer wieder entkommen. Die Begegnungen und Gespräche mit dieser Frau festigten meine Abneigung gegen den Mann, den ich für einen Verräter halten mußte.

Herbert Wehner auf schwedischem Polizeifoto 1942

Da Wehner nachrichtendienstlich aber von großem Wert war, arbeitete ich mit gemischten Gefühlen an dem Auftrag, soviel Belastendes wie möglich gegen ihn zu sammeln. Das Material war dazu gedacht, ihn in der westdeutschen Öffentlichkeit bloßzustellen, falls so etwas politisch opportun sein sollte. Der Leitfaden für den Plan seiner Kompromittierung waren die Aufzeichnungen, mit denen er sich bei Kurt Schumacher gerechtfertigt hatte.

Auf Material aus Moskau, dessen Veröffentlichung »Wotan« wirklich politisch erledigt hätte, wartete ich zehn Jahre. Erst

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1967 wurde es uns vom KGB-Vorsitzenden Wladimir Semitschastnij überlassen. Es waren die handschriftlichen Berichte Wehners für das NKWD von Ende 1937, in denen er viele seiner Mitkämpfer der »trotzkistischen Wühlarbeit« bezichtigte, wohl wissend, daß ihnen daraufhin Tod oder Gulag drohen konnte.

In meinem Tagebuch habe ich damals notiert: »Wie würde Wehner wohl auf eine Erinnerung daran reagieren?« Die Protokolle habe ich mit Bestürzung gelesen, denn sie dokumentieren, wie viele Genossen, die Freiheit und Leben für ihre sozialistischen Ideale eingesetzt hatten, Opfer des stalinistischen Terrors geworden waren.

Mein Urteil über Wehner habe ich im Verlauf der Jahre teilweise revidiert. Ich frage mich, ob man richten darf über das, was ein Mensch in Todesgefahr tut, ohne daß man selbst einer solchen Situation ausgesetzt war. Denn die Weigerung, mit dem NKWD zusammenzuarbeiten, hätte Wehner wohl nicht überlebt. Und in schwedischer Haft drohte ihm 1941 die Auslieferung an die Gestapo, also Folter und Tod. Schließlich ist es nicht auszuschließen, daß er zumindest subjektiv der Meinung war, den Vernehmern nicht mehr verraten zu haben, als sie ohnedies schon wußten.

Die Versuchung war immer groß für unsere Seite, durch eine Veröffentlichung der Dossiers die Weichen in der SPD und in Bonn anders zu stellen. Im Fall Wehner gab es wiederholt ernsthafte Erwägungen der Führung, das gesammelte Material gegen ihn zu benutzen. Doch zu einem entsprechenden Beschluß kam es nicht. Gegen eine solche Entscheidung stand das Argument, daß mit unserem Wissen die geheimen Kontakte besser nutzbar waren, zumal sie sich aussichtsreich entwickelten. Die Gelegenheit, die konspirativen Beziehungen auf eine höhere Stufe zu stellen, hatte sich schon 1955 ergeben. Wehner gehörte damals zur BRD-Delegation auf der ersten Genfer

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Außenministerkonferenz, bei der die Vertreter beider deutscher Staaten am Katzentisch dabeisein durften. Für westdeutsche Politiker war es allerdings noch ein Tabu, mit Abgesandten der »Sowjetzone« zu sprechen. Über unseren Kontakt Hansch hatten wir bei Wehner eruiert, ob er bereit sei, sich mit einem Repräsentanten der DDR in Genf zu treffen. Er war es. Zur DDR-Delegation gehörten auch Angehörige meiner Hauptverwaltung. Noch nie hatte es die Möglichkeit gegeben, an so viele führende westdeutsche Politiker direkt heranzukommen.

Uns gelang es, in Genf unter anderem mit dem FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach Gespräche zu führen, der eine sehr progressive Position in der Deutschlandpolitik vertrat. Wichtiges Zielobjekt jedoch blieb Wehner. Es war nicht gerade eine Routineaufgabe, in einer Stadt des westlichen Auslands einen konspirativen Treff mit einer so bekannten Figur zu organisieren, zumal zu einer Zeit, in der Journalisten und die Observateure der verschiedenen Geheimdienste die Szene kontrollierten.

Wir arrangierten ein Zusammentreffen Wehners mit Wilhelm Girnus, der offiziell Sekretär des Ausschusses für deutsche Einheit war. Ich hatte Girnus auf die Begegnung vorbereitet. Für Wehner war diese Kontaktaufnahme wieder ein großes Risiko; dem Exkommunisten hätte man im Westen nie verziehen, wenn bekanntgeworden wäre, daß er sich entgegen allen parteiübergreifenden Absprachen heimlich mit einem Vertreter des Ulbricht-Regimes traf. Die Informationen, die er Girnus freimütig gab, und die Positionen, die er vertrat, waren so wohl kaum mit der SPD-Führung abgesprochen. Wehner erläuterte unter anderem seine Vorstellungen von einem Deutschlandplan der SPD, zu dem damals in seiner Partei erst vorläufige Überlegungen vorlagen. Am Ende schlug er von sich aus vor, die Gespräche mit einem Politbüromitglied fortzusetzen. Er wollte sich mit Professor Albert Norden in West-Berlin treffen.

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Die Zusammenkunft sollte in der Wohnung von Probst Heinrich Grüber stattfinden.

Über den Minister für Staatssicherheit, Ernst Wollweber, informierte ich Walter Ulbricht von dem Vorschlag. Der Bericht kam zurück mit Ulbrichts markantem Vermerk: »Einverstanden.« Sehr viel kleiner stand darunter: »Nicht mit Norden, sondern mit Matern. In der Hauptstadt der DDR.« Das war ein typischer Ulbricht-Schachzug. Er wollte die Annährungsversuche Wehners nicht brüsk zurückweisen, aber der immer enger werdende Kontakt zu dem »englischen Spion« blieb ihm suspekt. Dem Intellektuellen und Westemigranten Norden wollte er diesen Kontakt nicht anvertrauen. Der Treffpunkt Ost-Berlin wiederum war für Wehner kaum akzeptabel, denn er mußte fürchten, sich zu sehr in unsere Hand zu begeben. Wir wußten, daß er die Begegnung mit ehemaligen Genossen noch immer scheute. Wie ich erwartet hatte, lehnte er den Vorschlag ab.

Wie risikoreich die Verbindung zu Wehner für alle Beteiligten war, wurde nach 1957 deutlich. Ernst Wollweber als Minister wurde ebenso wie Karl Schirdewan als Mitglied des Politbüros parteifeindlicher Fraktionstätigkeit beschuldigt und entlassen. Als gravierendster geheimer Anklagepunkt gegen beide fungierte der Kontakt zu Wehner. Es nützte Wollweber in seinem Parteiverfahren nichts, daß Ulbricht alle Berichte über die Treffs mit Wehner abgezeichnet hatte und daß ich diese Belege vorweisen konnte. Nur den ebenfalls beschuldigten Wilhelm Girnus, der sich in Genf mit Wehner getroffen hatte, rettete am Ende der Nachweis, daß Ulbricht das Treffen gebilligt hatte.

Auch wenn diese Anschuldigungen nur ein Vorwand waren, dokumentierten sie doch, wie zwiespältig das Verhältnis der SED zur SPD in jener Zeit war. Es gab in dieser Frage zwei unvereinbare Positionen. Für die einen waren alle Sozialdemokraten ideologische Diversanten, Spalter der

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Arbeiterbewegung und damit die gefährlichsten Feinde. Wehner galt ihnen als der Chef-Diversant. Die anderen zählten den linken Flügel der SPD zur Arbeiterbewegung und befürworteten Kontakte.

Der Kontakt zu Wehner wurde durch die taktischen Manöver Ulbrichts zwar beeinträchtigt, aber nie abgebrochen, denn auch der erste Mann in der Partei dachte nicht daran, eine solche Verbindung ernsthaft zu gefährden. Er wollte sie nur unter zuverlässiger Kontrolle wissen. Dafür stand der 1958 ernannte Minister für Staatssicherheit Erich Mielke. Bei den sowjetischen Kollegen betonte dieser gern, daß er die direkteste und authentischste Verbindung zum bundesdeutschen Machtzentrum und damit zur westlichen Allianz habe.

Die politischen Aktivitäten des mächtigsten Mannes in der SPD blieben weiter undurchsichtig. Über unseren Kontaktmann Hansch deutete er Unterstützung von DDR-Positionen an. Wir wußten über unsere Quellen, daß er gleichzeitig insgeheim mit Politikern paktierte, die wir zu den »reaktionärsten Kreisen des westdeutschen Revanchismus« zählten, etwa mit dem erzkonservativen CSU-Ideologen Baron Guttenberg. Ehe sozialdemokratische Abgeordnete oder die Öffentlichkeit etwas ahnten, kannten wir den Zweck solcher Allianzen. Der »Onkel« bereitete mit den ihm vertrauten konspirativen Mitteln die große Koalition von Unionsparteien und SPD vor.

Wehner stand in der Öffentlichkeit immer noch für die politischen Positionen, die wir bekämpften. Da unterschied er sich allerdings kaum von anderen Sozialdemokraten, zu denen wir nicht nur politische, sondern auch nachrichtendienstliche Kontakte hatten. Quellen in Positionen wie etwa Günter Guillaume wurden von uns angewiesen, bei der innerparteilichen Diskussion rechte Positionen zu vertreten, denn uns war klar, daß der Weg zu den bundesrepublikanischen Einflußzentren nicht über die linke Spur führte. Für manche Sozialdemokraten, die aus politischer Überzeugung mit uns

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zusammenarbeiteten, war es eine schwere Belastung, sich auf diese Weise taktisch verhalten zu müssen.

Herbert Wehner als Vorsitzender des Ausschusses für Gesamtdeutsche

Fragen

In der SED-Führung gab es Stimmen, die forderten, daß die

SPD-Politiker, zu denen engere Kontakte bestanden, vor allem als politische Einflußagenten genutzt werden sollten. Je weiter Herbert Wehner die SPD nach rechts führte, um so intensiver wurden die Überlegungen, die SPD mit Hilfe uns nahestehender Leute zu spalten und auf diesem Weg eine Art neue USPD zu etablieren. Kurzfristig schien das eine realistische Option zu sein, denn die Zahl der mit uns auf verschiedene Weise verbündeten SPD-Bundestagsabgeordneten und leitenden Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre erreichte bald Fraktionsstärke. Nicht nur aus nachrichtendienstlichem Interesse habe ich solche

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Pläne immer abgelehnt. Unsere Analysen gaben einer solchen Gruppierung auf Dauer keine Chance. Schließlich wurde das Projekt SPD-Spaltung zu den Akten gelegt.

Der Kontakt zu Wehner bekam eine ganz neue Qualität, als er sein innenpolitisches Ziel erreicht und die SPD 1966 in die große Koalition geführt hatte. Wehner war nun Minister für Gesamtdeutsche Fragen. Die langjährige Verbindung zu unserem Mann Ernst Hansch wurde abgeschaltet, da sie zu risikoreich geworden war. Von nun an kontrollierte Mielke die Verbindung selbst und hatte damit einen Trumpf gegenüber der HVA in der Hand. Den Kontakt übernahm Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der mit dem Westen »humanitäre Fragen« verhandelte. Sein offizieller Ansprechpartner war der Gesamtdeutsche Minister. Nicht nur offene, sondern auch geheime Treffen der beiden waren dadurch gedeckt. Die Inhalte ihrer Gespräche durften nicht bekannt werden. Deshalb berichtete Vogel direkt dem Minister. Mielke allein redigierte die Berichte über Gespräche mit Wehner für die Weitergabe an Honecker. Da das Formulieren nicht seine Stärke war, zog er sich oft einen ganzen Tag zurück, um die Botschaften des »Onkels« in die rechte Form zu bringen.

Kaum etwas in der DDR war geheimer als diese Berichte. Außer den drei Exemplaren für Honecker, Mielke und mich gab es noch eine extraredigierte und zensierte Version der Protokolle, die an die sowjetischen Partner ging.

Im Westen galt Vogel als »Vertrauter Honeckers«. Tatsächlich handelte Vogel mit Wissen und auch im Auftrag Honeckers. Aber instruiert wurde er von Mielke und dessen Offizier für diese Sonderaufgabe, Heinz Volpert. Noch unter Ulbricht hatte ich die Anordnung bekommen, alle Ermittlungen in Sachen Wehner einzustellen. Der enger werdende Kontakt zu dem SPD-Politiker bedeutete für Mielke mehr Ansehen und mehr Macht in der Parteiführung und gegenüber dem sowjetischen Dienst. Das erklärt vielleicht, warum sein

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abgrundtiefes Mißtrauen sich zu einem geradezu naiven Zutrauen gegenüber Wehner wandelte.

Ich vertraute meinem Tagebuch damals Zweifel über die Gesetzmäßigkeit des Verlaufs der Geschichte an, weil ich wieder einmal sah, wie sehr die Politik von Schwächen, Ambitionen und Emotionen der einzelnen Akteure bestimmt wurde.

Mit dem Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker war der Kontakt zu Wehner nicht mehr belastet von den persönlichen Erfahrungen der alten Kommunisten aus der Sowjetunion und der skandinavischen Emigration. Honecker kannte Wehner aus dem Widerstand gegen die Nazis im Saarland. Der junge Dachdecker Honecker hatte die kommunistische Führungspersönlichkeit Wehner in den 30er Jahren bewundert. Im Unterschied zu anderen KPD-Spitzenfunktionären hatte Wehner damals erfolgreich die ehrliche Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten gesucht. Auch das hat Honecker wohl noch nachträglich beeindruckt. Die Rückerinnerung an die unschuldige und heroische gemeinsame Jugend wurde ein wichtiger Faktor der Ost-West-Politik.

Zunächst entwickelte sich Anfang der 70er Jahre eine intensive Brieffreundschaft zwischen den beiden. Briefträger war Anwalt Vogel. Die Briefe begannen bald mit »Mein lieber Freund« und endeten mit »herzlichen Grüßen«. Aus den konspirativen politischen Kontakten wurden geheime persönliche Beziehungen.

Besiegelt wurde die wiedererweckte Freundschaft während des Besuchs von Wehner bei Honecker im Mai 1973. Dieses Treffen war mit der SPD-Führung abgesprochen. Wehner nahm den FDP-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick mit, um dem Verdacht bei Gegnern und Freunden entgegenzuwirken, er mache in der DDR geheime Politik auf eigene Faust. Den Parteifreunden vertraute er allerdings nur die halbe Wahrheit an. Schon einen Tag vor dem offiziellen Gespräch, an dem auch

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Mischnick teilnahm, traf er sich unter strenger Geheimhaltung mit Honecker in der Schorfheide. Aus seiner Umgebung erfuhr ich, wie penibel der Erste Sekretär dieses Wiedersehen persönlich vorbereitet hatte. Er wählte selber das Gebäck aus, das er dann am Gartentisch seinem Gast anbot. Der Kuchen sollte schmecken wie der Selbstgebackene, mit dem Honeckers Mutter den hungrigen Wehner einst im Saarland verwöhnt hatte.

Erich Honecker und Herbert Wehner im Mai 1973

Erich Honecker legte auch alle Einzelheiten der Berichterstattung fest. Gegen alle Regeln wurde der westdeutsche Gast auf der ersten Seite des Neuen Deutschland gewürdigt. Eine neue Sprachregelung bestimmte, daß er nicht mehr als H. Wehner, sondern mit vollem Vornamen genannt werden mußte. Diese bevorzugte Behandlung in den DDR-Medien war taktisch wenig klug, denn sie konnte im Westen Mißtrauen bestärken. Aber die Beziehung Honecker-Wehner war eben nicht taktischer, sondern auch sentimentaler Natur.

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Tagebucheintrag vom 15. 4. 1980 (Transkription im Anhang)

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Tagebucheintrag vom 16. 4. 1980 (Transkription im Anhang)

Erich Honecker erfüllte seinem Freund den Wunsch, der ganz offensichtlich auch eine Triebfeder für Wehners Kontakte zur DDR war, den Wunsch nach Rehabilitierung innerhalb der

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Partei. Vor dem Politbüro gab er eine feierliche Ehrenerklärung für Wehner ab. Der Sozialdemokrat durfte in Publikationen nicht mehr als Verräter an der Arbeiterbewegung dargestellt werden. Um das sicherzustellen, beschloß das Politbüro im Januar 1974, daß Memoiren von »Persönlichkeiten der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung« nur noch auf Beschluß des ZK-Sekretariats veröffentlicht werden durften.

In die »Giftschränke« wanderten daraufhin die Erinnerungen von Karl Mewis, in denen Wehner detailliert Verrat an Genossen vorgeworfen wurde. Mielke wollte außerdem inzwischen herausgefunden haben, daß nicht Wehner, sondern Mewis der eigentliche Verräter in Schweden war, und diese These fand sich bald darauf in einer bundesrepublikanischen Wehner-Biographie von Alfred Freudenhammer und Karlheinz Vater wieder.

Die »Lex Wehner« des Politbüros wirkte wie eine späte Rache Wehners an seinen Gegnern in der Kommunistischen Partei. Die bereits publizierten Erinnerungen von Erich Glückauf, in denen die Vorwürfe gegen Wehner bereits nur mehr sehr vorsichtig formuliert waren, wurde aus dem Buchhandel zurückgezogen.

Die Protokolle von Wehners Gesprächen mit Vogel und die Briefe an Honecker lassen den Schluß zu, daß Wehner sich im Lauf der Jahre immer weiter dem sozialistischen Lager angenähert hat. Im August 1981 schien er sich dann schon voll mit der Sache des »real existierenden Sozialismus« zu identifizieren. Wolfgang Vogel traf auf Öland an drei Tagen einen deprimierten Wehner, der geradezu prophetisch vom drohenden Untergang der DDR und des Sozialismus in Europa orakelte. Wieder einmal warnte er vor Brandt, der die Sowjetunion zur Aufgabe der DDR bewegen wolle. Für mich war das eine absurde Vorstellung.

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Tagebucheintrag vom 24. 8. 1981 (Transkription im Anhang)

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Tagebucheintrag vom 8. 3. 1983 (Transkription im Anhang)

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Tagebucheintrag vom 8. 3. 1983 (Transkription im Anhang)

Die akute Gefahr sah Wehner in der polnischen Solidarnósc-Bewegung. Er fürchte, sagte er zu Vogel, einen »gefährlichen Ermunterungssog«, wenn man die Opposition in Polen nicht unter Kontrolle bekäme. Er riet seinem Freund Honecker zu

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»entschlossenen Maßnahmen« der sozialistischen Staaten, »je eher, desto besser«. Wehner dachte dabei offenbar nicht nur an politische Pressionen, denn er meinte: »Es geht nicht ohne innere Gewalt, leider. Es ist eine halbe Minute vor zwölf.«

Sein Rat, die polnische Opposition gewaltsam zu zerschlagen, fand glücklicherweise kein Gehör. Die Voraussage aber, daß ein Erfolg der Solidarnósc der Anfang vom Ende der sozialistischen Herrschaft in Europa sei, sollte sich als zutreffend erweisen.

Wehner verabschiedete sich in diesem August von Vogel mit überschwenglichen Beteuerungen seiner Freundschaft zu Honecker. Er bekannte, das schönste Geschenk zu seinem 75. Geburtstag sei die Gabe des Staatsratsvorsitzenden, eine geschnitzte Holzfällerfigur aus dem Erzgebirge.

Nach der Wende sagte Honecker in einem Interview einen Satz, der kaum Beachtung fand, weil er so unglaubwürdig klang: »Herbert war seit den 30er Jahren mein unersetzlicher Freund und Berater.«

Nicht allein das Gespräch im August 1981 mit Vogel legt die Deutung nahe, daß Herbert Wehner am Ende seines Wirkens wieder nahe der politischen Heimat seiner Jugend angelangt war. Seine Genossen aus jenen Zeiten standen ihm offenbar politisch und menschlich näher als Sozialdemokraten vom Typus Willy Brandts oder auch Helmut Schmidts. Er wirkte tief enttäuscht von der Sozialdemokratie.

Wenn man das aus westdeutscher Perspektive als Verrat deuten will, ist das eine allzu platte Sicht. Wehner war nie ein Agent im klassischen Sinn. Die Konspiration war für ihn von Jugend an ein Mittel der Machtpolitik und auch des politischen, ja bisweilen des physischen Überlebens. Von den ersten Kontakten zu uns bis zur Freundschaft mit Honecker hat er wohl immer geglaubt, der Stärkere im politischen Spiel zu sein.

Eine Rückkehr Wehners zum Kommunismus sehe ich in alledem nicht. Zu sehr war er von den Repressionen der

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Stalinzeit gezeichnet, zu sehr hatte er unter dem Mißbrauch der Ideale seiner Jugend gelitten. Wehners Absage an jede Form der Diktatur entsprach seiner Überzeugung. Auf seine Art förderte er aber die Annäherung und den friedlichen Ausgleich der beiden Welten, deren Konflikte sein Leben ausfüllten. Er tat dies oft auf seine Weise.

Erich Honecker und Herbert Wehner in Bonn 1987

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9 Der heiße Sommer von 1968

In den USA, in Frankreich und der Bundesrepublik war das Jahr 1968 durch den Höhepunkt der Studentenrevolte und der Protestbewegung gekennzeichnet, in den Ländern des Warschauer Vertrags durch den »Prager Frühling« und den Einmarsch der Truppen der Vertragsstaaten in die CSSR. Ähnlich den Ereignissen in Ungarn im Herbst 1956 hatten diese Geschehnisse tiefreichende Auswirkungen auf das Denken vieler von uns, Auswirkungen, deren die meisten sich erst im nachhinein bewußt wurden.

Ulbricht hatte permanent Angst vor einem »kleinen Krieg« und mißtraute insgeheim Moskaus Bündnistreue. Der israelisch-ägyptische Sechstagekrieg 1967 schürte seine Befürchtungen noch. So wenig sich die strategische Lage der DDR, in der die größte sowjetische Streitmacht außerhalb der UdSSR stationiert war, mit der Ägyptens vergleichen ließ, traute Ulbricht dennoch der Bundesrepublik ein ähnliches Vorgehen wie Israel zu und fürchtete, die Sowjetunion könne die DDR in einem militärischen Konflikt der deutschen »Brüder« ihrem Schicksal überlassen.

Das, was Leonid Breschnew, seit 1964 Chruschtschows Nachfolger als Generalsekretär der KPdSU, in geschlossenen Sitzungen des Zentralkomitees und bei Beratungen mit führenden Politikern der sozialistischen Länder zur Lage im Nahen Osten sagte, ließ aufhorchen. Er war der Ansicht, daß Nasser an der Kampfkraft des sozialistischen Lagers zweifle und das Kräfteverhältnis zwischen den Supermächten falsch einschätze. Israel zerstören zu wollen, so Breschnew, bedeute Krieg. Deshalb müsse Ägypten nach einer politischen Lösung suchen. Das Interesse der Sowjetunion am Friedenserhalt war offenkundig. Dies aber verleitete die Falken in der US-Administration zu gefährlichen Schlüssen. Walt Whitman

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Rostow, außenpolitischer Berater Präsident Johnsons, folgerte aus den sowjetischen Friedensbemühungen, daß es für die USA nicht nur möglich, sondern geboten sei, den Vietnam-Krieg bis zum Sieg über die Kommunisten weiterzuführen; danach könne der Erfolg der Israelis gegen die Araber ausgebaut werden, und dann werde man sich Europa zuwenden.

Anfang 1968 nahmen die Studentenunruhen im Westen dramatische Formen an. Das beanspruchte meine Aufmerksamkeit weit mehr als das Geschehen bei unseren östlichen und südlichen Nachbarn, und deshalb wurde mir die kritische Zuspitzung der Ereignisse in der Tschechoslowakei erst relativ spät bewußt.

Im Vorjahr war während des Staatsbesuchs von Schah Reza Pahlewi in West-Berlin der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen worden; das hatte eine Welle der Rebellion an westdeutschen Universitäten ausgelöst. Kaum waren sie abgeebbt, verübte im Frühjahr 1968 ein Neonazi ein Attentat auf Rudi Dutschke, den Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition, was neue Unruhen auslöste.

In Frankreich eskalierte der Studentenaufstand zu Straßenschlachten mit der Polizei. Die Gewerkschaften riefen einen Solidaritätsstreik aus, der eine allgemeine Streikbewegung zur Folge hatte; Fabriken wurden durch Arbeiter und Studenten besetzt.

Für eine ganze Generation bildeten die Ereignisse des Jahres 1968 eine historische Zäsur. Der Protest gegen den weiter eskalierenden Vietnam-Krieg weitete sich zur Auflehnung gegen die herrschenden Machtverhältnisse aus. In der Bundesrepublik mündete die Protestbewegung in den politischen Protest gegen die geplante Verabschiedung der Notstandsgesetze durch den Bundestag. Im Parlament stimmten fünfzig Abgeordnete der SPD mit der FDP gegen die Annahme der Gesetze und damit gegen die Beschlüsse ihrer Parteiführung.

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Wir nutzten unsere Verbindungen zu Abgeordneten des Bundestags soweit wie möglich, um das Abstimmungsergebnis zu beeinflussen – immerhin waren wir uns der Haltung etwa eines Dutzends Abgeordneter sicher, die ihrerseits nichts unversucht gelassen hatten, um auf andere einzuwirken.

Mit diesem Beitrag meines Dienstes im Kampf gegen die Notstandsgesetze hätte unser soeben von einem leichten Gehirnschlag genesener Minister eigentlich zufrieden sein können, doch Mielke war keineswegs zufrieden, denn seine Aufmerksamkeit war zur Gänze von der Entwicklung in den sozialistischen Nachbarländern beansprucht.

Über die Lage in Prag hatte ich kein klares Bild. Am Jahrestag der Staatssicherheit, dem 8. Februar, hatte Ulbricht sich skeptisch über Alexander Dubcek, den neuen Generalsekretär der tschechoslowakischen Kommunisten, geäußert. Da er die von Gomulka in Polen verfolgte Landwirtschaftspolitik und die Einführung der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien noch heftiger kritisierte, hatte ich seine Bemerkungen zunächst seiner bekannten Besserwisserei zugeschrieben. Als ich jedoch Dubceks erste Reden las, stutzte ich. Die Ankündigung eines »neuen Kurses« mit dem Ziel demokratischer Reformen drückte das aus, worauf auch in der DDR viele warteten. Sehr bald jedoch tauchten neben Dubcek neue Namen auf, und aus dem Mund dieser Männer wurden Forderungen laut, die weit über das hinausgingen, was er propagierte. Das erinnerte an den Ablauf der Ereignisse in Ungarn 1956, genau wie die Studentenkrawalle, die aus Warschau gemeldet wurden.

Aus dem Zentralkomitee der SED kamen widersprüchliche Auskünfte über die Gipfeltreffen der sozialistischen Länder, auf denen Dubcek sich bemühte, die Besorgnis der anderen Teilnehmer zu entkräften. Seine öffentlichen Auftritte in Prag bezeichneten Anwesende als ausgewogen, in seiner Umgebung aber bestimmten andere den Ton, so der Parlamentspräsident

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Josef Smrkovsky oder Eduard Goldstücker. Die Erklärungen des Außenministers Jirj Hajek ließen deutlich sozialdemokratischen Einfluß erkennen. Die Informationen meines Dienstes ergänzten das, was man ohnedies über die Beziehungen der Prager Liberalen zu Westpolitikern wußte oder zumindest ahnte. Diese unterschieden zwischen Dubceks Reformkurs, den mit westlichen Modellen sympathisierenden Liberalen und den an Moskau orientierten Konservativen.

Alexander Dubcek mit Jan Pudlák und Ludvik Svoboda

Großes Interesse bei unserer politischen Führung fanden

Informationen über tschechische Kontakte zu westdeutschen Sozialdemokraten und zur italienischen KP, die als Wiege eines reformierten Eurokommunismus besonders suspekt war. Als ideologisch absolut verderblich galt die Konvergenztheorie dieser Kreise, die einer Annäherung der gesellschaftlichen Systeme und eines »dritten Weges« das Wort redete.

Mielke wußte durch meinen Dienst von den Gesprächen, die

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Mieczyslaw Rakowski, Chefredakteur der Zeitung Polityka und Mitglied des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, in der Bundesrepublik geführt hatte. Dabei hatte er betont, daß Polen sich um ein hohes Maß an nationaler Eigenständigkeit bemühe, entgegen Moskaus Hegemonialbestrebungen, und hatte erklärt, nicht nur er sei der Auffassung, die Konvergenz sei unvermeidlich und wünschenswert.

Konvergenz – das war das Stichwort für Mielke. Als der polnische stellvertretende Innenminister Francisek Szlachcic, der für die Aufklärung zuständig war, Mielke besuchte, wetterte dieser gegen Rakowski wie gegen den bösen Feind. Szlachcic fragte mich hinterher einigermaßen verwirrt, was Mielke mit seiner Schimpftirade denn eigentlich gemeint habe.

Szlachcic schilderte mir eingehend, was in Warschau in den letzten Wochen geschehen war. Sowohl die Studentenunruhen als auch das Einschreiten der Ordnungskräfte waren seinen Worten zufolge weit weniger harmlos gewesen, als offiziell behauptet worden war. Nicht weniger besorgniserregend fand er den aufflackernden Antisemitismus, der sich mit dem Deckmantel der Kritik am Zionismus tarnte. Erst bei der Niederschrift dieser Erinnerungen ist mir aufgefallen, welche Rolle der unterschwellige Antisemitismus bei der Bekämpfung von Reformbestrebungen und ihrer Exponenten durch die konservativen Kräfte in den sozialistischen Staaten von jeher gespielt hat. Auch in der Tschechoslowakei waren es Juden, die am massivsten angefeindet und deren Entfernung am lautesten gefordert wurde.

Im Sommer 1968 kamen mir der Fortgang der Ereignisse in der Tschechoslowakei und die Reaktionen darauf wie ein Wechselbad vor. Anzeichen für eine bevorstehende Intervention wechselten in immer kürzeren Abständen mit Bemühungen um eine tragfähige einvernehmliche Lösung.

Im Mai hatte eine Meldung der Berliner Zeitung für

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Aufregung gesorgt: Acht amerikanische Panzer sollten in Prag gesichtet worden sein. Diese »Nachricht« war der Redaktion ohne unser Wissen von sowjetischer Seite untergeschoben worden. Der wahre Sachverhalt sah so aus, daß in Prag Außenaufnahmen für den Film Die Brücke von Remagen gemacht wurden. Die Panzer schrumpften schnell zu einer Handvoll Statisten in amerikanischen Uniformen. Derart unseriöse Unternehmungen interpretierte ich damals als Indiz der Unsicherheit Moskaus. Gesprächspartner aus dem Westen fragten mich rundheraus, ob man annehmen müsse, daß die Panzerente als Alibi für eine sowjetische Intervention gedacht sei. Das hielt ich für absurd, ja geradezu kindisch.

Im Juni lud mein Prager Kollege Houska mich nach Prag ein. In einem offiziellen Schreiben kündigte Mielke meinen Besuch dem neuen Prager Innenminister Pavel mit der Erklärung an, ich müsse mich mit meinem Kollegen über einen geheimdienstlichen Vorgang beraten. Am 8. Juli holte Houska mich an der Grenze ab. Unterwegs schilderte er mir die Lage in Partei- und Staatsführung in den düstersten Farben. Die meisten Slowaken in der Führung hatten offenbar kein Vertrauen mehr zu ihrem Landsmann Dubcek und fanden sich immer ärgeren Diffamierungen und Angriffen ausgesetzt. Am nächsten Tag traf ich mich mit dem stellvertretenden Innenminister Vilian Salgovic, der für Staatssicherheit und Nachrichtendienst zuständig war. Als Slowake stellte er gemäß den in Prag geltenden Regeln die Parität zum tschechischen Minister Pavel her. Er sagte, im Parteipräsidium hätten die »Rechten«, die sich selbst als Progressive bezeichneten, die Mehrheit. (Wie sehr die Begriffe »rechts« und »links« durcheinandergingen und vom jeweiligen Standpunkt des Betrachters abhängig waren, konnte ich während meines Besuchs wiederholt feststellen.) Dubcek gebe ihrem Druck immer mehr nach. Für September werde ein Parteitag vorbereitet, zu dem unter dem herrschenden Druck nur »Progressive«, meist Intellektuelle, gewählt würden. Salgovic

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und seine als konservativ abgestempelten politischen Freunde hätten auf diesem Parteitag zweifellos keine Chance. Auf meine Frage, was von unserer Seite aus getan werden könne, antwortete er ratlos: »Ich weiß es nicht.« Seiner Meinung nach war Pavel die treibende Kraft, die alle »Konservativen« denunzierte. Er sagte, Pavel terrorisiere alle ihm nicht genehmen Mitarbeiter mit Hilfe von Presse und Fernsehen; Rufmord und Psychoterror seien an der Tagesordnung, man sei sich bald seines Lebens nicht mehr sicher.

Gegen Salgovic und andere Offiziere des Innenministeriums lief tatsächlich eine regelrechte Diffamierungskampagne. An Häuserwände wurden Galgen mit ihren Namen gepinselt. Viele fühlten sich so bedroht, daß sie im Ausland Unterschlupf suchten. Salgovic ging nach Bulgarien. Auf seinem Rückflug Ende November unterhielten wir uns kurz in Ost-Berlin. 1991 las ich eine kurze Notiz in der Zeitung: Salgovic hatte sich in der Slowakei das Leben genommen.

Meine Begegnungen und Eindrücke habe ich so geschildert, wie ich sie damals erlebte. Natürlich waren sie einseitig von der Sicht derer geprägt, die auch in Moskau und bei der Führung in Ost-Berlin Gehör fanden. Daß der Zorn großer Teile des Volkes sich oft auf extreme Weise Luft machte, wie ich es ähnlich nach dem Zusammenbruch der DDR gegenüber der Staatssicherheit erlebt habe, lag hie wie da an den gleichen Ursachen. Nicht zuletzt waren Männer wie Salgovic und unsere Partner im Prager Innenministerium vierzig Jahre lang selbst diejenigen gewesen, die politisch Andersdenkende unterdrückt hatten.

Unerwartet traf meine Reise nach Prag auf öffentlichen Widerhall. Am 19. Juli erschien in der Zeitung Literarny Listy unter der Überschrift »Interpellation« eine Meldung über meine Anwesenheit, verbunden mit der Frage: »Was wollte General Wolf in Prag?« Da außer den von mir erwähnten Gesprächspartnern nur Borecký, der Leiter der Abteilung für Aktive Maßnahmen im Prager Nachrichtendienst, von meinem

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Besuch informiert war, fiel es mir nicht allzu schwer, den Zusammenhang zu erraten. Borecký galt schließlich als Wortführer der »Progressiven« im Geheimdienst. Die Meldung war die Revanche für Angriffe der DDR-Presse auf den CSSR-Reformkurs.

Sowjetische Panzer in Prag 1968

Obwohl Mielke und die DDR-Führung meinem Dienst keine

Ruhe ließen, konnten wir nicht mit den gewünschten Belegen für eine unmittelbare Einmischung westlicher Staaten in die Prager Vorgänge aufwarten. Moskauer und Berliner Zeitungen veröffentlichten im Frühsommer einen kritischen Artikel zur Lage in der CSSR nach dem anderen, was aus Prag von namhaften Autoren gekontert wurde, die mit nationalem Pathos ihren erstmals in der Geschichte etablierten freiheitlichen Sozialismus verteidigten. Ein Treffen der Prager Regierung mit der sowjetischen Führung Ende Juli resultierte in einem Abschlußkommunique, in dem von »umfangreichem kameradschaftlichen Meinungsaustausch« und einer »Atmosphäre völliger Freimütigkeit, Offenherzigkeit und

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gegenseitigen Verständnisses« die Rede war. Für den 3. August war ein gemeinsames Treffen mit den Vertretern der übrigen Staaten des Warschauer Vertrags festgesetzt.

Trotz zunehmender Anzeichen hielt ich ein direktes Eingreifen des Warschauer Pakts noch immer für unwahrscheinlich. Von der Begegnung der Parteiführer Anfang August erwartete ich keine Wunder. In meinem Tagebuch notierte ich: »Wir werden noch ganz schön strampeln müssen, um mit den nach einem Kompromiß auf uns zukommenden Problemen fertig zu werden.« Da rechnete ich noch fest mit einem Kompromiß, und das, was unmittelbar nach dem Treffen der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde, sah ganz danach aus, als habe man sich geeinigt. Smrkovsky verkündete triumphierend: »Unsere Hoffnungen wurden weit übertroffen – die Spaltung der sozialistischen Welt ist verhindert worden! «

In Ost-Berlin wurde unterdessen eine Mitteilung der Parteiführung, die eine Intervention in der CSSR begründen sollte, hastig eingezogen. Wir konnten uns wieder unserem eigentlichen Arbeitsgebiet im Westen zuwenden. Am 17. August fuhr Mielke zu einem Kurzurlaub nach Heringsdorf, und ich fuhr nach Ahlbeck nahe der polnischen Grenze. Bis dahin war Mielke in völliger Unkenntnis dessen, was drei Tage später geschehen würde.

Als ich im Ferienhaus ankam, wurde ich dort von Boten Mielkes erwartet, die mich zu ihm brachten. Er sagte mir, er müsse sofort nach Berlin zurück, weil für den nächsten Tag überraschend ein Treffen der Parteiführer in Moskau angesetzt worden sei. Er vermutete, daß in der CSSR nun doch »Ernst gemacht« würde. Am 21. August holte mein Fahrer mich kurz nach 4.00 Uhr morgens in Ahlbeck ab. Der Einmarsch in die Tschechoslowakei hatte schon vor Mitternacht begonnen. Um 2.00 Uhr brachte Radio Prag die erste Meldung. Auf der Fahrt nach Berlin hörte ich abwechselnd die Rundfunkmeldungen aus Ost und West.

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Der ganze Ablauf paßte zu meiner Annahme, daß die Führung in Moskau buchstäblich bis zur letzten Stunde gezögert hatte, den Marschbefehl zu geben. Drei Tage vor dem Einmarsch soll Breschnew noch einmal mit Dubcek telefoniert haben. In den Wochen zuvor war es bereits zu Vorbereitungen für eine militärische Lösung gekommen. Einheiten der Sowjetarmee und der Nationalen Volksarmee der DDR waren nördlich der Grenze zur CSSR zusammengezogen und in Bereitschaft gehalten worden. Das hatte ich als Machtdemonstration mißdeutet, die Dubcek unter politischen Druck setzen sollte.

Über die Beteiligung der DDR und ihrer Armee an der Invasion sind bis heute verschiedene Versionen in Umlauf. Ulbricht und die Mehrheit der Parteiführung gehörten ohne Frage zu den Befürwortern eines militärischen Eingreifens. Hohe Offiziere der NVA wiederum haben mir versichert, daß sie bis zur Nacht vom 20. auf den 21. August keine Kenntnis von der geplanten Unternehmung hatten und auch danach nicht in die Planung einbezogen wurden.

Im September kam KGB-Chef Andropow zu einem Arbeitsbesuch nach Berlin. Mielke hatte ihn darum gebeten, weil unsere Reise nach Moskau ausgefallen war. An dem Bankett in unserem Gästehaus in Pankow nahmen von deutscher Seite Minister Mielke, elf ranghohe Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit und ich teil. Die Atmosphäre war entspannt, was ich nicht zuletzt Andropows Führungsstil zuschrieb. Wie üblich gaben beide Minister einen allgemeinen Überblick zur politischen Lage und den Aktivitäten der anderen Seite. Dann kam das Gespräch auf die CSSR.

Mielke zog sogleich gegen ideologische Diversanten und gefährliche Konvergenzbefürworter vom Leder und gelobte, keine ideologischen Aufweichungserscheinungen in der DDR zuzulassen, wie sie Prag zugrunde gerichtet hätten.

Andropow hörte ihm höflich zu. Dann sagte er: »Das ist aber nur eine Seite der Geschichte. Wir hatten zwei Möglichkeiten:

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militärisch einzugreifen, auf die Gefahr hin, unseren Ruf zu schädigen, oder die CSSR aufzugeben und zwar mit allen Konsequenzen, die das für die sozialistischen Staaten Europas mit sich gebracht hätte. Es war keine angenehme Wahl.« Er fuhr fort: »Man muß in jedem Land sorgfältig abwägen, wie die innenpolitische Lage beschaffen ist. Die neue Regierung in der CSSR wird es nicht leicht haben. Im übrigen wären wir gut beraten, die Gründe für das, was in der CSSR geschehen ist, bei uns selbst zu suchen, in der inneren Entwicklung unserer Staaten, in der kommunistischen Bewegung. Ich glaube, diese Entwicklung wird zu einer weiteren Differenzierung führen. Ich glaube auch, daß es unabdingbar ist, über den Leninschen Weg zum Sozialismus und über den sozialdemokratischen Weg neu nachzudenken und zu diskutieren.«

Es verschlug uns fast die Sprache. Statt die Intervention ideologisch zu untermauern, hatte Andropow dafür plädiert, die Ursachen der Prager Ereignisse zu untersuchen. Das waren ungewohnte Töne aus dem Mund eines KGB-Oberen, aber noch ungewohnter war sein Appell, die Sozialdemokratie nicht in Bausch und Bogen zu verteufeln, sondern möglicherweise als ernstzunehmenden Verhandlungspartner in Betracht zu ziehen.

Für Mielke muß das ein harter Brocken gewesen sein, und er kam nie auf diese Äußerungen Andropows zurück. Aus jedem anderen Mund hätte er sie als Ketzerei gebrandmarkt. Vielleicht hat er die Erinnerung daran einfach verdrängt, weil so etwas nicht in sein Denkschema paßte. Dennoch hat er sich bemüht, die Kontakte zu westdeutschen Politikern, auch zu Sozialdemokraten wie Herbert Wehner, auf einem anderen Niveau als bisher zu pflegen.

Von heute aus gesehen ist der Einmarsch der Staaten des Warschauer Vertrags in die CSSR Ausdruck einer Machtdoktrin, an deren Auswirkungen das System des »real existierenden Sozialismus« zwei Jahrzehnte später mit zerbarst. War mit dem Brechen der souveränen Rechte der CSSR die

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Chance vertan worden, ein besseres Sozialismusmodell zu schaffen, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«? War die Marxsche Utopie einer freien Assoziation freier Bürger am internationalen Kräfteverhältnis und am sowjetischen Gesellschaftsmodell Stalinscher Prägung gescheitert?

Politik ist letztlich die Kunst des Möglichen. Die Männer, die an der Spitze des Prager Frühlings standen, haben – sofern der Sozialismus für sie überhaupt noch eine lebensfähige Alternative zum kapitalistischen System darstellte – die weltpolitischen Gegebenheiten des Jahres 1968 falsch eingeschätzt. Von der Sympathie des Volkes und vom Westen ermutigt, haben die Männer um Dubcek die Erfahrungen vergangener Jahrzehnte außer acht gelassen. Sie spürten, daß Moskau zögerte und daß die anderen Partner des Warschauer Vertrags widersprüchliche Haltungen vertraten; sie glaubten, das Experiment eines »dritten Weges« sei ein realisierbarer Gegenentwurf zum Stalinismus, und zumindest einige unter ihnen erwarteten von den USA, daß sie an die Sowjetunion die ultimative Forderung richten würden, jedes militärische Eingreifen in die inneren Angelegenheiten der CSSR zu unterlassen. Im politischen Klartext hätte dies bedeutet, daß die USA die Tschechoslowakei zu einem ähnlich essentiellen Gebiet hätten erklären müssen wie seinerzeit West-Berlin. Solche Erwartungen ignorierten völlig, wie die USA auf den 17. Juni 1953, auf den ungarischen Herbst 1956 und auf den Mauerbau 1961 reagiert hatten.

Wie aber ließ sich sozialistische Staatsmacht erhalten und mit Demokratie verbinden? Eine auf Demokratie gestützte Macht schien mir unbedingt erstrebenswert: pluralistische Strukturen und Meinungsbildung, die Möglichkeit, zwischen Parteien zu wählen, vernünftige Relationen zwischen gesellschaftlichem und privatem Eigentum, zwischen Plan- und Marktwirtschaft, zwischen Geist und Macht – die Macht aber sollte eine sozialistische sein. In meinem Tagebuch hatte ich damals

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notiert: »Über Polen, Ungarn 1956 bis zum August 1968 in der CSSR führt eine Kette von Unruhen, die ihren Kern in diesem widersprüchlichen Prozeß der Transformation der Macht haben. Da die feindliche Umwelt und ihre Wirkung auf die eigenen Menschen weiterhin sehr stark sind, geht es nicht so einfach, demokratische und humanistische Prinzipien in die Gesellschaft einzuführen, sich auf die Fragen des wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Fortschritts zu konzentrieren, die komplizierten Machtfragen einfach zu ignorieren, zu reduzieren oder auszuklammern. Dann kommt es so wie in der CSSR.«

Heute sehe ich die Machtfrage wesentlich differenzierter. Auch wenn meine Zweifel in den 70er Jahren zunahmen und mich Anfang der 80er Jahre zu dem Entschluß bewegten, mich aus der Mitverantwortung für die Folgen subjektiven Machtdenkens zu verabschieden, beschäftigt mich dieses Problem nach wie vor.

Bis heute würde ich nicht mit Sicherheit sagen wollen, ob die Erhebungen in Ungarn oder in der CSSR bei ungestörtem Fortgang zu einem reformierten Sozialismus geführt hätten. Gab es 1968 oder danach eine denkbare sozialistische Alternative? Das ist eine spekulative Frage, die nach 1989 oft gestellt wurde. Ohne Veränderungen in Moskau hätte keine Alternative in Ost- und Mitteleuropa auch nur ansatzweise eine Chance gehabt. Hätte in der UdSSR ein Mann an der Spitze umsichtig und konsequent den Weg zu einem reformierten Sozialismus freigemacht und dies schon im Frühjahr 1968, dann wäre ein ähnlicher Wandel auch in anderen Ländern Osteuropas denkbar gewesen. Dies jedoch hätte vorausgesetzt, daß der Westen eine strikte Nichteinmischung praktiziert hätte, aber wer wollte das ernsthaft annehmen? Unstrittig ist, daß in der weltpolitischen Konstellation damals die Konfrontation gepflegt wurde, nicht die Verständigung.

Die Geschichte ist kein Schachspiel, bei dem die nachträgliche Analyse gestattet, daß man Züge zurücknimmt

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und andere Varianten durchspielt. Der Einmarsch in die Tschechoslowakei war meiner Einschätzung nach für die meisten Teilnehmer keineswegs das, was sie gewollt hatten. Um bei der Schachmetapher zu bleiben: Die Partie verlief in mehrfach erprobten Varianten, die einzelnen Züge führten immer weiter in das fatale Endspiel, bis die Fähigkeit zu manövrieren erschöpft war. Saint-Just hat in einer Rede vor dem Nationalkonvent die berühmten Worte gesagt, die großen historischen Ereignisse geschähen durch »die Macht der Dinge«, die Ergebnisse zeitigen könne, die niemand vorauszusehen vermag.

So wie im Westen die Zusammenstöße mit der Staatsmacht für einen Teil der jungen Generation zum Kristallisationspunkt einer unausweichlichen Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen System wurden, so wirkte der Einmarsch in die Tschechoslowakei auf die Jugend der DDR. Viele Bürgerrechtler, die an der Spitze der Bewegung von 1989 standen, hatten das Jahr 1968 als tiefen und schmerzlichen Einschnitt erlebt, als den Anfang der bewußten Auflehnung gegen ein Regime, von dem sie sich innerlich mehr und mehr entfernten.

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10 Wandel durch Annäherung

Das Jahr 1969 begann mit einer schlechten Nachricht. Die bevorstehende Wahl des Bundespräsidenten sollte in West-Berlin stattfinden. Nach dem Rechtsverständnis der DDR und der Sowjetunion war West-Berlin kein Teil der Bundesrepublik, und demnach konnten dort auch keine Präsidentenwahlen stattfinden.

Wieder begann ein fruchtloses Kräftemessen zwischen den beiden deutschen Staaten. Es ging zeitweilig zu wie im Tollhaus. Die Reaktionen unserer Seite waren widersprüchlich und ohne strategischen Ansatz für eine Politik auf längere Sicht. Sie erschöpften sich wieder einmal im Ritual der Drohgebärden: Verschärfte Kontrollen an der Grenze, Behinderung des Transitverkehrs, militärische Übungen. Zu allem Überfluß brausten auch noch sowjetische Düsenjäger im Tiefflug über den Reichstag.

Fast gleichzeitig liefen über meinen Dienst geheime diplomatische Initiativen. Die Wege waren noch verschlungen. Am Abend des 21. Februar 1969 übergab mir Mielke einen Brief Ulbrichts an den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt. Ich reichte das Schreiben weiter an unseren Mitarbeiter Hermann von Berg, Deckname Günter, der offiziell im Presseamt des Innenministeriums arbeitete.

Von Berg nutzte seinen geheimen Kanal zu dem späteren West-Berliner Bürgermeister Klaus Schütz, dem er den Brief brachte. Ulbricht bot in dem Schreiben an, den West-Berlinern zu Ostern 1969 Passierscheine für den Besuch Ost-Berlins zu gewähren, wenn die Präsidentenwahl in eine andere Stadt verlegt würde.

Davon unabhängig nutzte Mielke seinen Kanal zum Minister für Gesamtdeutsche Fragen, Herbert Wehner, über Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Mit geradezu naiver Genugtuung meldete

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Mielke, Wehner sei gegen die Präsidentenwahl in West-Berlin und werde die Annahme des Ulbricht-Vorschlags befürworten.

Tagebucheintrag vom 27. 2. 1969 (Transkription im Anhang)

Wehner hatte zudem Vogel einen überaus freundlichen und

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höflichen Brief mitgegeben und Mielke einen Herzenswunsch erfüllt: Der prominenteste Maulwurf des KGB im BND, Heinz Felfe, wurde im Austausch gegen einundzwanzig in der DDR inhaftierte Personen aus dem Gefängnis entlassen. Spätestens nach diesem Erfolg seines Kanals war der ehemalige »gefährliche Renegat« und »ideologische Diversant« Wehner für Mielke die beste Adresse in Bonn.

Die verschiedenen Drähte zu westdeutschen Politikern sorgten immer wieder auch für Verwirrung. Während über unseren Kanal der Brief Ulbrichts an Brandt gegangen war, hatte Rechtsanwalt Vogel gleichzeitig seinen Kontaktmann Wehner von dem Angebot informiert. Der wiederum schloß sich nicht mit Brandt kurz, sondern gab die Nachricht an den CDU-Kanzler Kiesinger weiter. Kiesinger ließ sofort den sowjetischen Botschafter Zarapkin per Hubschrauber kommen, um zu demonstrieren, daß es keine Verhandlungen mit der DDR an der Sowjetunion vorbei gebe. Brandt blieb nichts anderes übrig, als Ulbrichts Offerte schroff zurückzuweisen. Er lehnte jede Erörterung des angebotenen Handels ab. Gleichzeitig jedoch ließ uns Klaus Schütz indirekt über Hermann von Berg wissen, daß man an Verhandlungen interessiert sei. Wir sollten nur die anderen »Scheißkerle«, gemeint waren die von der CDU, aus dem Spiel lassen.

Statt mit einer realistischen Initiative die Offensive in der Deutschlandpolitik zu ergreifen, hatte unsere politische Führung nur Porzellan zerschlagen. Dabei sagten uns verläßliche Quellenberichte, daß es sowohl auf dem Kiesinger-Flügel der CDU als auch bei der SPD bemerkenswerte Anzeichen für die Bereitschaft zu vernünftigen Lösungen in der West-Berlin-Frage gab.

Da offizielle Kontakte zwischen den beiden deutschen Staaten noch immer problematisch waren, liefen viele geheime Botschaften und Gespräche über meinen Dienst. Dabei kam Hermann von Berg eine wesentliche Rolle zu. Er war 1959

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geworben worden, um auf dem Gebiet der »gesamtdeutschen Arbeit« tätig zu sein. Schon bald wurde er in politischoperative Vorgänge einbezogen.

Wahl des Bundespräsidenten 1969 in West-Berlin

Als zeitweiliger Mitarbeiter des DDR-Presseamtes konnte er engere Beziehungen zu einflußreichen westdeutschen Journalisten aufbauen. Über Medienvertreter kam er in Kontakt zu Politikern, zunächst vor allem in West-Berliner Senatskreisen. Seine unkonventionelle Art, seine Schlagfertigkeit und Ironie machten ihn zu einem beliebten Gesprächspartner. So wurde er allmählich zu einer Art Sonderbotschafter für die Geheimdiplomatie zwischen den deutschen Staaten – zumindest mußten seine westlichen Gesprächspartner das so sehen.

Hermann von Berg wurde von Willy Brandt empfangen, verhandelte mit Egon Bahr und Horst Ehmke, sprach mit Richard von Weizsäcker und Hans-Dietrich Genscher. Er überbrachte Briefe Ulbrichts und bereitete offizielle Verhandlungen vor. Er war eingeschaltet in die vorbereitenden Gespräche zu den Passierscheinabkommen und zum Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR. Er bereitete den

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Dialog zwischen SED und SPD ebenso vor wie Verhandlungen unserer Führung mit dem westdeutschen Arbeitgeberpräsidenten.

Von Bergs Position in der DDR wurde in der Bundesrepublik überschätzt. Manche hielten ihn für einen Oberst des MfS, andere für einen wichtigen politischen Berater des Ministerpräsidenten Willi Stoph. Das brachte ihn immer wieder in verzwickte Situationen, denn wirkliche Verhandlungsvollmacht hatte er nicht. Wir versuchten zwar, ihn vor seinen wichtigen Missionen so genau wie möglich zu instruieren, doch angesichts der schwankenden und konzeptlosen Deutschlandpolitik der DDR war das nicht gerade einfach. Je nach Stimmungslage im Politbüro – die nicht zuletzt von der in Moskau abhängig war – sollte von Berg das eine Mal den Kontakt zu den westlichen Gesprächspartnern suchen, das andere Mal den Wünschen der anderen Seite nach Begegnungen die kalte Schulter zeigen.

Hermann von Berg wurde zwar für seine Arbeit mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Silber ausgezeichnet, aber Mielke und die Abwehr mißtrauten ihm. Für ihren Geschmack redete er im Westen zu freimütig über Probleme der DDR. Er galt als jemand, der durch seine Kontakte für sozialdemokratisches Gedankengut anfällig war.

In meinem Prozeß 1993 wurde mir die »nachrichtendienstliche Führung dieses IM« vorgeworfen. Erst durch Dokumente, die die Bundesanwaltschaft in das Verfahren einbrachte, wurde publik, daß von Berg für die HVA tätig gewesen war. Auf seine Zeugenvernehmung verzichteten die Bundesanwälte dann allerdings. Es lag wohl nicht in ihrem Interesse zu dokumentieren, daß die Vorbereitungen der Entspannungspolitik über meinen Dienst gelaufen waren und daß hochrangigen Politiker der Bundesrepublik über Jahre hinweg politische Kontakte zu einem meiner Mitarbeiter gepflegt hatten.

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Hermann von Berg 1986

Das Jahr 1969 brachte nicht nur für die westdeutsche Innenpolitik eine Wende, sondern auch in der Deutschlandpolitik. Am 5. März 1969 wurde Gustav Heinemann als erster Sozialdemokrat in West-Berlin zum Bundespräsidenten gewählt. Wenige Monate später wurde Willy Brandt als erster Sozialdemokrat Bundeskanzler. In Washington war man überrascht, wir hatten mit dieser Entwicklung gerechnet. Über unsere Quellen in der FDP wußten wir, daß die FDP-Spitze mit Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher eine sozialliberale Koalition anstrebte. Über unsere internen Kontakte mit Wehner, Erler und Kühn und über unsere Quellen wie Günter Guillaume kannten wir auch die Strategie der SPD. Wir konnten uns also rechtzeitig auf den Regierungswechsel vorbereiten.

Als bei den Sozialdemokraten die Auswahl der Kandidaten begann, die für Regierungsposten in Frage kamen, suchten auch wir in unserem Netz nach geeigneten Leuten. Wir registrierten die Namen, die für Positionen in Bonn genannt wurden, und

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machten unsere Mitarbeiter auf sie aufmerksam. War es bisher vor allem darum gegangen, durch unsere Verbindungen in die SPD den Widerstand gegen die Anpassungsstrategie der Führung zu stärken, so ging es nun darum, einflußreiche Positionen in Regierung und Parlament anzustreben.

So mußte der überzeugte Linke »Freddy«, von dem ich schon berichtet habe, als Bundestagsabgeordneter die Nähe der rechten »Kanalarbeiter« in der SPD-Fraktion suchen. Denn ohne die Unterstützung der »Kanalarbeiter« wäre er nicht für einen wichtigen Parlamentsausschuß nominiert worden. Zu anderen einflußreichen Sozialdemokraten, zu denen nur lockere Kontakte bestanden, mußte versucht werden, feste Beziehungen aufzubauen.

In den wichtigsten Fällen, wie bei Wienand, übernahm ich die Aufgabe selber. Wienand wich einer Zusammenkunft mit mir zwar immer wieder aus, doch bei einem anderen Bundestagsabgeordneten, den wir »Julius« nannten, war meine Strategie erfolgreich.

»Julius«, in den 50er Jahren Kommunalpolitiker, Journalist und Abgeordneter in einem Landtag, hatte im Rahmen der Städtepartnerschaften eine engere Beziehung zu einem DDR-Bürgermeister aufgebaut. Es gelang uns, einen unserer Leute in diese Beziehung einzuschalten. Ende der 50er Jahre gaben wir »Julius« auf seinen Wunsch Gelegenheit zu einem Gespräch mit Ministerpräsident Grotewohl. Danach konnte unser Mann problemlos unter der üblichen Legende als Mitarbeiter des Ministerrats den Kontakt zu »Julius« vertiefen. Mit der Zusicherung strikter Vertraulichkeit war ein wichtiger Schritt zur Zusammenarbeit getan.

1969 war »Julius« nicht nur Bundestagsmitglied, sondern auch Mitglied des Europarates und wichtiger Ausschüsse beider Parlamente. Unser Mann lud ihn zu einer Reise durch die Sowjetunion ein, die im Sommer des Jahres stattfand. Zur Vertiefung der Konspiration erhielt er einen DDR-Reisepaß mit

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falschem Namen. Da ich zur gleichen Zeit an der Wolga Urlaub machte, war ein »zufälliges« Zusammentreffen mit ihm geplant. Mein Aussehen war bis dahin im Westen noch nicht bekannt. So konnte ich zunächst als hoher Regierungsvertreter auftreten und alles weitere dem Gang der Gespräche überlassen.

Die sowjetischen Kollegen waren um organisatorische Hilfe gebeten worden. Unsere Partner in Wolgograd, dem früheren Stalingrad, boten mir die Villa an, die für Treffen Chruschtschows mit ausländischen Staatsmännern gebaut worden war. Nach einer Besichtigung des mit Plüsch und Kristalleuchtern protzenden Gebäudes hielt ich es für den Zweck wenig geeignet. Ich wählte einen anderen Ort, ein abgelegenes Anglerparadies an der Wolga, das vor allem von Rentnern besucht wurde. Mein Fahrer hatte mich einmal zu diesem verzauberten Refugium gebracht.

Die Geborgenheit am Lagerfeuer, die fast kultische Zubereitung und der feierliche Verzehr der Ucha, der Fischsuppe, ließen mich die Dürftigkeit der alten Bretterbuden und rostigen Wellblechhütten, die hier als Unterkunft dienten, schnell vergessen. Nachdem die Leute erst einmal Vertrauen zu dem seltsamen Deutschen gefaßt hatten, der auch ein Russe sein konnte, kam eines jener innigen Gespräche bis tief in die Nacht in Gang, die ich so nur fernab der Großstädte in Rußland, besonders in Sibirien, kennengelernt habe.

In der Isba, dem aus Baumstämmen kunstvoll gezimmerten Haus eines meiner neuen Freunde, sollte das Treffen mit »Julius« stattfinden. Er wurde mit einem Tragflügelboot gebracht.

Als ich ihn begrüßte, wirkte er sehr reserviert. Er taute auch nicht auf, als ich ihn durch das Dorf führte und ihm die herrlichen Ikonen in der Dorfkirche zeigte. Ich war ratlos, bis mir unser Mann, der ihn begleitete, den Grund der Zurückhaltung zuraunen konnte. Sie hatten die Gedenkstätte in Wolgograd besichtigt und das Gästebuch eingesehen, in das ich

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mich bei einem Besuch kurz zuvor mit richtigem Namen und vollem Rang eingetragen hatte. Aus dem Regierungsvertreter Wolf war der General der Staatssicherheit geworden.

Dennoch führte ich »Julius« abends in das Holzhaus, in dem schon alles zu seinem Empfang vorbereitet war. Der Tisch war reich gedeckt mit den köstlichsten Vorspeisen der russischen Küche, darunter reichlich Kaviar. Als die Stimmung schon gehoben war, folgten Fischsuppe mit Piroggen und dann Pelmeni, jene Teigtaschen, in deren Zubereitung mein Bruder und ich so manches Mal wetteifertern. Ich dolmetschte das Gespräch zwischen »Julius« und dem Hausherrn, der einer jener typischen russischen Arbeiter war, die trotz einfacher Bildung klar, unverstellt und damit glaubwürdig reden. Er erzählte vom Krieg, in dem seine beiden Söhne gefallen waren. Das in der Politik so oft strapazierte Wort Frieden hatte an diesem Abend seinen eigenen, menschlichen Klang.

Als sich noch ein Dutzend weitere Gäste in der kleinen Stube versammelten, holte der Hausherr seine alte Knopfzieharmonika vom Schrank, und wir hörten die melancholischen Gesänge, in denen sich die »russische Seele« am deutlichsten ausdrückt.

Dieser unvergeßliche Abend bestimmte noch die Atmosphäre, als ich am nächsten Tag mit dem Abgeordneten über seine Zusammenarbeit mit uns sprach. Ich habe meinen sowjetischen Freunden oft gesagt: Ihr versteckt euer wertvollstes Kapital, den einfachen russischen Menschen! »Julius« hatte seine Reserviertheit abgelegt. Für den ständig in der Öffentlichkeit agierenden Politiker war die Bereitschaft zum konspirativen Doppelleben kein leichter Schritt, aber er tat ihn, obwohl ich ihm die Risiken deutlich vor Augen geführt habe. Mit »Julius« hatten wir einen weiteren wichtigen Mann in der SPD, und das genau zu dem Zeitpunkt, an dem Willy Brandt Bundeskanzler wurde.

In der anderen Regierungspartei, der FDP, hatten wir durch die Verhaftung von Hannsheinz Porst, der 1968 von seinem

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Privatsekretär verraten worden war, eine wichtige Quelle verloren. Wir mußten uns daher mehr auf unsere Verbindung zum FDP-Vorsitzenden Erich Mende, Deckname Elch, konzentrieren. Auf den ehemaligen HJ-Führer und Ritterkreuzträger hatten wir einen Jugendfreund, Deckname Otter, angesetzt. Da »Otter« den FDP-Vorsitzenden regelmäßig aus der DDR besuchte, mußte es Mende klar sein, daß sein Gesprächspartner Verbindungen zu offiziellen Stellen der DDR hatte. Er war trotzdem so auskunftsfreudig, daß die Berichte über die Treffen schließlich Aktenbände füllten.

Mein zuständiger Mitarbeiter war der Meinung, daß Mende materiell so interessiert sei, daß man eine direkte Werbung versuchen solle. Er wies auf die trüben Quellen hin, aus denen sich Mende schon finanziell bediente, darunter die betrügerische Geldanlagefirma IOS. Ich stimmte der Operation am Ende nicht zu, weil ich zum entgegengesetzten Schluß kam: Die Geschäfte des FDP-Vorsitzenden liefen ohnedies schon so gut, daß er auf ein vergleichsweise bescheidenes Honorar aus unserer Tasche nicht angewiesen war. Zudem hätte ein Fehlschlag der Werbung Hannsheinz Porst zusätzlich schaden können.

Schließlich hatten wir auch noch andere Verbindungen in die FDP, unter anderem zum Geschäftsführer der FDP in Bonn, Karl-Hermann Flach, zu Politikern einiger Landesverbände, zum Herausgeber eines FDP-Informationsdienstes und nicht zuletzt zu William Borm, dem Altliberalen, der seit Anfang der 60er Jahre eine wichtige Quelle war. Unsere Verbindungen waren so vielschichtig, daß wir, wenn auch in bescheidenem Umfang, Einfluß auf die Politik der Partei nehmen konnten. So lag der Entwurf der Rede, die der Alterspräsident Borm vor dem neugewählten Bundestag halten wollte, zur Ergänzung und Korrektur auf meinem Schreibtisch. Übrigens erhielt ich über unsere Kanäle auch die erste Grundsatzrede des Kanzlers Brandt vorab, ohne darin allerdings etwas ändern zu können.

Die Analyse dieser Rede und der umfangreichen

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Informationen aus dem Lager der neuen Regierung war nicht leicht. Erst im Rückblick ist klar erkennbar, daß die Regierungsübernahme der sozialliberalen Koalition eine Wegscheide der deutschen Nachkriegspolitik war. So deutlich wurde uns das damals nicht. Wir hatten Brandt natürlich schon als Außenminister der großen Koalition genau beobachtet. Unsere Quellen im Auswärtigen Amt gaben ein nahezu vollständiges Bild; beispielsweise erhielten wir die Protokolle der von Brandt geleiteten Botschafterkonferenzen in Japan, Chile und an der Elfenbeinküste. Dabei hatten wir Brandts Engagement für die Nichtverbreitung von Kernwaffen, für eine Truppenreduzierung und den Abbau der Ost-West-Spannungen registriert.

Weniger deutlich jedoch war für uns zu erkennen, daß mit der sozialliberalen Koalition die Ära einer neuen eigenständigen nationalen Politik der Bundesrepublik Deutschland begann. Trotz großer Widerstände von rechts und trotz zunehmendem Mißtrauen der Verbündeten setzte Brandt ein eigenes realpolitisches Konzept durch, das der Bundesrepublik im westlichen Bündnis die Rolle eines selbständigen Partners zuwachsen ließ.

In der SED-Führung herrschte anfangs Uneinigkeit darüber, wie die neue Bonner Regierung zu beurteilen sei. Die Konfrontationspolitik Adenauers und seine Kooperation mit ehemaligen Nazis hatte ein klares Feindbild geschaffen. Daß der Weg zum Sozialismus dem vorzuziehen war, das hatte für viele in der DDR außer Frage gestanden. Diese klare Frontstellung geriet ins Wanken, als der Antifaschist Brandt Kanzler wurde und nach Osten die Hand der Verständigung ausstreckte. Die Furcht vor dem Einfluß sozialdemokratischen Gedankenguts und »ideologischer Diversion« vor allem auf die Intellektuellen in der DDR machte sich breit.

Noch vor seiner Wahl zum Kanzler hatte Brandt in einem Gespräch unter vier Augen mit einer unserer wichtigsten

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Quellen deutlich gemacht, wie wichtig für ihn eine Entspannung des Verhältnisses zur Sowjetunion war. Über verschiedene Kanäle erfuhren wir, daß Vertrauensleute Brandts, darunter Egon Bahr, Kontakte zu sowjetischen Gesprächspartnern unterhielten. Die Sowjets informierten ihre deutschen Verbündeten über diese beginnende Annährung zur BRD überhaupt nicht oder nur oberflächlich.

Ich war allerdings auf Informationen aus Moskau auch nicht angewiesen. Dank der Quellen im Auswärtigen Amt, in Botschaften und auch in den Parteien der sozialliberalen Koalition standen mir annährend die gle ichen Informationen zur Verfügung wie dem Bonner Außenminister. Eine dieser Quellen nahm zeitweise an den Gesprächen Egon Bahrs in Moskau teil. Über den positiven Fortgang der Verhandlungen war ich auf diese Weise immer auf dem laufenden.

Es gelang uns sogar, im Privathaus Egon Bahrs Abhöranlagen zu installieren. Wir belauschten ihn dort bei ebenso geheimen wie freimütigen und oft auch fröhlichen Gesprächen mit seinen sowjetischen Partnern. So wußte ich bisweilen wahrscheinlich vor dem Bundeskanzler, mit wieviel Geschick der Unterhändler über seine konspirativen Kanäle die Verhandlungen vorantrieb. Die »Verwanzung« seines Hauses, die uns im Verlauf von Reparaturarbeiten gelang, war ein seltener Glücksfall. Trotz einigem Aufwand glückten uns solche Operationen sehr selten. Nach einiger Zeit blieben alle Mikrofone in Bahrs Haus mit einem Schlag stumm. Ich vermute, daß unsere sowjetischen Freunde etwas gemerkt und Egon Bahr gewarnt hatten, denn Moskau paßte es gar nicht ins Konzept, daß die DDR-Führung allzuviel über die Annäherung der UdSSR an Bonn erfuhr.

Noch lückenloser informiert waren wir über die Verhandlungen der Brandt-Regierung mit Polen. Aus der BRD-Mission in Warschau wurden wir mit allen Informationen versorgt, die über den Tisch des bundesdeutschen Botschafters gingen. Unsere Informantin, Deckname Komteß, war 1967 an

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die Mission versetzt worden. Alles, was der dortige Botschafter Dr. Heinrich Box schrieb, las und sagte, übermittelte uns »Komteß«. Schriftliches trug sie im Einkaufsbeutel unter dem Strickzeug aus der Mission. Als mit der Zeit zwischen ihr und Böx ein sehr privates Verhältnis entstand, plauderte der Botschafter auch ungeniert Geheimes aus, das nicht in Schriftstücken auftauchte. Da Böx CDU-Mitglied war, interessierten uns seine Bewertungen ganz besonders.

Wir erfuhren, daß die polnische Regierung erstaunlich offenherzig mit der westdeutschen Seite verhandelte. Sie zeigte ganz ungeniert das Interesse, ohne viel Rücksicht auf die Sowjetunion und die DDR möglichst schnell mit Bonn zu einer vertraglichen Vereinbarung zu kommen.

Dank dieser umfassenden Informationen erkannte ich schon früh, daß es Brandt mit der Entspannungspolitik ernst war und daß er erfolgreich sein würde. Die DDR-Führung aber schien sich blind und taub zu stellen gegenüber dem Wandel, für den ich fast täglich neue Belege lieferte. Verantwortlich für die Harthörigkeit unserer Führung war nicht zuletzt die undurchsichtige Haltung Moskaus, wo man der DDR gegenüber zu verheimlichen versuchte, wie weit die Gespräche mit Bonn bereits gingen. Die SED-Führung, insbesondere der zweite Mann in der Partei, Erich Honecker, interpretierte die Signale aus Moskau als Bestätigung einer unverändert starren Politik der UdSSR gegenüber der BRD.

Als sich Ulbricht 1969 mit Breschnew traf, ließ er seine Sorge durchblicken, Moskau könne sich hinter dem Rücken der DDR mit Bonn verständigen. Der Kreml-Führer versicherte ihm darauf, er werde nicht vom gemeinsamen Kurs abweichen, und bestärkte Ulbricht darin, den harten Kurs gegenüber der Bundesrepublik beizubehalten. In Grundsatzfragen dürfe es keine Kompromisse geben, und zunächst stehe die Völkerrechtliche Anerkennung der DDR auf der Tagesordnung. Breschnew übte sogar Kritik an den Bemühungen der DDR um

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weitergehende Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zur BRD. Im November desselben Jahres war ich mit Mielke bei Jurij

Andropow. Weniger differenziert als bei vorangegangenen Treffen bewertete er die Politik der SPD so kritisch wie Breschnew. Auf meinen Einwand, unsere Informationen belegten, daß es Brand t ernst sei mit der Entspannung, warnte Andropow vor Illusionen. Selbst wenn der Bonner Kanzler subjektiv guten Willens sei, gebe es für einen wirklichen Wandel kaum ausreichende Voraussetzungen.

Mielke konnte mit der Botschaft nach Hause fliegen, daß alles beim alten bleibe. Mir gegenüber jedoch hatte unser sowjetischer Verbindungsoffizier Oleg Gerassimow, mit dem mich ein Vertrauensverhältnis verband, durchblicken lassen, daß Moskau an die Verhandlungen mit der BRD pragmatisch und ohne Prinzipienreiterei herangehe.

Breschnew schlüpfte seinen Gesprächspartnern gegenüber ohne Schwierigkeiten in die Rolle, die er jeweils für opportun hielt. Zur selben Zeit, in der er die SED-Führung zur starren Haltung gegenüber der BRD mahnte und in ihrer ablehnenden Position zur Sozialdemokratie bestätigte, hatten die von ihm und Brandt beauftragten Sonderemissäre die Wende in den Beziehungen zwischen Bonn und Moskau schon vollzogen.

Breschnew wollte die Öffnung nach Westen selber kontrollieren. Nichts wäre ihm ungelegener gewesen als eigenmächtige, schwer überschaubare Kontakte zwischen der DDR und der BRD. Die sowjetischen Deutschlandexperten waren zudem sehr viel realistischer als die SED-Führung bei der Beurteilung der Stimmung in der DDR-Bevölkerung. Sie fürchteten die Sogwirkung des reicheren Westens und den Erfolg der Bonner Propaganda, die auf das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen zielte.

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Walter Ulbricht auf der Leipziger Messe 1970 (Willi Stoph: 1. von links,

dahinter Erich Honecker)

Wie widersprüchlich die Führung der DDR auf diese Entwicklung reagierte, erlebte ich auf einer Festveranstaltung zum 20. Jahrestag des Ministeriums für Staatssicherheit. Ulbricht setzte bemerkenswerte neue Akzente, indem er in einem Trinkspruch die eigenständige Entwicklung der DDR betonte. Zwischen den Zeilen erkannte ich auch eine Abgrenzung von den sowjetischen Vorstellungen der zukünftigen Deutschlandpolitik. Ganz anders Honecker, der in seiner Festansprache die Veränderungen in Bonn ignorierte und unsere Kundschafter dafür lobte, daß »sie durch mutigen Einsatz die westdeutschen revanchistischen Pläne in Erfahrung bringen«. Als dann die Verhandlungen über ein Treffen der beiden deutschen Regierungschefs liefen, warnte Honecker, Bonn wolle »mit Hilfe der Politik des Brückenschlags, der Konvergenz und der Wirtschaftshilfe den Stoß in die sozialistischen Länder« führen. Nur Insider ahnten damals schon, daß Honecker der harten Linie Moskaus folgte, um Ulbricht bei der sowjetischen Führung zu demontieren.

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Dieser Strategie fo lgend erhielt das geplante Treffen zwischen Stoph und Brandt bei der Staatssicherheit den Codenamen »Konfrontation I«. Die Widersprüche in der Parteiführung wurden deutlich in den wechselnden Instruktionen, die ich für unseren Verbindungsmann zur SPD-Spitze, Hermann von Berg, bekam.

Als das Treffen am 19. März 1970 in Erfurt stattfand, schienen sich die pessimistischen Prognosen zu bestätigen. Schon die Ausgangspositionen der beiden Regierungschefs waren unvereinbar. Stoph bestand auf der Anerkennung der DDR als Voraussetzung für weitergehende Verhandlungen, Brandt wollte über »menschliche Erleichterungen« zwischen den deutschen Teilstaaten verhandeln.

Bereits am ersten Tag erwiesen sich auch Befürchtungen der Staatssicherheit als begründet, das Ereignis könne außer Kontrolle geraten. Trotz aller Vorsorge kam es dazu, daß hunderte Menschen vor der Unterkunft Brandts, dem Erfurter Hof, die Absperrungen durchbrachen und »Willy, Willy!« riefen.

Willy Brandt und Willi Stoph vor dem Erfurter Hauptbahnhof 1970

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Es war klar, daß sie nicht Willi Stoph meinten. Nach einigem Zögern zeigten sich Brandt und Stoph auf einem Balkon der jubelnden Menge. Der Kanzler war sichtlich bewegt.

Bei Mielke hinterließ diese Erfahrung anhaltende Wirkung. Fortan wurde bei politischen Besuchen aus dem Westen der Apparat der Staatssicherheit in unvorstellbarem Maße strapaziert. Die Mitarbeiter wurden nicht nur zur Absicherung eingesetzt, sondern mußten auch Passanten, Museums- oder Theaterbesucher spielen. Auch Mitarbeiter meiner Hauptverwaltung wurden dabei eingesetzt. Selbst der Hinweis, daß dadurch die Sicherheit bei Auslandsreisen gefährdet war, befreite uns nicht ganz von diesen Einsätzen.

Der Besuch in der DDR hatte Brandt Sympathie und Achtung eingebracht. Für viele Menschen wurde er zum Hoffnungsträger der Entspannung. Auch ich zog damals ein optimistisches Fazit. In meinem Tagebuch notierte ich, die Erfurter Begegnung könne »für die weitere Entwicklung eine akzentsetzende Bedeutung haben« und »im Zeichen der Einsicht in die Notwendigkeit der Beendigung der langen Phase des kalten Krieges in der Nachkriegszeit stehen«.

Die SED-Führung betrachtete das Ergebnis mit gemischten Gefühlen. Honecker und Stoph kamen von einer anschließenden Beratung in Moskau mit der Orientierung zurück: Nun müsse Brandt erst einmal über die völkerrechtliche Anerkennung der DDR und die Aufnahme beider deutschen Staaten in die Uno nachdenken.

Dementsprechend erhielt das geplante zweite Treffen der Regierungschefs am 21. Mai 1970 im Ministerium den Codenamen »Konfrontation II«. Da die Gespräche in Kassel stattfanden, war die Belastung für die Staatssicherheit dieses Mal gering. Neben dem Personenschutz reisten nur Mitarbeiter meiner Hauptverwaltung in der Delegation.

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Willy Brandt und Conrad Ahlers am Fenster des Hotels Erfurter Hof

Der Einsatz der westdeutschen Sicherheit war kaum weniger aufwendig als bei uns; trotzdem kam es auch in Kassel zu Zwischenfällen. Aufgeputschte Jugendliche zerfetzten eine DDR Fahne, und eine geplante Kranzniederlegung durch Stoph mußte abgesagt werden, weil Ausschreitungen befürchtet wurden.

Am Ende der ergebnislos verlaufenen Gespräche fragte Brandt: »Was nun?« Stoph antwortete: »Denkpause.« Meine Mitarbeiter berichteten von ihren inoffiziellen Kontakten, daß in der Umgebung Brandts der Wunsch bestehe, die Gespräche fortzuführen, auch wenn dafür Zugeständnisse notwendig seien. Einer der engsten Vertrauten des Kanzlers, Conrad Ahlers, sagte zu Hermann von Berg: »Wir sind uns einig, die Anerkennung kommt, aber wir können noch nicht. Innenpolitisch wegen der Wahlen im Juni, außenpolitisch wegen der Verbündeten, besonders der USA, und wegen der Haltung der DDR.«

Keine drei Monate später hatten sich Moskau und Bonn auf

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den »deutschsowjetischen Vertrag« geeinigt. Zwei Wochen bevor sich Brandt und Breschnew trafen, um die Vereinbarung zu unterzeichnen, mußte Honecker bei Breschnew vorsprechen. Der Kreml-Chef wandte sich in dem Gespräch scharf gegen Ambitionen der SED, »der Brandt-Regierung zu helfen und mit der deutschen Sozialdemokratie zusammenzuarbeiten«. Es dürfe zu keiner Annäherung zwischen der DDR und der BRD kommen. Der Generalsekretär hielt es sogar für notwendig hinzuzufügen: »Wir haben doch Truppen bei euch. Erich, vergiß das nie, ohne uns gibt es keine DDR.«

Die Gardinenpredigt war eigentlich für Walter Ulbricht bestimmt. Der erste Mann der SED las meine Berichte und Analysen sehr genau, und er traute ihnen eher als den Papieren, die von den Leuten seines Apparates fabriziert wurden. Ulbricht, der schon immer mißtrauisch gegenüber der sowjetischen Deutschlandpolitik gewesen war, durchschaute offenbar das doppelte Spiel Breschnews. Vorsichtig hatte er begonnen, Ansätze einer eigenständigen Politik gegenüber der BRD zu formulieren.

Der Mehrheit der Funktionäre in der SED-Führung kamen die barschen Regieanweisungen aus Moskau aber gerade recht. Das erlebte ich, als ich Anfang August 1970 mit meiner Familie in einem Heim der bulgarischen Staatsführung für ausländische Führungskader Ferien machte. Meine deutschen Miturlauber schwadronierten sogar noch beim Sonnenbaden über die Gefährlichkeit der Ostpolitik Brandts. Wenn man sich darauf einließe, meinten sie, sei die Sicherheit, ja die Existenz der DDR bedroht. Ungewöhnlich offen kalkulierten sie auf den Sturz Ulbrichts und die Machtübernahme Honeckers.

Auch der bevorstehende Besuch Brandts in Moskau schien sie nicht zu beunruhigen. Sie rechneten damit, daß der Kreml die Visite des Kanzlers protokollarisch niedrig hängen und Brandt wie einen beliebigen westlichen Staatsmann behandeln würde. Ich verspürte wenig Lust, mir den Urlaub mit solchen

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Diskussionen zu verderben. Ich sagte nur zu Paul Markowski, dem Leiter der außenpolitischen Abteilung des Zentralkomitees, einem der wenigen vernünftigen DDR-Gäste in diesem Ferienheim: »Die werden sich wundern.«

Am 13. August sah ich früh in die Prawda. Auf der ersten Seite war ein Bild Willy Brandts, daneben, groß aufgemacht, der Bericht über die Unterzeichnung des Vertrags. Ich schnappte mir einen Stapel der Zeitungen, die immer schon morgens mit dem Flugzeug aus Moskau kamen, und legte jedem deutschen Gast ein Exemplar auf den Frühstückstisch. Die Verblüffung in den meisten Gesichtern war ein wenig Genugtuung für mich. Die Irritation hielt aber nicht lange an. Die Betonköpfe scharten sich nur noch enger um Erich Honecker.

In diesem Sommer 1970 verdichteten sich die Anzeichen, daß Honecker zu seinem Meister Ulbricht auf Distanz ging. Mir fiel auf, wie sich der Zauberlehrling während der offiziellen Geburtstagsgratulation für Ulbricht gegen seine sonstige Gewohnheit im Hintergrund hielt. Honecker, der ohne Ulbrichts Förderung nie auf einen vorderen Platz in der Führung gekommen wäre, konnte auf die Protektion nun verzichten. Er wußte sich mit Moskau im Bunde.

Als Honecker von Abrassimow unter dem Siegel der Verschwiegenheit ein Blatt mit russischem Text über den Stand der sowjetischen Verhandlungen mit der BRD erhalten hatte, kannten wir und damit auch Ulbricht durch unsere Quelle in der FDP-Spitze bereits den vollständigen Wortlaut des Vertragsentwurfes. Ulbricht, mit seinem besseren Gespür für politische Wendungen, folgte der Bewertung meines Dienstes, daß Brandts Ostpolitik ernst zu nehmen sei. Auf einer Tagung des Zentralkomitees der SED machte er sehr nuancierte Bemerkungen über die Beziehungen zur Bundesrepublik. Aus seiner Umgebung erfuhr ich, daß er sogar die Bildung gesamtdeutscher Kommissionen geplant hatte, mit diesem Vorschlag im Politbüro aber nicht durchgekommen war.

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Die Meinungsverschiedenheiten in der Parteispitze über die Einschätzung der Bonner Regierung und der SPD wurden immer deutlicher. Ulbricht wies für ihn erarbeitete Analysen zurück, die das alte monolithische Feindbild des westdeutschen Revanchismus bestätigten. Er glaubte unserer Einschätzung, daß Brandts Entspannungspolitik durch gefährliche Angriffe der Rechten in der Bundesrepublik bedroht sei. »Herta«, als Sekretärin Quelle beim CDU-Rechtsaußen Werner Marx, informierte uns über das Zusammenspiel der konservativen Kräfte mit den Medien, vor allem mit dem Springer-Konzern. Durch Zuspielen und Veröffentlichung angeblicher oder tatsächlicher geheimer Dokumente, verbunden mit Meinungsmache, wurde eine regelrechte Hysterie angefacht. Im Anklang an die Vaterlandsverräter-Kampagne gegen Brandt in früheren Jahren wurden nun seine Verhandlungen mit dem Osten als Verrat nationaler Interessen dargestellt.

Bei einem Treffen mit mir beschrieb eine Spitzenquelle aus der SPD, unter welchem Druck die Mitglieder der Regierungsfraktionen stünden. Man machte sich sogar schon auf Übertritte und den Verlust der parlamentarischen Mehrheit gefaßt. Unsere Einschätzung der Lage in der Bundesregierung wurde von den Verantwortlichen im Zentralkomitee zurückgewiesen, weil sie »Wasser auf die Mühlen Ulbrichts« und seiner Berater Gerhard Kegel und Dr. Wolfgang Berger sei. Kegel hatte seinerzeit aus der deutschen Botschaft in Moskau dem sowjetischen Nachrichtendienst den Termin von Hitlers Überfall gemeldet; Berger, Berater in Wirtschaftsfragen, kannte Ulbrichts wachsende Zweifel an der Fähigkeit Honeckers, unter komplizierteren Bedingungen Partei und Staat zu führen.

Walter Ulbricht begriff die Bedeutung der wissenschaftlichtechnischen Revolution. Er sah das stürmische Wachstum der Produktivkräfte in der Bundesrepublik und anderen entwickelten kapitalistischen Staaten, und er begann, daraus eigene Schlüsse zu ziehen. Mit großem Interesse

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verfolgte er Vorführungen von Mustern modernster technologischer Entwicklung, die mein Dienst beschafft hatte. Im kleinen Kreis verriet er seine Skepsis an der Fähigkeit Moskaus, aus den umwälzenden Entwicklungen die notwendigen Konsequenzen abzuleiten.

Die immer größer werdende Diskrepanz zwischen dem Lebensstandard in Ost und West und die damit verbundene Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung ließen Ulbricht wieder an längst zu den Akten gelegte Pläne denken. In Einzelgesprächen erörterte er den Gedanken einer deutschdeutschen Konföderation mit dem Akzent auf wirtschaftlicher und wissenschaftlichtechnischer Zusammenarbeit. Es ging ihm dabei nur darum, die Lebensfähigkeit der DDR zu erhalten. Am Ende seiner Amtszeit bewies er eine Weitsicht, die ihm kaum jemand zugetraut hatte.

Da Ulbricht sich aber nicht traute, diese Gedankenspiele in der Parteiführung und im Gespräch mit sowjetischen Repräsentanten zu diskutieren, wuchs das Mißtrauen der Hardliner nur. Völlig überraschend für die anderen Mitglieder der Parteiführung sprach Ulbricht auf einer Arbeiterkonferenz in Rostock von »Merkmalen für eine neue geschichtliche Zäsur«. Ich glaubte damals, Ansatz eines neuen Denkens zu erkennen.

Mein Minister sah das offenbar ähnlich, reagierte aber gerade deshalb entrüstet. Mielke erklärte, die Rostocker Rede sei »nicht abgestimmt« gewesen. Ungeduldig erwartete er die Rückkehr des Leiters der Berliner KGB-Vertretung, Iwan Fadejkin, der wegen der Vorgänge im Politbüro nach Moskau geflogen war, um mit Andropow zu konferieren. Honecker reiste ebenfalls nach Moskau, um sich bei Breschnew über Ulbricht zu beschweren. Breschnew bestärkte ihn in dem Plan, Ulbrichts Nachfolge als SED-Chef anzustreben. Gemeinsam mit Honecker zog er die Fäden, die zum Sturz Ulbrichts führen sollten.

Walter Ulbricht war ein Mann mit Fehlern und Schwächen. Er war ein Kommunist stalinscher Prägung. Er hatte ein

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ausgeprägtes Gefühl für Macht und kannte kaum Skrupel. Seine Neigung zu eigenmächtigen Entscheidungen und zur Selbstüberhebung wurden durch den Altersstarrsinn des fast Achtzigjährigen noch verstärkt. Aber all das warfen ihm seine Widersacher nicht vor. Er sollte entmachtet werden, weil er mit bemerkenswertem Realitätssinn die Lage im sich verändernden Europa sah und über politische Konsequenzen dieser Entwicklung nachdachte.

Als die Intrigen gegen Ulbricht selbst im inneren Führungszirkel noch nicht für alle zu erkennen waren, bekam ich ihre Auswirkungen bereits zu spüren. Mielke übermittelte mir die Mißbilligung Honeckers, weil ich den Bericht über ein mehrstündiges Treffen mit einem der führenden Männer der SPD-Fraktion an Ulbricht weitergegeben hatte. Soweit war es also schon gekommen, daß der erste Mann in Partei und Staat wichtige Informationen des Nachrichtendienstes nicht mehr erhalten sollte.

Nach außen vollzog sich der Rücktritt Ulbrichts dann im Vergleich zu solchen Ereignissen in anderen sozialistischen Staaten korrekt und ehrenvoll. Auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 wurde Honecker die Macht anvertraut, während Ulbricht zum Ehrenvorsitzenden gewählt wurde. Der alte Mann blieb formell sogar noch einige Zeit Vorsitzender des Staatsrates.

Über den Ablauf der Entmachtung Ulbrichts ist viel geschrieben worden. Aber die Umstände waren dramatischer, als es die 1990 bekanntgewordenen Dokumente verraten. Zur entscheidenden Konfrontation zwischen Ulbricht und Honecker kam es bei einem Vier-Augen-Gespräch im Sommersitz Dölln. Vor der Begegnung hatte Honecker die Männer des Personenschutzes aufgefordert, ihn von seinem Jagdsitz Wildfang abzuholen und zu Ulbrichts Residenz in Dölln zu begleiten. Die Leute der Hauptabteilung Personenschutz wunderten sich über den ungewöhnlichen Befehl, zu einem

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solchen Besuch unter Freunden nicht nur die normale Ausrüstung, sondern auch Maschinenpistolen mitzunehmen. Vor Ulbrichts Residenz angekommen, berief sich Honecker gegenüber dem Kommandanten auf seine Weisungsbefugnis als verantwortlicher ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen. Er ordnete an, alle Tore und Ausgänge zu besetzen und die Nachrichtenverbindungen zu kappen. Honecker schien also entschlossen, seinen Ziehvater festzusetzen, falls dieser sich seinen Forderungen verweigern sollte.

Soweit kam es nicht. Nach eineinhalbstündiger harter Auseinandersetzung resignierte Ulbricht, verlassen von Moskau und der Mehrheit des Politbüros. Er unterschrieb das geforderte Rücktrittsgesuch an das Zentralkomitee. Er hoffte noch, das Gesicht zu wahren und als Staatsratsvorsitzender politischen Einfluß ausüben zu können. Aber Honecker unterband das mit der gleichen Härte, mit der er den Sturz betrieben hatte. Verbittert sprach der alte Mann, der ein Stück deutsche Geschichte mitgeschrieben hatte, von einem Putsch Honeckers und Mielkes, seiner ehedem engsten Vertrauten.

Nicht einmal zwanzig Jahre später schloß sich der Kreis, als Honecker – Ironie der Geschichte – auf ähnliche Weise vom Sockel gestoßen wurde. Auch er sprach danach von einem Putsch.

Vom Ende der Ära Ulbricht und der Inthronisierung Honeckers versprachen sich viele Menschen in der DDR frischen Wind. Anfänglich sah es in der Wirtschafts- und Kulturpolitik tatsächlich nach einem Neubeginn aus. In der Führung praktizierte Honecker einen kollegialeren Leitungsstil; er ließ andere Meinungen gelten, forderte sie sogar heraus. Aber diese Ansätze waren bald vergessen. Honecker war wie sein Lehrmeister Ulbricht ein Produkt des real existierenden Sozialismus. Reformideen, die es immer wieder gab, hatten keine Chance. Schon vor der Eröffnung des VIII. Parteitags waren die Delegierten in einer Instruktion darauf hingewiesen

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worden, daß es »keinen Grund zur Fehlerdiskussion« gebe, Probleme würden »im Vorwärtsschreiten« überwunden – Floskeln, die uns bis zum Oktober 1989 begleiteten. Jeder Versuch einer demokratischen Diskussion innerhalb der Partei wurde unterdrückt.

Erich Honecker und Walter Ulbricht 1972

Verständlich ist die Frage der Jüngeren an uns Ältere, weshalb wir uns dieser im Widerspruch zu den »Leninschen Normen des Parteilebens« stehenden Disziplinierung mehr oder weniger widerstrebend immer wieder gefügt haben. Auch ich muß mich dieser Frage stellen.

Nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrags hatte sich die Politik der Entspannung in den beiden deutschen Staaten längst noch nicht durchgesetzt. Es gab gewaltige außen- und innenpolitische Hürden zu überwinden, bevor es zu vernünftigen Beziehungen zwischen DDR und BRD und nach mühseligen Verhandlungen zu den Verträgen zwischen ihnen kommen konnte.

Unsere Quellen in den Unionsparteien berichteten über

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verschiedene geheime Manöver, mit denen Brandts Politik torpediert und schließlich der Sturz seiner Regierung erreicht werden sollte. Eine wesentliche Rolle spielte dabei das Zusammenwirken von Konservativen im Auswärtigen Amt, Industriekreisen und den Blättern des Springer-Konzerns. Dies nötigte Brandt zu großer Vorsicht bei Zugeständnissen an die östliche Seite. Die DDR nutzte unter anderem die unterschiedlichen Auffassungen über den Status von West-Berlin als Bremse bei den Verhandlungen über praktische Lösungen, zum Beispiel auf den Transitwegen.

Moskau sah eine Annährung der deutschen Staaten weiter mit Mißtrauen, aber auch die westlichen Siegermächte pochten auf ihre Rechte in West-Berlin und komplizierten die Problematik zusätzlich. Es bedurfte vertrauensvoller Zusammenarbeit und großer diplomatischer Kunst der Unterhändler Bahr und Falin, ihre jeweiligen Verbündeten zum Einlenken zu bewegen.

Für Uneingeweihte völlig überraschend wurden im Oktober 1970 die konträren Grundsatzpositionen in der Berlin-Frage ausgeklammert und ganz pragmatisch über den Transitverkehr verhandelt. Die SED-Führung war so überrumpelt von den neuen Direktiven aus Moskau, daß zwei Mitglieder des Politbüros, die sich in Paris aufhielten, die Wende gar nicht mitbekamen und immer noch der alten Sprachregelung in der Berlin-Frage folgten. Mitarbeiter meines Dienstes mußten alarmiert werden, um den beiden die neuen Direktiven zu erläutern.

Nach eineinhalb Jahren war schließlich auch das Berlin-Abkommen unter Dach und Fach und bildete mit dem Transitabkommen den Abschluß der Verhandlungen. Damit begann die Phase der Normalisierung in den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten und West-Berlin. In der historisch kurzen Zeit von nur zwei Jahren war es Willy Brandt und seinen Unterhändlern gelungen, die Weichenstellung für den künftigen Verlauf der europäischen Geschichte

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entscheidend zu verändern. Im Rückblick glaube ich sagen zu dürfen, daß Informationen

und Kontakte meines Dienstes die Entspannungspolitik auf spezifische Weise unterstützt haben. Die politische Führung in Moskau und die Verhandlungsführer der DDR waren

über die Intentionen der anderen Seite so gut unterrichtet, daß sie das Erreichbare und die notwendigen Kompromisse real einschätzen konnten.

Die Paraphierung des Abkommens mit der DDR in Berlin und die Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt in Oslo fielen fast auf den Tag zusammen. Dazu notierte ich am 11. Dezember 1971 in meinem Tagebuch: »Brandt hielt eine seiner emotional wirkenden Reden. Er legte heute ein beachtenswertes politisches Bekenntnis ab, mit viel aufhorchend machenden Gedanken eines Kosmopoliten, denen man zustimmen muß.« Für ihn traf Bismarcks Feststellung zu: »Politik ist keine Wissenschaft… Sie ist eben eine Kunst.«

Für Brandt brach der innenpolitische Sturm jetzt erst richtig los. Vertreter der Landsmannschaften, auch in der eigenen Fraktion, bezichtigten ihn wieder einmal des Verrats, weil er deutschen Boden den Polen überlassen habe. »Confidenten« aus dem Auswärtigen Amt belieferten die Springer-Blätter mit angeblichen Belegen für die These, die Sowjetunion wolle West-Berlin schlucken, die Verträge sollten die Bedingungen dafür schaffen.

Unsere Quellen meldeten, daß CDU und CSU, insbesondere Strauß und Marx, vielfältige Aktivitäten entfalteten, um Abgeordnete der Regierungskoalition für ein Votum gegen die Verträge und damit gegen Brandt zu gewinnen. Wir erhielten sichere Informationen, daß drei Parlamentarier der FDP darunter der frühere Vorsitzende Mende – und ein Sozialdemokrat, der Vertriebenen-Funktionär Herbert Hupka, die Seite gewechselt hatten.

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Da sich die Opposition von Neuwahlen wenig versprach, setzte sie auf ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Brandt, mittels dessen ihr Kandidat Rainer Barzel zum Kanzler gewählt werden sollte. Mit den gekauften Stimmen schien der Union ein Sieg sicher. Die Ratifizierung der Verträge wäre gescheitert.

In Moskau wurde Honecker von Breschnew belehrt, die Verträge hätten epochale Bedeutung, weil sie den Frieden in Europa für die nächsten zwanzig, fünfundzwanzig Jahre sicherten. Der Generalsekretär warnte zwar gleichzeitig wieder, Brandt wolle wie Barzel die Grundlagen der DDR untergraben und deshalb dürfe sie sich nicht in wirtschaftliche Abhängigkeit von der BRD begeben. In dieser Situation aber müsse Brandt unterstützt werden, um die Verträge zu retten.

Über die Kontakte Hermann von Bergs zu Bahr, Schütz, Spangenberg, Ahlers und Flach wurde nach Wegen gesucht, der Brandt-Regierung politisch zu helfen. Honecker, vom Saulus zum Paulus gewandelt, setzte sich für noch weiter gehende Kompromisse in der Berlin-Frage ein.

Gegen den Kauf von Abgeordneten durch die Union waren politische Aktionen wenig erfolgversprechend. Ich erinnerte mich an den CDU-Parlamentarier Julius Steiner aus Baden-Württemberg, der sich zu einer mittelmäßigen Informationsquelle entwickelt hatte und dafür regelmäßige Geldzuwendungen bekam. Ich stellte aus unserer Kasse 50000 DM zur Verfügung, um Steiner zur Stimmabgabe gegen das Mißtrauensvotum zu bewegen. Später behauptete Steiner, von Wienand 50000 DM erhalten zu haben. Der Sachverhalt wurde nie geklärt, und deshalb ist auch die Frage nicht zu beantworten, ob der CDU-Mann möglicherweise zweimal kassiert hat.

Vor der Abstimmung über das Mißtrauensvotum am 27. April 1972 wurden die Namen von vier weiteren Koalitionsabgeordneten, die gegen Brandt abstimmen würden, bekannt. Entsprechend siegesbewußt gab sich die Opposition. Als dann das Ergebnis verkündet wurde, fehlten ihr wider

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Erwarten zwei Stimmen. Das Fernsehen zeigte die betretenen Gesichter in ihren Reihen, die Fassungslosigkeit Rainer Barzels. Mindestens zwei Unionsabgeordnete hatten gegen die eigene Partei gestimmt. Die Regierungsfraktionen jubelten. Nur zwei Abgeordnete schienen ganz gelassen zu bleiben: Herbert Wehner und Franz Josef Strauß. Beide waren offenbar gut informiert über den geheimen Kampf um Stimmen, der dem Votum vorausgegangen war. Barzels Niederlage machte im übrigen für Strauß den Weg frei zur eigenen Kanzlerkandidatur.

Trotz dieser Niederlage gab das rechte Bündnis den Kampf gegen die Verträge nicht auf und arbeitete weiter mit Indiskretionen. Das Auswärtige Amt registrierte vierundfünfzig Fälle von Geheimnisverrat im Zusammenhang mit der Stimmungsmache gegen die Ostverträge. Am Ende gab es aber auch in der CDU Meinungsverschiedenheiten über die Bewertung der Abkommen. Bei der Abstimmung enthielt sich fast die ganze Opposition der Stimme. Das Ja exakt der Hälfte der Abgeordneten reichte zur Ratifizierung.

Als Walter Ulbricht kurz nach seinem 80. Geburtstag am 1. August 1973 starb, war Europa politisch verändert. Beide deutsche Staaten saßen als gleichberechtigte Mitglieder in der Uno. Honecker hatte seine Haltung gegenüber der Sozialdemokratie revidiert und empfing Herbert Wehner als neuen Freund auf Schloß Hubertusstock.

Bei mir wurde zur gleichen Zeit durch die Meldung Alarm ausgelöst, daß unsere Spitzenquelle im Bundeskanzleramt observiert werde. Wir forschten nach den Ursachen und ergriffen alle möglichen Schutzmaßnahmen. Nachdem wir gerade dazu beigetragen hatten, den Sturz Brandts zu verhindern, geriet der Kanzler nun durch unser Zutun in Gefahr. Noch ahnte ich allerdings nicht, daß neun Monate später geschehen würde, was man mir bis heute anlastet: der Rücktritt Willy Brandts nach der Verhaftung unseres Kundschafters Günter Guillaume.

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11 Des Kanzlers Schatten

Drei Wochen nach Willy Brandts Wahl zum Bundeskanzler am 21. Oktober 1969 stellte sich dem Chef des Kanzleramts ein Mann namens Günter Guillaume vor. Guillaume hatte in der Frankfurter SPD eine steile Karriere gemacht und sich soeben erst als Wahlhelfer des Rechten Georg Leber gegen den beliebteren Linken Karsten Voigt glänzend bewährt. Kanzleramtschef Horst Ehmke sah keinen Grund, Guillaumes Befürwortern ihren Wunsch abzuschlagen, und der neue Mann wurde als Hilfsreferent in einem neuen Ressort eingestellt, das für engere Kontakte zum Parlament, zu Verbänden, Kirchen und Behörden zuständig war. Nach kaum einem halben Jahr stieg er zum Referenten auf, nach einem Jahr wurde er zum Oberregierungsrat befördert und dem Chef des Kanzleramts direkt unterstellt.

Niemand konnte ahnen, daß der kometenhafte Aufstieg des zielstrebigen und tüchtigen SPD-Mitglieds Guillaume der HVA und ihrem Leiter Markus Wolf noch mehr Freude bereitete als Guillaumes Vorgesetzten im Bonner Kanzleramt. Tatsächlich waren wir noch wie betäubt vom Eintreten dessen, was wir in unserem kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt hätten: einen der Unseren in unmittelbarer Nähe des Kanzlers zu plazieren.

Natürlich hatten wir nichts unversucht gelassen, um Spione in möglichst zentralen Regierungskreisen Bonns einzuschleusen, doch daß Guillaume, Deckname Hansen, den Weg ins Kanzleramt finden würde, damit hätten wir nie gerechnet, allein schon wegen der strengen Sicherheitsüberprüfungen, denen Übersiedler aus der DDR ausgesetzt waren, wenn sie in Bonn vorstellig wurden.

Günter Guillaume und seine Frau Christel waren wie Dutzende anderer junger Menschen Mitte der 50er Jahre im Auftrag meines Dienstes unter ihrem richtigen Namen in die

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Bundesrepublik gegangen. Da Christels Mutter, eine Holländerin, schon früher nach Frankfurt am Main gezogen war, blieben ihnen Flüchtlingslager und Befragung durch westliche Geheimdienste erspart. Das Ehepaar war von uns beauftragt, Quellen innerhalb der SPD zu erschließen und zu »führen«, und so schien es am zweckdienlichsten, daß beide in die Partei eintraten und sich als engagierte Parteimitglieder bewiesen. Dabei hielten sie sich gewissenhaft an die Direktive, stramm die Linie des rechten Flügels der SPD zu vertreten und sich dort Freunde zu machen.

Womit wir nicht gerechnet hatten, das war der enorme Fleiß und Arbeitseinsatz der Guillaumes, mit dem sie sich in kurzer Zeit in der Parteihierarchie hochdienten, höher, als uns recht sein konnte, denn im Rampenlicht wollten wir unsere Agenten, die wir für Führungsaufgaben vorgesehen hatten, nicht wissen.

Das Ehepaar führte ein Fotokopiergeschäft in Frankfurt; Günter arbeitete nebenbei noch als freiberuflicher Fotograf. Christel Guillaume war als erste erfolgreich: Sie wurde Anfang der 60er Jahre Büroleiterin bei Willi Birkelbach. Er war eine besonders einflußreiche Figur der Sozialdemokratie, Mitglied des Parteivorstands, des Bundestags sowie wichtiger Ausschüsse, Vorsitzender der sozialistischen Fraktion des Europaparlaments und Staatssekretär der hessischen Landesregierung. Auf seinen Schreibtisch gelangten geheime Nato-Dokumente wie die Studie »Das Kriegsbild« und Unterlagen zur Notstandsplanung.

Günter Guillaume wurde 1964 Geschäftsführer des SPD-Unterbezirks Frankfurt und 1968 Geschäftsführer der Fraktion und Stadtverordneter. Die Informationen ließ er uns per Mikrofilm in leeren Zigarrenhülsen zukommen, die ein Kurier im Laden seiner Schwiegermutter entgegennahm. Einseitigen Funkkontakt zu den Guillaumes hielten wir zu festgelegten Zeiten an bestimmten Monatstagen. Nachdem er und seine Frau unerwartet Blitzkarrieren in der SPD machten, waren DDR-

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Besuche der Familie nicht länger ratsam, und die Kontakte in der Bundesrepublik mußten noch umsichtiger als zuvor stattfinden.

Als nächstes gewann Guillaume das Vertrauen Georg Leibers, was zur Folge hatte, daß dieser ihm zur Belohnung für den Wahlsieg, den unser Mann ihm verschaffte, einen Posten in Bonn versprach und auch besorgte. Und das stürzte uns in ein Dilemma: Einerseits war es fast zu schön, um wahr zu sein, andererseits würde Guillaume als DDR-Übersiedler von BND und Verfassungsschutz peinlich genau unter die Lupe genommen und möglicherweise verdächtigt und am Ende gar enttarnt werden.

Wir empfahlen unserem Agentenehepaar, sich ruhig zu verhalten und auf keinen Fall durch übertriebenen Ehrgeiz auf sich aufmerksam zu machen. Die Sicherheitsüberprüfung bestanden beide – Günter durch kluges Auftreten bei einer kritischen Befragung durch Horst Ehmke. Jahre später bezeugte Heribert Hellenbroich, der nachmalige Leiter des BND, daß man ihre Vergangenheit und ihren Lebenswandel akribisch durchleuchtet hatte, ohne daß sich die vagen Verdachtsmomente, die bestanden, hätten erhärten lassen. Seine einstige Mitarbeit im Verlag Volk und Welt in Ost-Berlin konnte Guillaume zur Zufriedenheit der neuen Arbeitgeber als politisch unbedenklich darstellen. Nur Egon Bahr blieb mißtrauisch und erklärte Ehmke gegenüber, möglicherweise tue er Guillaume Unrecht, aber dessen Vergangenheit lasse es als äußerst riskant erscheinen, ihn ins Kanzleramt aufzunehmen. Seine Warnung verhallte ungehört, wie es das Schicksal aller Kassandren seit der Antike will.

Guillaume war nicht der einzige Zuzügler aus der DDR, dessen Herkunft vom Verfassungsschutz argwöhnisch beäugt wurde – man denke nur an Hans-Dietrich Genscher, der seine ursprüngliche Sprachfärbung bis zuletzt nicht verleugnen konnte. Es war daher nicht weiter verwunderlich, daß man auch

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Guillaume vertraute, sobald die ursprünglichen Verdächtigungen ausgeräumt waren.

Manche SPD-Mitglieder konnten sich nie so recht mit seiner Beflissenheit und seiner ständigen Anwesenheit im Hintergrund abfinden, wenn es um Themen ging, die ihn eigentlich nicht interessieren konnten, andere waren grundsätzlich gegen Aufsteiger eingestellt, die sich aus dem Nichts hochgearbeitet hatten. Aber für ihn sprachen seine Klugheit und sein unermüdlicher Fleiß, und er hatte gewichtige Förderer. So kam es, daß unser Agent mit dem Decknamen Hansen in die unmittelbare Nähe des Kanzlers Willy Brandt gelangte.

Oft hat man die Frage gestellt, ob mein Dienst allein durch Guillaume in die Lage versetzt wurde, Brandts Politik zu durchschauen, eine Politik, die sehr widersprüchlich beurteilt wurde.

Von einer Quelle im Bundeskanzleramt, wie Guillaume es war, erwarteten wir in erster Linie rechtzeitige Signale, falls die internationale Situation sich bedrohlich zuspitzen sollte. Diese Aufgabe besaß für Guillaume stets höchste Priorität. Gleichzeitig hatte ich ihn darauf hingewiesen, daß von einer Regierung unter Brandt zwar kein Ausscheren der Bundesrepublik aus der Nato-Politik und der Hochrüstung zu erwarten sei, möglicherweise aber Schritte hin zu einer Entspannung in Europa vorstellbar seien, die äußerste Aufmerksamkeit verdienten. Guillaume kam erst ab 1972 in die unmittelbare Nähe des Kanzlers. Mit den Entscheidungen über die Verhandlungen in Warschau und Moskau, die oft unter Ausschaltung der Botschafter in sehr kleinem Kreis gefällt wurden, war er niemals befaßt. Über diese Vorgänge waren wir aus anderen Quellen gut informiert, als die Verhandlungen ein Stadium erreichten, das seinen Niederschlag in Dokumenten fand.

Guillaumes Informationen und Wertungen hatten eine ganz andere Bedeutung als die Geheimdokumente, die uns über

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unsere anderen Quellen erreichten. Noch vor seiner Tätigkeit als Referent Willy Brandts gehörte Guillaume schon zu dessen engerem Arbeitsstab. Kontaktfreudig und fleißig, wie er war, verstand er es, seine vielfältigen Verbindungen aufs beste zu nutzen. Im Vorfeld der Brandt-Stoph-Gespräche verhalf er uns zusammen mit anderen Kanälen zu einem nahezu vollständigen Bild der Wünsche und Vorstellungen der Bundesregierung. Die Anregung zu dem ursprünglich nicht vorgesehenen Besuch Brandts im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald soll von ihm ausgegangen sein.

1970 wurde Guillaume damit betraut, in Saarbrücken ein Regierungsbüro für den SPD-Parteitag einzurichten. Als Chef dieser Dépendance des Kanzleramts war er auch für den Kontakt zu den verantwortlichen Beamten des BND und für Empfang und Weiterleitung der eingehenden Nachrichten und der per Hubschrauber eintreffenden Kurierpost zuständig. Die BND-Leute gewöhnten sich schnell daran, daß Guillaume offensichtlich das Vertrauen der Regierungsspitze genoß. Mit Zustimmung des Verfassungsschutzes erhielt er kurz darauf auch die formelle Genehmigung zum Umgang mit Verschlußsachen der höchsten Geheimhaltungsstufe.

Wichtiger als all das war für meinen Dienst aber immer noch, daß Guillaumes Wahrnehmungsfähigkeit und seine politische Intelligenz ihn zu Erkenntnissen und Schlußfolgerungen befähigten, denen wir zweifelsfrei entnehmen konnten, daß es sich bei Brandts neuer Ostpolitik um einen zwar widersprüchlichen, aber dennoch echten Kurswechsel in der bundesdeutschen Außenpolitik handelte. Seine Einschätzung der Ostpolitik Willy Brandts erwies sich im nachhinein als völlig zutreffend, und es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß er die Entspannung zwischen Bundesrepublik und DDR mitgeprägt hat, indem er uns den Friedenswillen Willy Brandts nachdrücklich vor Augen geführt hat.

Unterdessen schritt Guillaumes Karriere unaufhaltsam voran.

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Peter Reuschenbach, der Wahlkampfleiter und Parteireferent im Kanzleramt, kandidierte selbst für den Bundestag und schlug deshalb unseren Mann als seinen Nachfolger vor. Der Vorschlag wurde angenommen, und Guillaume organisierte den Wahlkampf mit aller gewohnten Effizienz und Umsicht. Als nimmermüder Helfer stand er Tag und Nacht hinter Willy Brandt. Daß er auf diese Weise bald über Brandts menschliche Schwächen im Bilde war, ist wohl kaum verwunderlich, wenngleich er nicht beauftragt war, uns über diese Aspekte des Privatlebens des Kanzlers zu berichten.

Die Wahlen von 1972, bescherten der Koalition aus SPD und FDP einen unerwarteten Sieg. Diejenigen Mitarbeiter meines Dienstes, die Guillaume kannten, konnten ihn bei dieser Gelegenheit im Fernsehen bewundern, wo er als erschöpfter, aber glücklicher Wahlhelfer Willy Brandts zu sehen war. Noch am Tag des Wahlerfolgs fiel die Entscheidung, daß Guillaume beim Kanzler bleiben sollte. Ab dem 1. Januar 1973 war er als persönlicher Referent für Parteifragen dem Kanzlerbüro zugeteilt, und seitdem nahm er an den Sitzungen des Partei- und des Fraktionsvorstands der SPD ebenso teil wie an den Besprechungen der Abteilungsleiter im Parteivorstand. Dadurch gewann er tiefere Einblicke in politische Interna der Regierungspartei, als er aus dem Inhalt des Kanzleraktenkoffers gewinnen konnte, den er auf Reisen für seinen Chef in Obhut hatte. Als kaum beachteter, stiller Zuhörer vieler Gespräche, die Brandt gern im kleinsten Kreis führte, erfuhr er Wichtigeres, als er aus irgendwelchen Papieren kopieren oder entnehmen konnte. Sein genereller Auftrag lautete nach wie vor, jedes Anzeichen einer möglichen Zuspitzung der internationalen Lage sofort zu signalisieren, über die Vorbereitung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die Haltung der Bundesregierung zu den Abrüstungsverhandlungen zwischen USA und UdSSR zu berichten und jede Möglichkeit zu nutzen, mehr über die wahren Absichten der USA herauszufinden.

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Diesen Auftrag erfüllte Guillaume nach Kräften, allerdings nicht mehr sehr lange.

Im Herbst 1972 wurde Wilhelm Gronau vom Ostbüro des DGB, eine unserer ältesten Quellen in West-Berlin, verhaftet, als er sich mit seinem DDR-Instrukteur traf. Gronau und Guillaume hatten dienstlich miteinander zu tun gehabt, ohne vom nachrichtendienstlichen Hintergrund des jeweils anderen zu wissen. Daß Gronau uns eines Tages den Vorschlag gemacht hatte, Guillaume als eventuell lohnenden Kandidaten näher ins Auge zu fassen, kann ich nur als Ironie des Schicksals sehen oder als Bestätigung der Theorie, die zwar nicht wissenschaftlich, aber rein empirisch bewiesen ist und die da lautet, daß Leute, die man mit allen Mitteln voneinander fernhält, es unweigerlich fertigbringen, in Kontakt zu kommen.

Nach Gronaus Verhaftung wurde auch Guillaume vom Verfassungsschutz überprüft, was mir damals nur allzu selbstverständlich vorkam. Was ich nicht wissen konnte, war, daß ein Beamter der Verfassungsschutzbehörde sich den Kopf über den Namen Guillaume zu zerbrechen begann und Fährten, die bislang harmlos erschienen waren, miteinander in Beziehung brachte. Es kann nicht später als März 1973 gewesen sein, daß der Verfassungsschutz sich über Guillaumes Identität als Spion der DDR endgültig im klaren war. Ende Mai wurde der damalige Innenminister Genscher informiert, der daraufhin Brandt informierte – aber wie und in welchem Umfang, das bleibt bis heute ein Geheimnis.

Als wäre nichts gewesen, blieb Guillaume Brandts enger Vertrauter und begleitete ihn Ende Juni 1973 auf dessen Urlaub nach Norwegen, wo er für mehrere Wochen sämtliche Aufgaben des persönlichen Referenten und Büroleiters erledigte. Aller Schriftverkehr ging durch seine Hände; es gibt Fernsehaufnahmen, wo man Guillaume am Chiffriergerät ein eben eingegangenes Fernschreiben lesen sieht. Rut Brandt und Christel Guillaume hatten sich angefreundet und unternahmen

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mit ihren Kindern Ausflüge, wenn die Ehemänner durch die Arbeit gebunden waren.

In dieser Zeit wurde die KSZE in Helsinki vorbereitet, und aus dem, was unser Mann »Hansen« uns zukommen ließ, konnten wir entnehmen, daß die USA infolge der Entspannungspolitik Alleingänge ihrer europäischen Partner befürchteten, die ein Abdriften aus der Verteidigungsallianz zur Folge haben könnten. Deshalb drangen sie auf den Abschluß der Atlantischen Charta, in der die Mitgliedstaaten die Vorreiterrolle der USA bekräftigen sollten. Vertrauliche Verhandlungen zwischen Nixon und Brandt, zwischen Außenminister Scheel und Sicherheitsberater Kissinger erzürnten wiederum die anderen Nato-Partner, insbesondere die Franzosen, die sich übergangen fühlten.

Drei besonders wichtige Dokumente konnte Guillaume kopieren. Das erste war ein Brief, den Richard Nixon am 3. Juli an Willy Brandt sandte mit der Bitte, die Franzosen dazu zu bewegen, die Charta zu unterzeichnen; dieser Brief war mit dem Vermerk »privat« gekennzeichnet und mit einem handschriftlichen Gruß Nixons versehen. Das zweite war ein ausführlicher Bericht Walter Scheels aus Washington über seine vertraulichen Gespräche mit Nixon und Kissinger, in denen er sie davor gewarnt hatte, die europäischen Mitgliedstaaten zu erpressen zu versuchen, und in denen die Amerikaner erklärt hatten, die waffentechnischen Fortschritte der Sowjets seien so gewaltig, daß ohne technologische Nachrüstung der Nato ein nuklearer Erstschlag des Atlantischen Bündnisses nicht länger im Bereich des Möglichen stehe. Und das dritte war eine Mitteilung Egon Bahrs, der Brandt riet, sich nicht von den Amerikanern unter Druck setzen zu lassen und die guten Beziehungen zu Frankreich nicht aufs Spiel zu setzen.

Der Dissens innerhalb der Nato spitzte sich weiter zu; aus den Dokumenten war zu erfahren, daß Großbritannien sich von den USA nicht bevormunden lassen wollte und daß der französische

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Außenminister Michel Jobert die Amerikaner mit Feuerwehrleuten verglich, die Feuer legten, um es dann mit großer Geste löschen zu können.

Willy Brandt und Günter Guillaume 1973 Brandt mußte reagieren und seinem Außenminister eine

Stellungnahme übermitteln, aber der Entwurf seines Beraters Bahr entsprach seinen Vorstellungen so wenig, daß er Stunden um Stunden mit grünem Filzstift daran herumredigierte. Als er die umgeschriebene Fassung Guillaume übergab, damit dieser sie nach Bonn zurückübermittelte, gab dieser vor, sie sei so unleserlich, daß er sie erst abtippen müsse. Niemand kam auf die Idee, nach dem Verbleib des Originals zu fragen.

In Günter Guillaumes Prozeß warf ihm die Anklagevertretung vor, die Position der Nato gegenüber der Sowjetunion durch die

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Weitergabe besagter Geheimdokumente stark gefährdet zu haben – wörtlich: »Die Fernschreiben geben einen zuverlässigen Einblick in die Meinungsverschiedenheiten, die während der Verhandlungen über die Atlantische Erklärung zwischen den USA und ihren europäischen Nato-Partnern hervortraten. Sie ließen erkennen, wie weitgehend und umfassend die Vorschläge der USA waren und mit welchem Mißtrauen und welcher Skepsis sie von Frankreich, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurden. Sie zeigten, wie wenig einig diese Staaten in ihren Vorstellungen über den Inhalt und die Ziele einer solchen Erklärung und über das zu ihrer Erörterung einzuschlagende Verfahren waren. (…) Insgesamt gesehen vermittelten die Schreiben das Bild zerstrittener und in grundsätzlichen Fragen uneiniger Bündnispartner, deren gegenseitiges Vertrauen bis auf ein Minimum geschwunden war. (…) Diese sich aus dem Fernschreibverkehr ergebenden Erkenntnisse mußten vor der Sowjetunion als Führungsmacht des Warschauer Paktes geheimgehalten werden, um die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden. Ihre Kenntnis konnte in den Augen der Sowjetunion die Abschreckungskraft der Nato mindern, die unter der glaubhaften Entschlossenheit der Mitgliederstaaten zur gemeinsamen Verteidigung eine echte Bündnissolidarität und ein strategisches Gleichgewicht der militärischen Kräfte voraussetzt. Das konnte die Sowjetunion bei ihren politischen und strategischen Überlegungen veranlassen, gezielte Maßnahmen zur Erosion des sicherlich nicht mehr festen westlichen Bündnisses zu ergreifen und diese später in eine politische Pression überzuleiten.« So ähnlich schilderte es auch Guillaume in seinen Erinnerungen, wenn er dort schreibt, das allerheiligste Sakrament der Bonner Regierung sei durch ihn in den Besitz des Allerheiligsten in Ost-Berlin geraten – anders ausgedrückt: Er sei fest davon überzeugt gewesen, daß die

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Kopien, die er von den Dokumenten angefertigt hatte, durch einen Kurier auch tatsächlich nach Ost-Berlin weiterbefördert worden seien.

Bis heute ist diese Sichtweise verbreitet. Wie so oft sieht jedoch auch in diesem Fall die Wahrheit ganz anders aus.

Den Inhalt der Norwegen-Dokumente erfuhren wir erst, als sie Gegenstand des Prozesses gegen das Ehepaar Guillaume wurden. Der Grund dafür ist, daß wir die Filmrollen mit den Kopien der Papiere, die Christel Guillaume ihrem Kurier »Anita« aushändigte, nie erhielten. Schon bald nach dem Urlaub in Norwegen konnte Christel Guillaume den Eindruck, daß man sie und »Anita« beschattete, nicht loswerden. Anfangs dachten wir, sie sehe die berühmten weißen Mäuse, die eine häufige Begleiterscheinung jeglicher geheimdienstlichen Tätigkeit sind, doch wir mußten uns schnell eines Besseren belehren lassen. Als Christel Guillaume sich mit »Anita« für die Übergabe der Mikrofilme in einem Bonner Restaurant traf, nahmen zwei Männer an einem Tisch ganz in der Nähe Platz, und plötzlich sah Christel aus dem Augenwinkel ein Kameraobjektiv in der halbgeöffneten Aktentasche des einen blinken. Zum Glück hatte der Film bereits den Besitzer gewechselt; die beiden Frauen plauderten noch ein wenig und verabschiedeten sich dann.

Unserem Kurier gelang es jedoch nicht, die Verfolger abzuschüttel, weder in Bonn noch später in Köln. Zuletzt wählte sie die geringere Gefahr und ließ das Päckchen von einer Rheinbrücke ins Wasser fallen, wo es auf Nimmerwiedersehen verschwand.

In Guillaumes Prozeß unterstellte man also, die Papiere seien zu uns gelangt. Guillaume bestätigte diese Version, und ich schwieg, da ich es einstweilen für geraten hielt, den Eindruck zu vermeiden, daß es unterschiedliche Sichtweisen in dieser Sache geben könne.

Eines der Berufsrisiken des Spionagechefs besteht darin, daß

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einem für gewöhnlich nicht geglaubt wird, wenn man die Wahrheit sagt. Selbst auf diese Gefahr hin kann ich nur versichern, daß jede Suche in unseren Archiven nach den Norwegen-Papieren vergebens wäre, nicht weil sie 1989 vernichtet worden wären, sondern weil sie nie in unsere Hände gelangten.

Ich erwähnte bereits den folgenschweren Umstand, daß ein Verfassungsschutzbeamter sich im Zusammenhang mit dem Fall Gronau daran erinnert hatte, dem Namen Guillaume schon in Verbindung mit anderen Spionagefällen begegnet zu sein. Besonders verhängnisvoll war, daß der Instrukteur aus unserem Dienst, der in West-Berlin zusammen mit Gronau verhaftet worden war, entgegen den elementarsten Regeln aller Geheimdiensttätigkeit einen Spickzettel mit sich geführt hatte, auf dem er sich unter anderem den Namen Guillaume notiert hatte, um nicht zu vergessen, daß er Gronau ans Herz legen sollte, sich vor Guillaume in acht zu nehmen und seine Annäherungsversuche für unseren Dienst diesem Mann gegenüber einzustellen.

Vielleicht hätte all das noch nicht zur Katastrophe führen müssen, wenn unser Agent einen xbeliebigen Namen wie Meier oder Schulze gehabt hätte – vielleicht. Aber das Schicksal nahm unerbittlich seinen Lauf, als der mißtrauisch gewordene Beamte eines Tages in der Kantine mit einem Kollegen fachsimpelte, der ungeklärte Fälle nichtidentifizierter Empfänger von Funktelegrammen bearbeitete. Hierzu muß ich erläutern, daß mein Dienst in den 50er Jahren ein sowjetisches Chiffriersystem verwendet hatte, bis wir erfuhren, daß westliche Dienste es mittels EDV geknackt hatten und die Telegramme nicht nur dechiffrieren, sondern sogar nach Empfängern zuordnen konnten. Daraufhin zogen wir das System aus dem Verkehr und überprüften, wieweit unsere Leute in der Bundesrepublik durch von uns versandte Telegramme gefährdet waren. Im Fall der Guillaumes gelangten wir zu der Ansicht, die Telegramme an

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sie aus der Anfangszeit ermöglichten keine Rückschlüsse auf ihre Identität. Zweifellos hätten wir nicht so gedacht, wenn wir geahnt hätten, an welche exponierte Stelle sie einmal geraten würden. Was wir außerdem zu berücksichtigen vergaßen, waren die Geburtstags- und Neujahrsglückwünsche, die unser Dienst an seine Mitarbeiter zu schicken pflegte.

Beim Kantinengespräch der beiden Abwehrleute erinnerte sich der Verfassungsschützer, der mit den ungeklärten Funkvorgängen beschäftigt war, an einen dieser Vorgänge, der einen Agenten betraf, dessen Name offenbar mit G. begann, der gegen Ende der 50er Jahre aktiv geworden war, Zugang zur SPD hatte und bedeutend genug sein mußte, um Glückwunschtelegramme aus Ost-Berlin zu erhalten.

Der Beamte nahm sich die Akte mit den Telegrammen vor und verglich die Daten der Glückwünsche mit den Geburtstagen der Familie Guillaume. Von da an war alles klar. Es blieb nur die Frage, wie man weiter vorgehen wollte, um zusätzlichen Schaden zu verhindern und juristisch unangreifbares Beweismaterial zu erlangen. Zwei Möglichkeiten standen zur Diskussion: entweder sogleich das Ehepaar Guillaume verhaften, um so schnell wie möglich zu Beweisen zu kommen, oder Guillaume an seinem Posten zu belassen und das Ehepaar zu observieren, um es auf diesem Weg seiner nachrichtendienstlichen Verbindungen zu überführen. Man entschied sich für das zweite Vorgehen. Zunächst observierte man nur Christel Guillaume in der zutreffenden Annahme, daß die Verbindung zum Kurier und somit zur Zentrale über sie lief, und in der Hoffnung, sie bei der Übergabe von Material an ihren Kurier zu erwischen und durch Zugriff in den Besitz der nötigen Beweise zu gelangen.

Kompliziert wird die Geschichte dadurch, daß zu jener Zeit keineswegs alle Regierungsmitglieder der Bundesrepublik in erster Linie das Wohl des Kanzlers im Auge hatten. Anders läßt sich nämlich nicht erklären, wieso zwischen dem mehr als

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begründeten Verdacht, daß das Ehepaar Guillaume für die DDR spionierte, und der Verhaftung der beiden ein Jahr lang nichts getan wurde, um den Kanzler zu schützen.

Am 29. Mai 1973 informierte Günter Nollau als Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Innenminister Genscher über den Fall Guillaume. Vor einem Untersuchungsausschuß machten die beiden später widersprüchliche Angaben über das, was sie gesagt haben wollen. Genscher und sein Bürochef Klaus Kinkel beharrten auf der Behauptung, Nollau habe lediglich von einem generellen Verdacht gesprochen und in keiner Weise die Indizien erwähnt, die sein Amt bereits zusammengetragen hatte. Als Genscher Brandt von dem Gespräch mit Nollau, von dem Spionageverdacht und dem Vorschlag, Guillaume auf seinem Posten zu belassen, Bericht erstattete, muß er sich so vage ausgedrückt haben, daß Brandt die Informationen beiläufig zur Kenntnis nahm, ohne sich weiter etwas dabei zu denken. In seinen Erinnerungen schildert Brandt, daß er diesem Hinweis nicht mehr Gewicht beigemessen habe als ähnlichen Verdächtigungen, wie sie ihm seinerzeit als Regierendem Bürgermeister West-Berlins beinahe täglich vorgetragen worden waren und die sich letzten Endes fast immer als haltlos erwiesen; daß die Abwehr während seines Urlaubs in Norwegen nichts unternommen hatte, mußte er als Bestätigung seiner Sicht der Dinge nehmen.

Nollau wiederum bestritt bis zu seinem Tod vehement Genschers Darstellung und beharrte darauf, daß er mit aller gebotenen Deutlichkeit vor Guillaume gewarnt habe; dennoch wurde die Schuld bei ihm gesehen, und nach Abschluß der Untersuchungen mußte er seinen Rücktritt einreichen.

Die Diskrepanzen in den Aussagen des Innenministers und des obersten Verfassungsschützers ließen nicht nur in Bonn den Verdacht aufkommen, Eingeweihte hätten Brandt bewußt ins Unheil tappen lassen. Nach Abschluß der Untersuchungen wurde Nollau zum Schuldigen erklärt. Da er und sein Protektor

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Wehner mittlerweile verstorben sind, bleiben Genscher und Kinkel die einzigen, die in dieser Sache Licht ins Dunkel bringen könnten. Ihre diesbezüglichen Aussagen in meinem Prozeß 1993 waren wenig erhellend und beschränkten sich im wesentlichen darauf, daß sie von Nollau lediglich über einen »vagen Verdacht« informiert worden seien.

Daß der ehrgeizige Politiker Genscher angesichts der Regierungskrise in jenen Tagen bereits mit Helmut Kohl, dem Oppositionsführer, Gespräche über eine CDU-FDP-Koalition führte, ist ebensowenig ein Geheimnis wie der Umstand, daß Kanzler Brandt weder vom Koalitionspartner noch aus den eigenen Reihen prononciert unterstützt wurde, als der Spion an seiner Seite enttarnt wurde.

Angenommen jedoch, Genscher und Nollau hätten aus durch und durch ehrenwerten Gründen beschlossen, nichts zu unternehmen und Guillaume lediglich zu beobachten, um so Beweise gegen ihn zu sammeln, dann hätten sie dennoch auf keinen Fall erlauben dürfen, daß unser Mann auch nur einen Tag länger in so enger Nähe zum Bundeskanzler verweilte, und es bleibt mir ein Rätsel, wie Genscher so etwas zulassen konnte.

Nicht zu rütteln ist an der Tatsache, daß der Verfassungsschutz durch die Observation der Guillaumes bis zum Tag ihrer Verhaftung nicht die Spur weiteren Belastungsmaterials vorweisen konnte, ebenso wie an dem um nichts weniger peinlichen Sachverhalt, daß die Eingeweihten es ein Jahr lang für opportun hielten, in nächster Nähe des Kanzlers und der Staatsgeheimnisse einen Spion ungehindert wirken zu lassen. Wir hatten die Lunte gelegt, das ist zweifellos wahr, doch andere hatten sie munter brennen lassen, statt das Feuer im Keim zu ersticken.

Die zwielichtige Rolle, die Genschers Behörde dabei gespielt hat, war diesem zweifellos bewußt, denn nach Guillaumes Festnahme erklärte Genscher vor dem Bundestag, es sei ein großer Agentenring aufgeflogen, da nur so das Jahr Observation

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halbwegs plausibel gemacht werden konnte. Der einzige Schönheitsfehler dieser Erklärung ist, daß sie von A bis Z erfunden ist. Ein Bonner Ehepaar, mit dem die Guillaumes privat befreundet waren, und ein West-Berliner Zahnarzt, den sie im Urlaub kennengelernt hatten, mußten als der ominöse »Ring« herhalten und wurden ohne jede rechtliche Grundlage verhaftet, bevor man sie heimlich, still und leise umgehend aus der Haft entließ.

Nachdem Christel uns berichtet hatte, daß man sie observierte, wiesen wir sie und ihren Mann an, jegliche geheimdienstliche Betätigung einzustellen und alles verräterische Material aus ihrem Haus zu entfernen. Warum haben wir sie damals nicht zurückgerufen?

Wir debattierten eingehend mit ihnen, was zu tun ratsam wäre. Einerseits sollten die Guillaumes keinem unnötigen Risiko ausgesetzt werden, andererseits wiegte das tolpatschige Vorgehen von Christel Guillaumes Überwachern uns in der Illusion, die Observation sei Teil einer routinemäßigen Sicherheitsüberprüfung. Georg Leber, inzwischen Verteidigungsminister, hatte der Frau seines unvergessenen Wahlhelfers die Stelle einer Vorzimmerdame in seinem Ministerium angeboten, Christel hatte ihre Bewerbungsunterlagen eingereicht, und das erklärte in unseren Augen, warum sie – wie viele Bewerber um eine solche Stelle – beobachtet worden war und warum die Beobachter sich keine große Mühe bei ihrer Routineobservation gegeben hatten.

Dennoch hinterließ die Geschichte bei uns ein ungutes Gefühl, und wir schlugen dem Ehepaar vor, den Rückzug in die DDR anzutreten, sobald sie sich in Gefahr wähnen sollten. Dafür aber sahen beide keinen Grund. Und so kam es zu dem Kompromiß, daß wir beschlossen, die nachrichtendienstliche Tätigkeit der Guillaumes bis auf weiteres einzufrieren, während sie Augen und Ohren offenhalten sollten, was eine mögliche Überwachung durch Bundesbehörden betraf. Zur Aufnahme

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einer Verbindung vereinbarten wir mehrere sichere Varianten, die nur im dringendsten Notfall genutzt werden sollten.

An diesem Punkt der Entwicklung informierte ich Minister Mielke. Normalerweise traf ich meine Entscheidungen in eigener Verantwortung, doch wenn die Intentionen der politischen Führung von Aktivitäten meines Dienstes berührt sein konnten, weihte ich den Minister ein. Im Fall Guillaume ließ die politische Brisanz mir dies geraten scheinen. Mielke schloß sich meiner Einschätzung an und stimmte meinem Vorgehen zu. Daß er damals Honecker oder sonst jemanden davon informiert haben sollte, halte ich für wenig wahrscheinlich.

Dann geschah bis Februar 1974 nichts Auffallendes. Die Guillaumes schlugen deshalb vor, ihre Tätigkeit wiederaufzunehmen, was ich aus Vorsicht ablehnte, zumindest bis zum Herbst des Jahres.

Im April machte Günter Guillaume in Südfrankreich Ferien, und dort fiel ihm auf, daß er von ganzen Schwärmen motorisierter deutscher und französischer Überwacher verfolgt wurde. Als er nachts über Paris und durch Belgien nach Hause fuhr, war seine Eskorte mit einemmal verschwunden. Hatte man ihn aus den Augen verloren? Hatte man die Beobachtung eingestellt? Warum nutzte er die Fluchtchance nicht, solange es noch in seiner Hand lag? Entgegen dem, was wir mit ihm für einen solchen Fall vereinbart hatten, entschied er sich dafür, nach Bonn weiterzufahren, um seine Frau und den Sohn nicht im ungewissen zurückzulassen. Das hätte er nicht tun dürfen.

Die Meldung, daß Christel und Günter Guillaume am 24. April 1974 verhaftet worden waren, traf mich nicht weniger unvorbereitet als Willy Brandt, der gerade von einem Staatsbesuch im Nahen Osten zurückkehrte. Noch verstörender war die Meldung, daß Guillaume sich überaus stilvoll ergeben haben sollte, allerdings nicht in dem Stil, den man bei Agenten für angemessen halten würde. Als die Polizei läutete, um ihm

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den Haftbefehl vorzulesen, soll er gerufen haben: »Ich bin Bürger der DDR und ihr Offizier – respektieren Sie das! «

Als mir das zu Ohren kam, traute ich meinen Sinnen nicht. Guillaume hatte damit ein Schuldbekenntnis abgelegt, ohne überhaupt beschuldigt gewesen zu sein. Mit diesem Bekenntnis erlöste er die Bonner Abwehr und die Strafverfolgungsbehörden aus großer Beweisnot und ersparte ihnen das peinliche Schauspiel, ohne stichhaltige Beweise einen Prozeß zu führen. Anfang 1974 hatte der Verfassungsschutz die Erkenntnisse von Anfang 1973 dem Generalbundesanwalt zur Eröffnung eines Verfahrens angeboten, und dieser hatte abgewinkt; Wochen später hielt sein Nachfolger Siegfried Buback dies für möglicherweise doch aussichtsreich, sofern man noch ein wenig länger ermittle und observiere – daher der Konvoi, der Guillaume in Frankreich begleitet hatte.

Nach Guillaumes Rückkehr in die DDR sieben Jahre später konnte ich nicht umhin, ihn zu fragen, was ihn dazu bewegt hatte, einen so fatalen Schritt zu tun. Er sagte, er könne seine Reaktion nur mit der frühen Morgenstunde und dem alles beherrschenden Gedanken an seinen Sohn Pierre erklären, den er über alles liebte. Er hatte immer darunter gelitten, daß sein Sohn ihn nicht wirklich kannte, sondern nur die Fassade, die für die Bundesrepublik bestimmt war. Pierre hielt seinen Vater für einen Verräter an der Sache des Sozialismus und für einen rechten SPDler wie Georg Leber. Vielleicht veranlaßte ihn der unbewußte Wunsch, sich vor dem geliebten Sohn zu rechtfertigen, zu seinen unbedachten Worten.

Das war ein unverzeihlicher Fehler. Als Spion muß man jederzeit damit rechnen, daß man festgenommen wird. Unsere Leute wurden deshalb in dieser Hinsicht stets besonders sorgfältig geschult. Wir schärften ihnen ein, nichts als Name, Anschrift und Geburtsdatum anzugeben, zu verlangen, daß man die DDR-Vertretung in Bonn verständige, und sich ansonsten in eisernes Schweigen zu hüllen. Auf diese Weise lag die

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Beweislast ausschließlich bei den Organen der Bundesrepublik.

Tagebucheintrag vom 25. 4. 1974 (Transkription im Anhang)

Schon bei den ersten Vernehmungen wurde Guillaume nach seinem Wissen um Brandts Intimsphäre befragt. Da er schwieg,

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konzentrierte die Befragung sich auf Beamte der Sicherungsgruppe Bonn, die den Kanzler stets auf seinen Reisen begleitet hatte. Nicht durch Guillaume also, sondern durch die Vernehmung westlicher Sicherheitsbeamter wurden Details über Brandts Privatleben an die Öffentlichkeit gezerrt, die Horst Herold, den Leiter des Bundeskriminalamts, veranlaßten, Innenminister Genscher zu informieren, während Nollau Herbert Wehner unterrichtete. Nollau notierte in diesem Zusammenhang: »Wenn Guillaume diese pikanten Details in der Hauptverhandlung auftischt, sind Bundesregierung und Bundesrepublik blamiert bis auf die Knochen. Sagt er aber nichts, dann hat die Regierung der DDR, der Guillaume natürlich auch dies berichtet hat, ein Mittel, jedes Kabinett Brandt und die SPD zu demütigen.«

Als Guillaume in der Haft von den Pressionen auf Brandt erfuhr, gab er eine Erklärung zu Protokoll, daß von seiner Seite keinerlei private Indiskretionen zu gewärtigen seien. Unter Hinweis auf die bisherige Rolle der Untersuchungsbehörden erklärte er zudem, daß er keine weiteren Aussagen machen werde.

Guillaume büßte für seine Fehler schwer in seiner langen Haft. Stolz schwieg er bis zuletzt und ließ sich nicht verlocken, Informationen preiszugeben, um damit die Haftdauer zu verkürzen. Aus dem Untersuchungsgefängnis schrieb er mir damals: »Was… auf mein Fehlverhalten zurückzuführen ist, läßt mich hier nicht zur Ruhe kommen. Wenn es überhaupt möglich ist, so bitte ich die Partei und Sie als meinen Vorgesetzten um Nachsicht für mein Verschulden. Sollten Sie fragen, warum ich es unterließ, noch von Frankreich aus zu fliehen, so kann ich nur antworten, daß die Chance sehr gering war und ich auch nicht wie ein Feigling handeln wollte.«

Er hatte seine Fehler eingesehen, doch wie verhielt es sich mit mir und meinem Dienst? Hatten wir die ersten Anzeichen einer Observation auf die leichte Schulter genommen? Oft genug

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fanden hysterische Überwachungsaktionen statt, bei denen zahllose Unschuldige auf Herz und Nieren geprüft wurden.

In Guillaumes Fall hatten wir uns von der laienhaften Durchführung der Observation ebenso täuschen lassen wie davon, daß unser Mann nicht aus der unmittelbaren Nähe des Kanzlers abgezogen worden war. Niemals hätten wir uns vorstellen können, daß eine Sicherheitsbehörde die Nerven besitzen könnte, einen Spion an so sensibler Stelle seelenruhig zu belassen. Im übrigen sah Willy Brandt dies nicht viel anders als ich, denn in seinen Memoiren schreibt er: »Wenn ein gravierender Verdacht vorlag, hätte der Agent nicht in meiner unmittelbaren Nähe belassen werden dürfen und man hätte ihn in eine andere, gut zu observierende Stelle verschieben oder sogar befördern müssen. Statt den Kanzle r zu schützen, machte man ihn zum agent provocateur des Geheimdienstes seines eigenen Landes.« Dem ist nichts hinzuzufügen.

Der unverzeihliche Fehler, den ich mir und meinen Mitarbeitern vorwerfen muß, war anderer Natur. Als wir die potentiellen Gefahrenquellen für die Guillaumes untersuchten, vergaßen wir dabei die Funksprüche aus den späten 50er Jahren, obwohl wir wußten, daß sie entschlüsselt worden waren. Wir maßen ihnen einfach keine Bedeutung zu und wurden aus unserem Tiefschlaf erst durch Günter Guillaumes Gerichtsverfahren geweckt, in dem sie ausführlich zur Sprache kamen. Da fiel mir Winston Churchills prophetische Warnung ein: »Es ist von großem Vorteil, die Fehler, aus denen man lernen kann, recht früh zu machen.« Leider hatten wir unsere Fehler in diesem Fall so früh gemacht, daß die Lehren daraus der Vergessenheit anheimgefallen waren.

Nach monatelangen Verhandlungen verurteilte das Oberlandesgericht in Düsseldorf Christel und Günter Guillaume zu acht beziehungsweise dreizehn Jahren Gefängnisstrafe. Beide Guillaumes nahmen die Urteilsverkündung gefaßt und mit unbewegter Miene auf.

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Für ihren Sohn Pierre kam eine schreckliche Zeit. Sein Vater schrieb mir besorgte Briefe, in denen er mich inständig bat, mich um den Halbwüchsigen zu kümmern und aus ihm einen jungen Mann zu machen, auf den die DDR stolz sein konnte. Das war aber nicht so einfach, wie man meinen könnte. Manchmal hatte ich fast den Eindruck, als brauchten wir eine eigene Abteilung, nur um Pierre zu betreuen. Schließlich war er in einer Umgebung aufgewachsen, in der antiautoritäres und individualistisches Denken herrschte. Mit einiger Mühe fanden wir eine Schule, auf der Kinder von DDR-Funktionären erzogen wurden, und dort brachten wir Pierre unter. Aber er konnte sich nicht einpassen und fand keine Freunde. Bald darauf erklärte er zu unserem Entsetzen, er wolle nach Bonn zurück, denn dort hatte er eine Freundin. Bei jedem Gefängnisbesuch, den er seinem Vater abstattete, sahen wir ihn im Geist für immer im Westen bleiben.

In unserer Verzweiflung ließen wir nichts unversucht, um ihm das Leben in der DDR schmackhaft zu machen: Wir bezahlten ihm eine Fotografenausrüstung und besorgten ihm eine Anstellung bei einer der besten Zeitschriften, die sich finden ließen. Seine nächste Freundin war die Tochter eines Offiziers aus meinem Dienst, und wir wollten schon erleichtert aufatmen, als ich erfuhr, daß Pierre und seine neue Braut Ausreiseanträge gestellt hatten. Uns blieb nur, ihre Ausreise zu genehmigen. Günters Enttäuschung war sehr tief. Erst viele Jahre darauf konnten Vater und Sohn wieder ein normales Gespräch miteinander führen, aber da hatte Günter Guillaume bereits nicht mehr lange zu leben.

Auf unsere Weisung hin schwiegen die Guillaumes in der Haft, während wir uns den Kopf zerbrachen, welche Agenten wir dem Westen zum Tausch anbieten konnten. Brandts Rücktritt im Mai 1974 erschwerte unsere Position erheblich, denn sein Nachfolger Helmut Schmidt verkündete wiederholt, Guillaume müsse seine Strafe bis zum letzten Tag absitzen. Der

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Fall wurde zu einer heißen Kartoffel, an der sich nicht nur die Deutschen die Finger zu verbrennen drohten, sondern auch ihre großen Freunde in Ost und West. Alle unsere Hoffnungen, ihn schon bald gegen Westspione einzutauschen, erwiesen sich als trügerisch. Fidel Castro weigerte sich, im Tausch den CIA-Agenten Hunt freizugeben, die Sowjetunion war nicht bereit, den jüdischen Dissidenten Anatolij Schtscharanskij freizulassen, den der KGB sogar noch dann als Agenten und gefährlichen Staatsfeind bezeichnete, als jeder wußte, daß es nur noch eine Frage des Geschicks war, wie das Land in dieser Sache sein Gesicht retten wollte.

So scheiterte der Austausch Jahr um Jahr, und Günter Guillaume litt zusehends unter den Folgen der Haft. Kurz vor Weihnachten 1980 kam es zu einem Austausch, und ein Paket mit Spionen beider Seiten wurde geschnürt. Ruth und Norbert Moser, »Gerlinde« und »Hagen« kamen nach Ost-Berlin, doch weder Christel noch Günter Guillaume gehörten zu den Auserwählten.

Im März 1981 war es dann endlich soweit, daß Christel Guillaume ausgetauscht wurde. Einer der gegen sie ausgetauschten Westspione ließ nach seiner Heimkehr deutlich verlauten, daß in der DDR seit langen Jahren inhaftierte Westagenten es sehr begrüßen würden, wenn man etwas für sie täte, und offenbar stieß dieser Hinweis nicht auf taube Ohren. Kanzler Schmidt mochte noch so unwillig sein, nun mußte er handeln. Und am 1. Oktober 1981 traf tatsächlich Günter Guillaume in der DDR ein, die er fünfundzwanzig Jahre früher verlassen hatte, um seinen Auftrag zu erfüllen. Die Zeit und die Folgen der Haft waren nicht unbemerkt an ihm vorübergegangen, doch ich spürte, daß der Mann, den ich in die Arme schloß, innerlich noch derselbe war, von dem ich vor einem Vierteljahrhundert Abschied genommen hatte.

Auch Christel war gekommen, um ihn zu begrüßen, und für einen Augenblick war die schwere Krise, in die ihre Ehe schon

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geraume Zeit vor beider Verhaftung geraten war, wie vergessen. Die nächsten Tage würden für beide nicht leicht sein, denn ich wußte, daß Christel Guillaume nicht zu ihrem Ehemann zurückkehren wollte, während er sich noch immer an die Hoffnung klammerte, sie umzustimmen.

Auch für mich würde die nächste Zeit nicht leicht sein, denn ich konnte mir denken, daß Guillaume als Belohnung für alles, was er durchgemacht hatte, gewiß eine besonders interessante Stelle in der HVA erwartete, beispielsweise als leitender Führungsoffizier für BRD-Agenten. Aber er war zu lange aus dem Geschäft. Als ich mich mit seinem Arzt beriet und im Scherz meinte, unter einem Posten im Politbüro werde Günter es wohl kaum tun, erwiderte er trocken: »Auf einen mehr oder weniger kommt es dort wirklich nicht an.«

Da Guillaumes Nieren- und Kreislaufleiden ständig beobachtet werden mußten, kümmerte sich eine Krankenschwester als Pflegerin um ihn. Die beiden kamen sich menschlich näher, heirateten nach einiger Zeit und zogen in ein Haus auf dem Land. Mitte 1995 starb Günter Guillaume nach langer Krankheit. Ich war bei seiner Beerdigung auf dem Friedhof von Marzahn zugegen. In letzter Minute, bevor die kurze Totenfeier begann, öffnete sich die Tür, und eine windzerzauste schlanke Gestalt schlüpfte herein. Ich hatte gehofft, Christel oder Pierre wider besseres Wissen kommen zu sehen, doch es war keiner der beiden, sondern Guillaumes zweite Frau Elke, die Licht und Liebe in seine letzten Lebensjahre gebracht hatte. Nach der Ansprache gingen wir auf den Friedhof hinaus, wo der Sarg ins Grab gesenkt wurde, und ich warf als letzten Gruß eine rote Rose ins offene Grab.

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Von links nach rechts: Autor, Günter Guillaume, Christel Guillaume,

Erich Honecker, Erich Mielke (1981)

Noch heute glauben viele, Guillaumes Einzug ins Bundeskanzleramt sei mein größter Erfolg gewesen. Viele Anhänger Willy Brandts können mir Guillaumes Anteil am Sturz dieses Kanzlers nicht verzeihen und sehen in mir den Hauptschuldigen an Brandts Rücktritt. Ich wiederhole deshalb, daß der Fall Guillaume für meinen Dienst die größte Niederlage war, die wir bis dahin erlitten hatten. Brandts Rücktritt war keineswegs von mir gewollt gewesen; selbst aus damaliger Sicht konnte das nur ein politisches Eigentor für die DDR sein. Ich war und bin fest davon überzeugt, daß die Guillaume-Affäre nicht der Grund, sondern nur der Vorwand für den Rücktritt Willy Brandts am 6. Mai 1974 war. In seinen Erinnerungen sagt Brandt selbst, daß die Entdeckung eines Spions in seiner unmittelbaren Umgebung kein Grund hätte sein dürfen, ihm den Rücktritt nahezulegen.

Willy Brandt war das Opfer unüberbrückbarer Differenzen innerhalb seiner Partei und einer Vertrauenskrise gegenüber der Parteiführung, hervorgerufen durch das Ungleichgewicht des Machtdreiecks, das aus ihm selbst, Herbert Wehner, dem

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Einpeitscher der Parteidisziplin, und Helmut Schmidt, dem Finanzminister, bestand. Aus Guillaumes Berichten wußte ich seit langem, daß Brandts Feinde innerhalb der Regierung unter Umständen gefährlicher sein konnten als Spione, die man auf ihn ansetzte. Sein einflußreichster Opponent war zweifellos Herbert Wehner, der dem Kanzler Unentschlossenheit und zu große Kompromißbereitschaft vorwarf. Über Schmidt schrieb Guillaume mir in einem Brief vom 11. Juni 1974: »Helmut Schmidt wird versuchen, gegenüber dem Wählervolk als Wirtschaftskanzler und auf die Sozialdemokraten als drohende Kassandra zu wirken. (Er) wird das verjüngte Kabinett über den Haushalt beherrschen und mit Hilfe Wirtschafts- und währungspolitischer Maßnahmen auch auf die Außenpolitik stark Einfluß nehmen (…).«

Brandt mißtraute Wehner und dessen Ostkontakten zutiefst. Mit an Verfolgungswahn grenzendem Argwohn unterstellte er ihm, hinter seinem Rücken mit uns Absprachen zu treffen. Daß die Parteiführung der SPD seit den 50er Jahren von Wehners vertraulichen Kontakten zu DDR-Politikern informiert war, steht außer Frage, doch unklar muß bleiben, wie eingehend und in welchem Umfang Willy Brandt darüber informiert wurde. Brandts Abneigung gegen Wehner verleitete ihn sogar dazu, ein Komplott zwischen Herbert Wehner und Erich Honecker mit dem Ziel, ihn zu stürzen, zu unterstellen. Das beweist, wie zerrüttet die Atmosphäre in der SPD-Führung damals war, wo der Dolch im Gewände offenbar als die natürlichste Sache der Welt erschien. Immer wieder ist aus Brandts Umgebung zu hören, daß er sich Wehners unfreundliche Haltung bei seinem Rücktritt später sogar mit der Vorstellung zu erklären versuchte, Honecker habe von der HVA Tonbänder mit abfälligen Bemerkungen aus seinem Mund über Wehner erhalten und diese an Wehner weitergegeben.

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Tagebucheintrag vom 6. 5. 1974 (Transkription im Anbang)

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Tagebucheintrag vom 6. 5. 1974 (Transk ription im Anhang)

Wehner wiederum verübelte Brandt seine Frauengeschichten und sein vertrauensseliges Verhalten ganz allgemein, das er für

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einen Staatsmann unpassend fand. Als Guillaume enttarnt wurde, war Wehner der erste, der die Situation ausnutzte. Er erklärte Brandt, es werde zu einem Skandal kommen, falls Guillaume das, was er über den Lebenswandel des Kanzlers wußte, publik machen sollte. Außerdem versuchte er ihm einzureden, die DDR-Regierung könne versuchen, ihn mit diesem Wissen zu erpressen, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, daß Wehner auch nur entfernt einen solchen Unsinn glaubte. Zum einen hätte es der DDR nichts genützt, zum anderen kannte Wehner Honecker und seine prüde Art gut genug, um zu wissen, daß es nie geschehen wäre. Zum dritten war und bin ich der Ansicht, daß nur nervenschwache Menschen sich mit ihrem Privatleben erpressen lassen, und in diese Kategorie reihe ich Brandt nicht ein.

Helmut Schmidt, den es längst nach Brandts Position gelüstete, verhielt sich nicht feindselig wie Wehner, setzte sich jedoch auch nicht für den angeschlagenen Kanzler ein. So überließen des Kanzlers engste Parteigenossen ihn der bitteren Erkenntnis, daß er nicht nur einem Spion ausgesetzt gewesen, sondern von den eigenen Parteigenossen mit Mißgunst und Häme beäugt und nicht unterstützt worden war. In dieser Situation tiefster Enttäuschung muß ihm als einzig möglicher Weg erschienen sein, den Rücktritt anzubieten.

Weniger verständlich als Willy Brandts Enttäuschung war mir das scheinheilige Getue mancher Politiker in Ost wie West, die sich aufführten, als sei ein Agent in unmittelbarer Nähe eines Regierungschefs ein unfaßbarer Verstoß gegen internationale Sitten. Vielleicht werden die Zeiten noch einmal so reif und zivilisiert, daß man daran denken kann, Sperrzonen um Staatsoberhäupter und Regierungschefs zu errichten, aber bis heute ist man auf beiden Seiten nicht so zartbesaitet.

Breschnew und Honecker sprachen selbstverständlich ihr Bedauern über die Guillaume-Affäre aus. Doch wenn Honecker – wie behauptet wird – zu Helmut Schmidt wirklich gesagt hat,

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er hätte Guillaumes sofortigen Abzug angewiesen, wäre ihm dessen Existenz bekannt gewesen, kann ich nur staunen, denn eine derartige Order Honeckers ist mir nie zu Ohren gekommen. Politiker wie Geheimdienstler – wissen, daß nachrichtendienstliche Aktivitäten der Politik selbst nach Möglichkeit nicht schaden sollen. In den Zeiten der Entspannung war diese Prämisse wichtiger denn je. Dennoch wurde der Druck auf die HVA gerade in dieser Zeit besonders heftig. Verlangt wurde, daß wir die mit dem anhaltenden Wettrüsten verbundenen Gefahren und alle Anzeichen einer eventuellen Zuspitzung der internationalen Lage oder einer Konfrontation der Machtblöcke zuverlässig kontrollierten, am liebsten innerhalb der Regierungsspitzen und der Nato – was nichts anderes heißt, als daß wir den Pelz des Bären waschen sollten, ohne ihn naß zu machen.

Der Mann auf der Straße – Ost wie West – hatte Willy Brandt als Friedenskanzler geliebt und äußerte seinen Unmut über dessen erzwungenen Rücktritt ganz unverblümt. In Neustrelitz wurde eine Straße mit einem Schild von Hand in Willy-Brandt-Straße umgetauft, in Erfurt prangerte man den Verrat an ihm auf zornigen Plakaten an, in Güstrow fing die Post ein Beileidstelegramm ab, in dem drei junge Frauen Brandt Mut zusprachen und die Hoffnung äußerten, daß sein Nachfolger sein Werk weiterführen werde.

Bei Willy Brandt habe ich mich persönlich entschuldigt. Seine menschliche Größe habe ich selbst erfahren, als er sich kurz vor seinem Tod im Jahr 1993 gegen meine strafrechtliche Verfolgung aussprach. Eine Begegnung mit ihm war mir nicht vergönnt; er meinte, dies würde allzuviel Schmerzliches in ihm aufrühren.

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Tagebucheintrag vom 7. 5. 1974 (Transkription im Anhang)

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Tagebucheintrag vom 8. 5. 1974 (Transkription im Anhang)

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12 Das Gift des Verrats

Der Kampf der Geheimdienste gegeneinander, das Werben und Überwerben von Agenten, das Anlocken von Überläufern durch die eine und die anschließende Verfolgung durch die andere Seite mag Außenstehenden als ein schmutziges und im Grunde sinnloses Geschäft erscheinen. Für die Geheimdienste gehört die Auseinandersetzung mit der Gegenseite zu den Höhepunkten und das Eindringen in den gegnerischen Dienst zur Krönung ihrer Tätigkeit und das Erlebnis ohnmächtiger Schwäche, wenn der eigene Dienst vom Gegner unterwandert wird, zu den demoralisierendsten Niederlagen.

Psychologisch läßt sich die Struktur eines Geheimdienstes mit der eines Stammes oder eines Clans vergleichen: Die einzelnen Individuen verbindet das gemeinsame Ziel und ein Gefühl gemeinsamer Identität. Bei Geheimdiensten sozialistischer Staaten verstärkte dieses Zusammengehörigkeitsgefühl der gemeinsame Glaube an die Sache des Kommunismus, der Glaube daran, daß man für eine bessere Welt arbeitete. Aus diesem Grund waren unsere Dienste, wie ich meine, stets effektiver als die des Westens, die ihre Mitarbeiter meist auf rein pekuniärer Basis zu gewinnen pflegten.

Einer meiner ehemaligen Gegenspieler hat behauptet, die Überlegenheit der HVA gegenüber den Diensten der Bundesrepublik – die er nicht in Abrede stellte – resultiere in erster Linie aus dem »Vorteil der Diktatur« gegenüber dem freiheitlichdemokratischen Rechtsstaat, weil die Strafen, mit denen gegnerische Agenten in unserem Land zu rechnen hatten, derart drakonisch gewesen seien, daß das Risiko den bundesdeutschen Diensten zu hoch gewesen sei. Dieser Behauptung muß ich widersprechen: Die bedenkenlose Leichtfertigkeit, mit der westdeutsche Dienste ganze Heerscharen von Agenten zur Beobachtung und zum

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Fotografieren von Kasernen und militärischen Übungen in Bewegung setzten, konnte ich oft nur schwer begreifen. Es war wohl kaum anzunehmen, daß uns diese Agenten quasi auf dem Tablett serviert wurden, damit wir sie später zum Austausch gegen unsere im Westen enttarnten Leute anbieten konnten. Im übrigen zeigte sich auch nach dem Zusammenbruch der DDR, daß die überwiegende Mehrzahl der Mitarbeiter meines Dienstes von den Idealen des Sozialismus überzeugt war. Bis auf einige Ausnahmen waren sie politisch motiviert und fühlten sich moralisch auf der richtigen Seite in der weltweiten Auseinandersetzung zweier konträrer Systeme, ohne daß sie deshalb die Fähigkeit zu selbständigem, logischem Denken eingebüßt hatten. Sie waren keineswegs blind für die Mängel des eigenen Systems. Doch neben ihrem fachlichen Können und ihren intellektuellen Vorzügen spielte ihre politische Überzeugung stets eine herausragende Rolle, und oft genug übertrug sich diese ihre geistige und ideologische Haltung auf die Quellen, die sie betreuten. Das Geheimnis unseres Erfolgs ist meiner Meinung nach darin zu suchen, daß wir uns mit der Idee und dem Ideal einer gerechteren Gesellschaftsordnung identifizierten.

Was hatten westliche Dienste dem entgegenzusetzen? Sicher hatten auch sie von den Vorzügen ihrer Gesellschaft überzeugte Frauen und Männer. Doch für viele ihrer Mitarbeiter mußte die Tätigkeit hauptsächlich ein mehr oder weniger gut bezahlter Job sein, der ermöglichte, daß man einen gewissen Lebensstandard erreichte oder absicherte. Geld und Prestige, vielleicht auch hin und wieder der Kitzel, ein abenteuerliches Leben zu führen, waren in der westlichen Leistungsgesellschaft häufig gewiß stärkere Anreize als die Identifizierung mit dem Staatswesen. So erkläre ich mir den Umstand, daß es für meinen Dienst in manchen Fällen nicht sonderlich schwer war, Mitarbeiter aus den gegnerischen Diensten zu rekrutieren.

Auch in den westlichen Diensten wurde immer versucht, eine

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Basis gemeinsamer Überzeugungen und Identifikationsmuster für die Mitarbeiter zu schaffen. Deshalb fanden und finden sich in den britischen Diensten so auffallend viele Cambridge und Oxford-Absolventen und in der CIA ehemalige Studenten der Eliteuniversitäten an der Ostküste. Ihnen unterstellte man einen ausgeprägteren Gemeinschaftssinn.

In dem Augenblick aber, in dem dieses Gemeinschaftsgefühl durch Verrat verletzt wird, breiten sich alles zersetzender Argwohn und Mißtrauen aus, sogar bei Agenten, die weit vom Ort des Geschehens entfernt operieren. Verrat ist Gift für jeden Nachrichtendienst. Jeder Fall erschüttert das Vertrauen aller für den Dienst Tätigen nachhaltig und erschwert es oft auf lange Zeit, neue Agenten zu gewinnen. Das ohnehin ständig vorhandene Gefühl des Risikos und der Gefahr verschärft sich akut. Apparat und Leitung können wochen-, ja monatelang so von ihren eigentlichen Aufgaben abgelenkt, wenn nicht geradezu paralysiert werden. Und wenn das Unglück es will, daß ein solcher Fall von den Medien hochgeputscht wird und das wiederum die Aufmerksamkeit der politischen Führung weckt, können sich personelle Konsequenzen höchst unerwünschter Art für den betroffenen Dienst ergeben.

Nur zu gut erinnere ich mich an die Welle der Spionagehysterie, die sich ergab, als der KGB-Offizier Oleg Ljalin sich 1971 in England absetzte. Neunzig Angehörige sowjetischer Vertretungen wurden ohne viel Federlesens des Landes verwiesen, andere, die sich in Urlaub befanden, durften nicht wieder einreisen. Die Sowjetunion protestierte und rächte sich mit Gegenschikanen, aber innerhalb des KGB wurden natürlich Schuldige gesucht und auch gefunden. Erst geraume Zeit später erzählte mir mein Moskauer Kollege ganz nebenbei, daß Ljalin wegen einer Liebesaffäre zum Verräter an seinem Dienst geworden sei – selbstverständlich ohne den Namen des Betreffenden zu nennen.

Ein nicht zu unterschätzendes Problem in diesem

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Zusammenhang ist die Schwierigkeit, bei einem Verdacht zwischen erforderlicher Vorsicht und der Empfindlichkeit möglicher Betroffener geschickt abzuwägen. Anders ausgedrückt: Es besteht fast immer die Gefahr, daß zu viele Personen eingeweiht werden, bis man am Ende mit leeren Händen dasteht, weil der gesuchte Verräter von einem der vielen Mitwisser gewarnt wurde – ob absichtlich oder versehentlich, tut dann wenig zur Sache.

Als Beispiel fällt mir der Fall ein, als ein Mitarbeiter des Warschauer Innenministeriums sich beim Chiffreur der dortigen BRD-Vertretung anerboten hatte, für den BND tätig zu werden. Was er an Vorschlägen und Bedingungen nannte, ließ einen hohen Grad an Professionalität und Insiderwissen vermuten, so daß man kein Hellseher sein mußte, um in dem anonymen Bewerber ein Mitglied der polnischen Spionageabwehr, zuständig für die Bundesrepublik, zu argwöhnen. Über den BND und dort für uns tätige Quellen gelangte das Angebot auch zu meiner Kenntnis, und so rief ich den polnischen stellvertretenden Innenminister Francisek Szlachcic an und schlug ihm einen gemeinsamen Jagdausflug für das kommende Wochenende vor.

Die Liebe zur Jagd, die wir teilten, hatte unsere Beziehung sehr offen und unkonventionell werden lassen. Ich besuchte ihn wie vereinbart, gewissermaßen ganz privat, und wir besprachen den wahren Grund meines Kommens auf dem Hochsitz, wo uns niemand belauschen konnte. Genau wie ich war auch Szlachcic der Ansicht, daß wir alle erforderlichen Schritte nur mit dem Leiter der polnischen Spionageabwehr in Warschau besprechen sollten.

Mein Unbehagen, als ich mich beim vereinbarten Termin am nächsten Tag keineswegs wie abgemacht in vertraulichem Kreis, sondern mit einem wahren Aufgebot von Gesprächsteilnehmern konfrontiert vorfand, grenzte an Verärgerung. Zu meinem Bedauern blieb mir nichts anderes übrig, als den Sachverhalt

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darzulegen und zu erläutern, welche Gegenmaßnahmen ich für empfehlenswert hielt.

Mein Gefühl hatte mich nicht getrogen: Der Verräter tappte nicht in die Falle, die wir ihm stellten, da ihn entweder ein Informant gewarnt hatte oder einer der vielen Gesprächsteilnehmer unabsichtlich sein Wissen hatte durchsickern lassen. Im übrigen haben wir nicht erfahren, um wen es sich bei diesem potentiellen Maulwurf gehandelt haben könnte.

Nie habe ich mich in der Illusion gewiegt, mein eigener Dienst wäre der latenten Gefahr des jederzeit möglichen Verrats eines Mitarbeiters nicht ausgesetzt, obwohl ich aus eigener Anschauung weiß, daß andere Geheimdienstchefs des Ostblocks sich sehr wohl mit dem Gedanken schmeichelten, bei ihnen sei dergleichen undenkbar. So naiv war ich nie; die schmerzlichen Lektionen aus unseren frühen Niederlagen hatten mich gelehrt, nicht allzu unbedingt auf die moralische Zuverlässigkeit unserer Leute zu bauen, auch wenn deren Motivation noch so ehrenwert war.

Jeder einzelne Fall von Verrat hat seine Geschichte, und aus jedem läßt sich eine Lehre ziehen. Nach dem ersten Verrat, der seinerzeitigen Vulkan-Affäre, waren die empfindlicheren Niederlagen meinem Dienst in den 50er Jahren durch die Überläufer Max Heim, eine zentrale Figur in unserem Bemühen, die CDU zu infiltrieren, die dem westdeutschen Dienst fast ein Dutzend unserer Agenten enttarnen half, und Walter Glassei, den wir auf amerikanische Institutionen in der Bundesrepublik angesetzt hatten, beigebracht worden, doch seither war es zu keinen spektakulären Verratsfällen mehr gekommen.

Am 19. Januar 1979, meinem 56. Geburtstag, befand ich mich auf einer Konferenz in Karl-Marx-Stadt, dem Ort, der heute wieder Chemnitz heißt, als ich ans Telefon gerufen wurde: In der Abteilung XIII unseres Sektors für wissenschaftlichtechnische Aufklärung (SWT) war im

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Sekretariat der Schrank aufgebrochen worden; neben wichtigen Unterlagen hatte der unbekannte Täter den Sonderausweis mitgenommen, der zum Passieren der Grenzkontrollen am Bahnhof Friedrichstraße berechtigte. Einen solchen Ausweis gab es in jeder Abteilung nur einmal, und der Abteilungsleiter hatte ihn ständig unter Verschluß zu halten. In diesem Fall hatte er ihn – vorschriftswidrig – der Sekretärin überlassen, um ihn nicht ständig an Mitarbeiter ausleihen zu müssen. Mit dieser Praxis war der Täter ganz offensichtlich vertraut. Wie wir herausfanden, war der Ausweis am Abend des 18. Januar gegen 21.30 Uhr am Bahnhof Friedrichstraße benutzt worden.

Ohne Zweifel hatte ein Mitarbeiter meines Dienstes sich in den Westen abgesetzt. Aber wer? Es war seit Jahren der erste Fall dieser Art. Der Verdacht fiel auf Oberleutnant Werner Stiller, einen Mitarbeiter des Referats 1 für Atomphysik, Chemie und Bakteriologie. Sein konkretes Wissen – als Oberleutnant gehörte er zu den niedrigsten Chargen im operativen Dienst – konnte nur begrenzten Schaden anrichten, unüberschaubar waren jedoch die Folgen seines Einbruchs in das Sekretariat der Abteilung. In den verschwundenen Ordnern befanden sich Listen, die nebst kurzen Inhaltsangaben der Informationen die Decknamen der betreffenden Quellen aufführten. Außerdem waren Ordner mit Befehlen, mit Dienstanweisungen und mit Referaten Minister Mielkes verschwunden, die als geheime oder vertrauliche Verschlußsachen klassifiziert waren. Das war zwar nicht für mich, aber für Mielke der weitaus schwerste Schlag. Meine sofortige Meldung gab ihm genug Zeit, sich seelisch darauf vorzubereiten, daß seine Reden demnächst im Westen veröffentlicht werden würden.

Zwei Tage nach Stillers Flucht wußten wir, daß der Maulwurf des Bundesnachrichtendienstes, dessen Enttarnung und Festnahme durch unsere Spionageabwehr unmittelbar bevorgestanden hatte, niemand anders als er gewesen war.

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Offenbar hatte er die letzte Fluchtchance genutzt. Seine konspirative Wohnung, wo er die Rundsprüche des BND empfangen hatte und in deren Umgebung er die mit Geheimschreibmittel geschriebenen Briefe aufgegeben hatte, war bereits eingekreist gewesen. Daß die Flucht ihm überhaupt gelang, verdankte er dem eigenen Handeln, nicht dem BND, denn der hatte ihm so unbrauchbare falsche Papiere besorgt, daß er auf sie verzichten und die Flucht improvisieren mußte.

Natürlich stilisierten die westlichen Dienste Stillers Flucht in den Westen zum empfindlichsten Schlag hoch, den sie meinem Dienst je versetzt hatten. Unterdessen waren wir damit beschäftigt, all jene zu warnen, die mit Stiller zu tun gehabt hatten, und den Schaden, den er angerichtet haben mochte, realistisch abzuschätzen.

Einem Hamburger Ehepaar, das in der Reaktorforschung gearbeitet und Stiller mit Informationen versorgt hatte, gelang die Flucht buchstäblich in letzter Minute. Als die Kripobeamten an der Tür läuteten und nach dem Wohnungsbesitzer fragten, sagte unser Mann mit seltener Geistesgegenwart, dieser wohne zwei Stockwerke höher, und verließ mit seiner Frau die Wohnung, sobald die Beamten die Treppe hochpolterten.

Einen Mitarbeiter am Kernforschungszentrum in Karlsruhe erreichte unsere telefonische Warnung erst dann, als die Polizeibeamten sich bereits Zutritt zu seiner Wohnung verschafft hatten, doch auf dem Weg zum Haftrichter konnte er aus dem Auto springen und fliehen, während sein Begleiter auf dem Glatteis ausrutschte und stürzte. Er gelangte unbehelligt in die DDR, konnte dort jedoch nicht Fuß fassen und kehrte mit unserer stillschweigenden Duldung zwei Jahre darauf wieder in die Bundesrepublik zurück.

Aber nicht alle Mitarbeiter Stillers konnten gerettet werden. Ein Professor der Universität Göttingen wurde ebenso verhaftet wie ein Atomphysiker, der in Frankreich tätig war und in den wir große Hoffnungen gesetzt hatten.

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Alles in allem bestand der weitaus größere Schaden in diesem Fall nicht im tatsächlichen Wissen des Defektors, sondern in den Vorsichtsmaßnahmen, die wir nach seiner Flucht wohl oder übel ergreifen mußten, in den unzähligen Rückrufen und Rückzügen, die uns in unserer Arbeit schmerzlich zurückwarfen.

SWT, der Sektor für wissenschaftlichtechnische Aufklärung, war in den 50er Jahren eingerichtet worden. Zunächst war es eine Miniabteilung, die dafür zuständig war, uns über die Entwicklung der Kernenergienutzung und andere Forschungen von militärischer Bedeutung im Westen auf dem laufenden zu halten. Physiker und Biologen der Bundesrepublik unterrichteten uns über die Aufrüstung in der Bundesrepublik, die vielen Westbürgern ernsthaft Sorgen machte. Zur Aufrüstung gehörte der Bau von Kernenergieanlagen, die nicht allein zu friedlichen Zwecken genutzt werden konnten.

Die Kernenergie war für uns in zweifacher Hinsicht problematisch, denn wir sahen uns nicht nur der Konkurrenz der Bundesrepublik ausgesetzt, sondern auch der Bevormundung durch die Sowjetunion, die bis in die 90er Jahre den Abbau der Uranvorhaben in der DDR kontrollierte. Die Wismut-AG war nur dem Etikett nach ein deutschsowjetisches Unternehmen, in Wirklichkeit unterstand es dem sowjetischen Militärapparat. Deswegen kam es in der DDR nie zu einer eigenständigen Nutzung der Kernenergie.

Seit Mitte der 60er Jahre konnte man nicht länger die Augen davor verschließen, daß die DDR im weltweiten Wettrennen um technologischen Fortschritt nicht nur auf dem Gebiet der Nutzung der Kernenergie immer mehr hinterherhinkte. Während in der Bundesrepublik die Geldquellen für Forschung und Weiterentwicklung sprudelten, beschränkten sich der Enthusiasmus unserer politischen Führung und die realen Möglichkeiten der DDR, auf wenige Vorzeigeunternehmungen, beispielsweise in der Mikroelektronik. Vornehmlich in diesem Zweig der High-Tec, aber auch in der Feinmechanik und Optik

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oder der modernen Chemie brauchte sich unsere wissenschaftlichtechnische Aufklärung mit ihren Leistungen nicht zu verstecken. Es war ihr gelungen, die Blockade der Embargobestimmungen zu durchbrechen und bei den Managern der DDR-Wirtschaft – aber auch bei unseren Verbündeten, besonders in Moskau – hohes Ansehen zu gewinnen. Technisches Wissen jedoch war von unseren Freunden meist nur gegen klingende Münze zu haben. Deshalb sonderten wir mit der Zeit besonders lukrative Ergebnisse aus dem ansonsten unter Freunden kostenfreien Strom unserer für Moskau bestimmten Informationen aus, um sie der DDR-Wirtschaft als Äquivalent für sowjetische Leistungen zur Verfügung zu stellen. So kam es zwangsläufig zu manch delikater Situation in den freundschaftlichen Beziehungen zu den wißbegierigen Verbindungsoffizieren des sowjetischen Partners.

Kaum war der Fall Stiller aus den Schlagzeilen verschwunden, erschien als nächste Sensation ein unscharfes Foto von mir auf den Titelseiten mehrerer Magazine. Es handelte sich um einen heimlich aufgenommenen Schnappschuß aus dem Jahr 1978, aber trotz Unscharfe und dunkler Brille war der Mann auf dem Bild eindeutig ich, daran gab es nichts zu rütteln. Bis dahin hatte ich im Westen immer als »Mann ohne Gesicht« gegolten, denn niemand dort hatte gewußt, wie ich aussehe.

Im Sommer 1978 hatte ich mich in Schweden mit dem SPD-Politiker Dr. Friedrich Cremer zu einem Meinungsaustausch getroffen. Cremer war einer meiner interessanten und politisch aufgeschlossenen Gesprächspartner in der Bundesrepublik. Im Verlauf dieses Treffens waren wir ganz offensichtlich vom schwedischen Geheimdienst oder dessen westdeutschem Partnerdienst heimlich fotografiert worden. Diese Fotos hatte der BND Stiller routinemäßig zusammen mit anderen Aufnahmen unidentifizierter Personen, in denen man Mitarbeiter meines Dienstes vermutete, vorgelegt, und Stiller hatte mich

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identifiziert – was seine Befrager ihm anfangs nicht glauben wollten, wie ich später erfuhr.

Spiegel-Titelblatt der Ausgabe vom 5. 3. 1979

Leider hatte meine Identifizierung durch den Überläufer

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Stiller zur Folge, daß Friedrich Cremer als DDR-Agent vor Gericht gestellt wurde, ohne ein solcher gewesen zu sein. Alle Unschuldsbeteuerungen halfen ihm so wenig wie die mehr als wackelige Beweislage, und man verurteilte ihn.

Für mich selbst war es wenig erheblich, ob man in Pullach wußte, wie ich aussah, da die Bundesrepublik in jenen Jahren nicht zu meinen bevorzugten Reisezielen zählte, aber für die Boulevardpresse war das Foto natürlich ein wahres Geschenk, das weidlich ausgeschlachtet wurde.

Hätte ich mich nicht von unserem Residenten in Schweden so vorbildlich betreuen und in einer Dienstwohnung der Botschaft unterbringen lassen, sondern wie jeder xbeliebige Geschäftsreisende im Hotel gewohnt, dann wäre der Argwohn des schwedischen Geheimdienstes möglicherweise nie geweckt worden, man hätte den Gast nicht zur Kenntnis genommen und folglich nicht observiert…

Während ehrenwerte westdeutsche Politiker, die ernsthaft an einem konstruktiven politischen Dialog interessiert waren, immer wieder den Argwohn von Bundesnachrichtendienst und Bundesamt für Verfassungsschutz erregten, verhielt es sich dabei wie so oft, wenn man mit dem Fernrohr die Gegend absucht und ganz übersieht, was vor der eigenen Nase vor sich geht – wie dies eines der aufregendsten und packendsten Kapitel deutschdeutscher Geheimdienstgeschichte beweist. Es begann mit dem Fall unseres Agenten »Wieland« und kulminierte darin, daß sich die bundesrepublikanischen Verfassungsschützer Klaus Kuron und Hansjoachim Tiedge in den Dienst der DDR stellten.

Joachim Moitzheim, besagter »Wieland«, war als Neunzehnjähriger in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und hatte dort eine antifaschistische Schule besucht. Nach dem Krieg hatte ein ehemaliger Mitgefangener ihn für unseren Dienst angeworben. Über seine Motive waren wir uns nie ganz im klaren, und wir schrieben es dem Jesuitenschüler in ihm zu, daß er einerseits auf eigenen Wunsch in die SED eintrat und sich im

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Scherz sogar eine Stelle für sein Grab nicht weit von unserem konspirativen Häuschen in Rauchfangswerder aussuchte, andererseits zwischen seiner Tätigkeit für uns und seinem Privatleben streng trennte und sich, was letzteres betraf, stets mehr als zugeknöpft gab.

Nachdem er von uns beauftragt worden war, Kontakt zu Mitarbeitern des Bundesamts für Verfassungsschutz herzustellen, gelangte er durch seine Aktivitäten ins Visier dieser Organisation. Der Verfassungsschützer, den er zu bestechen und anzuwerben versucht hatte, war offenbar eine Weile unschlüssig gewesen, hatte es dann aber für klüger gehalten, seine Vorgesetzten von »Wielands« Annäherungsversuchen zu informieren.

Daraufhin sprachen unseren Agenten eines Abends auf der Straße zwei Herren an, wiesen sich als Verfassungsschutz-Beamte aus und forderten ihn auf, sie zu begleiten. Die Fahrt endete vor einem Hotel in Köln, wo die beiden sich unter den Namen »Kluge« beziehungsweise »Tabbert« vorstellten. Ohne irgendwelche Pointen vorwegzunehmen, darf ich verraten, daß »Kluge« Klaus Kurons, »Tabbert« Hansjoachim Tiedges Deckname war und daß ein hochkompliziertes Geflecht aus Doppel- und Dreifachspionage von nun an seinen Verlauf nahm.

Die beiden hochkarätigen Verfassungsschützer verlangten von »Wieland«, dem sie mit einer langjährigen Haftstrafe drohten, Doppelagent zu werden und für den Verfassungsschutz zu arbeiten. Aus Furcht sagte er zu; sie gingen mit ihm in seine Wohnung, wo sie seine Chiffrierunterlagen kopierten, so daß sie von da an die Funksprüche der HVA an ihn mithören konnten.

Was sie nicht bedachten, war jedoch, daß »Wieland« bei der nächsten Fahrt nach Berlin, die er als Doppelagent für das Bundesamt für Verfassungsschutz unter seinem neuen Decknamen Keil antrat, nichts Eiligeres zu tun hatte, als sich seinem Führungsoffizier bei der HVA anzuvertrauen. Die Überwerbung war nicht von langer Dauer gewesen; »Wieland«

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alias »Keil« war nun ein Tripelagent. Dem Verfassungsschutz war es offenbar so wichtig, die neue

Innenverbindung zur HVA zu besitzen, daß man, um kein Mißtrauen bei uns zu wecken, »Wieland« in mehr als tausend Fällen aus den geheiligten Beständen des NADIS-Computers echte Daten und Namen von BRD-Bürgern anvertraute einschließlich der Angaben, unter denen ihre Dossiers im Bundesamt für Verfassungsschutz geführt wurden. Darunter befanden sich Beamte in Ministerien, leitende Angestellte von Rüstungsunternehmen und sogar Personen, die unter dem Verdacht der Spionage für die DDR oder andere östliche Dienste standen abgesehen davon, daß wir über sämtliche Mitarbeiter des BfV informiert wurden, die sich mit der Überwachung von Telefonen oder Postsendungen beschäftigten. Dieses Vorgehen überschritt alle Grenzen des Zulässigen. »Wieland« wurde 1990 verha ftet und verurteilt. Ich sah ihn 1993 bei meinem Prozeß wieder, als er als Zeuge aus der Haft vorgeführt wurde.

So war es um die überaus harmonische, wenn auch ohne Wissen des Kölner Dienstes bestehende Zusammenarbeit zwischen HVA und BfV bestellt, als eines Tages im Sommer 1981 ein Unbekannter im Briefkasten unserer Bonner Ständigen Vertretung einen umfangreichen Briefumschlag deponierte. Im Umschlag befanden sich ein Schreiben an den Leiter der Abteilung IX der HVA, der Äußeren Abwehr, zuständig für die westlichen Dienste, und ein Zwanzigmarkschein, dessen Nummer offenbar für künftige Code-Schlüssel benutzt werden sollte.

Der Schreiber stellte sich als Geheimdienstmann mit speziellen Kenntnissen vor und erklärte sich bereit, für eine einmalige Zahlung von 150000 DM sowie eine monatliche Entlohnung in doppelter Höhe seines Gehalts beim Verfassungsschutz als Maulwurf für uns aktiv zu werden. Der Brief war handschriftlich mit Großbuchstaben geschrieben. Als

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Köder nannte der Unbekannte uns eine in Wien geplante Aktion gegen einen leitenden Offizier unseres Sektors SWT.

Wir verglichen die Schrift mit der auf einem Zettel, den »Wieland« uns nach einem Treffen mit seinem Westvorgesetzten »Kluge« übergeben hatte. Es bestand kein Zweifel, daß die Schrift die gleiche war. Klaus Kuron, der den Vorgang »Keil« beim Verfassungsschutz führte, hatte sich aus freien Stücken unserem Dienst angeboten. Bis er sich bei einem ersten Treffen in Wien demaskierte, sollte nochmals fast ein Jahr vergehen, denn sowohl wir als auch Kuron ließen keine Vorsichtsmaßnahme außer acht, um nicht am Ende als Düpierte dazustehen. Allein die Entscheidung, leitende Offiziere unseres Dienstes nach Wien zu schicken, wo es von Agenten aller nur möglichen Geheimdienste nur so wimmelte, fällten wir nicht gerade leichten Herzens. Was, wenn wir uns am Ende nicht etwa mit einem neuen, sondern ohne einige der alten Mitarbeiter wiedergefunden hätten?

Der Mann, der sich im Schönbrunner Park mit Karl-Christoph Großmann und Günther Nehls, leitenden Offizieren unserer Abteilung IX, verabredet hatte, stellte sich ohne Umschweife als Klaus Kuron vor und schilderte seine Stellung, seine Aufgaben und den Grund für seinen Verrat am BfV offen und ungeschminkt. Seine Karriere war an einem toten Punkt angelangt, seine Ambitionen wurden frustriert, sein Beamtengehalt ermöglichte zwar ein halbwegs sorgenfreies Leben, doch das Studium seiner Söhne war damit nicht zu finanzieren. Verbittert sprach er von der gesellschaftlichen Realität eines Landes, das seinen Bürgern gleiche Rechte nur auf dem Papier garantierte, in Wirklichkeit aber allen, die sich aus kleinen Verhältnissen hocharbeiteten, Stolpersteine in den Weg legte, während die faulen Söhne der Reichen unverhüllt begünstigt und protegiert wurden.

Schnell erkannten meine Mitarbeiter, daß Kuron es ernst meinte. Er erzählte die Geschichte des Doppelagenten

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»Wieland« in aller Ausführlichkeit – schließlich konnte er nicht wissen, daß wir darüber längst im Bilde waren. Unsere Leute verabredeten mit ihm ein Treffen in der DDR, wo alle Einzelheiten unserer Vereinbarung festgehalten werden sollten und er sich selbst ein Bild von uns machen konnte. Um seine Bedenken auszuräumen, stellte man ihm ein Gespräch mit mir in Aussicht. Die Neugier überwog die Vorsicht, und im Herbst 1982 lernte ich ihn in der Dresdner Villa unseres Dienstes kennen, die nicht nur einen zauberhaften Blick über das Elbtal erlaubte, sondern auch in sicherer Entfernung zu Ost-Berlin gelegen war.

Klaus Kuron gab sich frei von aller Wichtigtuerei oder Anbiederung. Das Gespräch mit ihm verlief locker und unkonventionell. Wie bereits in Wien erklärte er seinen Schritt und seine Geldforderungen mit seiner sozialen Situation. Letzten Endes, so sagte er, bestimmte immer nur das Geld die Lebensqualität. Seine Position inne rhalb der Verfassungsschutzbehörde empfand er als Ungerechtigkeit, ja als Demütigung. Seinen unmittelbaren Vorgesetzten, die seiner Ansicht nach allein durch Protektion seitens der CSU an ihre Ämter gelangt waren, fühlte er sich weit überlegen. Tiedge, seinem Gruppenleiter, gestand er zwar eine abgeschlossene Juristenausbildung und Professionalität zu, doch stufte er ihn wegen seines Lebenswandels als längst nicht mehr tragbar für die Spionageabwehr ein.

In keinem Moment der Unterhaltung hatte ich den Eindruck, es mit einem habgierigen oder skrupellosen Menschen zu tun zu haben. Das große Risiko dessen, was er zu tun im Begriff stand, war ihm eindeutig bewußt. Seinen Entschluß hatte er lange und gründlich überlegt, und nun handelte er mit äußerster Konsequenz. Im Grunde befolgte er die Maximen seiner Gesellschaft: Er handelte mit dem Pfund, das er besaß, seinem fachlichen Können, das er dem Meistbietenden verkaufte.

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Klaus Eduard Kuron 1992

Noch heute schmeichle ich mir mit dem Gedanken, daß

Kuron den Weg zur HVA nicht zuletzt deshalb einschlug, weil er als Profi die Professionalität, mit der bei uns gearbeitet wurde, zu erkennen und zu schätzen wußte. Für das Treffen mit mir hatte er mit Hilfe eines seiner nichtsahnenden Söhne einen Taschencomputer so programmiert, daß er Informationen schnell und relativ einfach verschlüsseln konnte. Später perfektionierten wir diese Technik dahingehend, daß die Informationen über das Telefon, den sogenannten heißen Draht, im Schnellgebeverfahren übermittelt werden konnten. Eine wichtige Bedingung, die er stellte, war die, daß wir gegen Agenten oder Doppelagenten, auf die er uns aufmerksam machte, strafrechtlich nichts unternehmen durften, da sonst der Verfassungsschutz auf seine Fährte hätte kommen können. Da er wirklich etwas ganz Besonderes war, ein Star, erhielt er statt des zuerst gewählten Decknamens Berger den viel treffenderen

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Namen Stern. Bei einem späteren DDR-Besuch Kurons lernte ich auch seine

Ehefrau kennen, die im Unterschied zu den Söhnen in seine Überlegungen einbezogen war. Ich erkannte schnell, daß sie sich mit eigenen Augen vergewissern wollte, ob ihr Mann bei uns in besseren Händen war als bei der Kölner Behörde, vor allem, ob er bei uns die gebührende Anerkennung fand oder wie ein xbeliebiger kleiner Agent behandelt wurde. Erleichtert sah ich, daß ihr anfängliches Mißtrauen einem Ausdruck von Zutrauen und Zufriedenheit wich, als sie feststellte, daß der Umgang zwischen uns freundschaftlich war.

Klaus Kuron war der bei weitem größte, aber beileibe nicht der einzige Fisch, den es aus freien Stücken in unsere Netze verschlug. Ein Verfassungsschutzbeamter, den wir unter dem Decknamen Gräber führten, suchte den Kontakt zu uns, weil auch er sich unterbewertet und zugunsten weniger tauglicher, aber besser protegierter Konkurrenten übergangen fühlte. Politisch war er in der CDU beheimatet, beruflich war er Observationsleiter im Rang eines Kriminalhauptkommissars im niedersächsischen Innenministerium, der eng mit dem Militärischen Abschirmdienst kooperierte. Dank seiner Zuarbeit waren wir über alle Aktivitäten des niedersächsischen Landesamts für Verfassungsschutz bestens auf dem laufenden und konnten die Abwehrtätigkeit in Niedersachsen jahrelang erfolgreich lahmlegen – sei es in Grenzfragen oder im Transitverkehr. Trotz der guten Zusammenarbeit brach »Gräber« den Kontakt zu uns noch vor dem Jahr 1989 ab.

Als letzten Tip hatte »Gräber« uns auf jemanden im Verfassungsschutz hingewiesen, der dort den Ruf einer grauen Eminenz genoß. Dieser Mann – wir nannten ihn »Maurer« – hatte sich bereits Ende der 70er Jahre von sich aus bei uns gemeldet und war seither durch exzentrisches Verhalten aufgefallen, wann immer unser Dienst mit ihm zu tun hatte. Seinen Klarnamen nannte er nie; Treffen durften nur bei tiefster

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Dunkelheit stattfinden, und zwar stets in irgendwelchen Parks, egal, welches Wetter herrschte; die Zahl seiner Verkleidungen überstieg jedes Vorstellungsvermögen; unser Chiffriersystem lehnte er ab und benutzte lieber ein schlichtes Codesystem, das auf dem Telefonbuch oder dem Duden basierte, kurzum: »Maurer« war der Geheimagent wie aus dem Bilderbuch. Aber er leistete uns wichtige Dienste; von ihm erfuhren wir, welche unserer Mitarbeiter von der westdeutschen Abwehr verdächtigt oder gar schon observiert wurden, von ihm wurden wir über die Methoden aufgeklärt, mittels derer der Verfassungsschutz unsere Kuriere aus den unzähligen Reisenden herauszufiltern gedachte, und durch ihn wurden wir auch auf Fehler aufmerksam gemacht, die wir beim Fälschen westdeutscher Ausweispapiere begangen hatten.

Eines Tages behauptete ein Mitarbeiter der Abteilung IX, »Maurer« könne uns den Überläufer Stiller ausliefern, vorausgesetzt, wir zahlten ihm dafür eine Million Mark. Er sei bereit, Stiller notfalls zu entführen. Wir verzichteten auf das Angebot. Es gelang uns nie, seine Identität zu klären. Jedesmal, wenn wir Vermutungen äußerten, versuchte er, sie ins Lächerliche zu ziehen. So albern sein ewiges Versteckspiel uns damals erschien, so recht scheint er im nachhinein behalten zu haben. Lange haben sich Verfassungsschutz und Staatsanwälte bemüht, ihn zu identifizieren. Anfang 1996 wurde »Maurer« von einem Gericht zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Mitte 1985, als ich eine Kur in Ungarn antreten wollte, erhielt ich über eine Sonderleitung einen Telefonanruf aus Magdeburg: Am Grenzübergang sollte sich jemand namens Tabbert im Zug gemeldet und verlangt haben, daß man ihn unversehens zur Abteilung IX der HVA bringe. Ich wollte meinen Ohren nicht trauen; ganz offensichtlich hatte der Gruppenleiter des westdeutschen Verfassungsschutzes, der für Doppelagenten zuständig war, beschlossen, die Seiten zu wechseln.

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Keine zwei Stunden später holten ihn Karl-Christoph Großmann und ein Begleiter ab und beförderten ihn nach Berlin. Tiedge wies sich mit Personal- und Dienstpapieren aus, nannte seinen Klar- und seinen Tarnnamen. Nachdem wir ihn zu seiner Zufriedenheit in einem besonders gesicherten Gebäude einquartiert hatten, erstattete ich Mielke Bericht, was den Effekt hatte, daß der Magdeburger Chef ein Donnerwetter über sich ergehen lassen mußte, weil er Tiedges Erscheinen mir und nicht Mielke gemeldet hatte. »Fundsachen« seien künftig bei ihm persönlich abzugeben, ließ Mielke später verlauten.

Für die Boulevardzeitungen war Tiedge ein gefundenes Fressen – Alkoholprobleme, zerrüttete Familienverhältnisse, Schwierigkeiten in der Behörde, doch nicht nur die Regenbogenpresse, auch mein Dienst und ganz gewiß das BfV zerbrachen sich lange genug den Kopf mit der Frage, was ihn letztlich dazu bewogen haben mochte, sich abzusetzen. Daß er kein Kommunist war, stand außer Frage. Für die HVA hatte er sich zuvor in keinerlei Weise betätigt. Eine Kurzschlußreaktion konnte sein Handeln andererseits nicht gewesen sein, denn sein Übertritt war wohlüberlegt. Zuletzt gelangte ich zu der Schlußfolgerung, daß der Weggang seines Gönners Hellenbroich ihn wohl hatte erkennen lassen, daß seine Tage beim Verfassungsschutz gezählt sein mußten, daß er für seine Behörde nur noch ein Sicherheitsrisiko und sonst nichts darstellte.

Tiedge war selbstverständlich der Meinung, uns geheimste Dinge zu verraten, denn er konnte ja nicht ahnen, daß Kuron bereits für uns arbeitete. Und ich muß einräumen, daß viele seiner Informationen tatsächlich sehr wertvoll waren, obwohl sie keinen großen Neuigkeitswert besaßen. Tiedges beinahe computergleich arbeitendes Gedächtnis ermöglichte in den kommenden Monaten eine annähernd systematische Aufarbeitung seines gesamten Wissens – etwas, was bei der zeitlichen Knappheit konspirativer Treffen oder der räumlichen

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Begrenztheit von Berichten nicht einmal erträumbar ist.

Hansjoachim Tiedge

Da Tiedge als körperliches und seelisches Wrack zu uns gekommen war, bemühten wir uns als erstes, ihn wieder auf die Beine zu bekommen. Er mußte abnehmen und Sport treiben; die ungewohnte Ertüchtigung gefiel ihm und trug schneller Früchte, als wir gedacht hätten. Der gesunde Geist in seinem gesundeten Körper verlangte nach neuer Nahrung. Er las nicht nur alle Zeitungen und Zeitschriften in seiner Reichweite, sondern Bücher über Geschichte, Geologie und Kunst, und es dauerte nicht allzu lange, bis er an einer juristischen Dissertation saß, die er an der Humboldt-Universität einreichte. Ansonsten bekannte er sich weiterhin zur parlamentarischen Demokratie und rümpfte die Nase über das politische System der DDR. Dennoch verstand er es, sich den Lebensumständen anzupassen. Nach einiger Zeit lernte er eine Frau kennen, die er heiratete.

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Seine drei Töchter konnten ihn jederzeit besuchen – solche Dinge waren für meinen Dienst selbstverständlich –, und er kümmerte sich von der DDR aus darum, daß das Grab seiner ersten Frau gepflegt wurde.

Als 1989 mit der Maueröffnung sensationslustige Journalisten vor seinem Häuschen Posten bezogen, war für ihn die Zeit in diesem Land abgelaufen. Ohne die Vereinigung abzuwarten, flüchtete Tiedge mit seiner Frau in die Sowjetunion, die es noch gab und die ihm damals wohl sicherer erschien.

Ein Nebeneffekt des Seitenwechsels von Geheimdienstmitarbeitern ist das Offenbaren bis dahin unverdächtiger Doppelagenten. So erfuhren wir von Kuron, daß zwei unserer Mitarbeiter, der eine unter dem Decknamen Wolfgang in der Bundesrepublik eingesetzt, der andere als »Günter« Verbindungsmann zu ebenjenem »Wolfgang«, seit längerem umgedreht waren und als Doppelagenten für den Verfassungsschutz arbeiteten. Eingedenk der Zusage, die wir Kuron gemacht hatten, warteten wir ab, bis die Überwachungsmaßnahmen unabhängig von Kuron erkennen ließen, daß »Günter« beabsichtigte, sich samt Ehefrau in Kürze in die Bundesrepublik davonzumachen. Diese Flucht konnten wir nicht zulassen, und so kam es, daß das Ehepaar festgenommen wurde. Zum Glück fiel ihre Enttarnung mit Tiedges Übertritt zusammen. Menschlich endete dieser Fall tragisch; obgleich die Ehefrau nach wenigen Monaten aus der Haft entlassen wurde, ließ die DDR ihrem Mann gegenüber keinerlei Milde walten, und die Bundesrepublik traf keine Anstalten, ihn gegen einen unser Spione auszutauschen. Als nach drei Jahren kein Silberstreif am Horizont zu erkennen war, erhängte der sensible und durch die Haft depressiv gewordene Mann sich in seiner Zelle.

Nicht weniger tragisch ist der Ausgang des Falles Teske. An Werner Teske wurde im Jahr 1981 letztmals die Todesstrafe in der DDR vollzogen. Er hatte die unglückselige Idee gehabt, in

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die Fußstapfen des Überläufers Stiller zu treten, der im selben Bereich wie er gearbeitet hatte. Doch als bei einer Überprüfung wichtige Akten vermißt wurden, fand eine gründliche Untersuchung statt, und es stellte sich heraus, daß Teske die verschwundenen Unterlagen zu Hause in der Waschmaschine versteckt hatte, um sie zum geeigneten Zeitpunkt einem westlichen Dienst als Eintrittsgeschenk zu überreichen. Daß Teske vor ein Militärgericht gestellt und zum Tode verurteilt wurde, war juristisch nicht zu rechtfertigen, denn es war nicht zum Verrat gekommen. Unverständlich war dieses Urteil, das keine abschreckende Wirkung haben konnte, denn es wurde nicht bekanntgegeben. Aus diesem Grund kann ich auch nicht verstehen, warum es nicht qua Gnadenerlaß außer Kraft gesetzt, sondern tatsächlich vollstreckt wurde.

Im Herbst 1990 erfuhr ich in Österreich aus der Presse, daß meine einstigen Spitzenquellen Gabriele Gast, Klaus Kuron und Alfred Spuhler verhaftet worden waren. Wer der Denunziant war, daran zweifelte ich keine Sekunde: Es konnte nur Karl-Christoph Großmann sein, der einstige stellvertretende Leiter der Abteilung IX.

Bei uns hatte er immer als erfolgreicher Praktiker, wenn auch gleichzeitig als leichtsinniger Hasardeur gegolten. Lange Zeit hatte er es verstanden, mit seiner dienstfertigen Betriebsamkeit charakterliche Schwächen zu übertünchen. Als Unregelmäßigkeiten an den Tag kamen, die eindeutig in die Kategorie Amtsmißbrauch fielen, kam es zum Eklat. Wie oft in derartigen Fällen versuchten wir den Schaden zu minimieren, indem wir Großmann nicht vor Gericht brachten, sondern uns damit begnügten, ihn von seiner Funktion zu entbinden und mit einer Sonderaufgabe abzufinden.

Kuron hatte nie verhehlt, daß er befürchtete, ein zu großer Personenkreis wisse über Vorgänge wie den seinen Bescheid, und er hatte Großmann nie ganz über den Weg getraut. Im nachhinein erwies sich, wie recht er damit gehabt hatte. Die

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volle Identität von Gabriele Gast war Großmann nicht bekannt gewesen; er hatte allein mit den Hinweisen, über die er verfügte, dem Wissen, daß es sich um eine Frau mit einem pflegebedürftigen Kind handelte, die als Spitzenquelle im Bundesnachrichtendienst saß, ihre Enttarnung und Verhaftung ermöglicht.

Die bundesdeutsche Justiz benötigte immerhin noch eineinhalb Jahre, bis sie Klaus Kuron 1992 zu zwölf Jahren Haftstrafe verurteilte. Kuron nahm das Urteil stoisch auf. Ein letztesmal bin ich ihm im September 1993 begegnet, als er als Zeuge im Prozeß gegen mich aussagte. Auf die Frage nach seinen Motiven sagte er unumwunden, ihn habe »ein Gefühl der Ohnmacht und Wut« erfüllt, er habe sich vom Sozialstaat Bundesrepublik im Stich gelassen gefühlt, und auf die Frage, wie es ihm möglich gewesen sei, zwei Herren zugleich zu dienen, antwortete er kühl: »Mein Dienstherr war nach meiner Entscheidung die HVA; mit dem Bundesamt habe ich gebrochen.« Über das Bundesamt sprach er nur mit Sarkasmus und Verachtung. Die Vergleiche, die er zwischen diesem Amt und der HVA anstellte, müssen für die Vertreter der Verfassungsschutzbehörde wenig vergnüglich anzuhören gewesen sein.

Ich bin mir dessen bewußt, daß die Haltung zu Verrat und Verrätern vom jeweiligen Standort des Betrachters abhängt, und ich kann mir gut vorstellen, wie Kurons ehemalige Kollegen über seinen Seitenwechsel gedacht haben müssen. In meinen Augen ist und bleibt jedoch der wirklich verächtliche Verräter derjenige, der Menschen ausnutzt, solange es seiner Karriere dient, und sie, wenn der Wind sich gedreht hat, wie Grossmann kaltschnäuzig für die bekannten Silberlinge ve rkauft.

Manche Verräter kassieren ihren Preis, manche zahlen einen zu hohen Preis, und manchmal sieht es in der Realität tatsächlich nicht viel anders aus als im Spionagethriller, wo die Geheimdienste ihre Verräter ohne viel Federlesens aus dem

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Weg räumen oder dies auch gegenüber unliebsamen Politikern versuchen. Hieb- und stichfeste Beweise lassen sich in solchen Fällen allerdings so gut wie nie festmachen, und wenn es sie doch einmal gibt, werden sie in der Regel von den Untersuchungsbehörden vertuscht.

An Beispielen herrscht kein Mangel: Man denke nur an die Attentate mit vergifteten Regenschirmspitzen, die als Spezialität des bulgarischen Geheimdienstes galten, oder an den Versuch der CIA, Castro mittels eines speziellen Gifts zum Kahlkopf zu machen. Von John S. Paisley, dem Vizedirektor des CIA-Büros für strategische Forschung, blieb nichts übrig als ein verlassenes Segelboot. Frank Olsen, Experte für biologische Kriegführung, stürzte nach dem Genuß eines Glases Cointreau, das offenbar nicht nur Likör enthielt, aus dem 10. Stock eines New Yorker Hotels.

Ein beliebter Schauplatz für Morde und Entführungen in Geheimdienstkreisen war lange Zeit die bayerische Landeshauptstadt. Dort verschwand auf Nimmerwiedersehen Oberst Argoud, der ehemalige Stabschef der französischen OAS, dort fand man die Leichen Stefan Banderas und Lew Rebets, zweier Führer ukrainischer nationalistischer Organisationen, bei denen die Ärzte Herzversagen feststellten, was wenige Jahre später vom Täter Bogdan Staschinskij korrigiert wurde, als er aussagte, daß er die Exilpolitiker im Auftrag des KGB ermordet habe. Ebenfalls in München stürzte Robert Wood, Angestellter des US-Konsulats und hochrangiger CIA-Agent, aus dem 14. Stock des Arabella-Hochhauses.

Bis zur Schließung der Staatsgrenzen der DDR im Jahr 1961 hatte Berlin als Eldorado der Geheimdienste jeglicher Provenienz München bei weitem übertroffen.

Hätte sich mein Dienst jemals solcher Methoden bedient, dann wäre der Verräter Karl-Christoph Großmann nicht ungeschoren mit einer Strafversetzung davongekommen, sondern wegen seines gefährlichen Wissens aus dem Verkehr

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gezogen worden, als wir merkten, daß er einen Unsicherheitsfaktor darstellte. Wenn ich im Geist die Namen der Überläufer durchgehe, die meinem Dienst schwersten Schaden zugefügt haben, kann ich nur sagen, daß sie alle noch leben, sofern sie nicht eines natürlichen Todes gestorben sind. Ihre Adressen und Lebensumstände waren uns bekannt, ohne daß es ernste Versuche gegeben hätte, auf Wildwest- oder James-Bond-Manier mit ihnen »abzurechnen«.

Beispiele wie die Fälle Kurons und Tiedges könnten fast den Eindruck erwecken, als sei meinem Dienst der Erfolg in den Schoß gefallen. Doch ein Angebot garantiert noch keinen Erfolg; gerade die Arbeit mit Selbstanbietern erfordert ein Höchstmaß an Analyse, Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen.

Neben dem finanziellen Motiv und dem der gekränkten Ehre oder frustrierter Ambitionen gab es auch immer wieder das der Überzeugung – sei es durch Herkunft und Erziehung oder als Frucht langer Diskussionen und Gespräche. Die Brüder Alfred und Ludwig Spuhler beispielsweise hatten meinem Dienst Informationen von unschätzbarem Wert aus dem BND zukommen lassen, weil sie die Nato-Politik als friedensgefährdend einstuften und ihre moralische Aufgabe darin sahen, einen Dritten Weltkrieg verhindern zu helfen.

Im Umgang mit unseren Quellen bemühten wir uns, auf den einzelnen einzugehen, seinen Vorstellungen soweit wie möglich entgegenzukommen und ihm so viel Sicherheit zu bieten, wie wir konnten. Sie alle wußten, daß wir sie nicht im Stich lassen würden, wenn sie in die Hände der Spionageabwehr fielen, sondern uns um einen Austausch bemühen würden. Daraus entstand eine Atmosphäre des Vertrauens, die erklärt, warum wir mit vielen Quellen jahrelang oder jahrzehntelang zusammenarbeiten konnten. Aus der Bundesrepublik ist mir für die entsprechenden Dienste kein einziger vergleichbarer Fall bekannt.

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In diesen Zusammenhang gehört auch die personelle Kontinuität, auf die bei uns großer Wert gelegt wurde. Als Tiedge sich in die DDR absetzte, wurde Heribert Hellenbroich, der gerade zum Präsidenten des BND avanciert war, zum Rücktritt gezwungen. Solche Erfahrungen blieben mir erspart, obwohl die Guillaume-Affäre oder der Fall Stiller einen Anlaß zu meiner Ablösung geboten hätten. Mochte Mielke intern noch so aggressiv auftreten, gegen überzogene Forderungen der politischen Führung hat er seinen »Apparat« – und somit auch meinen Dienst – stets abgeschirmt.

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13 Ein neues 1914?

Wer an die Entspannungspolitik Willy Brandts Illusionen geknüpft hatte, der wurde in der Ära Helmut Schmidt schnell ernüchtert. Die SED-Führung hatte der Kanzlerwechsel in Bonn nicht beunruhigt. Der Pragmatiker Schmidt schien berechenbarer als der Visionär Brandt. Außerdem stellten wir uns bald darauf ein, daß die Jahre der Regierung Schmidt gezählt waren.

Wenige Monate nach den Wahlen von 1976 mit ihrem für die SPD enttäuschenden Ergebnis ließ Herbert Wehner seinem Freund Erich Honecker über Vogel mitteilen, Schmidt befinde sich in einer politischen, gesundheitlichen und persönlichen Krise »von bisher nicht gekanntem Ausmaß«. Wehner rechnete »mit dem Schlimmsten«, wenn sich die Kluft zwischen Schmidt und der Partei vergrößere. Jedenfalls werde die Koalition das Jahr 1980 kaum überleben, vertraute er seinem Kontaktmann Wolfgang Vogel an.

Die Berichte von Vogel und Schalck wurden zur Lieblingslektüre Mielkes. Mit dem exklusiven Wissen aus ihren Kontakten glaubte er, einen Vorteil in den internen politischen Spannungen der SED-Führung zu haben. Gelegentlich meinte er, auch mir Berichte über die Gespräche mit Wehner und anderen hochkarätigen Kontakten Vogels oder Schalcks vorenthalten zu müssen oder sich auf mündliche Andeutungen beschränken zu können. Bei diesem »Tartuffe-Spiel« übersah er, daß auch mein Dienst unmittelbaren Zugang zu diesen Politikern hatte, zum Beispiel über Karl Wienand. Diese Quelle bestätigte die düstere Voraussage Wehners über die Zukunft der sozialliberalen Koalition. Im Herbst 1979 berichtete Wienand über ein vertrauliches Gespräch zwischen Schmidt und Strauß, in dem die Möglichkeit einer großen Koalition nach der Wahl des kommenden Jahres erörtert worden war. In diesem Fall hätte

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Strauß Vizekanzler werden sollen. Honecker schrieb an den Rand dieses Berichts: »Strauß wird auch nicht schlechter sein als die SPD-FDP-Koalition.«

Erich Honecker versuchte inzwischen, die Drähte zwischen DDR und BRD auf offizieller und vertraulicher Ebene zu nutzen. Doch das konstante Mißtrauen Moskaus gegenüber einer zu weit gehenden Annäherung beider deutsche r Staaten bremste den SED-Chef immer wieder. Honecker wiederum sah, ähnlich wie sein Vorgänger Ulbricht, mit Besorgnis die engen Kontakte einiger Sozialdemokraten nach Moskau. Er mußte befürchten, daß sich Bundesrepublik und Sowjetunion hinter dem Rücken der DDR über die deutsche Frage einigten.

Geschürt wurde dieses Mißtrauen durch Informationen Herbert Wehners. Wiederholt warnte der SPD-Fraktionsvorsitzende vor Moskauer und Bonner Intrigen gegen die DDR. Er nannte in diesem Zusammenhang die Namen des Botschafters Valentin Falin, seines Stellvertreters Kwizinskij und seines politischen Vertrauten Portugalow. Auf westdeutscher Seite machte Wehner seinen Parteifreund Egon Bahr als denjenigen aus, der mit Billigung Moskaus gegen die DDR intrigiere. Informationen, die das Verhältnis zwischen DDR und BRD belasteten, so Wehner, würden häufig von Bahr aus Moskau mitgebracht und seien seiner Kenntnis nach ausdrücklich von Breschnew autorisiert.

Vor diesem Hintergrund begann ein schwer durchschaubares Tauziehen um ein Treffen zwischen Honecker und Schmidt. Honecker wollte es, weil er sich davon Prestige und eine Konsolidierung in der DDR versprach. Moskau bremste, Schmidt zögerte.

Auch Mielke vermutete eine Intrige, die das Zustandekommen des deutschdeutschen Gipfeltreffens verhinderte. Als Drahtzieher sah er ebenfalls Egon Bahr. Der auf Wehner fixierte Minister wollte offenkundige Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen, die er in unseren Informationen hätte

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nachlesen können. Er ignorierte sie selbst noch, als Wehner ihm über Vogel eine Niederschrift des Bundeskanzlers Schmidt mit höchster Geheimhaltungsstufe vom 10. April 1977 zukommen ließ. Dieses Papier wies Schmidt als konzeptionell denkenden Strategen aus, der Prioritäten setzte, in denen die DDR weit hinten rangierte.

Ich schrieb damals in mein Tagebuch: »Wenn unsere Dilettanten dieses Dokument wirklich gelesen und verstanden hätten, wären sie ohne Illusionen. Für den realistisch denkenden Bundeskanzler hat nach den Beziehungen zu den USA das Verhältnis zur Sowjetunion absolut vorderen Rang. Dann kommt noch sehr viel anderes und erst dann, weil äußerst kompliziert, kommen die Beziehungen zur DDR, wenn für ihn etwas herausspringt… Wir sollten in unserem Land die Wirtschaft und die anderen Ursachen der existierenden Unzufriedenheit in Ordnung bringen und die Nase nicht so weit hinausstrecken. Es kann möglicherweise bald unangenehmer Wind blasen.«

Leider behielt ich recht. Während nach dem Abschluß der Ostverträge das Wort Entspannung Konjunktur gehabt hatte, wehte 1979 der politische Wind merklich kühler. Wieder verhärteten sich die Fronten, und die Rüstungsspirale drehte sich schneller als je zuvor. Zum erstenmal sollten Atomraketen mit strategischer Reichweite auf deutschem Boden stationiert werden, also in unmittelbarer Nähe der Trennungslinie zwischen den Machtblöcken.

Unter diesen Umständen des sich wieder verschärfenden kalten Krieges reagierte Moskau auf den Plan eines Treffens zwisehen Honecker und Schmidt geradezu allergisch. Honecker hatte sich nach sowjetischem Vorbild 1976 zum Vorsitzenden des Staatsrats wählen lassen. Wie bei Breschnew nahm auch der Kult um seine Person sehr schnell groteske und unerträgliche Züge an. Das trug vermutlich dazu bei, daß er mehr und mehr den Sinn für Realitäten einbüßte.

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Erich Honecker hegte die Illusion, die deutschdeutschen Probleme im Interesse der DDR auf eigene Faust lösen zu können. Die sich wiederholenden Hinweise Wehners auf Kontakte zwischen Moskau und Bonn, die an der DDR vorbeiliefen, kommentierte er gelassen: »Die entscheiden nichts ohne uns.« Das war sein Denkfehler, aber von dieser Illusion war auch ich nicht ganz frei. Die Konsequenzen der totalen Abhängigkeit, in der sich die DDR gegenüber der Sowjetunion befand, dachte ich nicht zu Ende. Die Verbundenheit mit dem Land meiner Kindheit und Jugend, die Anerkennung meines Dienstes und seiner Leistungen wiegten mich im trügerischen Gefühl partnerschaftlicher Gleichwertigkeit.

Die DDR war zu Stalins Zeiten Objekt sowjetischer Interessen gewesen, und sie blieb es unter Chruschtschow, Breschnew, Andropow, Tschernjenko, bis Gorbatschow sie der Nato überließ.

Im Februar 1980 flog ich mit einer Delegation des MfS unter Leitung Mielkes nach Moskau. Anlaß war der 30. Jahrestag des MfS, zu dem wir an leitende Offiziere des KGB Orden und Medaillen verliehen. Der Vorsitzende des KGB, Jurij Andropow, war bei dem Festakt nicht anwesend. Es hieß, er befinde sich zu einer Routineuntersuchung im Krankenhaus.

So fuhren Mielke und ich zum Kreml-Klinikum in Kunzewo am Stadtrand Moskaus. Ich kannte Kunzewo aus der Emigrationsszeit als Datschenvorort, in dem sich die Führung der Kommunistischen Internationale erholte. Nicht weit von der Siedlung hatte Stalin in einem streng bewachten Wäldchen sein Sommerdomizil gehabt. Inzwischen war die Hauptstadt mit ihren Neubauten bis hierher vorgedrungen. In dem Krankenhaus für die obere Nomenklatura gab es einen abgeschirmten Bereich, wo nur Mitglieder des Politbüros stationär behandelt wurden. Zu den Krankenzimmern gehörten jeweils Wohnraum und Arbeitszimmer.

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Juri Andropow 1983

Andropow begrüßte uns im Anzug. Er wirkte bleich und abgespannt. Er hatte nie den Eindruck gemacht, als verbringe er viel Zeit an der frischen Luft. Mielke und Andropow zogen sich protokollgemäß zu einem kurzen Gespräch unter vier Augen zurück. Unterdessen vertraute mir der Leiter des Aufklärungsdienstes, Wladimir A. Krjutschkow, der uns begleitete, ein Staatsgeheimnis an: Die Erkrankung seines Chefs sei ernst. Auch der Rat eines kompetenten deutschen Urologen sei gefragt.

Das war eine schlechte Nachricht. Ich hatte großen Respekt vor den politischen und analytischen Fähigkeiten Andropows. Unter Eingeweihten galt er als designierter Nachfolger des kranken Breschnew. Die Sowjetunion, ihre Verbündeten und vor allem die immer bedrohlicher werdende internationale Lage brauchten im Kreml einen gesunden Mann vom Format Andropows. Ich setzte große Hoffnung auf ihn.

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Andropow ließ in seiner nüchternen Art die Zeremonie der Auszeichnung ohne große Worte schnell über sich ergehen. Dann begannen wir ein Gespräch über die Situation im Ost-West-Konflikt. Ich hatte Andropow nie zuvor so ernst und bedrückt erlebt. Er zeichnete ein düsteres Szenarium, in dem ein atomarer Krieg eine reale Bedrohung war. Seine nüchterne Analyse kam zu dem Schluß, daß die US-Regierung mit allen Mitteln die atomare Dominanz über die Sowjetunion anstrebe. Er zitierte Äußerungen des amerikanischen Präsidenten Carter, seines Beraters Zbigniew Brzezinski und von Sprechern des Pentagons, die alle die Aussage enthielten, daß unter gewissen Umständen ein atomarer Erstschlag gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten gerechtfertigt sei.

Wenig optimistisch hörte sich auch Andropows Bericht über die Lage in Afghanistan an. Ich versuchte vorsichtig zu erfragen, ob es Überlegungen gab, das sowjetische Afghanistan-Abenteuer zu beenden. Andropow verstand sofort, und es klang eher resigniert, als er sagte: »Wir können jetzt nicht mehr zurück.« Der Mann, der nach meiner Einschätzung mehr als jeder andere in der sowjetischen Führung für Vernunft, Reform und Entspannung stand, schien nur noch in einer Politik der Stärke die Antwort auf das westliche Streben nach Vormacht zu finden. Das Fazit seiner Analyse lautete: »Es ist nicht die Zeit, Schwäche zu zeigen.«

Das war auch eine unmißverständliche Warnung an die DDR-Führung. Andropow ließ durchblicken, daß die sowjetische Führung die geheimen Verhandlungen auf verschiedenen Ebenen zwischen den beiden deutschen Staaten mit großem Mißtrauen verfolgte. Über wichtige Gespräche unserer Führung mit Bonn waren die Genossen im Kreml nicht oder nur unvollständig informiert worden, insbesondere über die Vorbereitung des Treffens zwischen Helmut Schmidt und Erich Honecker. Andropow warnte vor einer Fehleinschätzung des westdeutschen Kanzlers. Auf meinen Einwand, daß unsere

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Informationen doch ein differenziertes Bild des Außenpolitikers Schmidt ergäben, meinte er: »Ja, der Mann hat zwei Gesichter. Aber tatsächlich steht er auf Seiten der Amerikaner. Mit diesem Mann sollte man keine Gespräche auf höchster Ebene führen.«

Die Charakterisierung Helmut Schmidts als Mann mit zwei Gesichtern widersprach unserer Einschätzung nicht. Der Bundeskanzler gehörte zu den geistigen Vätern des Nato-Doppelbeschlusses, der nun die Entwicklung des Ost-West-Konflikts gefährlich unberechenbar machte. Schmidt war es gewesen, der nach der Vereinbarung zwischen Washington und Moskau über die Beschränkung der Zahl der Interkontinentalraketen gefragt hatte, wie denn nun die Verteidigung Westeuropas aussehen solle?

Die Antwort gab die Nato Ende 1979 mit dem Beschluß, Nuklearraketen in vier westeuropäischen Ländern, darunter der Bundesrepublik, zu stationieren, wenn die Sowjetunion nicht ihre SS-20-Raketen aus der DDR und Westrußland abziehe. Zwar gab es in den Berichten unserer Quellen Anzeichen dafür, daß sich der Bundeskanzler vor den Raketen, die er gerufen hatte, nun selber zu fürchten begann. Aber in der Öffentlichkeit gab sich Schmidt im Gegensatz zu großen Teilen seiner Partei als kompromißloser Befürworter des Nato-Doppelbeschlusses und als Gegner der Friedensbewegung.

Von Herbert Wehner erreichten uns immer dramatischere Warnungen vor wachsender Kriegsgefahr. Über unsere Verbindung zu Wehner erhielten wir ein streng vertrauliches Papier des SPD-Fraktionsvorsitzenden. Darin mutmaßte er: »Der CIA hat den Bazillus eines möglichen Krieges zwischen den beiden deutschen Staaten verstreut. Das ist keine Erfindung. Die Neutronenbomben sind maßgeschneidert für die Ruhr und für Berlin. Ich teile Schmidts Skepsis Carter gegenüber. Nicht, weil er dunkle Absichten hat, sondern weil er fähig ist, jede mögliche Variante auszuprobieren. Diese Haltung kann sehr leicht danebengehen.«

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Wehner zeichnete gegenüber Wolfgang Vogel aber auch ein zunehmend negatives Bild von Schmidt. Er meinte, daß der Mann, dem er zur Kanzlerschaft verholfen hatte, im Sog einer »abenteuerlichen« US-Politik treibe. Diese Befürchtung jedenfalls ließ er dem »Jugendfreund« Erich Honecker übermitteln.

Nachträglich mag die Kriegsfurcht, die Anfang der 80er Jahre herrschte, übertrieben scheinen. Die Informierten und Nachdenklicheren in Bonn und Ostberlin aber waren damals ernsthaft besorgt. Diese Besorgnis teilten auch viele Bürger in beiden deutschen Staaten. Der Spiegel erschien 1980 mit einer Titelgeschichte »Wie im August 1914? Angst vor dem großen Krieg«. Der Vergleich mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der die Großmächte unaufhaltsam dem bewaffneten Konflikt zutrieben, ohne ihn wirklich zu wollen, wurde unseren Quellen zufolge auch von verantwortlichen Bonner Politikern diskutiert. Doch trotz vernünftiger Einsicht schienen die Mächtigen in Ost und West fatalen Zwängen zu unterliegen. Moskau und Washington verlangten auch von ihren jeweiligen deutschen Verbündeten, sich ihrer Konfrontationslogik unterzuordnen.

DDR-Außenminister Fischer kam von einem Besuch bei seinem sowjetischen Kollegen Gromyko mit ähnlichen Eindrücken zurück, wie ich sie bei Andropow gewonnen hatte. Die Vorschläge unserer Führung zur Entwicklung der Beziehungen mit der BRD wurden in Moskau praktisch ignoriert. Daß Gromyko sie überhaupt zur Kenntnis genommen hatte, gab er nur durch mißtrauischen Fragen zu erkennen.

Erich Honecker hatte Moskau den blinden Gehorsam längst aufgekündigt. Unbeirrt folgte er seinem Kurs, die Kontakte der DDR zu Bonn auch auf höchster Ebene auszubauen. Er arbeitete weiter beharrlich an der Verwirklichung seines Traums, in Bonn auf rotem Teppich zu den Klängen der DDR-Hymne empfangen zu werden. Ebenso bedeutsam war für ihn eine Rückkehr in sein heimatliches Saarland, wo er unter Herbert Wehner den

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Widerstand gegen die Nationalsozialisten organisiert hatte. Wichtigstes Element der Politik intensiver politischer

Kontakte zwischen Bonn und Ost-Berlin war allerdings auf beiden Seiten der Versuch, in einer Atmosphäre der Irrationalität zwischen den Großmächten so etwas wie eine gesamtdeutsche Achse der Vernunft zu schaffen.

Honecker und seine Umgebung versuchten, die deutschdeutschen Gespräche auf verschiedenen Ebenen so gut wie möglich vor der mißtrauischen Neugier der sowjetischen Botschaft in Ost-Berlin abzuschirmen. Soweit die Kontakte nicht über Mitarbeiter oder Quellen meines Dienstes liefen, erfuhr auch ich Einzelheiten eher aus Bonn als von Eingeweihten in Berlin.

Der geplante Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt in der DDR war nach dem unmißverständlichen Veto Moskaus für Honecker nicht mehr durchführbar. Schmidt stand unter ähnlichem Druck aus Washington, das Treffen abzusagen. Der Kanzler tat es und ersparte damit dem Staatsratsvorsitzenden die Peinlichkeit, ihn ausladen zu müssen.

Unsere Quellen im Umfeld des Bundeskanzleramts, die uns auch nach dem Ausfall Guillaumes noch ausreichend informierten, ließen uns wissen, daß Helmut Schmidt nur widerwillig und oft wider bessere Einsicht dem Druck aus Washington nachgab. Andererseits bestätigte sich die Einschätzung Andropows, daß dem Kanzler letztendlich die Loyalität gegenüber Washington über alle Bedenken ging. Als die USA von der BRD den Boykott der Olympischen Spiele im Sommer 1980 in Moskau verlangten, kam es zum Eklat innerhalb der SPD-Führungsriege. Während einer Krisensitzung beim Bundeskanzler im April 1980 soll nach unseren Informationen Schmidt mit dem Rücktritt gedroht haben, bevor er die Zustimmung für den Olympia-Boykott bekam. Die Forderung der USA nach Wirtschaftssanktionen gegen die Sowjetunion soll bei dieser Sitzung von der Mehrheit der

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versammelten Sozialdemokraten abgelehnt worden sein – Brandt, Wehner, Bahr und Apel sprachen sich entschieden gegen Sanktionen aus, nur Hans-Jürgen Wischnewski befürwortete sie.

Der erste, der uns über diese Sitzung im Bundeskanzleramt informierte, war Herbert Wehner. Er ließ noch am selben Tag Rechtsanwalt Vogel zu sich kommen und formulierte eine Nachricht für Erich Honecker: »Wir ziehen ja an einem Strang. Ich habe ihm (Honecker) versprochen, vor einer möglichen Kriegsgefahr zu warnen. Seit heute weiß ich, daß sie sich anbahnt, ja vielleicht schon brodelt.« Wehner sah eine Lage »wie 1914«. Er hatte das Vertrauen in den Bundeskanzler verloren und beschwor Vogel: »Sagen Sie meinem Jugendfreund, Schmidt befindet sich in einem Dickicht von Wahnvorstellungen. Ob und wie er sich da rauswindet, da ist alles drin.«

Honecker versuchte im Krisenjahr 1980 gegenüber Moskau als gleichberechtigter Partner aufzutreten. Wiederholt hatte er sich besorgt über die Konzentration von Waffen, Soldaten und nuklearen Raketen auf dem Boden der DDR geäußert, aber er überschätzte seinen Einfluß. Auch Mielke glaubte noch, der atomare Aufrüstungswettlauf an der deutschdeutschen Grenze sei zu stoppen, die Stationierung von sowjetischen SS-20-Raketen zu verhindern.

Mir war immer klar gewesen, wie verletzbar die Sowjetunion angesichts einer amerikanischen Politik der Stärke und Hochrüstung war. Carters Präsidentschaft hatte im Kreml große Besorgnis ausgelöst, denn der fü r uns unberechenbare Mann präsentierte ein Rekordverteidigungsbudget von über 157 Milliarden Dollar, die er in MX- und Trident-Raketen investierte, in Cruise Missiles und Atom-U-Boote. Einer der führenden sowjetischen Nuklearstrategen vertraute mir an, daß die Ressourcen unseres Bündnisses nicht ausreichten, um da mitzuhalten.

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Als dann der eher schwache Carter von dem säbelrasselnden Antikommunisten Ronald Reagan ersetzt wurde, sah die Sowjetführung den atomaren Erstschlag der Nato als reale Gefahr. Die Stationierung der atomaren Trägerwaffen an der deutschdeutschen Grenze bedeutete eine dramatische Verkürzung der Vorwarnzeiten im Falle eines Kernwaffenangriffs der Nato.

Von Moskau wurde als Antwort auf die neue Situation ein Plan entwickelt, der alle Staaten des Warschauer Pakts einbezog. Er bekam den Tarnnamen Rjan, die Abkürzung für »Raketno jadernoje napadenije«, zu deutsch Raketen-Kernwaffen-Angriff. Dieser Plan sollte es ermöglichen, alle Anzeichen für einen bevorstehenden atomaren Angriff der Nato auf schnellstem Weg zu einer Zentrale und von dort nach Moskau zu übermitteln. Es wurde ein Katalog von Merkmalen erarbeitet, die Hinweise auf Angriffsvorbereitungen sein konnten. Unsere Quellen in den Nato-Stäben, in der BRD und den USA wurden entsprechend instruiert. Höchste Priorität hatte die Observation der Basen von Pressing 2 und Cruise Missiles, deren Standorte wir bereits erkundet und nach Moskau gemeldet hatten.

Für diese Aufgaben wurde der Stab der HVA ausgebaut. Er erhielt ein eigenes Lagezentrum, das mit einer Sonderverbindung zum Partner in Moskau ausgestattet werden sollte. Der Minister befahl allen Dienstbereichen der Staatssicherheit, Hinweise auf Angriffsvorbereitungen unverzüglich an die HVA weiterzuleiten. Eine spezielle Arbeitsgruppe des Ministers war damit beauftragt, den Bau dezentraler Kommandobunker für den Kriegsfall zu forcieren. Für die Leitung der HVA wurde ein atomsicherer Bunker in die Gosener Berge südöstlich von Berlin gegraben. Vom Nutzen solcher Anlagen war ich wenig überzeugt. Die darüberliegenden Tarnobjekte eigneten sich allerdings hervorragend für gesellige Veranstaltungen und die Unterbringung von Gästen.

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Die Durchführung der Maßnahmen im Rahmen des Plans Rjan beanspruchte viel Zeit und Kraft. Mitte der 80er Jahre ließ der von Moskau forcierte Tempodruck allmählich nach. Die Analysen, zu denen auch unsere Quelle in der Nato, Rainer Rupp, wichtige Informationen lieferte, ermöglichten uns die Einschätzung, daß eine unmittelbare Bedrohung durch einen nuklearen Raketenangriff nicht gegeben war.

Moskau konnte zufrieden sein mit den militärischen und militärpolitischen Informationen, die wir lieferten. Daneben waren die Gegengaben unserer sowjetischen Kollegen eher bescheiden. Trotz dieser Disproportion hatten wir uns nie als reine Erfüllungsgehilfen Moskaus gesehen. Auf militärischem und strategischem Gebiet erkannten wir die Führungsrolle der Sowjetunion aus Überzeugung an. Dennoch war es frustrierend zu erleben, wie die sowjetischen Bundesgenossen bei der Stationierung der atomaren Raketen in der DDR wie eine Besatzungsmacht auftraten. Wir wußten zwar, wo die Nato-Raketen stehen sollten, wo und wann aber die SS-20-Raketen in unseren Wäldern versteckt werden würden, das teilten die Freunde selbst Honecker und Mielke nicht mit. Nur so ist verständlich, daß Mielke mir wenige Wochen vor dem Eintreffen der sowjetischen Raketen erklärte: »Es kommt überhaupt nicht in Frage, daß wir Milliarden ausgeben und unsere Bäume abhacken, um Platz für die Startrampen zu schaffen. Du wirst sehen, die verhandeln weiter.« Weder er noch jemand anders aus der Staatsführung konnte verhindern, daß Schneisen und Lichtungen in die Wälder geschlagen wurden und daß die SS-20-Lafetten im Schutz der Dunkelheit, als Holztransporter getarnt, anrollten.

Im Grunde haben wir Deutschen als Statisten an den Kriegsspielen der Supermächte teilgenommen. Ob es Pläne gab, einem vorausgesagten Angriff des Gegners mit einem Erstschlag von unserer Seite zuvorzukommen, habe ich nie erfahren. Die Kreml-Führung hätte uns wohl auch nicht in solche Pläne

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eingeweiht. Die Nuklearstrategen auf beiden Seiten wußten natürlich, daß von Deutschland auch bei einem begrenzten atomaren Krieg nur ein radioaktiv verseuchtes Trümmerfeld übrig bleiben würde.

In jenem Sommer von 1980, als das Gespens t des Jahres 1914 in Europa umhergeisterte und mein Dienst sämtliche Möglichkeiten im Westen mobilisieren mußte, um eventuelle Gefahren rechtzeitig zu erfassen, begann sich hinter unserem Rücken in Polen ein neues Unwetter zusammenzubrauen. Die eskalierenden Streiks, die im Juli und August in die Gründung der unabhängigen Dachgewerkschaft Solidarnosc einmündeten, hatten unübersehbar wirtschaftliche Ursachen: Die willkürlichen Preiserhöhungen der Lebensmittel wurden von den Arbeitern nicht länger hingenommen.

Am 21. August 1980, dem 12. Jahrestag des Einmarschs der Staaten des Warschauer Vertrags in die CSSR, bestellte Mielke mich zur Beratung über die Lage in Polen. Zu 1968 bestand ein grundlegender Unterschied: Damals war die Intervention eine Reaktion auf die Politik der Führung in Prag unter Alexander Dubcek gewesen, in Polen jedoch zeichnete sich eine Erhebung ab, die von unten ausging.

Die Führung in Warschau war bestrebt, ihre Verbündeten zu beschwichtigen. In der Ministerinformation aus Warschau hieß es, die regierende Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) mobilisiere ihre Mitglieder und sei Herr der Lage. Mielke bezweifelte, daß die politische Führung die »Konterrevolution« niederhalten könne. Nach einer Unterredung mit Honecker Ende August schlug er mir vor, ob ich nicht meine guten Beziehungen nutzen und mir selbst vor Ort einen Eindruck verschaffen wolle.

Ich vereinbarte Termine mit meinem alten Bekannten Frantisek Szlachcic, der unter Gierek zum zweiten Mann in der Parteiführung der PVAP aufgestiegen war, mit Miroslaw Milewski, dem Stellvertreter des Innenministers, und mit meinem Kollegen Jan Slowikowski, dem Leiter des polnischen

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Nachrichtendienstes. Im Flugzeug ging ich nochmals eine kurze Zusammenfassung der Polen-Informationen des BND und des Auswärtigen Amtes durch. Nach Mitteilungen einer unserer Bonner Spitzenquellen wollte die SPD-Führung in Erfahrung gebracht haben, daß vom BND und Kreisen um Franz Josef Strauß Bemühungen ausgegangen seien, Verhandlungen des Streikkomitees mit der polnischen Regierung zu vereiteln; zu diesem Zweck seien den Streikenden 400 000 DM zugeflossen.

Es lohnt nicht, aus den Notizen über meine Gespräche mit den polnischen Bekannten ausführlich zu berichten. Sie spiegeln nichts als eine Mischung aus Ratlosigkeit, Beschwichtigungsversuchen, Kritik an der eigenen Führung und überheblicher Geringschätzung der intellektuellen Führer der Opposition wider. Lech Walesa wurde als ferngesteuerte, nicht sehr ernst zu nehmende Gestalt betrachtet, fast eine Witzfigur. An dieser von der Realität weit entfernten Sicht meiner Gesprächspartner änderte sich wenig bis in den Dezember des Folgejahres hinein, als in Polen das Kriegsrecht verhängt wurde.

Schon bei meiner Reise Ende August 1980 zeigte sich diese Realitätsferne darin, daß die Lagebeurteilung des Innenministeriums innerhalb von vierundzwanzig Stunden völlig umgekrempelt wurde. Man hatte mir erklärt, von den einundzwanzig Danziger Forderungen könnten zwanzig akzeptiert werden, keinesfalls jedoch die nach freien, unabhängigen Gewerkschaften; eine Legalisierung der Opposition komme auf keinen Fall in Frage. Kaum war ich wieder in Berlin und faßte gerade meinen Bericht ab, erhielt ich aus Warschau die Nachricht, das Zentralkomitee der PVAP habe sämtliche Forderungen des Streikkomitees akzeptiert. Die Reise hätte ich mir also sparen können.

Bei dieser Kraftprobe hatte sich Solidarnósc gegen den Machtapparat von Staat und Partei durchgesetzt. Die Grenzen der Gewalt waren deutlich erkennbar geworden. Der Westen schwankte zwischen Frohlocken über die ersten Erfolge auf dem

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Weg der Liberalisierung und der Befürchtung, daß der polnische Staat Aufweichungserscheinungen zeigen könnte, die die Mitglieder des Warschauer Pakts zur Intervention veranlassen würden. Der Prager Frühling mit all seinen Folgen war noch in frischer Erinnerung.

Um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, wurden innerhalb des MfS, auch in meinem Dienst, besondere Arbeitsgruppen mit dem Schwerpunkt Polen gebildet. Für die HVA stand das Beschaffen von Informationen über die Absichten westlicher Dienste, Regierungsstellen, Parteien und Organisationen hinsichtlich des Nachbarlandes im Vordergrund. Unser polnischer Partnerdienst hatte uns insbesondere um Auskünfte zu polnischen Emigrantenzirkeln und deren Aktivitäten gebeten; in München wirkte Radio Free Europe, in Paris die Emigrantenzeitschrift Kultura. Zugleich hatten wir den Auftrag, uns in Polen selbst um eine eigene Beurteilung der Lage zu bemühen.

Bei meiner zweiten Reise nach Warschau im Oktober 1980 war Milewski bereits Innenminister. Der für das große Arbeitszimmer etwas zu klein geratene Minister nahm sich viel Zeit für unser Gespräch und sparte nicht mit Kritik am neuen Generalsekretär der Partei, Kania, und an Ministerpräsident Jaruzelski. Bei Milewski konnte ich mich nie des Eindrucks erwehren, daß unsere Präsenz und mein Ausfragen seinem polnischen Nationalstolz widerstrebten.

Sämtliche Quellen aus westlichen Regierungskreisen, aus der SPD-Spitze und dem BND ließen uns erkennen, daß man im Westen ein Eingreifen der UdSSR und ihrer Verbündeten für unausweichlich hielt. Westeuropäische Politiker bemühten sich darum, eine direkte Intervention zu verhindern. Vom Papst und Kardinal Wyszynski bis zu Ratgebern aus westeuropäischen Gewerkschaften wurde bremsend auf die radikalen Führer der polnischen Gewerkschaftsbewegung eingewirkt.

Oft genug kam ich mir selbst in jenen Tagen wie gelähmt vor.

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Das Prager Szenarium von 1968 noch vor Augen, trieb Polen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft möglicherweise noch katastrophaleren Ereignissen entgegen. In Moskau und Ost-Berlin saßen alte Männer an den Hebeln der Macht, kaum fähig, mit Blick nach vorn weitsichtig und klug Entscheidungen zu treffen.

Bis in den Sommer 1981 hielten die Wechselbäder aus Streikdrohungen und trügerischer Ruhe an. Als Woijciech Jaruzelski die Führung übernahm und Kiszczak, den Mann seines Vertrauens, an Milewskis Statt zum Innenminister ernannte, riß meine wichtigste persönliche Verbindung nach Warschau ab. Als Jaruzelski Mitte Oktober zum Generalsekretär der PVAP gewählt wurde, hieß es, die polnische Führung werde nun alles tun, um die Lage aus eigenen Kräften zu normalisieren.

Die Nachricht in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember, daß in Polen das Kriegsrecht verhängt worden war, überraschte mich genauso wie Honecker und Schmidt, die am Werbellinsee bei Berlin konferierten. Jaruzelski erklärte später, durch diesen Schritt habe er einem Einmarsch sowjetischer Truppen vorgebeugt. Es scheint mir undenkbar, daß er sein Vorhaben nicht mit Moskau abgestimmt hatte.

Aus meinen Gesprächen mit Andropow und mit Krjutschkow war ich zu der Überzeugung gelangt, daß für die UdSSR nach den Erfahrungen von 1968, nach der Verstrickung in den afghanischen Bürgerkrieg und angesichts der Spannungen mit China und der demonstrativen Politik der Stärke der USA ein bewaffnetes Vorgehen in Polen nicht mehr in Frage kam. Unter diesem Aspekt war Jaruzelskis Eingreifen das kleinere Übel, das half, vorerst Luft zu gewinnen. Doch einem analytisch denkenden Mann wie Andropow mußte klar sein, daß dies keine Lösung auf Dauer sein konnte.

Je heftiger der kalte Krieg zwischen den Weltmächten geführt wurde, desto intensiver wurden die geheimen Kontakte

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zwischen Schmidt und Honecker, die inzwischen regelmäßig miteinander telefonierten. Mielke zeigte mir Niederschriften dieser Telefonate. In ihnen offenbarte sich ein Helmut Schmidt, der sehr viel nachdenklicher und beunruhigter schien, als er sich der Öffentlichkeit und selbst den eigenen Parteifreunden gegenüber präsentierte. Nach der Wende haben es westdeutsche Politiker konsequent verschwiegen oder herabgespielt, wie vertraut und vertraulich oft ihre Kontakte zu den Repräsentanten der SED waren.

Statt des abgesagten Treffens zwischen Schmidt und Honecker wurde ein Besuch des Politbüromitglieds Günter Mittag beim Bundeskanzler arrangiert. Herbert Wehner bereitete über Vogel unsere Seite auf das Gespräch vor. Wie Mittag hinterher berichtete, traf er am 17. April 1980 einen realistisch analysierenden Schmidt, dem es ganz offensichtlich ernst war mit der wiederholten Beschwörung: »Von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen.« Schmidt – so Mittag sah in der Verschlechterung der internationalen Lage eine ernste Gefahr und soll wörtlich gesagt haben: »Alles läuft aus dem Ruder.« Er fürchte einen möglichen Zusammenstoß der Großmächte. Der amerikanische Präsident erliege dem starken innenpolitischen Druck, der auf ihm laste, und die Weltmächte gerieten dadurch langsam, aber stetig in eine Konfrontation, die sehr schnell zu panischen Reaktionen eskalieren könne. Mittag zufolge beklagte der Bundeskanzler sehr offen den Druck, den Washington auf Bonn ausübte, und bat um Verständnis für die Beteiligung der BRD am Olympia-Boykott.

In Teheran war zu dieser Zeit die US-Botschaft von »Gotteskämpfern« besetzt. Mittag berichtete, daß Schmidt befürchte, der US-Präsident könne auf diese Situation irrational reagieren. In dieser bedrohlichen Lage – so Schmidt laut Mittag müßten die Kontakte zwischen den beiden Staaten unbedingt erhalten bleiben; beide Seiten müßten versuchen, auf ihre »großen Freunde« mäßigend einzuwirken. Erich Honecker solle

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wissen, daß er, Helmut Schmidt, berechenbar sei. Seitens der Bundesrepublik werde »nichts Verrücktes« passieren.

Mittag wiederum erklärte im Namen Honeckers, die Aufhebung des Beschlusses über die Raketenstationierung in der BRD sei die wichtigste friedenssichernde Maßnahme. Die formelhaften Erklärungen über das Treffen für die Öffentlichkeit ließen kaum ahnen, wie eng die Regierenden der beiden deutschen Staaten in dieser Krisensituation zusammengerückt waren. Soweit mir bekannt, soll Schmidt nach dem Gespräch mit Mittag Honecker angerufen haben; in diesem Telefonat sollen beide nochmals ihre Bereitschaft versichert haben, alles zu tun, »daß von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgeht«.

Die Menschen in beiden deutschen Staaten hatten nicht die detaillierten Informationen der politisch Handelnden, aber ein Gespür für das Bedrohliche der internationalen Lage. Beinahe zeitgleich entwickelte sich in Ost und West eine Friedensbewegung, in der sich das große Unbehagen über die herrschenden Verhältnisse bündelte. In der Bundesrepublik war die neue Massenbewegung zunächst deutlicher sichtbar. Sie protestierte gegen die Raketenstationierung und die militante Außenpolitik der USA. Konservative Politiker und Medien behaupteten sofort, die Friedensbewegung sei »vom Osten gesteuert«. Selbst Helmut Schmidt warf den Demonstranten vor, das Geschäft Moskaus und Ost-Berlins zu betreiben.

Tatsächlich schien die Bewegung für die außenpolitischen Ziele unserer Seite nützlich zu sein, und es bestand ein starkes Interesse unserer Führung, sie zu unterstützen, wenn möglich sogar zu beeinflussen. Als im Herbst 1981 die große Friedensdemonstration in Bonn organisiert wurde, gehörte die uns nahestehende Deutsche Friedensunion zu den Initiatoren. Dennoch waren die Gruppen und Personen, auf die wir einwirken konnten, in der Minderheit. Vor den Dreihunderttausend, die nach Bonn kamen, sprach unter anderen

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der Schriftsteller Heinrich Böll, der sich engagiert für Dissidenten aus sozialistischen Staaten einsetzte. Unser einziger Mann auf der Rednerbühne war der FDP-Politiker William Borm, doch auch er wäre nicht bereit gewesen, sich nach unseren taktischen Anweisungen zu verhalten.

Dem außenpolitischen Nutzen der westdeutschen Friedensbewegung für die DDR standen aus der Perspektive unserer Führung bald die innenpolitischen Auswirkungen entgegen. In der DDR organisierte sich eine eigene Friedensbewegung, die sich nicht nur gegen die Hochrüstung aussprach, sondern auch gegen die Verletzung von Menschenrechten und die vormilitärische Ausbildung an unseren Schulen. Die Staatsmacht reagierte mit Repression statt mit Dialog auf diese Erscheinung, die sie nicht unter Kontrolle bekam. So verspielte sie die Gelegenheit, mit den kirchlich beeinflußten Friedenskräften der DDR ins Gespräch zu kommen, und ging statt dessen mit administrativen Maßnahmen gegen sie vor. Die Engstirnigkeit dieser Politik war für viele unbegreifbar. Ich wandte mich dagegen, die Auseinandersetzung mit den Friedensgruppen der Staatssicherheit zu überlassen. Meine Meinungsäußerungen blieben aber auf einen sehr kleinen Kreis beschränkt.

Der Widerspruch zwischen der Friedenspolitik nach außen und der restriktiven Haltung bis hin zur Repression gegen Engagierte der Friedensbewegung im Innern wurde immer auffallender. Die dadurch erzeugte Konfusion wirkte bis in den Partei- und Staatsapparat hinein. Auf der einen Seite wurde schärferes Vorgehen gegen »ideologische Diversion« verlangt, wodurch die Schwerter-zu-Flugscharen-Gruppierungen in die Opposition gedrängt wurden, auf der anderen Seite sollte die Friedensbewegung im Westen im Einklang mit unserer Außenpolitik unterstützt werden. Dabei entwickelten sich immer engere Beziehungen zwischen den Protestierenden in Ost und West, deren Forderungen schließlich weitgehend identisch

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waren. Diese Entwicklung wirkte sich auf viele Bereiche der

Staatssicherheit aus. Die in der Abwehr für oppositionelle Gruppierungen, Jugend und Kirche Verantwortlichen konnten den Widerspruch nicht lösen. Sie sollten gegen die »feindlichnegativen Kräfte« vorgehen und durften zugleich der Außenpolitik nicht schaden. Diese unvereinbaren Anforderungen führten zu Unsicherheit unter den Mitarbeitern bis hin zum Minister. Das zeigte sich unter anderem im Verhältnis zu den Grünen in der BRD. Ihren Vertretern – darunter so prominenten Repräsentanten der Friedensbewegung wie Petra Kelly und Gert Bastian – wurde wiederholt die Einreise in die DDR verweigert, weil sie hier Mitglieder von Friedensgruppen besuchen wollten.

Gert Bastian und Petra Kelly 1983

Für den auf die Außenpolitik orientierten Nachrichtendienst war die Haltung zur Friedensbewegung einfacher. Aus unserer Sicht richtete sich die Bewegung objektiv gegen den Kurs der US-Politik und der von ihr abhängigen Regierungen. Sie hatte qualitativ und quantitativ ein ganz anderes Gewicht als ihre

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Vorgänger, die Kampagne »Kampf dem Atomtod« in den 50er und die Ostermärsche in den 60er Jahren. Unsere Analysen zeigten, daß gerade bei jungen Menschen aus bürgerlichen Familien ein grundlegender Wertewandel stattgefunden hatte.

Aufstieg und materieller Wohlstand waren ihnen weniger wichtig als Solidarität, Zusammengehörigkeitsgefühl und Selbstverwirklichung. Die moderne Technologie wurde mit Kriegsbedrohung und Zukunftslosigkeit, der kapitalistische Staat mit Entmündigung und Entfremdung gleichgesetzt. Das waren wichtige Aspekte für unsere Arbeit. Wir konnten bei Sympathisanten der Friedensbewegung neue Mitarbeiter rekrutieren. Voraussetzung war, daß sie ein Studienfach hatten, das eine Perspektive als Quelle versprach, und daß sie sich nicht auffällig politisch engagiert hatten. Denn wir wußten, daß die Aktivisten der Bewegung vom Verfassungsschutz und anderen westlichen Diensten ähnlich intensiv überwacht wurden wie die Oppositionellen in der DDR von der Abwehr.

Ein anderes Ziel unserer Arbeit war es, der Parteiführung objektivierende Informationen über die Grünen und andere Gruppierungen zu liefern, um Vorurteile abzubauen. Ich hoffte, damit auch innenpolitische Wirkung zu erzielen, die zu einem toleranteren Umgang mit der Friedensbewegung in der DDR führen könnte.

Schließlich hatte die Aufklärung auch Anteil an der Propagandaschlacht, die zwischen den Blöcken tobte. Eine kleine Friedensgruppe war für uns dabei besonders interessant. Sie nannte sich »Generale für den Frieden«. 1981 hatten sich neun ehemals hohe Militärs aus verschiedenen Nato-Ländern zusammengefunden, weil sie fürchteten, daß die atomare Hochrüstung vor allem des Westens zum nuklearen Inferno führen könne. Unter ihnen war der pensionierte General Graf Baudissin, einer der Väter der Bundeswehr und ihr demokratisches Gewissen. Aus England kam General Michael Harbottle, aus den USA Admiral John Marshall Lee, aus

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Frankreich Admiral Antoine Sanguinetti, aus den Niederlanden Admiral von Meyenfeldt, aus Italien General Nino Pasti und aus Portugal General Fransisco da Costa Gomes. Einige Monate nach der Gründung stieß Exgeneral Gert Bastian zu der Gruppe. Bastian, zuletzt Kommandeur einer Panzerdivision, hatte seinen Dienst bei der Bundeswehr quittiert, weil er die Raketenrüstung nicht mitverantworten wollte und zunehmend reaktionäre Tendenzen bei seinen Kameraden registrierte. Bastians Lebensgefährtin wurde die populärste und eindrucksvollste Repräsentantin der westdeutschen Friedensbewegung, Petra Kelly.

Die neun Militärs gewannen, so paradox es klingen mag, schnell einen herausragenden Status in der Friedensbewegung. Ihre Wirkung ging noch weit über den Kreis der Engagierten hinaus. Sie alle waren schon im Zweiten Weltkrieg Offiziere gewesen und waren in ihren Ländern hoch angesehen. Viele hatten an der strategischen Planung der Nato und damit an den Konzepten der atomaren Abschreckung mitgearbeitet. Niemand konnte ihnen, wie den jungen Aktivisten, vorwerfen, sie wüßten nicht, wovon sie redeten. Sie konnten den amerikanischen Propagandaslogan von der »sowjetischen Bedrohung« aus militärischer Sicht überzeugend widerlegen.

Kopf und Motor, vergleichbar einem Geschäftsführer der Gruppe, war der ehemalige Offizier der Bundesmarine Gerhard Kade. Er hatte den Dienst schon Jahre zuvor quittiert, war Historiker an der Universität Hamburg und Publizist geworden. Sein Hauptforschungsgebiet war die Verbindung hoher Militärs zur Rüstungsindustrie in der Bundesrepublik und den USA. Seine Erkenntnisse hatten ihn zu einer sehr kritischen Einstellung gegenüber dem militärischindustriellen Komplex in der Marktwirtschaft gebracht.

Ein großes Problem der »Generale für den Frieden« war die Finanzierung ihrer Aktivitäten. Sie mußten ihre Reisen zu den gemeinsamen Treffen, zu Vorträgen und Diskussionen

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weitgehend selber finanzieren. Sie hatten keine Mittel, ihre Analysen und Forderungen zu publizieren. Das war unsere Chance.

Ich mußte meinen Mitarbeitern keine spezielle Order geben, Kontakt zu der Gruppe zu suchen. Kurz nach ihrer Gründung meldete mir ein Mitarbeiter, daß es seiner Abteilung gelungen sei, über eine Quelle in Hamburg an den Organisator der Friedensgenerale, Gerhard Kade, heranzukommen. Der ehemalige Marineoffizier schien bereit zu Gesprächen mit Abgesandten der DDR.

Ich schickte zwei Leute, die vorgaben, im Auftrag des Ministerrats der DDR zu reisen, wie wir es häufig bei Kontakten zu potentiellen Quellen in Westdeutschland taten. Wir waren nicht so naiv anzunehmen, daß diese Behauptung wirklich geglaubt wurde. Wer ein wenig Ahnung von den Strukturen der DDR hatte, dem mußte schnell klar sein, daß er sich mit dem Nachrichtendienst einließ. Aber der Deckmantel wirkte beruhigend auf die Gesprächspartner und gab ihnen einen gewissen Schutz, und ganz Naive beließ er im Glauben, sich mit Vertretern aus Politik und Wissenschaft zu unterhalten. In solchen delikaten Dingen traten wir meist anders auf als die US-Geheimdienste, die selten ein Hehl aus ihrer Ident ität machten und gern von Anfang an Begriffe wie Anwerbung und Bezahlung im Munde führten.

Nach einigen Begegnungen und Gesprächen bekam Kade den Decknamen Super, der auch seine Bedeutung für uns ausdrückte. Kade war in den Gesprächen sehr schnell auf das Problem der »Generale für den Frieden« gekommen, die mangelnden finanziellen Ressourcen. Er meinte, ein jährlicher Zuschuß von 100000 DM würde der Gruppe die Öffentlichkeitsarbeit entscheidend erleichtern. Ich bewilligte die Summe, die selbstverständlich nicht von der HVA, sondern vom Institut für Politik und Wirtschaft als Spende ausgezahlt wurde.

Als sich herauskristallisierte, daß die Aktion zu einem großen

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Erfolg wurde, behaupteten alle möglichen Stellen in der DDR, das sei ihr Verdienst. Am ärgerlichsten war dabei die Rolle von Honeckers Schwager Manfred Feist, bis 1989 Leiter der Abteilung Auslandsinformation im Zentralkomitee. Feist erzählte Honecker, daß er der Initiator der Unterstützung für die Generäle gewesen sei.

Ich weiß nicht, ob alle Mitglieder der »Generale für den Frieden« über die Finanzierungsquelle informiert waren, besser gesagt, was sie sich unter diesem Institut vorstellten. Sie müssen sich gefragt haben, wieso in der Vereinskasse plötzlich Geld war, aber wahrscheinlich genügte ihnen Kades Erklärung, daß sich ein Sponsor eingefunden hatte.

Unsere jährliche Spende war nicht die einzige Unterstützung aus dem Osten. Gleichzeitig mit uns bemühte sich auch der KGB um eine Verbindung zu Kade und informierte mich darüber. Offenbar gelang es Kade daraufhin, den KGB zu bewegen, einen sowjetischen General dazu abzukommandieren, daß er sich um Aufnahme in die »Generale für den Frieden« bewarb, denn das war tatsächlich der Fall.

Dies bedeutete allerdings keineswegs, daß die Gruppe nun das Sprachrohr Moskaus gewesen wäre. Kade mußte die von ihm eingebrachten Vorstellungen mit der ganzen Gruppe diskutieren, und die eigenwilligen Persönlichkeiten waren kaum manipulierbar. Dennoch erkannte man in Erklärungen der Generale den Einfluß wieder, den wir über Kade ausübten.

So hatte beispielsweise Expanzergeneral Bastian ursprünglich Ost und West gleichermaßen für die Hochrüstung verantwortlich gemacht und zur Umkehr aufgefordert, während er später immer eindeutiger für Positionen des Warschauer Pakts Partei ergriff. Als er 1987 in einem Interview mit dem DDR-Radio gefragt wurde, ob die jüngste Rede des sowjetischen Außenministers Gromyko nicht der Stärkung des Friedens diene, antwortete Bastian: »Das denke ich. Ich glaube, daß die Vorschläge, die in letzter Zeit aus Moskau kommen, sehr konstruktiv sind, und ich

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hoffe, daß sie im Westen ein positives Echo finden.« Bastians Parteinahme für Moskauer Positionen führte innerhalb der westdeutschen Friedensbewegung zu kontroversen Diskussionen und stand nicht immer in Einklang mit den Erklärungen seiner Lebensgefährtin Petra Kelly.

Ich habe keine Belege dafür, ob Bastian von Kade in dessen Kontakte eingeweiht war. Die beiden haben jedoch so eng miteinander gearbeitet, daß Bastian zumindest etwas geahnt haben muß. Die Gesinnung dieses integeren Mannes war dadurch nicht zu kaufen. Für unsere Abwehr jedenfalls blieb er ein verdächtiger Kunde, dem man die Einreise in die DDR lange Zeit verwehrte.

Gerhard Kade starb 1995. Seine Verbindungen zu unserem Dienst und zum KGB wurden nie aufgedeckt. Gert Bastian nahm sich 1992 das Leben, nachdem er seine Lebensgefährtin Petra Kelly erschossen hatte.

Wenn man mich fragt, ob ich es bereue, eine so idealistische und integere Gruppe infiltriert zu haben, um sie möglicherweise zu manipulieren, kann ich das mit einem klaren Nein beantworten. Ich hatte bei dieser Aktion – im Unterschied zu einigen anderen Operationen – nie Bedenken. Wir waren schließlich weder Initiatoren der Gruppe noch ideologische Einflüsterer. Wir haben durch unsere Hilfe nur dazu beigetragen, daß ihre Stimme gehört werden konnte. Daß sich einige ihrer Mitglieder vielleicht unter unserem Einfluß außenpolitisch unseren Positionen näherten, hat der Sache nicht geschadet. Wie kaum eine andere Gruppierung haben die »Generale für den Frieden« durch ihre Kompetenz und ihren Mut einer breiten Öffentlichkeit die Kriegsgefahr in den 80er Jahren bewußtgemacht und haben dadurch die Regierenden auf einen vernünftigeren politischen Kurs gezwungen. Ich empfinde heute wie gestern größten Respekt vor diesen Männern.

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14 Aktive Massnahmen

In Bertolt Brechts ernüchterndem Stück Die Maßnahme heißt es an einer Stelle:

Welche Niedrigkeit begingest du nicht, um Die Niedrigkeit auszutilgen? Könntest du die Welt endlich verändern, wofür Wärest du dir zu gut? Wer bist du? Versinke in Schmutz, Umarme den Schlächter, aber Ändere die Welt: sie braucht es! Diese Worte könnten das Motto für jenen Aspekt der

Geheimdienstarbeit sein, den man klassisch als Desinformation bezeichnet, während er bei der Abteilung X meines Dienstes Aktive Maßnahmen genannt wurde. Viele denken beim Wort Desinformation sofort unweigerlich an Lügen und bewußte Irreführung, doch die Methode an sich ist so alt und so vielgestaltig wie die Nachrichtendienste selbst, nicht verwerflicher und nicht unmoralischer als alle nachrichtendienstlichen Aktivitäten. Wegen der negativen Assoziationen des Begriffs Desinformation heißt sie auch schwarze Propaganda oder psychologische Kriegführung.

Unsere Abteilung X entstand aus einer ursprünglich sehr kleinen Arbeitsgruppe, die wir auf eine Anregung Iwan Agajanz', eines der intelligentesten Veteranen des KGB, in den 50er Jahren eingerichtet hatten. Sie hatte die Aufgabe, mit nachrichtendienstlichen Mitteln auf die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik Einfluß zu nehmen. Obwohl sie zu einer eigenen Abteilung wurde, erreichte sie nie die Größe und Bedeutung anderer Abteilungen, da ich mir über das begrenzte Potential und die geringe Wirksamkeit solcher »ideologischer

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Kriegführung« keine großen Illusionen machte. Diese Art von Propaganda hatte ich bereits aus erster Hand

kennengelernt, als ich im Sommer 1943 in Moskau am Deutschen Volkssender eingesetzt worden war, wo wir nach dem Vorbild von Sefton Delmers berühmtem Soldatensender Calais eine Mischung aus echten Nachrichten und erfundenen Meldungen ausstrahlten, um die Deutschen zum Widerstand zu motivieren und ihre Führung zu diskreditieren. Damals hatte ich gelernt, daß solche Sendungen der Wahrheit möglichst nahe kommen müssen, um zu wirken.

Die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg wurden im kalten Krieg von beiden Seiten weiterentwickelt. Das Territorium Deutschlands bot sich als Forum für die verschiedensten Formen der Propagandaschlacht geradezu an. Im Bonner Verteidigungsministerium wurde bald nach dessen Gründung eine Abteilung »Psychologische Kampfführung« eingerichtet, deren Tätigkeit naturgemäß offensiven und nicht defensiven Charakter hatte. Von den diversen Ballon- und Flugblattaktionen des Ostbüros der SPD und anderer Organisationen, die von US-Geheimdiensten gesteuert wurden, war schon die Rede. Die USA geizten nicht mit Geldern für Aufbau und Ausbau von Zeitungen und Radiosendern; in Berlin war das der RIAS, der vor und während des 17. Juni 1953 seine Bewährungsprobe bestand, in München kamen später Radio Liberty und Radio Free Europe dazu, die Sendungen in den Sprachen der anderen Staaten des Warschauer Pakts ausstrahlten.

Daß wir schon frühzeitig alles Wissenswerte über die Abteilung »Psychologische Kampfführung«, das Bonner Gegenstück zu unserer Abteilung X, erfuhren, verdankten wir einem unserer Offiziere, der Anfang der 60er Jahre einen hochrangigen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums als Informanten anzuwerben vermochte, indem er ihm erfolgreich vorgaukelte, er arbeite für einen US-amerikanischen Dienst.

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Nach seiner Pensionierung wurde der vermeintlich für die USA tätige Spion Kreisvorsitzender des Wehrpolitischen Arbeitskreises der CSU in München und Regionalbeauftragter des Bonner Arbeitskreises für Landesverteidigung, und es gelang ihm sogar, einen einstmaligen leitenden Mitarbeiter des SPD-Ostbüros anzuwerben, einen Mann, der zum ultrarechten Flügel der CDU gewechselt war, weil er Brandts Entspannungspolitik nicht verkraften konnte. So kassierten eingefleischte Gegner unseres Systems unser Geld und beschafften uns Informationen, ohne sich etwas Böses dabei zu denken. Für den Kreisvorsitzenden des Wehrpolitischen Arbeitskreises kam es allerdings 1984 zu einem unschönen Erwachen, als er verhaftet und angeklagt wurde, weil er vierzehn Jahre lang für die DDR spioniert hatte. Wir hatten zwar erfahren, daß seine Enttarnung bevorstand, doch wir hatten ihn nicht warnen können, denn wir konnten ihm ja nicht gut die Übersiedlung in die DDR anbieten, während er sich im Glauben wiegte, CIA-Agent zu sein.

Die Hauptaufgaben unserer Abteilung für Aktive Maßnahmen bestanden darin, die subversiven Aktivitäten der gegnerischen Seite publik zu machen und gleichzeitig durch den gezielten Einsatz von Fakten und Dokumenten, angereichert mit selbstfabriziertem Material, Personen und Institutionen der Bundesrepublik in Mißkredit zu bringen, die der DDR feindlich gesonnen waren.

In diesem Zusammenhang war die Tätigkeit unserer Abteilung X in meinen Augen tatsächlich da wichtig, wo es ihr gelang, ehemalige Nazis zu entlarven und an den Pranger zu stellen und politisch ewiggestrige Scharfmacher im kalten Krieg der Unglaubwürdigkeit zu überführen. Den naiven Glauben, wir könnten mit den Nadelstichen unserer Aktiven Maßnahmen das politische System oder die Wirtschaft der Bundesrepublik merklich beeinflussen, ja sogar ernsthaft destabilisieren, habe ich hingegen nie gehegt. Wenn heute selbsternannte

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Moralwächter sich in echter oder geheuchelter Empörung darüber ereifern, daß Telefongespräche westdeutscher Politiker von uns abgehört wurden, dann kann ich dazu nur wiederholen, was ich bereits in einem Interview des Spiegel sagte, daß Politiker selbst wissen müssen, welche Gespräche man am Autotelefon führen kann und welche nicht, und daß man mehr als blauäugig sein muß, um über die Abhörpraktiken der Geheimdienste staunen zu können. Im übrigen möchte ich dazu anmerken, daß unsere Abhörvorrichtungen denen der amerikanischen NSA auf deutschem Boden, die heute noch existieren, nie das Wasser reichen konnten.

Unsere frühen Versuche, in der Bundesrepublik eigene Publikationsorgane einzurichten, mußten wir bald aufgeben, weil so etwas unsere Möglichkeiten überstieg. Statt dessen konzentrierten wir uns darauf, Kontakte zu Journalisten zu finden, doch damit gerieten wir in Kollision mit anderen Bereichen des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Mitarbeiter der Abwehr hatten die Aufgabe, die Tätigkeit von Westjournalisten nach Möglichkeit einzuschränken, während die Mitarbeiter unserer Abteilung X im Gegenteil bereit waren, ihnen sogar bei ihren Recherchen zu helfen, um sich vielfältige Kontakte zu erhalten.

Da wir natürlich nicht steuern konnten, was von dem Material, das wir an Westjournalisten weitergaben, veröffentlicht wurde, gründeten wir fiktive CDU- und SPD-Pressedienste, Die Mitte und SPD-Intern betitelt, deren Mitteilungen Spezialisten der Abteilung X verfaßten, die sich meisterhaft darauf verstanden, Stil und Diktion einzelner Bundespolitiker nachzuahmen. Für die FDP brauchten wir keinen fiktiven Pressedienst zu erfinden, weil dort mit unserer Mithilfe ein echter Dienst namens X-Informationen entstanden war. Dem Ideenreichtum unserer Mitarbeiter waren selbstverständlich dort Grenzen gesetzt, wo die Wahrscheinlichkeit ihrer Meldungen nicht mehr gewährleistet

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gewesen wäre. Doch oft genug entwickelte ihr Tun eine kaum zu bremsende Eigendynamik, und es wurden Dinge in die Welt gesetzt, die das Maß dessen überschritten, was bei einem Geheimdienst noch als erlaubt gelten kann. So muß ich es für eine bittere Ironie der Geschichte halten, daß ausgerechnet jener Mitarbeiter der Abteilung X, der Aussagen Hanns-Martin Schleyers erfunden und verbreitet hatte, die dieser während seiner Entführung getan haben soll, einer der ersten war, die nach 1989 mit ihrem Wissen bei der Boulevardpresse hausieren gingen.

Im Kampf gegen den Einfluß der DDR stand die Abteilung für »Psychologische Kampfführung« des Bonner Verteidigungsministeriums keineswegs allein, sondern sie genoß Schützenhilfe seitens politischer Vereinigungen und prominenter Politiker des rechten Spektrums sowie ihnen verbundener Medien. Neben Gerhard Löwenthal mit seiner Fernsehsendung und allen Blättern des Zeitungskönigs Axel Springer, die bis weit in die 80er Jahre die Bezeichnung DDR in Gänsefüßchen schreiben mußten, hatte sich vor allem die Illustrierte Quick auf das sozialistische Deutschland eingeschossen. Nun war ihr Chefredakteur für uns kein Unbekannter, handelte es sich doch um ebenjenen van Nouhuys, der von 1954 bis Anfang der 60er Jahre unter dem Decknamen Nante als Agent für uns gearbeitet hatte und obendrein für den BND Doppelagent gewesen war. Trotz des ungeschriebenen Gesetzes, niemals einen Agenten preiszugeben – auch wenn er seit ewigen Zeiten nicht mehr aktiv war -, ließ ich mir schließlich das Einverständnis abringen, daß dem Stern eine Quittung mit van Nouhuys' Unterschrift ausgehändigt wurde, anhand deren das Hamburger Magazin ihn beweiskräftig bezichtigen konnte. So problematisch ich es noch heute finde, einen solchen Schritt zu tun, der an Vertrauensbruch grenzt, so unumgänglich erschien es mir damals zu handeln, um van Nouhuys mundtot zu machen. In seinem Blatt hetzte er

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unermüdlich gegen die Ostverträge, so daß wir zu fürchten begonnen hatten, die Verträge könnten torpediert werden.

Interessanterweise mußte der Stern nach seinen Enthüllungen über Jahre hinweg einen Rechtsstreit gegen van Nouhuys und dessen Verlag führen, den er am Ende nur deshalb gewann, weil van Nouhuys nicht beweisen konnte, daß er kein Spion gewesen war. Die Wahrheit allein nützt in juristischer Hinsicht eben herzlich wenig. Daß van Nouhuys nach der Wiedervereinigung in den eigens für die neuen Bundesländer erfundenen Boulevardpostillen als Experte über die Stasi und die HVA das große Wort führte, kann man nur als Witz am Rande dieses finsteren Gewerbes auffassen…

Heinz van Nouhuys 1981

Weniger erfolgreich als die Bloßstellung van Nouhuys' waren unsere Bemühungen, Politikern wie Franz Josef Strauß, Alfred Dregger oder Werner Marx durch gezielt ausgestreute Mischungen aus Fakten und Gerüchten zu schaden. Strauß war für solche Fallstricke schlicht eine Nummer zu groß; mit dem

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Vorwurf der Bestechlichkeit gegen ihn konnten wir niemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Und in anderen Fällen war der Aufwand das Ergebnis nicht wert, denn trotz kurzfristiger Empörung waren die Folgen unserer Enthüllungen gleich Null. Wir mußten daraus die Lehre ziehen, daß Skandale und Skandälchen um Politiker genau wie das Privatleben von Fußballspielern oder Schauspielern zum Alltagsgeschehen der westlichen Boulevardpresse gehörten – heute in aller Munde, morgen vergessen.

Anders jedoch sah es mit unseren Aktivitäten gegen ehemalige Nazis in der Bundesrepublik aus und mit unseren Bemühungen, die Friedensbewegung zu unterstützen. Wie ich bereits sagte, versuchten wir, in vorsichtiger Dosierung der West-Friedensbewegung unter die Arme zu greifen, ohne dabei in zu offene Konflikte mit der eigenen politischen Führung zu geraten. Bei unseren Maßnahmen gegen Altnazis in der Bundesrepublik hatten wir dergleichen nicht zu befürchten.

Schon in den ersten Nachkriegsjahren waren in der Bundesrepublik zahlreiche Amtsträger des Hitlerreichs in der Regierung Adenauer wieder in Amt und Würden gelangt, und das auf allen Ebenen in Parteien, Armee, Justiz, Staatsapparat und auch im Geheimdienst. Dabei handelte es sich in der Mehrzahl keineswegs um sogenannte kleine Mitläufer. Adenauers Staatssekretär Globke darf man getrost als Symbolfigur dieses Personenkreises betrachten.

Unter der Leitung Professor Albert Nordens, eines jüdischen Kommunisten, der das Dritte Reich in den USA überlebt hatte, veranstalteten wir in den 50er Jahren Pressekonferenzen in der DDR, auf denen die NS-Vergangenheit von Politikern und Staatsbeamten der Bundesrepublik aufgedeckt wurde. Damals wie später erbrachten solche Aktionen häufig den gewünschten Effekt: Minister Theodor Oberländer und Ministerpräsident Hans Filbinger mußten zurücktreten, Georg Kiesinger und Heinrich Lübke mußten zugeben, daß sie ihre Biographien

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geschönt hatten. Es gelang uns sogar, 1972. den seinerzeitigen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hubert Schrubbers, durch die Konfrontation mit seiner Vergangenheit im Dritten Reich in den vorzeitigen Ruhestand zu befördern einen Mann, der wie Reinhard Gehlen zu den Ziehvätern mehrerer Generationen leitender Bundesbeamter zählte und der wie Gehlen selbst im NS-Staat geprägt worden war.

Unsere Unterstützung für das Ehepaar Klarsfeld brachte uns wiederum mit der Abwehr im Ministerium für Staatssicherheit in Konflikte, denn die Klarsfelds standen lange Zeit auf der Liste unerwünschter Personen, weil sie auch in sozialistischen Staaten gegen den Antisemitismus protestiert hatten. Meinem Dienst gelang es, die Einreiseerlaubnis für sie zu erwirken und ihnen Zugang zu den Archiven zu verschaffen, die sie konsultieren wollten. Dadurch wurde ihnen wie jedermann, der in Kontakt zu unserem Dienst geriet, in der Abteilung X eine Akte und Decknamen zugeteilt, ohne daß sie die geringste Ahnung davon gehabt hätten. Jeder, der mit den Gepflogenheiten der Staatssicherheit und meines Dienstes auch nur entfernt vertraut ist, wird mir darin zustimmen, daß es nur lachhaft sein kann, die Klarsfelds aufgrund dessen als Parteigänger der DDR oder gar der Stasi diffamieren zu wollen.

Nicht weniger peinlich als der Versuch, aufrechte Gerechtigkeitskämpfer wie das Ehepaar Klarsfeld zu Stasi-Handlangern abzustempeln, ist das immer wieder bemerkbare Bemühen, meinem Dienst die besorgniserregenden Umtriebe neonazistischer Natur in die Schuhe zu schieben, die in den alten wie den neuen Bundesländern unkontrollierbar aufflackern.

Es ist eine Sache, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Hort braunen Gedankengutes und die Auswüchse solchen Tuns zu lenken, und eine andere, dergleichen gezielt zu unterstützen und zu fördern. Ich überlasse es dem Urteilsvermögen des Lesers zu entscheiden, ob gerade ich als Sohn eines jüdischen Vaters der Richtige gewesen wäre, die

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Schändung jüdischer Friedhöfe oder andere neonazistische Schandtaten zuzulassen oder zu initiieren. Um die vierzig Jahre DDR-Staat restlos »abzuwickeln«, wird der Antifaschismus der DDR als verordneter Antifaschismus diffamiert. Mit Enthüllungen über Nazis in der DDR will man die Vergangenheit der beiden deutschen Staaten relativieren. Von da ist es dann nicht mehr weit zur Gleichsetzung der NS-Greueltaten und solchen Unrechts, wie es in der DDR geschah.

Dazu muß ich sagen, daß sich die Geschichte der DDR nicht durch verordneten Antifaschismus und Kadavergehorsam erklären läßt. Solche Denkmodelle lassen den tatsächlichen Enthusiasmus für eine neue und möglicherweise bessere und gerechtere Gesellschaftsordnung, wie sie uns damals vorschwebte, völlig außer acht. Mag unsere politische Führung die Staatsbürger ihres Landes damals noch so vorschnell pauschal von der Mitschuld am Dritten Reich freigesprochen und die Hinterlassenschaft der braunen Zeit einseitig der Bundesrepublik zugeschoben haben – wahr bleibt doch, daß in der DDR ein echter und ungeheuchelter Glaube an einen wirklichen Neuanfang bestand.

Deutlich erinnere ich mich an die Besorgnis meines Vaters angesichts der Gefahr, zur Tagesordnung überzugehen und die Frage der Mitschuld des deutschen Volkes unter den Teppich zu kehren. Aus diesem Grund schrieb er sein Drama Was der Mensch säet und ebenso das Drehbuch zu dem DEFA-Film Rat der Götter, in dem es um die unheilige Allianz aus Kriegsverbrechern und der modernen Großindustrie geht.

Selbst in den letzten Jahren der DDR, als antifaschistische Bekenntnisse oft nur mehr bloße Worthülsen bildeten, war der Antifaschismus doch in der Kunst, an den Hochschulen und Universitäten und nicht zuletzt in den Dissidentenzirkeln noch immer lebendig. Diese Menschen waren auch damals noch davon überzeugt, es sei möglich, in der DDR die bessere deutsche Alternative zu schaffen. Ihre Tragik war, daß sie sich

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dabei an dem immer sichtbarer werdenden Widerspruch zwischen ihren sozialistischen Idealen und der realsozialistischen Wirklichkeit aufrieben.

Ende der 70er Jahre war das Vertrauen des Ministeriums zu meinem Dienst nicht zuletzt wegen Aktivitäten der Abteilung X auf einem Gefrierpunkt angelangt. Eine Veröffentlichung des Spiegel trug dazu bei, diese Lage zuzuspitzen. Es handelte sich um ein sogenanntes Manifest eines sogenannten Bundes Demokratischer Kommunisten Deutschlands, in dem eine scharfe Abgrenzung zwischen Reformkommunismus und Stalinismus vorgenommen wurde. Als erste Reaktion verfügte unsere Führung umgehend die Schließung des Ost-Berliner Spiegel-Büros, und dem schloß sich in allen Parteiorganisationen der SED eine massive Kampagne gegen »Aufweichung« an.

Kaum war das »Manifest« erschienen, wurde ich zu Mielke bestellt. Mit ernster Miene eröffnete er mir, es sei erwiesen, daß Hermann von Berg, schließlich ein Mitarbeiter der HVA, dafür verantwortlich sei und daß bereits gegen ihn ermittelt werde. Aber ich kannte nicht nur von Berg, sondern auch Mielkes Art zu bluffen. Recht hatte Mielke insofern, als von Berg tatsächlich seit längerem mit unserer Abteilung X in Verbindung stand, weil er als stellvertretender Leiter des Presseamtes beim Ministerrat der DDR gute Beziehungen zu Politikern der Bundesrepublik und West-Berlins ebenso wie zu gut informierten Journalisten, darunter des Spiegel, unterhielt. Auf meine Frage, wie die Autorenschaft von Bergs an dem ominösen Manifest bewiesen worden sei, schwieg Mielke genauso eisern wie sein anwesender Stellvertreter Bruno Beater.

Später erst konnte ich mir allmählich zusammenreimen, was geschehen war: Von Berg war von seinem ehemaligen Vorgesetzten, dem Leiter des Presseamtes, einem Vertrauten Beaters, schon immer argwöhnisch beäugt worden und deshalb als mutmaßlicher Verfasser des Manifests in Verdacht geraten.

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Die mit dem Fall beauftragte Abwehrabteilung hatte ihn an einen geheimen Ort verbracht, wo sie ihn isoliert gehalten und Verhören unterworfen hatte. Einiges davon war durchgesickert, und der Spiegel und andere Medien hatten mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg gehalten.

Immerhin konnte ich Mielke mit Hinweis auf die politischen Missionen von Bergs gegenüber Willy Brandt die Zusage abringen, daß ihm kein Prozeß gemacht werden würde. Das brachte Mielke auf die Idee, daß es Aufgabe meines Dienstes sei, von Berg nach dessen Entlassung aus dem Hausarrest milde zu stimmen, damit er nicht etwa in den Westen ging und dort die Behandlung, die ihm zuteil geworden war, an die große Glocke hängte. Letzten Endes ließ sich das nicht verhindern, obwohl es uns gelang, von Berg relativ lange zum Bleiben zu überreden. Als er schließlich nicht mehr davon abzuhalten war, den Ausreiseantrag zu stellen, trennte er sich von meinen Mitarbeitern im Einvernehmen, Diskretion über die Zusammenarbeit zu wahren. Daran hielt er sich auch dann noch, als er von der Bundesrepublik aus die Politik der DDR-Führung scharf angriff.

Wie das ominöse Manifest in die Welt gesetzt worden war, das allerdings bleibt vorläufig noch das zwischen von Berg und dem Spiegel gehütete Geheimnis.

Im Frühjahr 1979 hatte Mielke eine unabhängige Kommission eingesetzt, die sich mit einem Phänomen in der Hauptabteilung IX seines Ministeriums befassen mußte, der Hauptabteilung Untersuchung, die Mielke direkt unterstand und von ihm stets allen anderen als Vorbild präsentiert wurde. Obwohl alles streng geheim ablief, sickerte doch das eine und andere durch, und so hörte ich zum erstenmal von dem Begriff ASA – Agent mit spezieller Auftragsstruktur. Worum handelte es sich dabei? Hin und wieder kam es vor, daß in den Westen desertierte Angehörige der Nationalen Volksarmee zurückkehrten, weil ihre Illusionen vom goldenen Westen der nüchternen Realität nicht

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standgehalten hatten. Ihre Lage war mißlich; einerseits ließ ihre Rückkehr sich propagandistisch gut ausschlachten, andererseits mißtraute man ihrer Loyalität und ihrer politischen Zuverlässigkeit. Nach ihrem Eintreffen wurden sie in Haft genommen und auf Herz und Nieren überprüft. Besonders wichtig war es herauszufinden, ob westliche Geheimdienste sie in der Bundesrepublik anzuwerben versucht hatten, und wenn ja, mit welcher Aufgabenstellung.

Im südlichen Grenzbezirk der DDR, in Suhl, wo die Ergebnisse dieser Befragungen meist dürftig ausfielen, kamen findige Vernehmer auf die Idee, die Untersuchungshäftlinge mit Hafterleichterungen und Versprechungen dazu anzustiften, mit ihnen zusammen wahre Räuberpistolen zu ersinnen. So entstand das Lügengespinst um die »Agenten mit spezieller Auftragsstruktur«, die angeblich vom amerikanischen Geheimdienst in den Auffanglagern für Flüchtlinge ausgebildet worden waren. Der jahrelang geführte Propagandakrieg zwischen DDR und BRD und die ständige Furcht vor einem »kleinen« oder »verdeckten« Krieg hatten eine Atmosphäre entstehen lassen, in der solche Lügenmärchen anstandslos geschluckt wurden, obwohl allein schon die Bezeichnung ASA verdächtig nach DDR-Sprachgebrauch und kein bißchen amerikanisch klang.

Die Lawine war losgetreten und bald nicht mehr zu bremsen. Ein Häftling nach dem anderen entpuppte sich als ASA. Zu meiner nicht geringen Verblüffung erwähnte Mielke in meinem Beisein Andropow gegenüber bedeutungsvolle Informationen und überreichte ihm mysteriöse Unterlagen über ein feindliches Mini-U-Boot, das seine Abwehr – wohlgemerkt, nicht etwa die Aufklärung – entdeckt haben wollte. Erst viel später erfuhr ich, daß dieses ominöse U-Boot dem Hirn eines besonders phantasiebegabten ASA-Untersuchungshäftlings entstammte und von dort über die gesamte Dienststufenleiter bis auf den Tisch des Ministers gelangt war. Daß Gutachter und

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Marineexperten über die Angaben in den U-Boot-Dokumenten nur den Kopf geschüttelt hatten, war dabei unter den Tisch gekehrt worden. Wahrscheinlich hatten die Verantwortlichen in der Hauptabteilung IX zu jenem Zeitpunkt bereits erkannt, daß sie frei erfundenen Geschichten aufgesessen waren, aber nicht den Mut gefunden, der Sache Einhalt zu gebieten. Inzwischen hatten die ASA jedoch ihre Eigendynamik voll entwickelt; »wissenschaftliche« Arbeiten wurden über sie verfaßt, und Schulungsmaterialien über sie waren in Umlauf.

Rechtsanwalt Wolfgang Vogel machte dem Spuk ein Ende. Ihm waren bei der Verteidigung eines Mandanten sonderbare Dinge aufgefallen, und er hatte aus ihm herausbekommen, wie die ASA zustande gekommen waren. Da Vogel über Oberst Heinz Volpert eine Sonderbeziehung zum Minister hatte, war er in der Lage, Mielke dazu zu bewegen, ihm Gehör zu leihen.

Das war der Grund für die hochgeheimen Untersuchungen in der Hauptabteilung IX. Ihr Ergebnis war eine Dienstkonferenz, bei der auch ich zugegen sein durfte und auf der Mielke auch wenn es ihm sichtlich schwerfiel, zum Thema zu kommen – die ungeheuerlichen Vorgänge und Manipulationen beim Namen nannte, die Hauptabteilung IX streng verurteilte und Selbstkritik übte. Explizit wandte er sich gegen Amtsmißbrauch und Willkürhandlungen gegenüber Häftlingen und vertrat den Standpunkt, im Zweifelsfall sei zugunsten des Beschuldigten zu entscheiden. Solche Töne war man von ihm sonst nicht gewohnt, und nur sein Standardcredo »Feinde müssen wie Feinde behandelt werden«, mit dem er schloß, bewies, daß er noch der alte war.

Die personellen Konsequenzen aus dem Skandal beschränkten sich auf ein paar Versetzungen, mit denen die unmittelbar Verantwortlichen in anderen Dienstbereichen »versteckt« wurden. Dennoch schien die Konferenz und der Umstand, daß Mielke die Beschwerden des Anwalts nicht vom Tisch gewischt hatte, deutlich zu machen, daß die Tätigkeit des MfS künftig

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stärker vom Einhalten der Rechtsnormen geprägt sein würde.

Mit Erich Mielke 1983

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Tatsächlich zeugten in der Folgezeit manche Entscheidungen gegenüber Intellektuellen und Ausreisegenehmigungen in Fällen, wo vordem mit Festnahmen zu rechnen gewesen wäre, von einer Unsicherheit, die neu war. Die DDR mußte zeitweilig ihre Repressionen lockern, wollte sie nach innen wie nach außen politisch glaubwürdig sein, und das wiederum nährte bei mir wie bei vielen anderen die noch immer nicht ganz erloschene Hoffnung darauf, daß politische Vernunft und Sinn für Realitäten sich in unserem Land doch noch durchsetzen würden.

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15 Die Entdeckung der dritten Welt

Am 12. Januar 1964 wurde die Volksrepublik Sansibar ausgerufen. Ein besonderes Ereignis? Sämtliche Kolonialreiche befanden sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Auflösung, eine Kolonie nach der anderen proklamierte ihre Unabhängigkeit. Was sollte das Besondere an Sansibar sein, von dessen Existenz höchstens die Briefmarkensammler in Europa wußten? Aus meiner Kindheit erinnerte ich die Marken des Sultanats mit den hohen Hüten auf fremdländischen Köpfen. Aber ausgerechnet diese neue Republik, die aus zwei kleinen Nelkeninseln bestand, hatte als erstes nichtsozialistisches Land beschlossen, die Deutsche Demokratische Republik diplomatisch anzuerkennen und der Hallstein-Doktrin zu trotzen, die den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik formulierte.

Vielleicht waren Präsident Scheich Obeid Amani Karume, der den Vorschlag junger Mitglieder seines Revolutionsrates aufgriff und der DDR die Aufnahme diplomatischer Beziehungen anbot, die internationalen Weiterungen seines Tuns auch gar nicht klar. Wie dem auch sei, mit dem Angebot ging eine Reihe von Hilfsersuchen einher, unter anderem in Fragen der Sicherheit und des Grenzschutzes. Sansibar benötigte einen Sicherheitsberater. Das Ministerium für Staatssicherheit mußte einen kompetenten Mann mit Wissen und Autorität in ein völlig unbekanntes Land entsenden, und auserwählt wurde General Rolf Markert, der im Konzentrationslager Buchenwald interniert gewesen war und nach dem Krieg zuerst in die Polizei eingetreten und von dort in die Staatssicherheit gewechselt war. Da Mielke fand, zumindest für den Anfang solle jemand mitreisen, der außenpolitische Erfahrung besaß, schlug ich kurzerhand mich selbst vor, und zu meinem nicht geringen Staunen stimmte er nach längerem Zögern tatsächlich zu.

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Damals war es eine waghalsige Idee, als Chef eines sozialistischen Nachrichtendienstes durch Länder zu reisen, die gute Beziehungen zu Nato-Mitgliedstaaten unterhielten. Aber Mielke beschränkte sich darauf, uns ausführlich zu belehren und zu absoluter Verschwiegenheit jedermann, auch meinem ersten Stellvertreter gegenüber, zu verpflichten. Er kümmerte sich persönlich um Sicherheitsmaßnahmen und ließ sogar für den Fall der Fälle einen Fluchtplan ausarbeiten. Dann erhielten wir DDR- und BRD-Pässe und mußten uns bei einem Maskenbildner interessanten Veränderungen unterziehen, die uns offenbar zu Experten der Erwachsenenbildung machten, denn so lautete unsere neue Berufsbezeichnung. Als wir uns gegenseitig betrachteten, brachen wir in schallendes Gelächter aus.

Zuerst ging es mit einer Linienmaschine nach Kairo. Markert flog zusammen mit dem stellvertretenden Außenminister Wolfgang Kiesewetter, dem Leiter unserer Delegation, in der Ersten Klasse, während ich in der Touristenklasse saß, um nicht aufzufallen. Ein Sandsturm über Kairo zwang den Piloten umzukehren und in Athen zu landen. Mielkes Befürchtungen hatten zu Recht bestanden: Unsere Delegation wurde auseinandergerissen und auf verschiedene Hotels verteilt, unsere Papiere waren von einem Beamten in einem Schuhkarton davongetragen worden. Wir wußten, daß ein DDR-Diplomatenpaß in einem Nato-Staat keinerlei Schutz gewährte.

Am nächsten Morgen konnten wir unsere Reise fortsetzen, nachdem ich eine geschlagene halbe Stunde damit verbracht hatte, meinen falschen Bart wieder so anzukleben, daß eine gewisse Ähnlichkeit zum Paßfoto gewährleistet war. In Kairo, Addis Abeba und Mogadischu mußten wir wieder warten, und in Nairobi nahm man uns die Papiere weg und verweigerte uns den Anschlußflug. Zweifellos hielt man uns seit Athen im Auge, und in Kairo hatten wir beim britischen Konsulat Visa für unsere Reise in die Ostafrikanische Union beantragen müssen.

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Da saßen wir nun mit mulmigen Gefühlen, doch als Retter in der Not erschien Oginga Odinga, der kenianische Außenminister und spätere Vizepräsident, der mit Kiesewetter bekannt war und dessen Sohn in der DDR studierte. Dank seiner Intervention ließ man uns weiterfliegen. Nachdem wir den Äquator überquert hatten, überflogen wir ganz dicht den schneebedeckten Krater des Kilimandscharo und schlingerten mit unserer Maschine von einem kleinen Flughafen zum nächsten. Markert bekam diese Art des Fliegens überhaupt nicht, und ich machte mir ernste Sorgen um sein Herz.

In Sansibar 1964

Unsere Landung aus Sansibar wird mir unvergeßlich bleiben. Die Ankunft unserer Delegation war ein Großereignis für das kleine Land. Der gesamte Revolutionsrat und sämtliche Honoratioren mit Präsident Karume an der Spitze hatten sich vor dem Flughafengebäude eingefunden. In angemessener Entfernung hatten eine uniformierte Ehrenkompanie und eine Kapelle Aufstellung genommen. Kiesewetter mußte nun zu den Klängen eines Strauß-Walzers die Ehrenkompanie abschreiten,

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denn die Noten der DDR-Nationalhymne befanden sich noch in unserem Gepäck.

Sansibar erfüllte alle Klischees, die man von Afrika kennt -üppige Natur, herrliche Strande, einmalige Sonnenuntergänge. Die Armut zeigte sich nicht so brutal wie in anderen Ländern. Es gab keine bettelnden Kinder, und allerorts war die politische Aufbruchstimmung zu spüren. Als Vertreter der DDR waren wir überall willkommen; die DDR hatte Sansibar geholfen, und man erwartete viel von uns. Später, bei meinem letzten Besuch, war von diesem Optimismus nichts mehr zu spüren.

Es fiel uns, die wir gewohnt waren, Aufgaben nach festen Schemata zu lösen, anfangs nicht leicht, die völlig andersgeartete Denk- und Verhaltensweise zu verstehen und uns ihr anzupassen. Dennoch glaube ich auch im Rückblick, daß es uns alles in allem besser als den einstigen Kolonialherren und auch besser als unseren sowjetischen Freunden gelungen ist. Anfangs kostete es viel Geduld, tagelang auf Gesprächstermine zu warten und mit ständig neuen Ansprechpartnern immer wieder von vorn zu beginnen. Besonders mühsam war es, mit Ibrahim Makungu, dem designierten Leiter des Sicherheitsdienstes, ins Gespräch zu kommen. Bei unserer ersten Begegnung saß er mir eisern schweigend gegenüber. Allem Anschein nach hatte der Präsident ihn instruiert, sich von uns alles Wichtige erzählen zu lassen und selbst nichts zu verraten. Das nahm er so wörtlich, daß er uns nicht einmal seinen Namen sagte. Erst durch unseren Koch erfuhr ich, wie er hieß, und unser Koch erzählte mir auch, daß Ibrahim Makungu vor der Revolution bei der britisch geleiteten Special Branch – unserer Kriminalpolizei vergleichbar – gearbeitet hatte. Jahre später war das Vertrauensverhältnis zwischen uns so weit gediehen, daß er bei einem Berlin-Besuch sogar seine Frau mitbrachte.

Die Ansprüche unserer Partner wuchsen schnell, und wenn wir ihre Wünsche nicht erwartungsgemäß erfüllten, ließen sie

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sich die Unzufriedenheit anmerken. Immer wieder wurden wir nachdrücklich auf den desolaten Zustand der Geräte und Schiffe des Dienstes und auf die jämmerliche Infrastruktur hingewiesen.

Es war schwierig, sich in den widerstreitenden Interessen und Zielen zurechtzufinden: Manche unserer Partner bezeichneten sich als Sozialisten, andere waren strenggläubige Moslems, denen unsere Weltanschauung ein Greuel sein mußte.

Die Regierung war ein getreuer Spiegel des Landes: Während Präsident Karume, vormals Führer der Seemannsgewerkschaft und Chef der Afro-Shirazi-Partei, dem englischen Trade-Unionismus zuneigte, vertraten seine Vizepräsidenten Abdallah Kassim Hanga und Abdulrahman Mohammed Babu die widerstreitenden Modelle des sowjetischen und des chinesischen Sozialismus. Hanga hatte in der Sowjetunion studiert und dort promoviert, und Nbabu demonstrierte seine Nähe zum Maoismus dadurch, daß er bei Staatsempfängen auf einem altersschwachen Grammophon immer wieder die Internationale abspielte.

Diese Widersprüche erklären auch, warum die DDR von Sansibar auserkoren wurde. Es war ein simples politisches Kalkül und nicht Naivität, Anschluß an ein Land zu suchen, das wirtschaftlich interessant genug war, um Sansibar unter die Arme greifen zu können, und das klein und weltpolitisch unbedeutend genug war, daß Sansibar es sich nicht mit den Handelspartnern verdarb – vor allem seiner ehemaligen Kolonialmacht England –, die ihm eine enge Bindung an eine sozialistische Großmacht vielleicht verübelt hätten.

Drei Monate nach unserer Ankunft beunruhigten uns Gerüchte über eine mögliche Vereinigung Sansibars mit dem Festlandsstaat Tanganyika. In einem solchen Fall mußten wir den Abbruch der eben erst begonnen Beziehungen befürchten, denn Julius Nyerere, der Präsident Tanganyikas, unterhielt enge Beziehungen zu Großbritannien. Ende April befand ich mich auf einem Inspektionsbesuch auf der Insel Pemba, nachdem meine

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Partner mir kategorisch versichert hatten, an eine Vereinigung der beiden Länder sei in absehbarer Zeit nicht zu denken, was der Provinzgouverneur Pembas nur bestätigen konnte. Kurz vor Mitternacht des 24. April überbrachte man uns die Nachricht, daß die Vereinigung stattgefunden habe und das vereinigte Land nun Tansania heiße. Wir brachen unseren Besuch sofort ab und flogen am nächsten Morgen nach Sansibar zurück. Berlin drängte auf meine Rückkehr, das DDR-Handelsschiff Halberstadt verzögerte seine Rückfahrt eigens, um mich mitnehmen zu können. Schließlich lichtete es seinen Anker ohne mich. Zum einen schien mir die Aufgabe vor Ort zu wichtig, zum anderen wäre ich mir schäbig vorgekommen, den anderen einfach davonzufahren.

Entgegen unseren Befürchtungen bewahrheitete sich das, was unsere sansibarischen Freunde vorausgesagt hatten; Sansibar bewahrte sich einen hohen Grad an Selbständigkeit, auch was seinen Sicherheitsdienst betraf. Das Bild Staatspräsident Nyereres hing in den Amtszimmern immer etwas unterhalb dem des Vizepräsidenten Karume, und bei Revolutionsfeiern war Nyerere einer unter vielen Ehrengästen. Der Revolutionsrat Sansibars wurde bis zu Karumes Ermordung im Jahr 1972 nicht in seinen Rechten beschnitten.

Sansibar war unser erster Schritt in das Neuland der dritten Welt. Wir waren überzeugt, durch das, was wir leisteten, das Freiheitsstreben der afrikanischen Völker zu unterstützen. Das war vielleicht eine etwas naive Vorstellung, doch die meisten unserer Leute, die in jenen Jahren in der dritten Welt tätig waren, empfanden sich nicht so sehr als Geheimdienstler, sondern als Mitakteure in einem revolutionären Prozeß.

Eine negative Folge unserer Unterstützung wurde uns bald bewußt, doch ändern konnten wir sie nicht mehr: Der Sicherheitsapparat Sansibars nahm eine für das kleine Land unverhältnismäßige Größe an. Wir hatten es zu gut gemeint und unsere Partner zu gründlich so ausgebildet, wie es unseren

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eigenen Strukturen entsprach. Von heute aus mag man unser ganzes Engagement in den

Ländern der dritten Welt als gescheitert betrachten. Sozialistische Ökonomen wie kapitalistische Fachleute warnen seit langem davor, ethnische Traditionen und die sehr unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen in Wirtschaft, Kultur und Bildung zu ignorieren. Die von erster und zweiter Welt oktroyierte forcierte Industrialisierung hat sich weder als sozial verträglich noch als effektiv erwiesen.

Ähnliche Erkenntnisse machten wir in der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsdiensten der Drittweltstaaten. Unser Einfluß blieb stets minimal, verglichen mit dem des Regimes, dem die Dienste jeweils zuarbeiteten. So war es in Sansibar, so im Sudan, im Südjemen, in Äthiopien und Mosambik, all jenen Ländern, zu deren Sicherheitsorganen mein Dienst engere und langfristige Beziehungen unterhielt.

In den 60er und frühen 70er Jahren sahen wir das noch nicht so. Vor allem sahen wir unsere Aufgabe nicht nur im Vermitteln unseres spezifischen Wissens, sondern darin, der DDR politische Anerkennung in der nichtsozialistischen Welt zu verschaffen. Im April 1969 folgten sieben weitere Länder dem Beispiel Sansibars und erkannten die DDR an. Syrien und Ägypten scherten sich trotz massiver Interventionen der Bundesrepublik nicht länger um die Haustein-Doktrin, der Sudan, beide Jemen, Kongo (das spätere Zaire), Kampuchea und die rhodesische Freiheitsbewegung ZAPU suchten den Kontakt.

Ich zweifelte nicht an der politischen Bedeutung solcher Beziehungen, sehr wohl aber an der Notwendigkeit, daß sie gar so sehr ausuferten, denn sie hielten uns von der eigentlichen Arbeit ab. So sehr ich mich gegen die Aufnahme neuer Beziehungen sträubte, so gering war mein Einfluß auf die Entscheidungen der politischen Führung. Wir mußten uns wohl oder übel beugen, und wichtige Mitarbeiter für Jahre in ferne Gefilde der dritten Welt abkommandieren.

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Eine Zeitlang hatten die Beziehungen zu Ägypten besonderen Stellenwert. Nach dem Sechs-Tage-Krieg entwickelte sich auf Initiative des Innenministers General Sharawi Goma'a ein enger Kontakt. Mein Stellvertreter wurde in Kairo mit allen Ehrenbeizeigungen empfangen und nach intensiven Gesprächen mit persönlichen Grüßen Präsident Nassers verabschiedet. Der Schock über den verlorenen Krieg saß so tief, daß man sich in Ägypten einredete, Israel habe nur durch Spionage und Sabotage den Sieg errungen. Meine Leute sollten den Ägyptern nun helfen, die israelischen Spione in der Regierung und im Militär Ägyptens zu lokalisieren. Als wir Nasser erklärten, daß wir keine Agenten in Israel unterhielten, war die Enttäuschung groß. Uns wiederum gelang es nicht, von Nassers Geheimdienstchef irgend etwas Substantielles über die Aktivitäten der Nato-Länder in Nahost in Erfahrung zu bringen. So kamen wir schnell zu der Überzeugung, daß der Informationsaustausch mit Ägypten wertlos und reine Zeitverschwendung war. Er wurde von beiden Seiten eingestellt, gewiß nicht ohne beiderseitige Erleichterung. Die Beziehungen zu Goma'a blieben jedoch bestehen, bis dieser zusammen mit anderen Nasser-Anhängern 1970 von Nassers Nachfolger Anwar Sadat als Hochverräter vor Gericht gestellt wurde. Von da an beschränkte die Zusammenarbeit sich auf den Kontakt des Verbindungsoffiziers, der in unserer Botschaft als sogenannter legaler Resident – das heißt, als Botschaftsangehöriger – etabliert war. Besonders aussichtsreich ließ sich für uns die Zusammenarbeit mit dem Sudan an, in dem am 25. Mai 1969 eine Gruppe progressiver Offiziere die Macht ergriffen hatte, angeführt von Ga'afar Mohammed el Numeiri. Bis auf ihn, den vormaligen Leiter der sudanesischen Militärakademie, war keiner der Revolutionäre älter als Anfang Dreißig. Ihnen schwebte ein arabischer Sozialismus vor, und wenige Tage nach ihrer Machtergreifung informierten sie uns über diplomatische Kanäle von ihrem Wunsch, daß wir die Neuformierung und Ausbildung ihrer

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Sicherheitsorgane durch Berater unterstützen. Im August begab sich eine Gruppe von Mitarbeitern des MfS

und des Innenministeriums in den Sudan, und im Dezember flog ich selbst nach Khartoum, um mich mit eigenen Augen und Ohren vor Ort kundig zu machen.

Vor meiner Reise hatte ich über den Sudan herzlich wenig gewußt. Der islamische Norden besaß eine lange Tradition im Kampf gegen die Unterdrückung durch die britischen Kolonialisten. Ausgeprägt war die Feindseligkeit der Sudanesen gegenüber Ägypten, das Sachwalter Großbritanniens gewesen war. Um so erstaunlicher fand ich es, daß der gestürzte Premierminister Awadallah ebenso wie später Numeiri selbst dort Zuflucht suchten. Die Moslems des Nordens unterdrückten wiederum den »schwarzen« oder »christlichanimistischen« Süden, dessen Bewohner immer wieder in Massen in die südlichen Nachbarländer flüchteten, während aus Kongos beziehungsweise Zaires Ostprovinzen und aus Äthiopien Flüchtlinge in den Südsudan gelangten. So war dieser Landesteil ein ideales Feld für Geheimdienste und Söldnertruppen, vor allem solche, die nach dem Umsturz im Mai 1969 das neue Regime zu destabilisieren versuchten. Aktivitäten des britischen und des israelischen Geheimdienstes waren uns nicht verborgen geblieben.

Bei meinem ersten Besuch im Dezember 1969 begriff ich, daß die jungen Leute nur sehr nebulöse Vorstellungen von dem hatten, was sie als arabischen Sozialismus bezeichneten. Für sie erschöpfte sich der Charakter ihrer neuen Gesellschaft in der Betonung nationalistischer Eigenständigkeit, in militärischem Kameradschaftsgeist und der Proklamation der Gleichheit, die in Wahrheit nichts anderes war als das islamische Gebot der Nächstenliebe. Einer von ihnen erklärte mir, Sozialismus bestehe darin, daß er als sozial Bessergestellter jeden Freitag die Armen beköstige. Die meisten von ihnen konnten sich ihren neuen Funktionen zum Trotz nicht einmal annäherungsweise

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gegen den übernommenen Beamtenapparat durchsetzen. Meine Gespräche mit Numeiri waren sachlich und distanziert.

Wie so oft in arabischen Staaten verliefen Numeiris Auftritte in der Öffentlichkeit so ab, daß er im Wagen ankam, heraussprang, eine Rede hielt, die gellende Pfiffe der Zuhörer, Gekreische und Sprechchöre unterbrachen, und dann davonbrauste.

Anders sahen meine Begegnungen mit Faruq Othman Hamadallah aus, dem Innenminister und somit Leiter des Sicherheitsapparates. Seine Beamten hatten zu großen Teilen schon unter den Briten und Ägyptern gedient, und sie wirkten britisch bis zur Karikatur. Ich erinnere mich gut daran, wie Hamadallah mir aus der nachtdunklen Tiefe seines Gartens entgegenkam: groß, wuchtig, sehr schwarz, durchtrainiert und in eine schneeweiße Dschallbiyah statt in Uniform gekleidet. Mit der linken Hand streichelte er seinen Schäferhund, mit der rechten lud er mich ein, Platz zu nehmen. Auch seine Augen lächelten.

Mit Faruq Othman Hamadallah 1970 in Ost-Berlin

Eine andere Erinnerung an Hamadallah hat sich mir eingeprägt: Er geht mit ausladenden Schritten über einen

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steinübersäten Platz auf eine Moschee zu. Er trägt eine Uniform mit breitem Ledergürtel. Von einer Waffe ist nichts zu sehen. In der Moschee haben sich Mitglieder der reaktionären Ansar-Sekte verschanzt und feuern nach draußen. Hamadallah gelingt es, durch Überredung zu erwirken, daß die Waffen niedergelegt werden.

Er war ein Politiker, der mir nahestand. Bei Gesprächen in Berlin analysierte er mit überraschender Tiefe und Prägnanz die komplizierte Lage seines Landes, die Verhältnisse zwischen Schwarzafrika und der arabischen Welt. Seine Vorstellungen von einem eigenständigen Weg zum Sozialismus überzeugten mich; dabei war er sich über die Grenzen völlig im klaren, die seinem Land gesetzt waren. Er vertraute mir seine Befürchtungen an, daß Numeiri mit seinem Doppelspiel den Revolutionären Kommandorat immer mehr ausschaltete und Westkontakte verstärkte. »Diese Probleme müssen wir selbst lösen, da könnt ihr uns nicht helfen«, sagte er düster.

Im Verlauf des Jahres 1970 wurde Numeiris neuer Kurs immer offenbarer; Hamadallah und andere Revolutionäre ließ er aus dem Kommandorat entfernen. Mitte 1971 benutzte Numeiri dann einen Staatsstreich als Vorwand, nicht nur mit den Putschisten abzurechnen, sondern sich aller nicht genehmen Personen zu entledigen. Entgegen unserem Rat flog Hamadallah, der sich zu jener Zeit in London aufhielt, nach Kairo zurück. Auf Befehl Gaddafis wurde sein Flugzeug über Libyen zur Landung gezwungen, und Hamadallah und ein mitreisender sudanesischer Politiker wurden an Numeiri ausgeliefert. Auf die Frage Numeiris, ob er sich am Putsch beteiligt hätte, wenn er im Lande gewesen wäre, soll er mit »Ja« geantwortet haben.

Nie werde ich die Bilder im westdeutschen Fernsehen vergessen: Hamadallah tritt nach der Verhandlung vor dem Militärgericht aus der Baracke, in der das Urteil beraten wird. Er zündet sich eine Zigarette an und spricht ruhig mit seinen

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Bewachern. Seine Stimme ist nicht zu hören, nur die Mitteilung des Kommentars, daß er kurz nach diesen Aufnahmen erschossen wurde. Bei dieser Erinnerung krampft sich mir heute wie damals das Herz zusammen. Er war ein Freund gewesen und für seine Überzeugung in den Tod gegangen. Noch heute, so viele Jahre nach seinem Tod, glaube ich, daß der Sudan mit Hamadallah einen seiner besten Männer verloren hat, einen Menschen, der seiner Zeit und seinem Land um einiges voraus war. Das, wofür Hamadallah gelebt, woran er geglaubt hatte, überlebte ihn selbst nicht lange. Wir verließen den Sudan bald nach diesen Ereignissen auf Nimmerwiedersehen.

Während unserer Tätigkeit im Sudan stießen wir auf die Spur des deutschen Söldners Rolf Steiner, den wir gefangennehmen helfen konnten. Steiners Lebenslauf liest sich wie die exemplarische Biographie eines Söldners. Er war 1933 in München geboren, mit achtzehn Jahren in die französische Fremdenlegion eingetreten und hatte den Antiguerillakrieg in Indochina fünf Jahre lang geübt. Die Kapitulation der eingeschlossenen Festung Dien Bien Phu erlebte er 1954 mit. Die Lehre, die er daraus zog, war, daß er die verdeckte Kriegführung lernte. Dreihundert Fallschirmabsprünge, Einsätze beim Suezkanalkonflikt und im Algerienkrieg machten ihn zum Profi aller völkerrechtswidrigen Kampfformen. In seiner Zeit in Algerien heiratete er eine Schönheitskönigin dieses Landes.

Seinen ersten großen eigenen Auftrag erhielt er im nigerianischen Bürgerkrieg, der 1967 in dem gerade in die Unabhängigkeit entlassenen Land ausbrach. In der ölreichsten Ostregion Nigerias, die sich unter dem Namen Biafra unabhängig erklärte, wurde Steiner zum faktischen Armeechef gemacht, und so geriet er in Kontakt mit Geheimdiensten. Mit Hilfe diverser Tarnorganisationen betrieb er einen schwunghaften Waffenhandel und machte Biafra zum waffenreichsten Gebiet Afrikas. Unter dem Totenkopfbanner folgt ihm eine Truppe, die zeitweise an die 20 000 Mann zählte.

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Als das blutige Abenteuer zu Ende ging, verwandelte der Biafraner Steiner sich unter Mithilfe der Vertretung der Bundesrepublik in Gabun in den Bundesbürger Steiner zurück.

Als nächstes sprach ihn Pater Franz Glypken, ein ehemaliger Missionar, an, der in der Bundesrepublik eine Organisation namens Förderungsgesellschaft Afrika leitete, um zu sondieren, ob Steiner sich dafür eigne, die Aufständischen im Südsudan zu unterstützen. Er schickte ihn nach Köln zu einem Geheimdienstunternehmen, das sich Welt-Informations-Korrespondenz nannte, wo man ihn genauer instruieren würde. Anlaufstelle für Steiner in Uganda war das dortige Lufthansa-Büro (interessanterweise war der damalige Afrika-Chef der Lufthansa Gehlens ehemaliger Stellvertreter General a. D. von Mellenthin, der sich 1990 brieflich mit mir in Verbindung gesetzt hat. Leider sind wir uns noch nicht begegnet und konnten uns daher nicht über alle Facetten des Falles Steiner austauschen).

Als Rebellenführer im Südsudan wurde Steiner auch für den britischen Geheimdienst und die CIA interessant. Der frühere britische Militärattache Beverly Barnard versorgte ihn mit Karten und Funkgeräten. Über den Secret Service gelangte Steiner in Kontakt mit einem Mr. Norman von der CIA, der ihn an einen Mr. Preston weitervermittelte, der – vermutlich als legaler Resident – an der ugandischen US-Botschaft in Kampala die Waffenbeschaffung für Steiner organisierte. Die CIA hoffte, so einen Umsturz in dem ihrer Meinung nach prokommunistischen Sudan zu befördern. Offiziell reiste Steiner unter dem Deckmantel der Förderungsgesellschaft des Pater Glypken und zwar als deren »Beauftragter für humanitäre Hilfe im Südsudan«. Selbstverständlich sah die humanitäre Hilfe in Wahrheit so aus, daß bewaffnete Rebellenbanden von Steiner ausgerüstet und ausgebildet wurden, deren Einsätze nicht gegen Armee und Polizei des Sudan stattfanden, sondern in der Hauptsache in Terrorakten gegen die Zivilbevölkerung des

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Landes bestanden. Daß es uns gelang, Steiner einzukreisen und seine

Gefangennahme zu ermöglichen, beruhte zum einen auf unseren Ermittlungen, zum anderen auf dem abrupten Umschlagen der politischen Situation in Uganda, das dem Druck der OAU, der Organisation Afrikanischer Staaten, nachgeben und den Söldner fallenlassen mußte. Auf Bitte der sudanesischen Regierung beteiligten sich Leute des MfS an Steiners Verhören, und ihnen gegenüber zeigte er sich erstaunlich kooperativ. Offenbar war es eine Erleichterung für ihn, Landsleute vor sich zu haben, selbst wenn sie aus dem »falschen« Deutschland kamen; ihnen vertraute er eher als den einheimischen Behördenvertretern. Zudem hatten unsere tüchtigen Rechercheure es fertiggebracht, ein Fotoalbum mit Hochzeitsbildern und einen Gruß seiner Angehörigen den Weg in seine Zelle finden zu lassen. Alles in allem wurde er so gesprächig, daß wir uns allmählich ein Bild vom Zusammenwirken der verschiedenen Interessengruppen, Organisationen und Geheimdienste bei ihren Unterwanderungsversuchen in den Ländern der dritten Welt machen konnten.

Es stand außer Zweifel, daß Steiner im Sudan die Todesstrafe drohte, doch während unsere Leute sich noch dafür einsetzten, das Todesurteil zu verhindern, wurden auf westdeutscher Seite bereits ganz andere Fäden gezogen. Hans-Jürgen Wischnewski, der Nahostexperte der damaligen Bundesregierung – »Ben Wisch« –, erreichte, daß Rolf Steiner in die Bundesrepublik abgeschoben wurde.

Die Vorgänge um Steiner im Sudan machen deutlich, wo die Einflußnahme auf Länder der dritten Welt an ihre Grenzen trifft. Wirtschaftliche und militärpolitische Interessen spielten beim Engagement der Großmächte in den einzelnen Ländern zweifellos stets eine ausschlaggebende Rolle, doch der kalte Krieg wies ihrer Konfrontation gerade in diesen Ländern eine zunehmende Bedeutung zu. Da die USA sich weltweit vom

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Gespenst des vorrückenden Kommunismus bedroht sahen, ergriffen sie beinahe zwangsläufig fast immer für die »falsche Seite« Partei, für die Seite der Unterdrücker und Diktatoren. Die Bundesrepublik und ihr Geheimdienst operierten zwar vorsichtiger, doch in der Regel in Übereinstimmung mit den USA und ihren Partnern.

Sicherlich fiel es den westlichen Diensten schwerer, geheime Operationen auf lange Sicht vor der Öffentlichkeit zu verbergen, während es in den Ländern des »real existierenden Sozialismus« weder die ohnedies äußerst bescheidene parlamentarische Kontrolle gab, die in den USA oder der BRD existierte, noch irgendwelche Medien, die allein schon aus Sensationsgier über derartige Aktionen berichtet hätten. Im übrigen tat sich die DDR durch Waffenlieferungen erst im letzten Jahrzehnt ihres Bestehens hervor; Regierungsabkommen regelten die Lieferungen, die entweder über die Armee oder über eine regierungseigene Außenhandelsfirma des Bereichs Kommerzielle Koordination erfolgten.

Das Beispiel unseres Engagements in Afrika zeigt, daß die Politiker der unabhängig gewordenen Staaten oder nach Unabhängigkeit strebenden Bewegungen letztlich ihre eigenen Ziele konsequent verfolgten, und das waren betont afrikanische Ziele – ganz gleich, ob ihre Verfechter sich als Anhänger marxistischer Ideen, eines afrikanischen Sozialismus eigener Prägung oder westlicher Gesellschaftsmodelle bezeichneten. Einige spielten recht virtuos mit den Interessengegensätzen der Großmächte und zogen zeitweilig ihren Nutzen daraus, und so verhielt es sich auch in der Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten.

Ausgesprochen mühevoll war es, im Südjemen auf Bitte der Revolutionsregierung einen Sicherheitsapparat aufzubauen. Bei unserer Entscheidung ließen wir uns von der weltstrategischen Lage Adens leiten. Anders als in vielen Nahostländern wurden wir in Aden mit offenen Armen willkommen geheißen. Das

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Land war in einen unerbittlichen nachrichtendienstlichen Krieg mit dem Nordjemen verstrickt, hinter dem Saudi-Arabien stand. Da meine Leute ebenfalls aus einem geteilten Land kamen, dessen zwei Staaten sich geheimdienstlich befehdeten, war man in Aden wohl der Meinung, daß wir die Probleme des Südjemen am besten verstehen konnten.

Als Angola für Ende 1975 die Unabhängigkeit zugesagt wurde, brach die Rivalität zwischen den Befreiungsorganisationen MPLA unter Agostinho Neto, der UNITA unter Jonas Savimbi und der FNLA unter Holden Roberto sofort aus. Netos Volksbewegung war marxistisch orientiert, UNITA und FNLA waren prowestlich eingestellt. Es war also nicht überraschend, daß die an die Regierung gelangte MPLA mit Präsident Neto Rückhalt bei Kuba, der UdSSR und der DDR suchte, während die USA von Kinshasa, der Hauptstadt Zaires, aus die FNLA mit Geld und Waffen im mittlerweile geschürten Bürgerkrieg unterstützten. Die Frage, ob der Kampf um politische Unabhängigkeit in Angola ohne Einmischung von außen nicht weniger blutig verlaufen wäre, richtet sich in erster Linie an die Adresse der USA. Auch im nachhinein kann ich den bescheidenen Beitrag meines Nachrichtendienstes in Angola nicht kritikwürdig finden.

In Mosambik unterstützten wir gemeinsam mit kubanischen und sowjetischen Beratern die Regierungspartei Frelimo gegen die Renamo-Rebellen, die von den Apartheidregimes Rhodesiens und Südafrikas finanziert wurden. Sechs Jahre lang investierte das Ministerium für Staatssicherheit beträchtliche Mittel in Ausbildung und Ausrüstung eines Sicherheitsdienstes, doch der Bürgerkrieg wurde unentwirrbar. Machtkämpfe innerhalb der Regierung von Mosambik erschwerten uns eine effiziente Unterstützung im gleichen Maße wie die Uneinigkeit zwischen KGB und dem sowjetischen Militär über den richtigen Weg, die Konflikte zu reduzieren, und deshalb beschränkten wir uns zuletzt auf Lieferungen technischer Hilfsgeräte und

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ausgemusterter NVA-Waffen. Dennoch mußten wir uns des öfteren fragen und fragen

lassen, ob unsere Hilfe immer der richtigen Seite zugute kam. In Äthiopien beispielsweise hatte unser Land sich besonders stark engagiert. All mein Sträuben gegen die zusätzliche Belastung für meinen Dienst hatte nichts gefruchtet; es war eine politische Entscheidung, die den Wünschen der kubanischen und sowjetischen Verbündeten Folge leistete. Mit der Eritrea-Politik und dem späteren Krieg gegen Somalia waren wir weder glücklich noch einverstanden. Zu manchen eritreischen Organisationen unterhielten wir engere und bessere Beziehungen als zur äthiopischen Regierung in Addis Abeba, die sich strikt weigerte, Eritreas Autonomie zu respektieren, und diese Forderung mit einem mörderischen Feldzug beantwortete. Die Zusammenarbeit mit dem äthiopischen Sicherheitsdienst bedeutete viel Arbeit und hohe Kosten für uns bei minimalem Einfluß und so gut wie keinem Einblick in das Tun der dortigen Sicherheitsorgane. Ähnlich erging es offenbar den Vertretern des KGB, wenngleich ihr weit größeres wirtschaftliches und militärisches Engagement ihnen größere Autorität sicherte. Wie in den meisten Ländern Afrikas waren es einzig die Vertreter Kubas, die wirklich akzeptiert wurden, was nicht zuletzt an ihrem unmittelbaren Kampfeinsatz gelegen haben dürfte.

Unser glückloses Engagement wird in meiner Erinnerung immer vom tragischen Unfalltod Paul Markowskis und Werner Lamberz' begleitet sein. Lamberz, Mitglied des Politbüros der SED, und Markowski, Leiter der außenpolitischen Abteilung des Zentralkomitees, waren 1973 nach Libyen geflogen, um Gaddafi als Vermittler in der Eritrea-Problematik zu gewinnen. Auf dem Rückflug stürzte der Hubschrauber ab. Ich hörte die Nachricht beim Winterurlaub in den Bergen. Es war nicht nur deshalb ein schwerer Schlag, weil ich den beiden freundschaftlich verbunden war, sondern weil sie zu den wenigen im Führungskern der DDR gezählt hatten, von denen man sich

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Bereitschaft zu Reformen erhoffen konnte. Da Lamberz verschiedentlich als potentieller Nachfolger Honeckers im Gespräch gewesen war, begannen schnell Gerüchte um seinen Tod zu sprießen. Ich habe mir deshalb Untersuchungsprotokolle über den Absturz verschafft. Alle Berichte gelangen zu dem Schluß, daß der Pilot für Nachtflüge nicht qualifiziert war und den Rückflug in der Dunkelheit nicht hätte antreten dürfen; dies aber hatte Werner Lamberz ausdrücklich verlangt.

Direkte nachrichtendienstliche Beziehungen zu Libyen haben wir zu keinem Zeitpunkt unterhalten. Die libysche Seite hat sich in Einzelfällen um bestimmte technische Ausrüstungsartikel bemüht, und wie in solchen Fällen üblich, wurde die HVA bei den Verhandlungen als Vermittler eingesetzt. Gewiß wäre mein Dienst aktiv geworden, wenn sich interessante Perspektiven ergeben hätten, aber Libyen war durch seine westdeutschen Partner bereits bestens versorgt und zufrieden. In der Bundesrepublik wurden die libyschen Nachrichtendienstler ausgebildet, und dort wurden sie mit einer Ausrüstung versehen, die sie anderswo nicht kaufen konnten. Deshalb beschränkte der Kontakt sich auf den begrenzten Verkauf der gewünschten Technik, die Ausrüstung eines Ausbildungszentrums und die Durchführung eines Lehrgangs für Personenschutz durch die entsprechende Hauptabteilung des MfS, der Gaddafis Leibwächtern zugute kam.

Anders als im Fall unseres erfolglosen Wirkens in Äthiopien konnte ich mich mit meiner Ablehnung durchsetzen, als die KGB-Führung 1979 versuchte, uns dazu zu bringen, mehr Mitarbeiter meines Dienstes nach Afghanistan zu entsenden. Nachdrücklich führte ich Mielke vor Augen, daß wir dort nichts zu gewinnen hatten. Mit aller gebotenen Diplomatie gelang es uns, die Hilfe, die wir leisteten, darauf zu beschränken, ein Krankenhaus auszustatten und in Ost-Berlin Treffen zwischen Vertretern der Mudschaheddin und Nadschibullah zu ermöglichen.

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Das Engagement der DDR und meines Dienstes für Befreiungsbewegungen wie die SWAPO in Namibia oder den ANC in Südafrika wird im nachhinein gewiß von niemandem beanstandet, doch damals, als diese Bewegungen den bewaffneten Kampf führten, galten sie in den Augen vieler als terroristische Vereinigungen – so wie es der PLO heute noch oftmals widerfährt.

Wir unterstützten den ANC in seinem Kampf gegen die Apartheid, wenngleich wir dabei diskret bemüht waren, seinen linken Flügel zu stärken, ohne die Gefahr einer Spaltung innerhalb der Bewegung heraufzubeschwören. Ende der 70er Jahre richtete Joe Slovo, der Führer der südafrikanischen KP, an das Zentralkomitee der SED die Bitte, daß wir eine kleine Gruppe von ANC-Mitarbeitern für die Spionageabwehr ausbildeten; er befürchtete, daß Spitzel der südafrikanischen Regierung in den ANC eindringen könnten, ohne daß man sie entdeckte. Honecker stimmte zu, und von da an bildeten wir zwei- bis dreimal im Jahr ein knappes Dutzend Südafrikaner darin aus, wie man Doppelagenten auf die Schliche kommt, die Gegenseite desinformiert, ohne das eigene Wissen zu verraten, und sie infiltriert.

Die Kontakte zu arabischen Staaten und zu palästinensischen Organisationen, besonders zu Jassir Arafats PLO, versuchen westliche Medien bis heute fast unisono meinem Dienst und mir als Unterstüzung des internationalen Terrorismus anzulasten. So, wie die Beziehungen zu den Sicherheits- und Nachrichtendiensten afrikanischer und arabischer Staaten auf der Grundlage politischer Entscheidungen, staatlicher Verträge und Vereinbarungen zustande kamen, geschah es auch mit unserem Kontakt zur PLO. Wie unsere politische Führung waren auch wir in der HVA der Ansicht, daß die Palästinenser für ihre rechtmäßigen Interessen eintraten. Unter den nach dem Zweiten Weltkrieg vom Kolonialismus befreiten Völkern waren sie als einzige von einer eigenständigen nationalen Entwicklung

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ausgeschlossen worden. Widerstreitende Interessen hatten die Entstehung eines Staates Palästina zu verhindern gewußt.

1969 hatte der Resident unseres Dienstes in Kairo inoffizielle Kontakte zu Arafat aufgenommen und zu Georges Habasch, dem Leiter der radikaleren Volksfront für die Befreiung Palästinas, doch der erste offizielle Kontakt ergab sich Ende 1972 oder Anfang 1973. Arafat hatte während eines Besuchs in Ost-Berlin im Gespräch mit Honecker den Wunsch danach geäußert, und mein Vertreter traf sich daraufhin mit ihm in Moskau. Das war zu jener Zeit, als die PLO gerade von der Arabischen Liga als einziger Repräsentant des palästinensischen Volkes anerkannt worden war und in der Uno-Vollversammlung den Beobachterstatus zuerkannt bekommen hatte. Kurz darauf nahm die DDR diplomatische Beziehungen zur PLO auf.

Wenige Monate zuvor, im August 1972, hatte ein Kommando der palästinensischen Terrorgruppe Schwarzer September bei den Olympischen Spielen in München das Quartier der israelischen Olympiamannschaft überfallen, zwei Sportler getötet und neun weitere als Geiseln genommen. Unter der Leitung des damaligen Innenministers Genscher wurde die Befreiungsaktion auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck so dilettantisch geplant und durchgeführt, daß fünf Geiselnehmer, ein Polizist und alle neun Geiseln getötet wurden. Eine spätere Analyse des Blutbads brachte den deutschen Behörden scharfe Kritik ein. Der Überfall im olympischen Dorf machte erstmals der Bundesrepublik, aber auch uns mit aller Deutlichkeit bewußt, wie schnell Terrorkommandos die Gewalt in jedes xbeliebige Land transportieren können.

Bei den Gesprächen mit Arafat in Moskau verurteilte unser Vertreter den Anschlag in München und machte einen Kontakt unseres Dienstes zum Sicherheitsdienst der PLO von der Bedingung abhängig, daß solche Aktionen künftig unterlassen würden. Arafat war dazu bereit und benannte Abu Ayad als seinen Beauftragten für Sicherheitsfragen. Bei allen weiteren

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Kontakten stellten wir immer die Bedingung, daß die PLO auf Terroraktionen in Europa verzichtete, und Abu Ayad und andere Gesprächspartner sagten dies zu.

Die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit mit der PLO war von unterschiedlichen Interessen bestimmt; jede Seite suchte ihren Vorteil. Nach Aufnahme direkter Beziehungen zur PLO-Sicherheit wurde bald sichtbar, daß die Übereinstimmung in politischen Grundfragen deutliche Grenzen hatte. In allen Gesprächen ließen unsere Leute keinen Zweifel daran, daß die DDR zwar für den Rückzug der Israelis aus den seit 1967 besetzten Gebieten und für das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung eintrat, daß sie aber zugleich ebenso die gesicherte Existenz und Entwicklung des Staates Israel bei internationalen Garantien für eine Friedensregelung befürwortete. Die Anerkennung der staatlichen Existenz Israels aber war Anfang der 70er Jahre für die meisten Palästinenserführer ein rotes Tuch. Den Umgang erschwerte zudem der manifeste oder latente Antikommunismus vieler Mitarbeiter im Sicherheitsapparat der PLO.

Da den Palästinensern sehr bald klar wurde, daß von uns keine Beteiligung an Anschlägen gegen Israel und keine Geheiminformationen über Israel zu erwarten waren, konzentrierte sich ihr Interesse auf die Ausbildung ihrer Mitarbeiter und darauf, Ausrüstungen für den bewaffneten Kampf zu bestellen. Wir wiederum waren bemüht, Informationen über die USA und ihre Verbündeten zu erhalten, über ihre strategischen Pläne, ihre Waffensysteme und geheimdienstlichen Aktivitäten. Abu Ayad und andere deuteten häufig an, daß sie Verbindungen bis in höchste US-Regierungskreise, in die militärischen Stäbe der Nato und in die Zentren von Rüstungsforschung und -produktion besäßen, und aufgrund ihrer weltweiten Beziehungen erschien uns das nicht unwahrscheinlich. Tatsächlich erhielten wir nützliche Informationen über Interna, so über die Vorbereitung und den

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Inhalt des Camp-David-Vertrags zwischen Israel und Ägypten, doch insgesamt wurden unsere Erwartungen ebensowenig erfüllt wie die der PLO.

Wertvoll für uns waren die Kenntnisse der Palästinenser in allem, was mit dem Krisenherd Nahost zusammenhing. Über unsere Residenten in arabischen Staaten unterhielten wir einen regelmäßigen Nachrichtenaustausch mit Abu Ayads Dienst. Auf diesem Weg bekamen wir einen guten Einblick in die Geheimdienstaktivitäten von CIA, BND und anderen westlichen Diensten in diesem Raum, die unsere eigenen Bemühungen weit in den Schatten stellten.

Eine unerwartete Bedeutung erhielt unsere bescheidene Präsenz im Vorderen Orient während der dramatischen Ereignisse 1982 im Libanon. Als Beirut von den israelischen Truppen bereits in Schutt und Trümmer gebombt war, hatte Moskau zeitweilig keine Verbindung zu seiner Botschaft und den KGB-Mitarbeitern, während unsere Offiziere als einzige über funktionierende Funkgeräte und eine offene Verbindung zur PLO verfügten. Sie trafen sich unter Beschuß und Bombardements mit ihren Partnern. Als ich unsere Offiziere später für ihren Einsatz auszeichnete, schilderten sie mir, zu welcher Feuerhölle der Dauerbeschuß der Israelis Beirut in jenen Tagen gemacht hatte. Angesichts der grausam ausgetragenen Bürgerkriege an allen Ecken und Enden der Welt sind die Bilder des Grauens jener Tage im Libanon längst vergessen, doch damals standen sogar israelische Soldaten angesichts der Massaker in den Lagern Sabra und Schatila unter Schock; manche weigerten sich, gegen die Zivilbevölkerung einzuschreiten, und viele engagierten sich danach in der israelischen Friedensbewegung.

Amerikanische und israelische Publikationen reduzieren die Kontakte nicht nur meines Dienstes, sondern auch anderer Abteilungen der Staatssicherheit zur PLO ausschließlich auf eine Unterstützung des palästinensischen Terrorismus, weil sie

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die PLO ausschließlich als terroristische Vereinigung betrachten. Nicht nur ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich Terrorakte verurteile und einen großen Unterschied zwischen solchen Aktionen und einem gerechten Befreiungskampf sehe. Ein Dokument vom 8. Mai 1979 aus der Abteilung XXII des MfS, der Antiterrorabteilung, die im übrigen nicht mir unterstand, sondern einem anderen Stellvertreter Mielkes, beschäftigt sich mit möglichen Gewaltakten palästinensischer Extremisten und anderer Terroristen und deren Bedeutung für die DDR. Dieses Dokument wird immer wieder als Beweis für unsere Verstrickung in terroristische Aktivitäten zitiert, doch die Prämisse des Dokuments wird dabei verschwiegen, denn sie lautet: »Derartige Aktivitäten vom Territorium der DDR aus schaffen politische Gefahren und beeinträchtigen unsere staatlichen Sicherheitsinteressen.«

Die spätere Hauptabteilung XXII des MfS war eine Abwehr im kleinen. Bis Ende der 70er Jahre hatte sie ein Schattendasein geführt, doch dann wuchs sie innerhalb weniger Jahre beträchtlich. Aus den Unterlagen der Abteilung weiß man heute, daß sie Kontakte zur ETA, zur IRA, zu den radikaleren Palästinenserflügeln wie Habaschs Volksfront oder Abu Nidais Gruppe und zu dem international gefürchteten Terroristen Carlos unterhielt – Kontakte, über die nicht einmal zwei Dutzend Mitarbeiter der Abteilung selbst informiert waren. Diese Kontakte bestanden meist darin, daß die Abteilung XXII einzelnen Personen den Aufenthalt in der DDR unter falscher Identität zu Ausbildungszwecken oder zum Untertauchen ermöglichte.

Carlos, mit bürgerlichem Namen Ramirez Illich Sanchez, hielt sich unter falschem Namen mit einem Diplomatenpaß der VDRJ als Gast der Botschaft des Südjemen zwischen 1979 und 1982. mehrmals in Ost-Berlin auf. Abu Daud, Führungsmitglied der Fatah, der 1977 in Frankreich festgenommen und abgeschoben

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worden war, tauchte ebenfalls kurzzeitig in der DDR unter. Das Papier vom 8. Mai 1979 mit dem Titel »Aktivitäten von

Vertretern der palästinensischen Befreiungsbewegung in Verbindung mit internationalen Terroristen zur Einbeziehung der DDR bei der Vorbereitung von Gewaltakten in Ländern Westeuropas« enthielt eine deutliche Warnung. Aktiven Terroristen Unterschlupf zu gewähren, das war nicht weniger gefährlich als mit offenem Feuer in der Nähe von Benzin zu hantieren. Doch entweder unterschätzte die Abteilung XXII mitsamt Minister Mielke die Gefahr, oder die beargwöhnten Gäste waren aus dem Ruder gelaufen und entzogen sich immer mehr der Überwachung.

Die Quittung ließ nicht lange auf sich warten: Am 25. August 1983 detonierte eine Sprengstoffladung im West-Berliner französischen Konsulat Maison de France; es gab ein Todesopfer und dreiundzwanzig Verletzte. Die Organisation um »Carlos« hatte auf diesem Weg versucht, in Frankreich inhaftierte Mitglieder freizupressen. Beim Sprengstoffanschlag auf die West-Berliner Diskothek La Belle am 5. April 1986 kam es zu drei Toten und mehr als zweihundert Verletzten. Libysche Täter wurden verdächtigt, die den Sprengstoff von Ost-Berlin aus eingeschmuggelt haben sollten. Unsere schlimmsten Befürchtungen waren übertroffen worden.

Eine der wenigen Möglichkeiten für das MfS, das Treiben verdächtiger Staatsgäste mit Diplomatenpaß zu kontrollieren, bestand darin, ihr Gepäck genauestens zu untersuchen. Üblicherweise reisten Gäste aus dem Nahen Osten schwerbewaffnet. Im Fall des La-Belle-Attentats stellte sich heraus, daß libysche Diplomaten, die der Abteilung XXII keine Unbekannten waren, Sprengstoff in ihrem Gepäck mitgeführt hatten. Die Grenzposten hatten das sofort dem MfS gemeldet, doch dort hatte man sich offenbar zu keinem Vorgehen entschließen können, obwohl Hinweise auf geplante Attentate libyscher Gruppen vorlagen.

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Interessant ist die Frage, wie früh die Amerikaner über die libyschen Pläne informiert waren und ob sie den Anschlag hätten verhindern können. Nur einen Tag nach dem Attentat auf die Diskothek verkündete Präsident Reagan, die USA seien im Besitz eindeutiger Beweise für die Täterschaft. Jassir Chraidi, einer der Haupttäter, damals Angestellter der Botschaft Libyens in Ost-Berlin, hatte ungehindert mehrfach zwischen Ost- und West-Berlin hin und her reisen können, obwohl strengste Sicherheitsvorkehrungen vorgeschrieben waren. PLO-Quellen wiederum haben durchsickern lassen, Chraidi habe sich im Geheimauftrag der USA in die libysche Terroristengruppe eingeschlichen.

Auf jeden Fall ließ Reagan zwei Tage nach seiner Ansprache die US-Luftwaffe massive Vergeltungsangriffe gegen Ziele in Tripolis und Bengasi fliegen. Einhundertsechzig Bomber warfen über sechzig Tonnen Sprengstoff ab. Dutzende von Todesopfern und Hunderte Verletzte waren das Ergebnis, nur Gaddafi blieb unverletzt. Angesichts solcher Vergeltungsschläge fragt man sich, ob der Begriff Staatsterrorismus nur auf das zutreffen soll, was vom Nahen Osten ausgeht.

Wenn ich im Rückblick unser Engagement in der dritten Welt und unsere Kontakte zu kämpferischen Freiheitsbewegungen wie der PLO, dem ANC oder der SWAPO betrachte, dann ist mein Eindruck zwiespältig. Gewiß war manches Opfer zu schwer, mancher oft nur vermeintliche Fortschritt zu teuer erkauft – doch ebenso wurde der Boden für manches bereitet, was vor nicht allzu langer Zeit schier unmöglich schien. Patrice Lumumba, Che Guevara, Salvador Allende und zuletzt Yitzhak Rabin haben ihr Leben gegeben, weil sie davon überzeugt waren, daß eine bessere und gerechtere Welt möglich ist, und es für ihre Pflicht hielten, am Entstehen dieser Welt mitzuwirken. Doch nicht nur Bilder der Trauer erinnern uns an sie, sondern auch Bilder jener historischen Augenblicke, die sie mitgestaltet haben: das Bild des Händedrucks zwischen Arafat, Peres und

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Rabin vor dem Weißen Haus, mit dem der Frieden im Nahen Osten plötzlich greifbar wurde, und das Bild eines strahlenden Nelson Mandela, der zum ersten schwarzen Präsidenten der Republik Südafrika gewählt wurde.

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16. Der ferne Kontinent

Während meiner gesamten Dienstzeit blieb der amerikanische Kontinent für mich in weiter Ferne, sowohl rein geographisch als auch im übertragenen Sinn. Für Kuba, Nicaragua und die Sowjetunion waren die USA der »Hauptgegner« – ein Terminus, der auf Konferenzen sozialistischer Nachrichtendienste offiziell verwendet wurde. Für meinen Dienst aber war und blieb die Bundesrepublik das wichtigste Operationsgebiet. Dennoch wollte es der Zufall, daß ich den Boden des amerikanischen Kontinents zum erstenmal ausgerechnet in New York betrat.

Es war im Januar 1965, und das Ziel meiner Reise war Kuba. Fünf Jahre waren seit dem Sturz der Diktatur Batistas und dem Sieg der Revolutionäre vergangen, als ich mit zwei Begleitern nach Havanna flog, um Fidel Castros Regierung dabei zu beraten, einen effizienten Sicherheitsdienst aufzubauen. In späteren Zeiten galt der kubanische Geheimdienst zu Recht als hochgradig professionell, doch Mitte der 60er Jahre waren die Kubaner so blutige Anfänger wie mein eigener Dienst zehn Jahre zuvor. Die normale Route von Berlin über Prag mit Zwischenlandungen in Schottland und Kanada verwarf Mielke; wir sollten nicht in Nato-Staaten landen. Also ging es nach Moskau, wo der Nonstop-Weiterflug nach Havanna angetreten werden sollte.

In Moskau landeten wir bei klirrender Kälte; das Thermometer war unter dreißig Grad gefallen. Wir nutzten den Zwischenaufenthalt, um uns mit dem KGB-Vorsitzenden Wladimir Semitschastny und Alexander Sacharowskij, dem Leiter der Auslandsaufklärung, zu treffen und uns über den Stand ihrer Beziehungen zum kubanischen Innenministerium und über Anzahl und Wirken ihrer auf Kuba tätigen Verbindungsoffiziere zu informieren.

Am Abend starteten wir mit einer viermotorigen Turboprop-

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Maschine vom Typ AN-124, dem leistungsstärksten Flugzeug der Aeroflot. Eine Stewardeß, vermutlich KGB-Mitarbeiterin, kümmerte sich vorrangig um uns. Die meisten Insassen des vorderen Salons waren sowjetische Seeleute oder Experten mit Ehefrauen, manche auch mit Kindern. Die einzigen Ausländer außer uns, zwei Chinesen, offenbar diplomatische Kuriere, saßen direkt vor uns. Einer hatte eine Tasche an sein Handgelenk gekettet, und beide bewachten mit Argusaugen ihr übriges Gepäck, das um sie herum gestapelt war. Der hintere Teil des Flugzeugs war völlig leer, die Sitzreihen waren abmontiert, um Gewicht zu sparen, damit der Treibstoff auch wirklich bis Havanna reichte.

Als wir das Schauspiel des Übergangs der Nacht in den herannahenden Tag erlebten, kam die kanadische Küste in Sicht. Weitere Stunden vergingen. Nach meiner Berechnung mußten wir uns kurz vor Kuba befinden, als unser Flugzeug an Höhe verlor. Ich rasierte mich gerade, als ich bemerkte, daß die Sonne auf der »falschen« Seite aufging. Die von Turbulenzen geschüttelte Maschine sank immer tiefer. Plötzlich tauchte vor dem Bordfenster die Silhouette Manhattans auf. Wir tauchten steil nach unten; deutlich war die Gischt hoher Wellen zu erkennen. Gleich mußten wir ins Meer stürzen, doch schon setzte der Pilot die Maschine vorbildlich auf die unmittelbar am Wasser gelegene Landebahn des John-F.-Kennedy-Flughafens auf.

Was war geschehen? Den Mitreisenden war anzusehen, daß alle die gleiche stumme Frage beschäftigte. War uns etwa doch der Treibstoff ausgegangen? Hatte das Flugzeug einen Defekt? Hatte ein Teil der Crew spontan beschlossen, sein Heil im freien Westen zu suchen? Ein Lotsenfahrzeug dirigierte die Maschine zu einer abgelegenen Stelle des Flughafens. Als die Triebwerke verstummten, brausten Polizeifahrzeuge mit blinkendem Rotlicht und heulenden Sirenen heran und gingen rund um uns in Stellung. Weiter geschah zunächst nichts.

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Stunden ungewissen Wartens vergingen. Wir besaßen Diplomatenpässe, doch die nützten uns wenig, da die DDR von den USA nicht anerkannt war. Vorsorglich schob ich die schmale Tasche mit den Unterlagen, die unsere tatsächliche Identität verraten konnten, unter die Matratze eines Kinderwagens, der im Gang neben uns stand.

Inzwischen war eine ganze Kohorte Journalisten aufgetaucht; einige hatten sogar wie im Film den Presseausweis am Hut stecken. Wild gestikulierend, versuchten sie die Polizisten dazu zu bringen, sie durchzulassen. Mit Gesten forderten sie uns auf, wenigstens in die amerikanische Freiheit zu winken. Wie ich später erfuhr, hatte seit der Kubakrise 1962 kein sowjetisches Schiff oder Flugzeug einen amerikanischen Hafen aufgesucht, und deshalb lieferte unsere AN-124 eine kleine Sensation.

Mit dem Auftritt der Presse kehrte unser Humor zurück – in solchen Situationen ein unverzichtbarer Begleiter. Wir malten uns Mielkes Mimik und seine Reaktionen aus, wenn er erfuhr, daß sein Geheimdienstchef samt Geheimnisträgern auf dem Boden des »Erzfeindes« gelandet waren. Sicher würde er zum Hörer eines seiner unzähligen Sondertelefone greifen und in Moskau anrufen, um den KGB-Partnern mit Fragen und Vorschlägen den Nerv zu rauben.

Hinter den Hangars sah ich den am Flughafen vorbeiführenden Highway mit seinem allmählich anschwellenden Strom von Fahrzeugen. Für einen Augenblick überließ ich mich dem Träumen: Was wäre, wenn ich als ganz normaler Passagier gekommen wäre? Was würde ich jetzt unternehmen? Könnte ich den Jugendfreund George Fischer ausfindig machen oder Leonhard Mins, den Freund der Eltern aus der Moskauer Vorkriegszeit? Über Mins hatte mein Vater zu uns Verbindung gehalten, als er in Frankreich in Le Vernet interniert gewesen war. Auch mein Halbbruder Lukas mußte irgendwo in der Nähe von New York wohnen.

Aber die Realität meldete sich bald genug zurück. Ich ging im

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Kopf einige nachrichtendienstliche Aktivitäten durch, die mir zur Last gelegt werden konnten, sollte es gelingen, mich hier zu identifizieren. Zu jener Zeit waren wir damit beschäftigt, die ersten Agenten mit fa lschen Papieren für die Übersiedlung in die USA vorzubereiten. Eingeschleust hatten wir noch niemanden, weil vor wenigen Jahren ein Mitarbeiter unserer Zentrale, der Kenntnis über amerikanische Objekte besaß, übergewechselt war. Mein Sitznachbar unterbrach diese Grübeleien. Er stieß mich mit dem Ellbogen in die Seite und deutete auf die Sitzreihe vor uns. Die beiden Chinesen hatten ihre Kuriertasche geöffnet und mühten sich damit ab, den Inhalt wahrscheinlich wichtige Papiere – möglichst unauffällig zu verzehren. Kauen und Schlucken waren ihnen als einzige Waffen im Kampf gegen die vom Klassenfeind drohende Gefahr geblieben. Sollten wir ihnen als Geste des proletarischen Internationalismus Hilfe anbieten? Wir warteten lieber ab.

Inzwischen wurde es im Flugzeug ausgesprochen ungemütlich. Die Heizung war abgeschaltet. Um zu lüften, blies der Pilot Winterluft in die Kabine. Das Thermometer sank auf minus fünfzehn Grad, und die Passagiere zitterten in ihrer Tropenkleidung bald wie Espenlaub. Stunden waren vergangen, als der sowjetische Konsul mit einem Campingbeutel voller Thermosflaschen auftauchte. Außer beruhigenden Worten konnte er uns nur die Nachricht bieten, daß Moskau mit Washington verhandle. Er behauptete, wegen ungewöhnlich starkem Gegenwind sei uns der Treibstoff ausgegangen, und erklärte, er bemühe sich um eine Sondergenehmigung, unser Flugzeug auftanken zu lassen. Seit der Kubakrise hatten die Amerikaner die Sanktion erlassen, daß keine Flugzeuge der UdSSR oder ihrer Verbündeten mit Destination Kuba in den USA landen oder tanken durften. Der Hauch des kalten Krieges war noch um einige Grade frostiger als die New Yorker Winterluft.

Achtzehn Stunden waren seit unserem Abflug vergangen, als

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die Stewardeß mir zuflüsterte, Washington habe den Weiterflug genehmigt, allerdings unter der Bedingung, daß zwei Offiziere der Air Force als Lotsen an Bord kämen. Leider konnte ich die gute Nachricht den beiden Chinesen nicht vermitteln. Die Aufnahmekapazität ihrer Mägen war inzwischen erschöpft. Abwechselnd suchten sie die Toilette auf, um sich der Post auf andere Weise zu entledigen. Als die Tür für einen Augenblick offenstand, konnte ich einen der beiden beim Hantieren am Waschbecken beobachten. Es sah aus, als rücke er den auf weiße Seide geschriebenen Nachrichten mit Seife zu Leibe. Vielleicht waren sie für Guerillagruppen in Lateinamerika bestimmt gewesen, von denen sich einige am großen Vorsitzenden Mao orientierten. Nun, diesmal mußten sie ihre Instruktionen verbal entgegennehmen.

Am frühen Abend startete unsere AN-124. Das war mein erster Aufenthalt auf dem amerikanischen Kontinent. Viel hatte ich nicht gesehen: ein Stück New York aus der Luft und den Highway neben dem Flughafen.

Es war schon dunkel, als wir auf dem Flughafen Jose Marti in Havanna landeten. Wieder durften wir nicht aussteigen. Den Kubanern waren die beiden US-Offiziere nicht avisiert worden, und jetzt ging es darum, ob Passagiere und Besatzung überhaupt das Flugzeug verlassen durften oder nach Moskau zurückfliegen mußten. Meine Begleiter und ich wurden jedoch umgehend zu einem Empfangskomitee gebeten, das uns mit Blumen und wortreicher Freundlichkeit begrüßte. Die anderen mußten weiter warten, darunter die beiden Märtyrer der rotchinesischen Sache.

In wilder Fahrt ging es durch das abendliche Havanna, dessen Kern und Villenviertel die imponierende Ausstrahlung einer modernen Metropole hatten. Wir wurden in einer Villa einquartiert, die vor der Revolution einem Millionär gehört haben mußte; dort machten unsere Betreuer uns mit dem Programm für die nächsten Tage bekannt. Unser ständiger Begleiter und Dolmetscher, der uns schon durch seinen

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korrekten Anzug mit weißem Hemd und Krawatte aufgefallen war, stellte sich als Umberto vor und erklärte, daß er auf Weisung des Ministers für die Erfüllung all unserer Wünsche zuständig sei. Er präsentierte uns den Fahrer Enrico mit der Bemerkung, dieser sei der beste pistolero ganz Kubas. Um unsere Sicherheit brauchten wir uns wirklich keine Sorgen zu machen, sagte er ganz ernsthaft, für die sei unablässig und zuverlässig gesorgt.

Obwohl wir vor Müdigkeit fast umfielen, machten wir nach dem Essen noch einen kleinen Gang durch den Garten. Die betörende Luft, die üppige Vegetation und die nur durch das Zirpen der Grillen unterbrochene Stille ließen den Berliner Winter und die klirrende Kälte Moskaus fast vergessen.

Wir waren nicht als Touristen gekommen, doch dem Zauber der Natur auf dieser wunderschönen Insel konnten wir uns nicht verschließen: den wechselnden Farben des Himmels vom zarten Gelb und Rosa am Morgen über das strahlende Blau des Tages bis zum samtenen Schwarz der Nacht, den unvorstellbaren Farbschattierungen des Meeres, in dessen Wellen wir uns bei jeder Gelegenheit stürzten, bestaunt von den Kubanern, denen Wassertemperaturen von siebenundzwanzig Grad Celsius viel zu niedrig waren.

Alle Schönheit Kubas aber konnte uns nicht vergessen machen, wo wir uns befanden: keine neunzig Meilen von der Küste des mächtigsten Staates der »anderen Welt« entfernt. Am Tag nach unserer Ankunft standen wir auf der Aussichtsplattform des monumentalen Denkmals für Jose Marti, von wo aus man mit bloßem Auge die Kriegsschiffe der US-Marine erkennen konnte.

Die Erhebung gegen das Batista-Regime war noch nicht lange her. In den Mauern waren noch die Einschläge der Kugeln zu sehen. Vor nicht einmal zehn Jahren war Fidel Castro mit seinen zweiundachtzig Kampfgefährten vom Motorkutter Granma am Strand von Las Colorados in der Provinz Oriente gelandet, den

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wir nun besichtigten. Auch nach Playa Girón fuhr man uns. Auf der Fahrt durch die Zapata-Sümpfe und entlang der Schweinebucht erinnerten alle paar Kilometer schlichte Zeichen an die erbitterten Kämpfe gegen die Contras, die Exilkubaner, an einer Stelle sogar das Wrack eines abgeschossenen B-26-Bombers.

Einzelheiten über die Operation Zapata und Kennedys Bedenken, Bomber einzusetzen, weil er ein »zweites Ungarn« vermeiden wollte, erfuhr ich erst später, als ein Untersuchungsausschuß des amerikanischen Senats die CIA zwang, das ganze Ausmaß dieser monströsen Geheimaktion gegen Kuba zu enthü llen.

Der große Irrtum der CIA, die das Unternehmen Schweinebucht im Jahr 1961 zu verantworten hatte, bestand in der Illusion, sie könne die Mechanismen ihrer erfolgreichen Blitzoperation PB Success, die sie 1954 gegen Guatemala durchgeführt hatte, nachdem sie etwas ähnliches ein Jahr zuvor im Iran unter der Bezeichnung AJAX erprobt hatte, ohne weiteres auf Kuba übertragen. Allen Dulles und seine Leute hatten einfach nicht zur Kenntnis genommen, daß Fidel Castros Befreiungsbewegung von der überwältigenden Mehrheit der Kubaner unterstützt wurde, und sie konnten sich offensichtlich auch nicht vorstellen, daß die Kubaner aus den früheren CIA-Aktionen ihre Lehren gezogen hatten. Obwohl beim Bekanntwerden der CIA-Invasionspläne Machenschaften wie der Mord an Patrice Lumumba und die amerikanische Intervention gegen die rechtmäßige Regierung Guatemalas noch in frischer Erinnerung waren, fiel es der Öffentlichkeit schwer, das Invasionsvorhaben gegen Kuba zu glauben, so irrwitzig waren die Einzelheiten. Selbst nach dem Desaster in der Schweinebucht hielt die CIA an ihren Kontakten zu führenden Mafiabossen wie Sam Giancana aus Chicago fest, die Castro beseitigen sollten, und Kennedy verlangte vom seinerzeitigen CIA-Direktor Richard Helms höchste Priorität für den

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Mordplan. Das Projekt wurde von Beratern des Präsidenten, vom State Department und der CIA gemeinsam beaufsichtigt, und Robert Kennedy scheint die Oberleitung innegehabt zu haben. Castros Tod oder zumindest sein Sturz war verbindlich für Oktober 1962 vorgesehen.

Meine Gesprächspartner gehörten zu den barbudos, den Bärtigen, die den Marsch in die Sierra Maestra und die Kämpfe in den Bergen überlebt hatten. Fidel Castros Bruder Raul, Ramiro Valdez, der damalige Innenminister, und Manuel Pineiro, der Chef des Aufklärungsdienstes, waren auf verschiedene Weise eigenwillige und faszinierende Persönlichkeiten.

Ramiro Valdez wirkte wenig staatsmännisch und eher wie ein leichtfertiger Draufgänger. Ich erinnere mich einer waghalsigen Autofahrt in einem riesigen Cadillac, bei der er am Steuer locker mit mir plauderte, während er bei Rot über die Kreuzungen raste. Er interessierte sich für unsere Erfahrungen, vor allem aber für unsere Möglichkeiten, seinen Dienst technisch zu unterstützen. Seinen Schreibtisch übersäten Kataloge und Fachzeitschriften, die über den neuesten Stand der Abhörtechnik berichteten, über Fernsteuerungen und leistungsstarke Mikrofone, Miniatursender und dergleichen mehr. Sein Glaube an die Technik und an die unerschöpflichen Geldquellen der DDR war grenzenlos, und groß war seine Enttäuschung, als ich ihm behutsam klarmachen mußte, daß die Sowjetunion der Ansprechpartner für seine extravaganten Wünsche war. Unsere Gespräche drehten sich bald im Kreis.

Die Anwesenheit sowjetischer Berater erwähnte Valdez mit keiner Silbe – fast so, als ob sie nicht existierten. Ich bekam sie auch bei keiner geselligen Zusammenkunft zu sehen. Wollte ich mich mit einem der sowjetischen Vertreter treffen, die man mir in Moskau genannt hatte, dann mußte ich zuerst meine kubanischen Betreuer nach allen Regeln der Konspiration abschütteln. Erst in späteren Jahren änderte sich das.

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Die Kommunistische Partei war damals noch im Aufbau, und vielerorts stießen wir auf ihre sehr unterschiedlichen Vorläufer. Bei Fahrten ins Land versuchte ich stets, das Bild zu vervollständigen, das man in Havanna gezeichnet hatte. Widersprüche und Kritik waren nicht zu überhören. Wenn ich mich dann mit Raul Castro oder Ramiro Valdez unterhielt, merkte ich schnell, daß unser ständiger Begleiter ihnen jedes Wort, das wir mit Dritten gewechselt hatten, kolportiert hatte. Meist sprachen sie die Meinungsäußerungen so direkt und ungeniert an, daß man ihnen nicht ernstlich böse sein konnte.

Comandante Pineiro, wegen seines roten Bartes barba roja genannt, war mit einer Amerikanerin verheiratet, sprach aber nicht besser Englisch als ich; dennoch verständigten wir uns glänzend. Nie war er um einen Scherz verlegen, und mit seinen listigen Fragen erfuhr er fast immer, was er wissen wollte. Neben seinem Humor und seiner Lässigkeit hatte er eine erfrischend respektlose Art, über den zur Legende stilisierten Befreiungskampf und über Fidel Castro zu sprechen.

Jahre später erfuhr ich von ihm, warum Che Guevara 1966 als Guerillakämpfer nach Bolivien gegangen war. Für meinen Bruder Konrad und mich war Che wie für so viele in Ost und West seit seiner Ermordung 1967 ein Idol gewesen. Offenbar hatte das Einlenken der Sowjets, als sie ihre Raketenbasen abbauten, um die Kubakrise zu beenden, ihn tief enttäuscht, und zur Enttäuschung hatte sich wohl die Illusion gesellt, er könne mit einer Handvoll verwegener Kämpfer in Bolivien wiederholen, was in Kuba gelungen war. Doch dabei hatte er den Unterschied zwischen der Entschlossenheit der Kubaner, sich zu befreien, und der leidgewohnten Lethargie und Zerrissenheit der bolivianischen Bevölkerung außer acht gelassen. Da wurde mir erstmals bewußt, daß ich bei meinem ersten Besuch im Januar 1965 Che nicht zu Gesicht bekommen hatte und sein Name kein einziges Mal gefallen war. Ich erinnerte mich, Tamara Bunke in jenen Tagen auf Kuba gesehen

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zu haben, eine junge Frau aus der DDR, die später mit Che Guevara in Bolivien den Tod fand. Mein Bruder Konrad trug sich lange mit den Gedanken, einen Film über Tamara Bunke zu machen.

Neben Valdez und Pine iro wirkte Raul Castro überlegener, gebildeter und staatsmännischer. Bei jedem meiner Besuche konnte ich mich von seiner Autorität und seinen Führungsqualitäten überzeugen. Von den anderen Comandantes unterschied er sich nicht nur durch den schmalen Lippenbart, sondern am auffälligsten dadurch, daß man sich bei ihm darauf verlassen konnte, daß er verabredete Termine einhielt. Seine Landsleute zogen ihn mit seiner Pünktlichkeit auf, und Fidel nannte ihn den Preußen unter den Kubanern. Im mexikanischen Asyl hatte er sich am gründlichsten mit marxistischer Theorie, Militärtheorie und den Erfahrungen anderer revolutionärer Bewegungen befaßt. Anders als seine emotionaleren Kollegen, ließ er sich keine betonte Distanz zur Sowjetunion oder Enttäuschung über sie anmerken. Obwohl der Nachrichtendienst nicht unter seine Zuständigkeit fiel, nahm er sich bei jedem meiner Besuche Zeit für ein Gespräch mit mir, so auch bei meinem Aufenthalt im Jahr 1985, als ich gerade aus Nicaragua zurückkehrte.

Nicaraguas Innenminister Tomás Borge hatte mich zum sechsten Jahrestag der Sandinistischen Revolution nach Managua eingeladen. Die gewaltige Volksversammlung im Zentrum dieser Stadt, die durch ein Erdbeben nahezu vollständig zerstört war, beeindruckte mich außerordentlich. Viele der Teilnehmer hatten stundenlange Fußmärsche hinter sich, weil es kaum Benzin gab, doch alle waren voller Begeisterung gekommen, um ihre Comandantes hochleben zu lassen.

Wie im Kuba der 60er Jahre hatte man in Nicaragua den Eindruck, daß das Volk fast einhe llig die Revolution unterstützte. Die Sandinisten hatten es in den Jahren seit dem Sturz Somozas verstanden, sich mit ihrer ganz eigenen

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Mischung aus sozialdemokratischem, sozialistischem, christlichem, bürgerlichhumanistischem und marxistischem Gedankengut zu behaupten. Charakteristisch für die Sandinisten war auch, daß fast jeder von ihnen Schriftsteller war, wenn nicht gar Dichter. Tomás Borge machte da keine Ausnahme. Er hatte eine faszinierende Ausstrahlung in der intellektuellen Debatte, war aber auch unschlagbar beim Wettschwimmen in der malerischen Lagune Jiloa.

Mit Tomás Borge (1. von links) 1985 bei Managua

Borge zeigte mir eine Analyse seines Ministeriums und ein Konzept für den Fall einer militärischen Intervention der USA, mit der jederzeit gerechnet werden mußte. Die Stellen an der Pazifikküste, die sich für eine Landung eigneten, wurden Tag und Nacht überwacht, alle lebenswichtigen Objekte waren permanent abgesichert. Wie auf Kuba war auch hier überall die Bereitschaft zu spüren, das eigene Leben einzusetzen. Jammern und Klagen habe ich in Nicaragua nie zu hören bekommen.

Jedermann wußte, daß es nicht zu einer zweiten Machtprobe zwischen UdSSR und USA auf lateinamerikanischem Boden

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kommen würde. Andererseits konnten die USA Nicaragua zwar ökonomisch, politisch und militärisch unter Druck setzen, aber sie konnten es nicht international isolieren, wie es mit Kuba möglich gewesen war. Die Sandinisten nutzten ihre Zugehörigkeit zur Sozialistischen Internationale und ihre guten Beziehungen zur deutschen Sozialdemokratie mit großem Geschick. Mit ihrem eklektizistischen Sozialismus à la Sandinista liefen sie keine Gefahr, als moskauhörig abgestempelt zu werden. Außerdem hatte Nicaragua trotz aller Grenzzwischenfälle, die meist durch die Söldnertruppen der Contras provoziert wurden, ein gutes Verhältnis zu den Nachbarstaaten Guatemala im Norden und Costa Rica im Süden. Das unablässige Hin und Her von Landarbeitern, Händlern, Gewerbetreibenden und Kleinindustriellen hatte in Mittelamerika eine ganz eigene familiäre Verflechtung erzeugt, und auf diese Verbindungen konnten die Sandinisten sich in Notfällen verlassen.

Eine gewisse Sorglosigkeit der Nicaraguaner in Sicherheitsfragen wurde vor allem von den Kubanern getadelt. Lange Zeit galt in Nicaragua jeder als zuverlässig, der am bewaffneten Kampf teilgenommen hatte. Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, daß im Umgang mit mir die Regeln der Konspiration so unerbittlich gewahrt wurden, daß Gespräche grundsätzlich im Freien geführt wurden.

Unser bescheidener Beitrag bestand darin, daß wir in der DDR Nicaraguaner für den Personenschutz ausbildeten und technisches Zubehör lieferten. Die Ausrüstung des nicaraguanischen Sicherheitsdienstes war völlig ungenügend, und man sah ihr an, daß sie aus Spenden sozialistischer Länder zusammengeflickt war. Doch anders als bei den meisten afrikanischen Diensten führte man uns stolz die tadellos gepflegten und gewarteten Geräte vor.

Mehr als die Contras, mehr sogar als das Schreckgespenst einer Invasion amerikanischer Truppen fürchtete die

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sandinistische Regierung die Folge der zerrütteten Wirtschaft. Dankbar erkannte man in Managua die Hilfe der sozialistischen Länder an, doch ein Blick in die leeren Geschäfte genügte, um zu erkennen, daß diese Art von Wirtschaftshilfe nicht einmal den berühmten Tropfen auf den heißen Stein gewährleistete. Die Wirtschaftsblockade, die die USA mit Erfolg durchführten, hatte das Überleben der Nicaraguaner bis zur Schmerzgrenze erschwert.

Mit Raúl Castro 1985 auf Kuba

Bei unserem Gespräch nach meinem Besuch in Managua fragte mich Raul Castro, ob mir nicht aufgefallen sei, wie sehr das Vorgehen der USA gegenüber Nicaragua dem chilenischen Szenarium von 1973 ähnelte. Er hatte recht. Die finanzielle US-Hilfe für Violeta Chamorros Oppositionsblatt La Prensa erinnerte überdeutlich an die seinerzeit mit El Mercurio, der größten Tageszeitung Chiles, praktizierte Methode. Neben der großzügigen Finanzierung der Opposition hatte die CIA auch in Chile auf die Verschärfung der ohnedies schon gravierenden

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Wirtschafts- und Versorgungsprobleme gesetzt, um Salvador Allende zu stürzen, dessen Wahl sie zu ihrem großen Verdruß nicht hatte verhindern können. Multinationale Unternehmen wurden unter Druck gesetzt, und im Hintergrund zog John McCone, ehemaliger CIA-Direktor, der im Aufsichtsrat von ITT saß, die Fäden, denn die staatliche Telefongesellschaft Chiles war eine Tochtergesellschaft von ITT.

Als dieser ganze Druck noch immer nicht das gewünschte Ergebnis zeitigte, sah die CIA sich genötigt, als letztes Mittel den Putsch der Generale einzuleiten. Da der Oberkommandierende, General René Schneider, allen Umsturzplänen eine unmißverständliche Absage erteilt hatte, mußte er im September 1973 als erster beseitigt werden. Allendes tragischer Irrtum war es, zu lange darauf zu vertrauen, daß die chilenische Armee, verwurzelt in einem demokratischstaatsbürgerlichen Traditionsverständnis, sich niemals gegen ein demokratisches Parlament und eine demokratisch gewählte Regierung erheben würde. Vor einem drohenden Militärputsch hatte mein Dienst Allende und Luis Corvalán, den Führer der chilenischen KP, bereits im Frühjahr 1973 gewarnt. Unsere Informationen stammten vom BND und sprachen eine deutliche Sprache, denn der BND war in Chile stark vertreten und war über die Absichten der Putschisten voll im Bilde. Wie mir Castro erzählte, hatte auch der kubanische Nachrichtendienst Allende rechtzeitig dringend gewarnt.

Mein Dienst hatte in Santiago keinen einzigen Mitarbeiter postiert. Nach dem Putsch und dem Mord an Allende suchten Anhänger der Unidad Populär, der Regierungskoalition, in Todesangst Zuflucht in der Botschaft der DDR. Prominentester Schutzsuchender war Carlos Altamirano, der Generalsekretär der Sozialistischen Partei. Da die DDR die diplomatischen Beziehungen zu Santiago abgebrochen hatte, waren ihr offiziell die Hände gebunden. In aller Eile entsandten wir Offiziere von Ost-Berlin aus, die erkundeten, wie durchlässig die Kontrollen

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auf chilenischen Flughäfen, im Hafen von Valparaiso und an den Straßenübergängen nach Argentinien waren. Wir überlegten Möglichkeiten, Handelsschiffe umzudirigieren, und installierten Verstecke in Fahrzeugen, die wir nach Chile einschleusten. Endlich konnten wir das Wissen nutzbringend anwenden, das wir in jahrelangen Grenzkontrollen an den Wagen westdeutscher Fluchthelfer gewonnen hatten. Von Argentinien aus improvisierten wir eine vorbildliche nachrichtendienstliche Aktion. Die Flüchtlinge wurden in Autoverstecken und auf Schiffen in Jutesäcken zusammen mit Früchten und Fischkonserven aus dem Land geschmuggelt. In manchen Fällen dauerte es Wochen, bis wir sie in Sicherheit hatten. Altamirano traf erst zwei Monate nach dem Putsch in Ost-Berlin ein. Erich Honecker nahm an dieser Rettungsaktion großen persönlichen Anteil; seine Tochter war mit einem chilenischen Sozialisten verheiratet.

Unsere Aktion konnte nicht alle retten. Über amerikanische Verbindungskanäle Rechtsanwalt Vogels wurde uns vorgeschlagen, Luis Corvalán, den das Pinochet-Regime auf einer Insel gefangenhielt, gegen den sowjetischen Dissidenten Wladimir Bukowksi auszutauschen, der in der Sowjetunion inhaftiert war. Bei meinen Kollegen vom KGB setzte ich mich für diesen Austausch ein, und die Kubaner sekundierten mir.

Raul Castro schilderte mir auch die praktischen Folgen der Lehren, die Kuba aus dem Fiasko in Chile gezogen hatte. Alle zivilen Strukturen waren seither in die Verteidigung des Landes einbezogen. Seit neue Morddrohungen laut geworden waren, reisten die Brüder Castro nicht mehr gemeinsam, und auf öffentlichen Veranstaltungen traten sie nicht mehr gemeinsam auf.

Auf dem ganzen Hinflug hatten mich bei meinem Besuch in Mittelamerika 1985 düstere Gedanken beschäftigt. Unser gesellschaftliches System schien mir in seinen Grundfesten erschüttert. Die Praxis entfernte sich immer weiter von den

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Prinzipien, für die wir nach 1945 eingetreten waren. Die Kluft zwischen dem Wunschdenken der Politiker und der Realität verbreiterte sich zusehends, doch im neuen Generalsekretär der KPdSU, der eine Reihe alter und kranker Männer ablöste, schien sich ein Hoffnungsstreif am Horizont abzuzeichnen. Ich glaubte, dieser neue Aufbruch könne auch Kuba und Nicaragua helfen. Damals ahnte ich nicht, daß sich gerade durch Gorbatschow, durch Perestroika und »neues Denken« in der Außenpolitik die Probleme Kubas ins Unermeßliche steigern würden.

Heute kann ich nur schweren Herzens an Kuba denken. Mein letzter Besuch auf der Insel im Jahr 1989 war von den Problemen der DDR überschattet gewesen, doch Kubas Schwierigkeiten waren nicht zu übersehen. Der Sozialismus hatte nicht gehalten, was man dem Volk versprochen hatte, und der Anblick der Menschenschlangen vor den meist leeren Geschäften und den ausländischen Botschaften verhieß nichts Gutes. Oberflächlich betrachtet steckten beide Länder in der gleichen Zwickmühle: Beide lehnten Gorbatschows Kurs ab. Bei Honecker hielt ich das für verhängnisvoll, während ich für Castro mehr Verständnis hatte, denn in Lateinamerika bedeutete jede Preisgabe errungener Positionen die Gefahr, wieder unter die Vorherrschaft der USA zu geraten. Die DDR hörte wenige Monate später auf zu existieren, und Erich Honecker, der einst chilenische Flüchtlinge aufgenommen hatte, starb im Exil in Chile, nachdem die Sowjetunion sich geweigert hatte, ihm Dauerasyl zu gewähren.

Warum hatten Castro und seine Männer sich so stark dem sowjetischen Modell angenähert? Anfangs hatte es ausgesehen, als schlügen sie einen eigenen Weg ein, wie später Nicaragua. Doch die USA hatten ihnen keine Chance gelassen, ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen, sondern sie praktisch gezwungen, sich an die Sowjetunion anzuschließen. Bei wem sonst hätte Castro Hilfe gegen den übermächtigen Boykott und die ständige Bedrohung suchen sollen?

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Häufig sagten mir politisch erfahrene Gesprächspartner im Westen – darunter auch ein Kollege des Mossad –, die USA hätten gegenüber Kuba einen ihrer schwersten Fehler begangen. Hätte Washington keine Wirtschaftsblockade durchgeführt, sondern den Ausbau der Beziehungen forciert, wäre Kuba vielleicht ein Land mit sozialen Reformen geworden, aber kein durch und durch kommunistischer Staat. Ursprünglich stand Fidel Castro dem Denken Jose Martís wesentlich näher als dem Lenins. Aber den Falken in Washington war jede Form von Sozialismus, sogar die Sozialdemokratie, ein Greuel, den sie im »Hinterhof« von god's own country nicht dulden konnten, sondern mit Stumpf und Stiel ausrotten mußten.

Was wird aus Kuba werden? Welche Chancen haben Befreiungsbewegungen in Lateinamerika heute überhaupt noch? Falls Kuba nicht zu einer lebensnotwendigen inneren Erneuerung findet, dann wird Lateinamerika bald um eine Hoffnung ärmer sein. Günter Grass hat dazu etwas gesagt, dem ich nur beipflichten kann: »Ich bin immer ein Gegner des doktrinären Systems in Kuba gewesen. Aber wenn ich heute erlebe, daß es dort zu Ende geht, ohne eine Alternative anzubieten, jedenfalls keine andere als Batista, dann bin ich für Kuba.«

Waren die Vereinigten Staaten für meine Freunde auf Kuba und in Nicaragua zweifellos ein bedrohlicher Hauptgegner, so war mein Bild von diesem Land zwar diffus, aber nicht eindimensional. Allein schon meine internationalistische Erziehung in der Familie und in der Komintern-Schule hatte mich vor stupidem Antiamerikanismus bewahrt. Hinzu kamen Freunde, die in den USA lebten, und nicht zuletzt Amerikaner, die sich zu einer Zeit für meinen Dienst einsetzten, als dieses Land für uns noch in unerreichbarer Ferne zu liegen schien und wir bei unserer Beschäftigung mit amerikanischen Objekten in der Bundesrepublik nur dürftige Anfangsergebnisse vorweisen konnten.

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Meine eigenen USA-Kenntnisse beschränkten sich auf das, was ich in Büchern gelesen hatte, darunter Hemingway, Dreiser und Steinbeck, und auf spärliche persönliche Kontakte mit Amerikanern während meiner Rundfunktätigkeit und beim Nürnberger Prozeß. Als außenpolitischer Kommentator hatte ich regelmäßig die New York Times, die New York Herald Tribune, Time und Newsweek gelesen. Bei meinen wenigen Kontakten mit dem amerikanischen Mann von der Straße war ich auf eine mir eher fremde Mentalität gestoßen. Das unkomplizierte und naive Wesen amerikanischer Soldaten erinnerte mich zwar an das russischer Soldaten, doch mit denen verbanden mich Sprache und Denkweise. Alles, was ich über die USA erfuhr, durchlief in meinem Kopf einen ideologischen Abwehrfilter, so daß ich beinahe reflexartig im Geist stets die entgegengesetzte Position einnahm und vertrat. Das wirkte sich auch auf die Freundschaft zu George Fischer aus, der in Moskau mit mir zur Schule gegangen war und als Captain im Stab Eisenhowers 1945 häufig nach Berlin kam. Die ideologische Barriere, die ich zwischen uns errichtete, trübte die Freude über das Wiedersehen und machte uns beide gehemmt.

Meine Arbeit an der Spitze des Nachrichtendienstes veränderte zwar die ideologische Frontstellung nicht, erhöhte aber die Neugier und Offenheit für alle Aspekte des Lebens der »anderen Seite«. Westdeutschland lag vor mir wie ein offenes Buch. Das amerikanische Buch hingegen war mit sieben Siegeln verschlossen.

Viel von meinem Wissen über die USA, über das politische Denken, die Hoffnungen und Ängste dort, verdanke ich zwei Männern, mit denen mich über die gemeinsamen nachrichtendienstlichen Interessen hinaus politische Überzeugungen und Sympathien verbanden. Sie waren meine ersten Agenten in Amerika und wurden nie enttarnt. Beide waren in Deutschland geboren, beide waren Juden, hatten in ihrer Jugend kommunistischen Bewegungen nahegestanden und

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mußten vor dem NS-Terror fliehen. Beide fanden in den USA Asyl, wo sie ihr Studium beendeten – der eine als Ökonom, der andere als Jurist –, und beide wurden vom OSS, dem Vorläufer der CIA, angeworben. Zur Zeit der Hexenjagd McCarthys wurde das OSS als Sammelbecken linkslastiger Intellektueller denunziert, was seine paradoxe Umkehr darin fand, daß zur selben Zeit Stalin und Berija Noël Fields OSS-Verbindung als Vorwand benutzten, eine blutige Verfolgungsorgie gegen »nicht linientreue« Kommunisten zu veranstalten.

Den Kontakt zu »Maler«, dem Ökonomen, fanden wir über einen Studienfreund. Beide hatten zur Widerstandsgruppe um Herbert Baum gehört, die 1942 eine Nazi-Ausstellung durch Spreng- und Brandsätze zu zerstören versuchte. Fünfunddreißig Mitglieder der Gruppe wurden hingerichtet. »Maler« war schon vor Kriegsausbruch emigriert, sein Freund überlebte Haft und Konzentrationslager. Als die beiden sich nach dem Krieg wiedersahen, bekleidete der Freund eine leitende Position im Finanzwesen der DDR. Er stellte die Verbindung zwischen »Maler« und meinem Dienst her.

In seinem Denken war »Maler« ungebunden und dennoch überzeugter Kommunist geblieben. Auf seinem ureigensten Wissensgebiet, der Wirtschaft, ging er mit der Realität des in der Sowjetunion und in der DDR praktizierten Systems schonungslos ins Gericht und wies nach, daß die Praxis des »real existierenden Sozialismus« nicht im entferntesten eine Anwendung oder gar Weiterentwicklung der Marxschen Lehre darstellte.

Er besaß einflußreiche Freunde in Washington und knüpfte in unserem Interesse Beziehungen zum US-Botschafter in Bonn und dem Gesandten in West-Berlin. Eine seiner Quellen war Ernst Lemmer, der Minister für Gesamtdeutsche Fragen, von dem »Maler« sich bei jedem Besuch in der Bundesrepublik ausführlich unterrichten ließ. »Maler« klärte mich über Lemmers Beziehungen zu verschiedenen Geheimdiensten mit

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Sitz in der Schweiz auf – westliche Dienste, aber auch der KGB. Technische Mittel und Kurierverbindungen lehnte »Maler«

kategorisch ab. Seine Berichte und Analysen diktierte er auf Tonband. Für seine Mühen hat er nie Geld genommen und ließ sich nur die Reisekosten erstatten. Er war umsichtig, aber nie ängstlich. Als wir vorschlugen, seine erwachsenen Kinder in die Arbeit für uns einzubeziehen, lehnte er das entschieden ab.

Während »Maler« vor allem seine Kontakte in der Bundesrepublik nutzte, war »Clivia« – so der Deckname des Emigranten, der Jurist geworden war – ein intimer Kenner der innenpolitischen US-Szene. Er war nervöser als der ruhige »Maler« und im Unterschied zu dessen Kaltblütigkeit fast ängstlich um die eigene Sicherheit besorgt. Das mag eine Folge seiner Erlebnisse bei den Verhören der Kommission für unamerikanische Aktivitäten gewesen sein, die zu seiner Entlassung aus dem Staatsdienst geführt hatten.

»Clivia« hatte ein umfangreiches Archiv angelegt, das Akten des Wilhelmstraßen-Prozesses, des Krupp- und Roechling-Prozesses sowie des Eichmann-Prozesses in Jerusalem, dem er beigewohnt hatte, enthielt. Bei den Nürnberger Prozessen hatte er zur Staatsanwaltschaft gehört, und seither war es eines der großen Ziele seines Lebens, eine schleichende Renazifizierung in der Bundesrepublik zu verhindern.

Obwohl er Atheist war, betonte »Clivia« sein Judentum und sah in meiner jüdischen Abstammung etwas, was uns verband. Von ihm hörte ich zum erstenmal die Ansicht, der Weg meines Vaters vom Humanisten aus jüdischem Elternhaus zum kommunistischen Schriftsteller gehe nicht zuletzt auf die Verwurzelung im Judentum zurück. Die Repression und die Symptome eines uneingestandenen Antisemitismus in der Sowjetunion konnte und wollte er weder verstehen noch verzeihen. Der DDR machte er keine derartigen Vorwürfe, denn sonst hätte er sich nicht bereit gefunden, für meinen Dienst zu arbeiten.

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Die Zusammenarbeit mit »Clivia« war für uns wesentlich mühsamer als die mit »Maler«. Da er in Deutschland lebte und mit einer Deutschen verheiratet war, die seiner Ansicht nach nicht erfahren durfte, daß er für uns spionierte, war jede Reise, die er unternahm, Gegenstand ausführlicher Beratungen. Da galt es, Alibis seiner Frau gegenüber zu ersinnen, Gründe für Besuche jedes einzelnen Gesprächspartners in und außerhalb von Washington, und dann mußte die finanzielle Seite geklärt werden, denn im Unterschied zu »Maler« konnte »Clivia« das Geld, das wir zahlten, durchaus brauchen. Kurzum, in seiner Brust tobte der unablässige Widerstreit zwischen seinen Motiven und seinen Gefühlen. Dennoch waren seine Informationen für unsere Beurteilung der amerikanischen Politik, vor allem in den krisenträchtigen Jahren 1961 und 1962, von großem Wert.

Bis Anfang der 70er Jahre war die Hallstein-Doktrin in Kraft, die diplomatische Vertretungen der DDR in Washington und bei der Uno in New York verhinderte, und unsere offiziellen Kontakte waren entsprechend mager. Die für die USA zuständige Abteilung meines Dienstes bemühte sich gemeinsam mit dem Sektor für Wissenschaft und Technik, ihre Aktivitäten auf das Territorium der Vereinigten Staaten auszudehnen. Doch unsere bevorzugte Methode, Agenten einzuschleusen, indem man sie mit den Papieren lebender oder verstorbener Zeitgenossen versah, war langwierig und umständlich. Mit halbwegs stimmigen Lebensgeschichten mußten die Kandidaten als sogenannte Doppelgänger zuerst nach Südafrika, Lateinamerika oder Australien auswandern, wo sie eine Weile lebten, bevor das Ziel USA angepeilt werden konnte. Und wenn sie dann glücklich in die Vereinigten Staaten eingewandert waren, verging nochmals beträchtliche Zeit, bis sie ihre eigentliche Tätigkeit aufnehmen konnten. Unter glücklichen Umständen waren sie in der Lage, uns zwischenzeitlich mit interessanten Informationen aus ihrem beruflichen Umfeld zu

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versorgen. Leider barg diese Methode des Einschleusens jene Risiken,

die es dem bundesdeutschen Verfassungsschutz Ende der 70er Jahre ermöglichten, viele unserer Agenten aufzuspüren. Die enge Kooperation zwischen Verfassungsschutz und FBI führte dazu, daß die Aktion Anmeldung sich auch auf unsere Agenten jenseits des Atlantiks auswirkte. Der schwerste Schlag war die Enttarnung und Verhaftung Eberhard Lüttichs, Deckname Brest, der nach der Festnahme sein gesamtes Wissen verriet.

Lüttich war einer der wenigen hauptamtlichen Offiziere des MfS, die wir für den illegalen Einsatz ausgewählt und vorbereitet hatten. Unter Pseudonym und mit entsprechend frisierter Vita schleusten wir ihn 1972 in die Bundesrepublik ein. In Hamburg bewarb er sich bei einer internationalen Spedition, und binnen kurzem brachte er es zu einer leitenden Stellung in deren New Yorker Niederlassung. Sein berufliches Umfeld ermöglichte es ihm, uns brauchbare Informationen über den Transport von Rüstungsgütern und über Umzugsbewegungen im Bereich der US-Armee zu verschaffen, während er sich darauf vorbereitete, zu gegebenem Zeitpunkt Quellen aufzutun und zu betreuen.

Daß es dazu nicht mehr kam, war eine direkte Folge der Aktion Anmeldung. Die Schwächen unserer Einschleusungsmethodik waren nicht länger zu leugnen, und wir mußten – auch als Folge des Verrats von Lüttich – in den sauren Apfel beißen und unsere gesamten legalisierten »Illegalen« nach und nach aus den Vereinigten Staaten zurückziehen, darunter einen weiteren Offizier und ein Wissenschaftlerehepaar. Alles andere als erfreulich war auch, daß Lüttich der Hamburger Polizei nach seiner Festnahme Ende 1979 nicht nur haarklein unsere Methoden schilderte, sondern auch berichtete, daß unsere Zentrale in Ost-Berlin unsere Agenten in den USA mit einseitigen Funksprüchen erreichte, die von einem Sender auf Kuba ausgestrahlt wurden. Es hatte Jahre gedauert, diesen

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Sender zu bauen. Lüttich verriet außerdem seinen Verbindungsmann, der sofort verhaftet wurde und den wir erst zwei Jahre später im Austausch gegen westliche Agenten freibekamen.

Seit dieser Schlappe haben wir in den USA nicht mehr recht Fuß gefaßt. Unsere Bemühungen, die Verluste zu ersetzen, blieben in den Anfängen stecken. Ehepaare einzuschleusen war meist zu mühsam, und alleinstehende Herren, die durch Einheiraten an die begehrten Ausweispapiere gelangen wollten, taten sich viel schwerer als in der Bundesrepublik. Wir konnten die Augen nicht vor der betrüblichen Erkenntnis verschließen, daß die Rasterfahndungsmethoden des FBI so gut griffen, daß unsere eingeschleusten Mitarbeiter in den USA ein hohes Risiko eingingen.

Unsere legalen Residenturen in Washington und am Sitz der Uno in New York zeichneten sich hauptsächlich dadurch aus, daß sie personell und materiell überaus aufwendig und nicht sonderlich effektiv waren. Wir hatten nie bezweifelt, daß sie unter pausenloser FBI-Überwachung stehen würden. Die Praxis bestätigte, daß unsere Residenturen keinen Deut weniger intensiv durchleuchtet wurden als die der UdSSR. Gelegentlich erlangten wir durch unauffällige und meist zufällige Kontakte an Äußerungen, die Reagan oder Bush im Kreis von Senatoren, Abgeordneten oder Managern getan hatten, aber fast immer konnte man die vermeintlichen Interna wenige Tage darauf in der Zeitung lesen. Echte nachrichtendienstliche Quellen außer den genannten gab es in der Zeit, die ich übersehen kann, in den USA nicht.

Es kam vor, daß echte oder von der amerikanischen Abwehr gesteuerte Geheimnisträger als Selbstanbieter in der DDR-Botschaft vorstellig wurden. Anfang der 80er Jahre erschien eines Tages ein Mann, der geheime Informationen über Atom-U-Boote verkaufen wollte. Auf den ersten Blick war an seinem Material nichts auszusetzen, und der Mann wurde von unseren

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Leuten zu einem Treffen nach Mexiko bestellt, dem neben unserem Mitarbeiter als Experte Professor Zehe von der Technischen Hochschule Dresden beiwohnen sollte. Der ganze Vorgang wurde mit größter Vorsicht behandelt. Professor Zehe aber nutzte die unverhoffte Reise, um auf dem Rückweg aus Mexiko Anfang November 1983 eine wissenschaftliche Tagung in Boston zu besuchen, auf der er prompt festgenommen wurde. Meine Mitarbeiter schworen Stein und Bein, daß sie Zehe ausdrücklich verboten hatten, in die USA zu reisen. Ob er nun aus Zerstreutheit oder Weltfremdheit die Warnungen in den Wind geschlagen hatte – was wir als vorsichtig anzugehenden Test gegenüber einem Selbstanbieter geplant hatten, der sich als Doppelagent entpuppte, war unter der Hand zu einer spektakulären Aktion gegen uns geworden. Das FBI triumphierte, die amerikanischen Medien konnten sich lautstark darüber empören, daß die DDR zu einem Zeitpunkt kaltschnäuzig der Spionage nachging, zu dem ihr Außenminister um bessere Beziehungen bemüht war und ihr Staatsratsvorsitzender eingeladen zu werden versuchte.

Rechtsanwalt Vogel zog Erkundigungen ein, wie man den universitären Unglücksraben aus der Patsche holen konnte, und wir bekamen eine deutliche Vorstellung davon, in welchen Dimensionen sich Anwaltskosten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten bewegten. Nach einem halben Jahr erfuhren wir, daß Zehe gegen eine Kaution von einer Million Dollar auf freien Fuß gelangen könne. Als alles geregelt schien und die Austauschkandidaten – dreiundzwanzig Westspione und der Dissident Schtscharanskij gegen einen Bulgaren, einen jungen polnischen Aufklärer, eine DDR-Bürgerin im Sold eines sowjetischen Dienstes und unseren Professor – feststanden, hieß es plötzlich, Zehe habe es sich anders überlegt und wolle in den USA bleiben. Zwei Wochen später hatte er es sich dann wieder anders überlegt und wollte nun doch ausgetauscht werden. Die Austauschaktion auf der Glienicker Brücke fand natürlich wie

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immer große Beachtung in Presse und im Fernsehen. Mein Dienst war dabei mit einem zerstreuten Professor vertreten, der aus reiner Tolpatschigkeit in eine Falle der amerikanischen Abwehr getappt war – nicht gerade der Stoff, aus dem Agententhriller gemacht werden.

So unergiebig unsere Situation in den USA war, so wenig kompliziert war sie vor der eigenen Haustür. Auch wenn man nicht bloß den Mund aufzumachen brauchte, damit einem die gebratenen Tauben von selbst hineinflogen, erleichterten uns viele Faktoren das Vorgehen. Die Atmosphäre der 68er-Bewegung, der Protest gegen den Vietnamkrieg, das kritische Verhältnis zu Obrigkeit und Autorität waren ein Phänomen der ganzen westlichen Welt und prägten auch die jungen Amerikaner, die in der Bundesrepublik und in West-Berlin lebten. Die geballte Präsenz des US-Militärs und der dazugehörigen Zivilisten in West-Berlin und in Heidelberg, wo sich das Hauptquartier der US-Streitkräfte in der BRD befand, machte es uns relativ leicht, Kontakte anzuknüpfen und auszubauen. Anders als Engländer und Franzosen integrierten die Amerikaner sich in das gesellschaftliche Leben. Auch in Ost-Berlin bewegten sie sich freier.

Was die Kontakte besonders förderte, war der sprichwörtliche amerikanische Sinn für unkonventionelle Gelegenheitsgeschäfte. Im nachhinein muß ich gestehen, daß mein Dienst diese Vorliebe der Amerikaner für schnellverdientes Geld viel zu zaghaft genutzt hat. Wir wußten zwar, daß amerikanische Dienste meist ganz unverblümt den finanziellen Faktor ansprachen, wenn sie DDR-Bürger anzuwerben versuchten, aber wir selbst taten uns im umgekehrten Fall mit diesem Pragmatismus ohne jede weltanschauliche Verbrämung schwer.

Welche Ergebnisse es zeitigen konnte, wenn man das Geld sprechen ließ, demonstrierte uns ein türkischer Mittelsmann. Hussein Yildrim arbeitete als Kfz-Mechaniker am US-Militärstützpunkt in West-Berlin und belieferte uns mehr als

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sechs Jahre lang mit hochkarätigen Informationen, die er dem Unteroffizier James Hall – Deckname Blitz – abkaufte, der in der elektronischen Spionage der National Security Agency tätig war. Neben Informationen erfuhren wir durch Yildrim auch die wahre Bedeutung des Kürzels NSA: Laut den Mitarbeitern der Agentur hieß das no such agency, weil die Geheimhaltung um diesen Dienst so abstruse Blüten trieb, daß jedermann im US-Nachrichtengewerbe angehalten war, die Existenz der NSA zu leugnen.

Zu den wichtigsten Unterlagen, die Hall alias »Blitz« uns lieferte, gehörte das, was er uns über Amerikas »großes Ohr« zur Kenntnis brachte, den riesigen, weltumspannenden Komplex von Abhöranlagen, zu dem die Anlage auf dem Teufelsberg im Grunewald und Horchposten unweit der Grenze zwischen BRD und DDR gehörten und dem kein Räuspern entging, das in den Äther drang. Dreizehnhundert hochspezialisierte Techniker fingen allein in Berlin Radio- und Telefonbotschaften ab, analysierten und klassifizierten sie und leiteten die Informationen weiter, die sie aus ihnen herausfilterten. Früher hatten wir uns aus unterschiedlichen Quellen umständlich ein Mosaik an Informationen zusammensetzen müssen. So hatten wir herausbekommen, daß vom Teufelsberg aus unsere Telefonleitungen und Radiosendungen abgehört wurden, und wir hatten – leider zu spät – in Erfahrung gebracht, daß es den Technikern gelungen war, die Codes zu knacken, mit denen die täglichen innen- und außenpolitischen Lageberichte chiffriert waren, die das Zentralkomitee erhielt. Günter Mittag, der Wirtschaftsminister, präsentierte auf diesem Weg den Amerikanern jeden Tag das neueste Bulletin unserer wirtschaftlichen Situation, ohne es zu ahnen. Später erfuhr ich, daß die bundesdeutschen Dienste immer wieder vergebens versucht haben, diese Informationen von den Amerikanern zu erhalten, und daß die Amerikaner nicht damit herausrückten, weil sie klug genug waren zu argwöhnen, daß mein Dienst dies

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sehr bald in Erfahrung bringen würde. Seit es »Blitz« gab, mußten wir uns nicht mehr abmühen;

geheime und geheimste Informationen flössen unaufhaltsam. Beide, Hall und sein Mittelsmann, waren alles andere als billig, aber die Informationen waren es wert. Umfang und Inhalt der Dokumente überforderten unsere Auswerter bald, und deshalb schlug ich vor, daß wir sie an den KGB weitergaben, da sie vor allem von strategischer Bedeutung waren. Bevor wir das taten, ließen wir sie vom Leiter der Funkaufklärung und -abwehr (HA III) im MfS beurteilen. Er äußerte sich sehr begeistert und eröffnete uns, daß laut diesen Unterlagen das elektronische Kampfführungssystem der USA und ihrer Nato-Partner – ELOKA – diesen exakte Kenntnisse über die entscheidenden Kommandozentralen der Staaten des Warschauer Pakts und über sämtliche Truppenbewegungen des Ostblocks von der DDR bis weit in die Sowjetunion hinein ermöglichte.

»Blitz« verschaffte uns auch einen Bericht mit der Bezeichnung Canopy Wing, der auflistete, welche elektronischen Mittel vorgesehen waren, um im Ernstfall die Kommandozentralen der UdSSR und der Warschauer-Pakt-Staaten auszuschalten. Dieser Plan führte detailliert aus, wie die Hochfrequenzsender des sowjetischen Oberkommandos, über die die Befehle an die Streitkräfte geleitet wurden, unbrauchbar gemacht werden konnten. Eine andere Lieferung unseres Informanten umfaßte dreizehn Dokumente, Direktiven und Arbeitsdokumente der NSA und des Intelligence and Security Command (INSCOM), deren Inhalt die Pläne der USA auf dem Gebiet der Funkaufklärung bis ins nächste Jahrzehnt detailliert auflistete.

Auch nach der Versetzung Halls in die Zentrale der NSA in den Vereinigten Staaten riß der Kontakt nicht ab. Er besorgte uns weiterhin so brisantes Material, daß wir ihm rieten, etwas zu bremsen, damit er sich nicht verdächtig machte. Seine allzugroße Geschäftstüchtigkeit wurde ihm zum Verhängnis.

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Offenbar versuchte er, mit dem KGB in Verbindung zu treten, um eine lukrative Zweitverwertung seines Wissens zu tätigen, indem er es zusätzlich an die Sowjetunion verkaufte. Das ließ ihn ins Blickfeld des FBI geraten, und von da an waren seine Tage gezählt. Im Dezember 1988 wurde er zusammen mit Yildrim bei einem Rendezvous mit einem FBI-Agenten, der sich als KGB-Agent ausgab, verhaftet. Die amerikanische Abwehr schätzte, daß die Unterlagen, die er uns beschafft hatte, meinem Dienst dazu verholfen hatten, die elektronische Überwachung Osteuropas durch die Amerikaner für mindestens sechs Jahre hinfällig zu machen. Hall wurde zu vierzig Jahren Gefängnis verurteilt.

Ebenfalls von hohem Wert waren die Informationen, die uns Jeffrey Carney – Deckname Kid –, ein Sergeant der Air Force, der als Linguist und Kommunikationsfachmann eingesetzt war, über die amerikanische elektronische Spionage lieferte. Vom Hauptquartier der NSA in Fort Meade in Maryland liefen Direktverbindungen zur Europavertretung in Frankfurt am Main und zum West-Berliner Teufelsberg. Carneys Material bewies uns anschaulich, wie dieses Kommunikationssystem innerhalb von Minuten nach Kriegsausbruch Dutzende sensibler Ziele im Warschauer Pakt anzuzeigen vermochte. Wir konnten nicht daran zweifeln, daß den georteten Hauptquartieren im Ernstfall die unmittelbare Zerstörung drohte.

Manche Dinge kamen mir so phantastisch vor, daß ich sie mir von Experten erklären lassen mußte, um sie glauben zu können. So befaßte sich beispielsweise ein in West-Berlin stationiertes Team mit dem sowjetischen Militärflugplatz Eberswalde etwa fünfundzwanzig Kilometer nordöstlich Berlins. Ein Dokument, das Carney uns besorgt hatte, beschrieb, wie es den Amerikanern gelungen war, in die Luft-Boden-Kommunikation dieses Flugplatzes einzudringen. Inzwischen waren sie damit beschäftigt herauszufinden, wie sie die Bodenleitzentrale ausschalten und von West-Berlin aus simulieren konnten. Wenn

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ihnen das gelungen wäre, dann hätten die sowjetischen Piloten ihre Befehle von einer amerikanischen Kommandostelle erhalten. Es las sich wie Sciencefiction, aber angesichts des enormen Einsatzes wissenschaftlicher und technischer Potenzen erschien es weniger abwegig, als man meinen könnte.

Im April 1984 wurde Carney nach Texas versetzt, wo seine Bedeutung für uns noch größer war. Ein Jahr später jedoch ersuchte er um Asyl in unserem Land. Er schilderte den Fall eines engen Freundes, der als Spion verdächtigt und eines Tages mit einer Plastiktüte über dem Kopf erstickt in der Badewanne aufgefunden worden sei. Ganz offensichtlich fürchtete er ein ähnliches Schicksal. Ob seine Ängste einen realen Hintergrund hatten oder ob er jener Paranoia erlegen war, denen Spione infolge ihrer nervlichen Anspannung leicht zum Opfer fallen können, änderte nichts an unserer Befürchtung, daß er in seinem nervlich angegriffenen Zustand Gefahr lief, beim geringsten Anlaß alles zu gestehen. Wir griffen auf eine Methode zurück, die für Notfälle reserviert war, und besorgten Carney kubanische Papiere, mit denen er nach Havanna flog; von dort ging es über Moskau nach Ost-Berlin. Damit er sich nicht langweilte, setzten wir ihn bei der Überwachung englischsprachiger Funksprüche in der Hauptabteilung III ein. Als der Zusammenbruch unseres Staates sich abzeichnete, wurden ihm Papiere angeboten, mit denen er nach Südafrika auswandern konnte, doch das lehnte er ab und tauchte lieber im Süden der DDR unter. Noch vor dem endgültigen Aus für die DDR entführte ihn von dort der amerikanische Geheimdienst – mit Hilfe westdeutscher Dienste, wie ich vermuten darf. In den USA wurde er dann zu achtunddreißig Jahren Gefängnis verurteilt.

Wie aber sah es mit den Versuchen der USA aus, meinen Dienst zu infiltrieren oder zumindest Agenten in die DDR einzuschleusen? Im Verlauf eine r intensiven Analyse der CIA-Aktivitäten in der Bundesrepublik, die wir 1973 durchführten, stellten wir fest, daß die CIA DDR-Bürger in der

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Bundesrepublik anzusprechen versuchte. Indem wir die Leute etwas genauer unter die Lupe nahmen, die bei geselligen Anlässen das Gespräch mit unseren Landsleuten suchten, gelangten wir schnell zu einer Bestandsaufnahme der CIA-Anwerber, und auf diesem Weg kamen wir dem CIA-Agenten mit Codenamen Thielemann auf die Spur, der beauftragt war, Kontakte zu ostdeutschen Diplomaten, Geschäftsleuten und Akademikern herzustellen. »Thielemann« operierte von Bonn aus. Nachdem wir ihm auf die Schliche gekommen waren, versorgten wir ihn mit Selbstanbietern, die ihm gezielte Desinformationen übermittelten. Wir waren tatsächlich in der beneidenswerten Lage zu wissen, daß alle vermeintlichen CIA-Spione in der DDR in Wirklichkeit inoffizielle Mitarbeiter des MfS oder umgedrehte Doppelagenten waren. Nach der Wiedervereinigung wurde mir das von CIA-Mitarbeitern bestätigt.

Ich möchte dieses Kapitel nicht beschließen, ohne die Geschichte eines Mannes zu erwähnen, den ich stets bewundert habe und dem ich – ähnlich wie »Maler« und »Clivia« – viel von meinem Wissen über die Vereinigten Staaten verdanke. Es handelt sich um Klaus Fuchs, den berühmten Physiker, der oft als größter Atomspion bezeichnet wurde, den Mann, der die Entwicklung der Atombombe in Los Alamos begleitet und die Sowjetunion auf allen Etappen über die dabei beschrittenen Lösungswege informiert hat. Er war Zeuge der gewaltigen Detonation am 16. Juli 1945, als sich der Atompilz als drohendes Vernichtungsmal über der Wüste von Arizona erhob. Die bevorstehende Zündung der Bombe hatte Fuchs so rechtzeitig nach Moskau signalisiert, daß Stalin keine Überraschung zeigte, als Präsident Truman nach Erhalt des Telegramms über die »Geburt des Babys« die Nachricht am Verhandlungstisch der Siegermächte bekanntgab, die in Potsdam konferierten.

Seit langem beschäftigte es mich, daß Fuchs als anerkannter

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Wissenschaftler und Mitglied des Zentralkomitees der SED in Dresden lebte, seit er 1959 aus britischer Haft entlassen worden war, sich aber rundheraus weigerte, Fragen zu seiner nachrichtendienstlichen Tätigkeit zu beantworten. Ich konnte und wollte mich nicht damit abfinden, daß ein Mann mit einem so außergewöhnlichen Leben sein Wissen mit ins Grab nehmen sollte. Wenige Jahre bevor er starb, konnte ich ihn schließlich dazu bewegen, sein Schweigen zu brechen – und auch das erst, als Erich Honecker sich persönlich an ihn wandte und ihn bat, sich mit mir zu unterhalten.

Klaus Fuchs 1950

In seiner Art zu reden, in seinem ganzen Auftreten entsprach Klaus Fuchs nicht den landläufigen Vorstellungen von einem erfolgreichen Spion. Die hohe Stirn, die aufmerksamen, nach jeder Frage hinter der randlosen Brille nachdenklich blickenden Augen vertieften den Eindruck des typischen Wissenschaftlers, den er vom ersten Moment an machte. Diese Augen wurden lebendig, wenn Fuchs auf die Grundlagen der theoretischen

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Physik, auf die Quantentheorie oder die mathematische Berechnung von Schwankungen bei der Implosion in der Plutoniumbombe zu sprechen kam. Er war Forscher mit Leib und Seele.

Mit Klaus und Margarete Fuchs 1983

Fuchs war aus dem Stoff, aus dem Männer wie Richard Sorge, Harro Schulze-Boysen, Kim Philby und viele andere waren, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in den Dienst der Sowjetunion gestellt hatten, weil sie darin eine Möglichkeit sahen, das Dritte Reich zu bekämpfen und den Zweiten Weltkrieg entscheiden zu helfen. In unserem Sprachgebrauch wurden solche Menschen, die aus Idealismus und tiefer politischer Überzeugung für den Nachrichtendienst tätig geworden waren, nicht Spione, sondern Kundschafter genannt. Fuchs war für mich ein Kundschafter, auch wenn er keinerlei nachrichtendienstliche Ausbildung, kaum Erfahrung und gewiß nicht die notwendige Härte für diese schwierige Tätigkeit mitgebracht hatte.

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Als Student hatte Fuchs sich der kommunistischen Bewegung angeschlossen und war nach 1933 auf Beschluß der Partei ins Ausland gegangen. In Edinburgh promovierte er bei Max Born, seinem verehrten Lehrer, doch bei Kriegsausbruch trennten sich ihre Wege. Born lehnte als überzeugter Pazifist entschieden die Mitarbeit an dem »kriegswichtigen« Geheimprojekt der Atombombe ab, die er hellsichtig für eine »teuflische Erfindung« hielt.

In Birmingham stellte Fuchs seine wissenschaftliche Begabung bei der Berechnung der Energieausschüttung der Bombe und bei der Lösung von Problemen bei der Isotopentrennung zur Reingewinnung von Uran 235 unter Beweis. 1941 fand er durch seinen Freund, den Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski, Verbindung zum sowjetischen militärischen Nachrichtendienst GRU. Als britischer Staatsbürger wurde er in die Delegation aufgenommen, die von 1943 bis 1946 in den USA am geheimen Manhattan-Projekt unter der Leitung Robert Oppenheimers beteiligt war. Schon damals wurden auch in den USA Stimmen laut, die von einer kollektiven Gewissenlosigkeit sprachen. Während die Väter der Bombe von der Öffentlichkeit als Helden gefeiert wurden, erkannte Fuchs, daß diese Waffe schon vor dem Abwurf über Japan zu einem Faustpfand in der Hand militanter Antikommunisten geworden war, die in der Sowjetunion nur mehr den potentiellen Gegner und nicht mehr den Alliierten sahen. Damit bekamen die Informationen des Wissenschaft lers ein neues Gewicht, denn nun war der atomare Ausgleich das einzige, was die Zukunft der Welt vor leichtsinnigen Hasardeuren schützen konnte.

»Ich habe mich nie als Spion gesehen«, sagte Fuchs zu mir. »Ich konnte nur nicht verstehen, warum der Westen nicht bereit war, die Atombombe mit Moskau zu teilen. Ich war der Ansicht, daß etwas mit einem so ungeheuren Vernichtungspotential den Großmächten in gleichem Maße zugänglich sein mußte. Die

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Vorstellung, daß eine Seite in der Lage sein sollte, die andere mit einer solchen Waffe zu bedrohen, fand ich einfach entsetzlich. Das wäre so gewesen, als würde ein Riese auf Liliputanern herumtrampeln. Ich hatte nie das Gefühl, mir etwas zuschulden kommen zu lassen, als ich Moskau mein Geheimwissen zur Verfügung stellte. Es wäre mir wie ein sträfliches Versäumnis erschienen, das nicht zu tun.«

Über seinen persönlichen Beitrag zur Entwicklung der russischen Atombombe äußerte Fuchs sich sehr zurückhaltend. Moskau hatte ihm den Wert seiner Informationen nie bestätigt, sondern jahrzehntelang so getan, als hätte der sowjetische Nachrichtendienst neben Fuchs noch andere Atomspione gehabt. Erst nach dem Tod Fuchs' wurde in der UdSSR publik, daß Igor Kurtschatow, der Vater der sowjetischen Bombe, dank Fuchs auf langwierige Versuche verzichten und sich auf das konzentrieren konnte, was in Los Alamos bereits erfolgreich probiert worden war. Vierzig Jahre nach der Explosion der ersten russischen Atombombe über der kasachischen Steppe am 29. August 1949 räumten sowjetische Wissenschaftler erstmals ein, daß ohne die Informationen von Klaus Fuchs das US-Kernwaffenmonopol niemals so früh durch die Sowjetunion hätte gebrochen werden können.

Fast unglaublich war die einfache Art, wie Fuchs seine Informationen weitergab. Er traf sich mit seinen Kontaktpartnern nach Vereinbarung, so wie er das aus seiner illegalen Arbeit als Student in Deutschland kannte. Die meisten seiner Verbindungsleute waren ihm persönlich nicht bekannt. Er erinnerte sich, daß die russischen Profis sich am auffälligsten benahmen – einer von ihnen schaute sich ständig nach Verfolgern um. Solange er in England arbeitete, war ihm Jürgen Kuczynskis Schwester, Ruth Werner, von allen Kontaktpersonen die sympathischste. In der Regel fuhren Fuchs und Ruth Werner mit dem Fahrrad in den Wald, und dort übergab der Physiker der Informantin schriftlich von Hand zu

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Hand. Dabei handelte es sich um Kopien seiner eigenen Arbeiten oder um mit seinem nahezu fotografischen Gedächtnis gespeicherte und danach niedergeschriebene Erkenntnisse über das gesamte Projekt. Ruth Werner erzählte mir später, daß sie aus Neugier zwar einen Blick auf die Formeln geworfen hatte, als Laie jedoch den Hieroglyphen in Fuchs' unendlich kleiner Schrift nicht das Geringste entnehmen konnte.

Nach der Rückkehr aus den USA arbeitete Fuchs am britischen Atomforschungsinstitut in Harwell als Leiter auf dem Gebiet der theoretischen Physik, bis er 1950 verhaftet wurde. Die fatale Kette von Verhaftungen, hinter denen das Odium des Verrats stand, zog sich vom Seitenwechsel eines Chiffreurs an der kanadischen Residentur des GRU im Herbst 1945 über die Verhaftung des britischen Atomwissenschaftlers Allan Nunn-May im Jahr darauf bis zur Festnahme von Ethel und Julius Rosenberg im Sommer 1949 und ihre Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl am 20. Juli 1953, nachdem Präsident Eisenhower zweimal abgelehnt hatte, sie zu begnadigen. Zwischen diesen Daten lagen die Verhaftung von Klaus Fuchs Anfang 1950 und im Frühjahr 1950 die von Harry Gold, der in konspirativer Verbindung zu ihm und zu Ethel Rosenbergs Bruder David Greenglass gestanden hatte; David Greenglass war in Los Alamos beschäftigt gewesen.

Die britischen Sicherheitsbeamten hatten Fuchs bei ihren Befragungen nicht aufs Glatteis führen können, und man wollte bereits jeden Verdacht gegen ihn als ausgeräumt abtun, als der stellvertretende Direktor des Instituts in Harwell, mit dem er privat befreundet war, ihn unter vier Augen fragte, ob an den Verdächtigungen etwas Wahres sei oder nicht. Wenn nicht, dann könne Fuchs sich darauf verlassen, daß alle Kollegen wie ein Mann zu ihm stehen würden. Einen Freund anzulügen, das brachte Fuchs nicht über sich, und sein Zögern und die Unfähigkeit, eine Antwort zu geben, verrieten ihn.

Ich nehme an, daß das ein besonders raffinierter Schachzug

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der britischen Sicherheitsbeamten war, die gemerkt hatten, daß sie mit konventionellen Mitteln bei Fuchs nichts ausrichten konnten. Mit seinem Ehrenkodex in Freundschaften handelte er sich vierzehn Jahre Haft ein, aus der er nach neun Jahren entlassen wurde. Daß die Sowjets ihm kein Wort der Anerkennung zuteil werden ließen, kann ich mir nur damit erklären, daß sie ihn anfangs verdächtigten, nicht dichtgehalten oder die Kette des Verrats in Gang gesetzt zu haben. Als sie es besser wußten, war es ihnen einfach zu peinlich, dieses Fehlurteil einzugestehen und sich bei Fuchs zu entschuldigen.

Klaus Fuchs, »Maler« und »Clivia« sind nicht mehr unter den Lebenden. Inzwischen habe ich die Beziehung zu meinen amerikanischen Freunden aus Kindheits- und Jugendtagen wieder aufgenommen und habe viele neue Freunde dazugewonnen, die mich eingeladen haben und mir ihre Heimat zeigen wollen. Mehr als dreißig Jahre sind seit meiner unfreiwilligen Stippvisite in New York vergangen, meinem bisher einzigen Besuch in diesem fernen Land, das ich nur aus Erzählungen, Filmen und Büchern kenne. Ich wünsche mir, meine Freunde und Bekannten zu besuchen, und ich hoffe, daß dieser Wunsch kein Wunschtraum bleibt.

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17 Der Ausstieg

Seit 1981 wurde der Gedanke, den Dienst zu quittieren, stärker in mir. Beruflich hatte ich alles erreicht, was ich mir wünschen konnte; unser Nachrichtendienst war innerhalb von dreißig Jahren zu einem der weltweit effizienten und erfolgreichen Dienste geworden. Ich wußte, daß man mit dem Gedanken spielte, mich ins Zentralkomitee zu berufen, aber das war es nicht, was mir vorschwebte, auch wenn Mielke es glaubte und tat, was in seiner Macht stand, um dies zu verhindern. Meine Zukunftspläne waren anderer Art.

Je weniger ich mein Unbehagen an der Politik unserer Führung, an den Gebrechen der Gesellschaft vor mir selbst verhehlen konnte, um so mehr hatte ich den Eindruck, daß ich mir über den eigenen Standpunkt nur Klarheit verschaffen konnte, indem ich schreibend darüber nachdachte. Wenn ich auch noch nicht mit letzter Konsequenz erkannte, daß die Krankheitssymptome in der Sowjetunion und in der DDR die gleichen waren und daß das gesamte System des »real existierenden Sozialismus« wenig Überlebenschancen hatte, weil es eben das gerade nicht war, ließen meine Zweifel sich doch nicht länger unterdrücken. Ich mußte sie artikulieren.

Vielen DDR-Bürgern, die in nicht geringer Zahl in wichtigen Positionen von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur ihr Bestes gaben, schien die Überwindung der Abwirtschaftung unserer Gesellschaft noch immer möglich, Eingeweihten jedoch war die politische und ökonomische Krise des Systems bewußt. Die geradezu hysterische Empfindlichkeit gegenüber jeglicher Kritik, die unwürdige Überwachung und Gängelung systemkritischer Schriftsteller und Wissenschaftler wie Robert Havemann, die Ausbürgerung unbequemer Bürger wie Wolf Biermann, in der unsere innenpolitische Führung inzwischen eine Ultima ratio zu sehen schien – das waren deutliche

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Anzeichen nicht nur der Hilflosigkeit, sondern der sich abzeichnenden Zukunftslosigkeit.

Außenpolitisch war diese Zeit von einer Stagnation der deutschdeutschen Beziehungen gekennzeichnet, die keine zehn Jahre zuvor so hoffnungsvoll begonnen hatten. Zugleich wurde sie von immer häufigeren und heftigeren Meinungsverschiedenheiten mit der Sowjetunion überschattet, die in herben Worten die deutschdeutsche Annäherung ebenso wie Honeckers eigenen Kurs in der China-Politik kritisierte und bedingungslose Solidarität in dem von ihr für notwendig gehaltenen Konfrontationskurs gegenüber den USA forderte. Im Mai 1982 mußte ich mir in Moskau von Andropow am Tag seiner Ernennung zum Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, anläßlich einer Beratung des Chefs aller Nachrichtendienste der sozialistischen Länder, eine Gardinenpredigt zu diesen Themen anhören.

Mit Konrad Wolf 1981

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Im nachhinein habe ich mich oft gefragt, ob Honecker mit seinen Alleingängen in der deutschdeutschen Politik und auch mit den nach Peking ausgestreckten Fühlern nicht größere Weitsicht gezeigt hat und vielleicht klüger war als wir anderen, die wir vor allem einen möglichen Konflikt mit der Sowjetunion zu vermeiden trachteten. Nein, seine Führungsschwächen sind nicht zu beschönigen: Seine eigenwillige Haltung in den letzten Jahren an der Spitze der DDR entsprang dogmatischem Denken und Subjektivismus, Selbstüberschätzung und Loslösung von jeglicher Realität. Das Beharren auf liebgewordenen politischen Vorstellungen hat zweifellos nicht wenig zum beschleunigten Untergang der DDR beigetragen. Honeckers persönliche Schwächen waren ein getreuer Spiegel der Schwächen des Systems.

In dieser Zeit diskutierte ich viel mit meinem Bruder Koni, der seit Mitte der 70er Jahre mit seinem Troika-Filmprojekt beschäftigt war, einem Projekt, das ihm sehr am Herzen lag, weil es autobiographische Wurzeln hatte. Es war die Geschichte unserer Kinder- und Jugendfreundschaft mit George und Victor Fischer und Lothar Wloch im Moskau der 30er Jahre, die Beschreibung der unterschiedlichen Wege, die die Freunde im Leben einschlugen, während sie über Grenzen und Jahrzehnte hinweg ihre Freundschaft lebendig erhielten, bis hin zu ihrem gemeinsamen Wiedersehen vierzig Jahre später in den Vereinigten Staaten. Bei diesen Gesprächen über das Troika-Projekt ahnten wir nicht, daß Koni bereits an seiner Krebserkrankung litt, die ihm keine Zeit mehr lassen sollte, den Film noch zu drehen. Unsere letzten Gespräche fanden im März 1982 an seinem Sterbebett im Krankenhaus statt. Seine letzten Gedanken waren von den Moskauer Kindheitseindrücken erfüllt. Von da an war mir, als hätte mir mein Bruder sein Troika-Projekt als Vermächtnis hinterlassen.

Unter dem Eindruck all dieser Veränderungen – innerer wie äußerer, gewollter wie schmerzlicher – nutzte ich eine Flugreise

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nach Moskau mit Minister Mielke Anfang 1983, um die mir schon länger am Herzen liegende Frage meines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Dienst anzusprechen. Flugreisen zählten zu den wenigen Gelegenheiten, wo man sich seiner Aufmerksamkeit ungeteilt versichern konnte. Mielke war diesem Thema immer wieder ausgewichen, wenn ich es zur Sprache zu bringen versucht hatte, doch hier konnte er mir nicht entwischen. Er war fünfundsiebzig geworden, ich sechzig, und die Zahl Sechzig war für mich der Rubikon, an dem ich die seit langem gereifte Entscheidung in die Ta t umgesetzt sehen wollte. Mielke war bereit, mich in die Pensionierung zu entlassen, aber den Zeitpunkt wollte er selbst bestimmen; außerdem mußte ich äußerste Diskretion versprechen – nach außen durfte nicht die geringste Andeutung dringen.

Er ließ sich von mir Vorschläge zur Übergabe der Geschäfte machen, und wenige Wochen darauf bestätigte er einen Plan, in dem ich eine kontinuierliche Übergabe der Leitung an meinen Nachfolger Werner Großmann skizziert hatte. Damit schien meinem Ausscheiden nichts weiter im Wege zu stehen.

Anfang Juli 1984 erzählte mir unser Außenminister, wie frustrierend der Moskau-Besuch Honeckers im Juni verlaufen war. Konstantin Tschernjenko, Andropows Nachfolger, hatte Honecker massive Vorhaltungen gemacht, die Bundesrepublik als Hauptverbündeten der »Abenteuerpolitik« der USA in Europa bezeichnet und Honecker beschuldigt, Kontakte der BRD in die DDR hinein zuzulassen, die den Sozialismus untergrüben und einer nationalistischen Stimmung Vorschub leisteten; dies gefährde die Existenz der DDR ganz außerordentlich. Diese Indolenz, sagte er, sei der UdSSR unverständlich, und er betonte, daß die Sicherheit der Sowjetunion und der ganzen sozialistischen Staatengemeinschaft in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten stehe. Das war mehr als deutlich. Bei solchen Worten

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wäre jeder DDR-Funktionär früher merklich zusammengezuckt, doch diesmal verfehlte die Drohung ihre Wirkung. Tschernjenko ließ durchblicken, daß Honeckers geplanter BRD-Besuch der UdSSR nicht opportun erscheine, und bezeichnete die Haltung der DDR zu China als überaus gefährlich. Frostig nahm man Abschied voneinander, und Honecker machte aus seiner Verärgerung kein Hehl.

Etwa um die gleiche Zeit erhielt ich von unserer Spitzenquelle im Brüsseler Nato-Hauptquartier eine Kopie der Ost-West-Studie der Nato übermittelt. Ich hatte sie vor den Außenministern der Mitgliedstaaten der Nato in Händen. Wegen verschiedener Pannen, die in den letzten Jahren aufgetreten waren, blieb die Identität dieser Quelle nur den wenigen Mitarbeitern meines Dienstes bekannt, die von Anfang an mit ihr zu tun gehabt hatten. Die Verbindung verlief fast nur noch unpersönlich, Treffen fanden nur in großen Zeitabständen und unter gewissenhaftesten Sicherheitsvorkehrungen statt.

Die Nato-Studie behandelte ausführlich die innere Lage der Sowjetunion, ihre wirtschaftlichen Probleme und die zunehmenden Belastungen durch die Intervention in Afghanistan, ihre Differenzen mit China und die immer sichtbarere Instabilität und Erosion des Warschauer Pakts. Ausdrücklich wies die Studie auf die Bemühungen der DDR-Führung hin, die internen Probleme der DDR durch größere Eigenständigkeit gegenüber der Sowjetunion zu lösen. Sie beschrieb die zentrifugalen Tendenzen innerhalb des Warschauer Pakts zutreffend und deutlicher, als wir selbst es hätten darstellen können. Vieles in diesem Dokument entsprach meinen eigenen Gedanken und Erkenntnissen der letzten Monate, und ich sah in diesem Papier eine Möglichkeit, unserer politischen Führung das Fatale unserer Lage vor Augen zu führen.

Gab es wirklich eine Chance, mit den spezifischen Mitteln der HVA, mit unter Gefahren und hohem Risiko beschafften

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Informationen und Dokumenten, die nur an höchster Stelle zugänglich waren, bei unseren politisch Verantwortlichen etwas in Richtung Vernunft zu bewirken? Vieles sprach gegen eine solche Vorstellung. Dennoch mußte ich es zumindest versuchen.

Ich baute auf Mielkes Neigung, mit spektakulären Ergebnissen die Erfolge des Ministeriums zu demonstrieren. Der besondere Charakter des Dokuments ließ es mir geraten scheinen, die gewöhnlich nach der Politbürositzung stattfindende Aussprache zwischen Mielke und dem Generalsekretär zu nutzen, um es vorzulegen, vielleicht sogar gleich meine Interpretation und Argumente beizusteuern. Ich konnte sicher sein, daß das Dokument sofort an den Vorsitzenden des KGB und von diesem an den Generalsekretär der KPdSU weitergeleitet werden würde.

Der geeignete Zeitpunkt, um das Dossier zu überreichen, kam, als Mielke mich in »einer wichtigen Angelegenheit« zu sich beorderte. Die Telefone und Tasten für Direktverbindungen am Pult links von seinem Schreibtisch, seiner Kommadozentrale, waren noch mehr geworden. Rechts vor ihm auf dem Schreibtisch stand das Sondertelefon, über das er mit Honecker und anderen Mitgliedern des Politbüros sprach; auf diesem Apparat erwartete er gerade einen Anruf aus Moskau, und deshalb hatte er mich kommen lassen.

Trotz der Unmutsbekundungen Tschernjenkos war die deutschdeutsche Annäherung weitergelaufen, als sei nichts geschehen. Der inzwischen zur grauen Eminenz aufgestiegene Schalck-Golodkowski und Bundeskanzler Helmut Kohls Emissär Philipp Jenninger waren schon fast unzertrennlich. Die Dreierrunde Honecker-Mielke-Mittag plante Honeckers BRD-Besuch und Gegenleistungen für einen weiteren Milliardenkredit – alles, ohne das ZK der KPdSU ins Vertrauen zu ziehen. Die Sowjetunion erfuhr davon, weil die Bundesrepublik die Verhandlungen publik machte. Daraufhin steuerte der schwelende Dissens zwischen DDR und UdSSR

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einem offenen Schlagabtausch entgegen. Mielke erklärte mir nun, daß er es für das beste gehalten habe,

Viktor Tschebrikow, den KGB-Vorsitzenden, im Auftrag Honeckers anzurufen und um Vermittlung zu bitten. Mich habe er hergebeten, damit ich Honeckers Text an Tschebrikow durchgäbe. Als das Telefon klingelte, gab Mielke mir den Hörer. Tschebrikows Stimme war mir vertraut aus der Zeit, als er Andropows Stellvertreter gewesen war. Honeckers Mitteilung verlangte von der Sowjetunion, daß sie ihre öffentliche Polemik einstelle, und beharrte auf der Notwendigkeit eines Dialogs mit der BRD. Darauf erwiderte Tschebrikow, er vermisse eine Antwort auf die sowjetische Frage nach Honeckers geplantem BRD-Besuch. Sollte inzwischen eine Entscheidung gefallen sein, seien für einen Meinungsaustausch die Parteikanäle zuständig und nicht Staatssicherheit und KGB.

Während die Sekretärin meine Gesprächsnotiz tippte, versuchte ich, Mielke die Ost-West-Studie mit einem entsprechenden Kommentar zur Kenntnis zu bringen, doch er war schon wieder nervös und im Geist mit anderen Dingen beschäftigt. Zumindest nahm er die Studie entgegen. Wenige Tage darauf führte ich ein weiteres Telefonat für Mielke, in dem die sowjetische Seite ihren Standpunkt bekräftigte. Er verpflichtete mich zu absolutem Stillschweigen und fuhr in die Schorfheide, Honeckers Jagdgefilde, um dort zusammen mit Mittag auf den Generalsekretär einzuwirken.

Tatsächlich gelang es ihnen offenbar, Honecker das Zugeständnis abzuringen, daß er seinen BRD-Besuch mit dem sowjetischen Partner abstimmte, bevor er ihn antrat. Am 17. August traf Honecker sich zu diesem Zweck mit Tschernjenko, doch wenn ich angenommen hatte, sie würden einen Kompromiß finden, dann hatte ich mich getäuscht. Die sowjetische Ablehnung der Reisepläne unseres Generalsekretärs war eindeutig und unmißverständlich, und die Mitglieder der sowjetischen Delegation äußerten sich durchgehend auf wenig

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freundliche Weise. Willi Stoph sagte später, er sei selten so enttäuscht gewesen wie angesichts dieses massiven Mißtrauens gegenüber der DDR und ihm persönlich.

Honecker steckte nun in der Zwickmühle: Er wollte an seinem Besuch festhalten, wußte aber nicht, wie er es anstellen sollte. Er zog Mielke zu Rat, der ihm entschieden abriet, die Konfrontation mit der Sowjetunion noch mehr zu verschärfen. Zu guter Letzt lenkte Honecker ein und legte seine Reisepläne auf Eis.

Jetzt galt es nur, alles so zu arrangieren, daß das Verschieben des BRD-Besuchs nicht so aussah, als sei der Rückzieher Honeckers auf Weisung Moskaus geschehen. Deshalb erging an den Leiter der Bonner DDR-Vertretung die Weisung, umgehend die Verhandlungen mit Jenninger so wenig kooperativ wie möglich zu gestalten und das Kommunique zum Besuch so abzufassen, daß es für die Bundesrepublik unannehmbar sein mußte. Aber nun schaltete Helmut Kohl sich persönlich ein und war mit allen Bedingungen einverstanden; ganz offenkundig lag ihm an der Reise nicht weniger als dem DDR-Staatsoberhaupt. Er wird nicht schlecht gestaunt haben, als der Leiter unserer Bonner Vertretung weisungsgemäß vor der Presse erklärte, der angekündigte Besuchstermin scheine nicht mehr realistisch. Honecker hatte sich – wenn auch widerstrebend den Wünschen der Sowjetunion gebeugt. Aber aufgeschoben war nicht aufgehoben.

Auf dem Rückflug von einem Staatsbesuch in Algier Ende 1984 bekamen Honeckers Mitreisende zu hören, wie wenig er den Verzicht auf den Besuch in der Bundesrepublik verwunden hatte. Er beklagte, daß es ihm wohl nicht mehr vergönnt sein werde, seine saarländische Heimat noch einmal wiederzusehen, und beschwerte sich über die Sowjetunion, von der er sich persönlich gekränkt und im Stich gelassen fühlte. Sein Fazit war, daß die DDR sich auf die eigene Kraft verlassen müsse.

Mir scheint das einen Wendepunkt im Denken und Handeln

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Honeckers zu kennzeichnen. Die sentimentale Enttäuschung, daß er, der Dachdecker aus Wibbelskirchen, nun doch nicht als anerkanntes Staatsoberhaupt den anderen deutschen Staat besuchen würde, war eine Sache; eine ganz andere war die Vorstellung des Politikers, in der DDR einen anderen Kurs als den Moskaus zu steuern und die wirtschaftlichen Probleme aus eigener Kraft, aber auch mit Finanzspritzen aus dem Westen zu lösen.

Es wäre ungerecht, Honecker nachträglich zum Provinzpolitiker zu degradieren und verletzte Eitelkeit zur einzigen Triebkraft seines Handelns zu erklären. Dem Sozialismus, wie er ihn sich vorstellte, blieb er immer treu. Keinen Augenblick dachte er daran, sich dem Westen in die Arme zu werfen oder die DDR der Bundesrepublik auszuliefern. Sein unlösbares Dilemma war, daß die Interessen der verbündeten Großmacht mit den dringend notwendigen Stabilisierungsmaßnahmen im eigenen Land nicht zur Deckung zu bringen waren. Das wahre Ausmaß der wirtschaftlichen Misere wurde zwar vor ihm geheimgehalten, aber trotz Potemkinscher Dörfer erkannte er sehr wohl, daß das Sozialprogramm, in das er so große Hoffnungen gesetzt hatte und an dem er beinahe sklavisch festhielt, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes bis an die Grenze strapazierte.

Die Einigkeit und Geschlossenheit, die Honecker und Andrej Gromyko bei den Feiern zum 35. Jahrestag der DDR demonstrierten, kaschierte nur notdürftig die verhärteten Fronten. Ihren unnachgiebigen Kurs sah die Sowjetunion bestätigt, als Präsident Reagan trotz aller Proteste in Europa die Pershing-Raketen stationierte und mit der Verkündung des SDI-Programms seine Entschlossenheit zeigte, den Rüstungswettkampf unerbittlich zu führen.

Kurz nach dem 35. Jahrestag der DDR lernte ich Hans Modrow näher kennen. Er beurteilte die Probleme ähnlich wie ich und sah die düstere Zukunftsperspektive am Horizont. Da er

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seine Meinung ehrlich vertrat, kam er schon lange nicht mehr für eine Funktion im Politbüro der SED in Frage. Das Unterlassen von Liebedienerei allein ersetzt aber noch nicht klare Analysen und radikale Reformvorschläge. Es bedeutet nur, daß man die Lage erkennt, nicht aber, daß man zumindest den Versuch macht, sie zu ändern. Leute wie Hans Modrow und ich warteten weitgehend passiv auf einen »Erlöser«, der uns dazu bringen sollte, das System zu ändern, in das wir eingebunden waren. Wir begriffen nicht, daß der Anstoß von uns selbst hätte kommen müssen.

Äußerungen und Weisungen Mielkes widersprachen sich inzwischen von einem Tag zum anderen. Eben noch sollte die Staatssicherheit dafür sorgen, daß Ausreisewillige ihre Anträge zurücknahmen, damit im nächsten Augenblick fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Ausreisewillige im Paket als Gegenleistung für den Milliardenkredit kurzfristig sollten ausreisen können. Kaum war gegen Flüchtlinge, die in der amerikanischen Botschaft oder der Vertretung der Bundesrepublik Zuflucht gesucht hatten, strenges Vorgehen angekündigt, wurden sie postwendend mit Kind und Kegel in den Westen abgeschoben. Mehr denn je war mir klar, daß ich genug hatte.

Die Trennung vom Gewohnten wäre mir weniger schwergefallen, wenn da nicht die Menschen gewesen wären, mit denen mich so viel verband. Das Professionelle war in guten Händen: Werner Großmann war ein Nachfolger, dem ich den Dienst beruhigt anvertrauen konnte. Der Acker, den ich hinterlassen würde, war gut bestellt. Aber mit vielen der Menschen, die für meinen Dienst arbeiteten, verbanden mich Jahre, oft Jahrzehnte gemeinsamer Arbeit, gemeinsamer Erlebnisse in einer nicht gerade alltäglichen Tätigkeit. Was würden sie, die sie weiter ihre Freiheit aufs Spiel setzten, zu meinem plötzlichen Ausscheiden sagen?

Doch meine Entscheidung stand fest. Im Schreiben über die eigenen Erfahrungen sah ich immer zwingender meine

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Lebensaufgabe. Das allerdings setzte meinen Abschied voraus. Zum Jahreswechsel 1985 notierte ich in meinem Tagebuch: »Will ich das in mir Gärende bewältigen, muß dieser Schritt bald getan werden.« In diesem Jahr stand der sechzigste Geburtstag meines verstorbenen Bruders bevor. Sein Troika-Projekt war mir zum Vermächtnis geworden, das nicht in der Schublade verschwinden durfte. An einem Dokumentarfilm über sein Leben mit dem Titel Die Zeit, die bleibt hatte ich zwischenzeitlich mitgewirkt.

Die auslaufende Phase meiner Arbeit im Nachrichtendienst dauerte knapp zwei Jahre. Mielke zögerte trotz seines generellen Einverständnisses die einzelnen Schritte, die zu tun waren, damit ich ausscheiden konnte, immer wieder hinaus. Er glaubte offenbar, wieder einmal besonders geschickt taktieren zu müssen, um bei den sowjetischen Freunden und in der eigenen Führung ja nicht in ein schiefes Licht zu geraten. Altersgründe anzugeben, das war angesichts seines eigenen und des Lebensalters der meisten Politbüromitglieder kaum ratsam. Die laufenden Geschäfte hatte ich zum Großteil bereits Werner Großmann übergeben. Er trug nun die Last der Arbeit, während ich am Schreibtisch saß und den Chef mehr oder weniger mimte. Dieser Zustand war der Kontinuität der Arbeit nicht zuträglich.

Um diese Situation zu beenden, drängte ich auf eine klare Entscheidung, die besonders in Hinsicht auf den im Frühjahr 1986 bevorstehenden XI. Parteitag der SED getroffen werden mußte. Ahnungslose Mitarbeiter des Zentralkomitees hatten bereits bei Mielke angefragt, ob mit meiner Kandidatur bei der Neuwahl der Mitglieder gerechnet werden könne. Mielke mußte ihnen umgehend reinen Wein einschenken und ihnen die Begründung nennen, auf die er und ich uns geeinigt hatten: daß ich mich nach dem Ausscheiden aus dem Dienst, das bereits beantragt war, voll und ganz der Pflege des Erbes meiner Familie widmen wolle.

Im Frühjahr 1985 war Michail Gorbatschow zum

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Generalsekretär der KPdSU gewählt worden. Der Perestroika-Kurs, den er schnell einschlug, weckte in unserem Land große Erwartungen auf eine mögliche Genesung des gesamten sozialistischen Systems und der an der Selbstgefälligkeit ihrer Führung krankenden und zerrissenen Gesellschaft der DDR. Ich war mir sicher, daß Glasnost, also Offenheit, auch an unserem Land nicht vorbeigehen würde.

Plötzlich begannen deutsche Freunde und die über meine Absichten informierten KGB-Vertreter in Berlin, an mein Gewissen zu appellieren, die Flinte nicht ausgerechnet jetzt ins Korn zu werfen. Angesichts der wachsenden Differenzen zwischen den Führungen unserer Länder komme es, so meinten sie, auf jeden einzelnen an, mit dem man vernünftig reden könne. Die Moskauer Freunde erwarteten sich von mir Hinweise zur Lage innerhalb unserer Führung und eine Einflußnahme in ihrem Sinn.

Zwischen den Führungen ging der alte Hickhack um die DDR-BRD-Beziehungen und Honeckers Reisewünsche weiter, bis nach Gorbatschows Auftreten auf dem XI. Parteitag der SED im April 1986. Aber die DDR hatte inzwischen gravierendere Probleme. Die Lage im Land spitzte sich zusehends zu, und ein gefährliches Konfliktpotential braute sich zusammen. Die Flüchtlinge, die an den Toren der amerikanischen Botschaft und bundesdeutschen Vertretung in Ost-Berlin und Prag Einlaß begehrten, waren Vorboten einer Lawine, die in Bewegung geraten war.

In einer solchen Situation sah ich kaum noch eine Chance, durch die Informationen der HVA auf die wahren Probleme des Landes einzuwirken, auch wenn Moskau daran noch immer glaubte. Von Gorbatschow wurde mir bei seinem Besuch eine hohe Anerkennung ausgesprochen, doch gerade dieser Besuch führte mir meine Ohnmacht drastisch vor Augen.

Honeckers BRD-Besuch war für Ende Mai mit dem Bundeskanzleramt fest vereinbart worden – wieder ohne Wissen

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der Sowjets und diesmal auch des Politbüros und der zuständigen politischen DDR-Gremien. Nur Außenminister Fischer war eingeweiht worden. Alle Kontakte wurden über Schalck und Mittag abgewickelt. Es war also kaum verwunderlich, daß die sowjetischen Vertreter in Berlin und Mitreisende in Gorbatschows Delegation sich an mich hefteten, um an Informationen zu gelangen.

Wie so viele versprach auch ich mir von Gorbatschows Anwesenheit auf dem XI. Parteitag im April nicht nur die Beilegung des Streits um Honeckers BRD-Besuch, sondern vor allem frischen Wind in Partei und Staat. Äußerlich begann der Parteitag wie gewohnt: Die schönfärberischen Reden und der Personenkult um Honecker waren noch unerträglicher als sonst. Davon hob sich das Auftreten Gorbatschows und seiner Begleiter wohltuend ab. Er erntete sogleich Sympathie, die sowohl seiner Politik der Offenheit und Ehrlichkeit als auch seiner persönlichen Ausstrahlung galt. Seine außenpolitischen Bemerkungen klangen selbstbewußt und von umsichtiger Klugheit geprägt. Die Delegierten des Parteitags, darunter auch ich, waren gern bereit, jeden Impuls aufzunehmen, der eine Wende im eigenen Land zu ermöglichen schien. Zur Entwicklung in der DDR schwieg Gorbatschow, wie nicht anders zu erwarten. Das Gespräch unter vier Augen schob Honecker hinaus. Es kam erst am dritten Tag zustande und dauerte drei Stunden. Beide Seiten brachten ihre altbekannten Standpunkte vor.

Erst später erfuhr ich, daß Gorbatschow und seine engeren Berater schon damals begonnen hatten, der Deutschlandpolitik eine ganz neue Priorität beizumessen, und daß einige Berater bereits die Möglichkeit einer deutschen Einheit ins Auge faßten. Nach Gesprächen mit Egon Krenz und anderen Mitgliedern des Politbüros wurde mir da erst klar, welches Trauma es bei Honecker bewirkt haben muß zu sehen, daß er auf einmal von Gorbatschow in den Beziehungen zur Bundesrepublik und sogar

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in der China-Politik überholt wurde, indem dieser ihn zur Zurückhaltung aufforderte, sich selbst an die Spitze der Verständigung setzte und sich zum Vorreiter innen- und weltpolitischer Veränderungen aufschwang.

Mit der Premiere des Dokumentarfilms über meinen Bruder, die an seinem sechzigsten Geburtstag stattfand, hatte ich einen kleinen Sieg über die Zensur errungen. In einer Passage des Films spreche ich anläßlich unserer Jugend in Moskau auch über die Verfolgungen unter Stalin. Das jedoch war damals bei uns noch immer streng tabuisiert, und keiner der Zuständigen im Fernsehfunk und im Zentralkomitee war bereit, die Verantwortung für diese Passage zu übernehmen. Zuletzt mußte Mielke sich den Film ansehen, und er genehmigte die unzensierte Fassung.

Bei den Ehrungen und Veranstaltungen zum Gedenken an meinen Bruder merkte ich, daß viele Künstler und Schriftsteller die Hoffnungen, die sie in ihn gesetzt hatten, auf mich übertrugen, ganz so, als wäre ich sein Nachfolger. Die Summe all dieser Gespräche, Begegnungen und Eindrücke verstärkte mein Gefühl, daß ich vor dem Hintergrund der Lebensleistung meines Vaters und meines Bruders mehr in die gesellschaftlichen Prozesse unseres Landes eingreifen und mehr Gehör finden konnte als durch mein Verbleiben im Nachrichtendienst.

Zunächst entschied ich mich für das Troika-Projekt. Was mein Bruder sich als Film vorgestellt hatte, würde ich als Buch realisieren. Das Schicksal der drei Familien war allerdings ein Jahrhundertstoff, der bewältigt sein wollte. Noch im Dienst stehend, begann ich mit der Arbeit an dem Buch.

Fast zur selben Zeit, als ich mit Troika meinen Weg zu einem neuen Ziel zu erkennen meinte, hatte mein eigenes Leben eine neue Wendung genommen. Ich war mir der Liebe zu einer Frau bewußt geworden, die ich zwei Jahre später heiratete. Als wir feststellten, daß das Gefühl zwischen uns sich gegen alle

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Versuche behauptete, es zu unterdrücken, beschlossen wir, reinen Tisch zu machen. So blieb es nicht aus, daß ich Mielke informieren mußte. Der Moralkodex in sozialistischen Ländern stand dem der katholischen Kirche in nichts nach; Ehescheidungen bei exponierten Persönlichkeiten waren überhaupt nicht wohlgelitten. Ein geschlagenes Jahr lang bemühte Mielke sich redlich, mich auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, doch vergebens. Mit dem Entschluß, Andrea zu heiraten, lieferte ich endlich einen Anlaß, meinen Abgang in die Wege zu leiten. Der 30. Mai 1986 wurde mein letzter Arbeitstag. Den Abschied selbst jedoch verschob Mielke bis in den Herbst hinein.

Im November war es dann soweit. Politbüro und Nationaler Verteidigungsrat faßten den Beschluß über mein Ausscheiden. Mielke hatte noch versucht, mich zu überreden, gesundheitliche Gründe für mein Rücktrittsgesuch vorzuschützen, doch das hatte ich abgelehnt. Jahre später las ich ein Interview, in dem Mielke behauptete, er habe mich wegen moralischer Verfehlungen aus dem Ministerium entfernen müssen; im ersten Moment war ich sprachlos, aber dann gewann der Humor die Überhand.

Meine offizielle Verabschiedung war überaus feierlich und aufwendig. In Anwesenheit sämtlicher leitender Mitarbeiter des MfS und von Vertretern des Zentralkomitees der SED und des KGB verkündete Mielke mein Ausscheiden und verlas eine Laudatio. Beim Zuhören der Lobeshymne kam ich mir vor wie bei der eigenen Beerdigung. Ich durfte sie mir übrigens vom Tonband abgespielt während meiner Prozesse noch zweimal anhören. Nach der Ansprache griff Mielke unter das Rednerpult und holte wie ein Zauberer den Karl-Marx-Orden und eine Urkunde hervor.

Nach der offiziellen Veranstaltung traf ich den Kern meiner Mannschaft bei einer weniger förmlichen Abschiedsfeier, die ich mir ausbedungen hatte. Jenen unter ihnen, die mich gut kannten, wird meine innere Bewegung nicht verborgen

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geblieben sein, als ich am 27. November 1986 die letzten Worte an sie richtete.

Den roten Faden lieferte mir der Brief, den mein Vater 1944 meinem Bruder zum neunzehnten Geburtstag geschrieben hatte. Damals war Koni Soldat der Roten Armee. Das, was mein Vater in diesem Brief über die Zivilcourage sagte, war mein Leitgedanke bei der Arbeit an der Troika geworden. In vertraute Gesichter blickend, sprach ich an diesem Abend über das Glück, viel Liebe und Freundschaft erfahren zu haben, in der Familie und von Menschen, mit denen die Arbeit mich zusammengeführt hatte. Meine Verabschiedung sah ich als Chance, Erfahrungen des Lebens zu durchdenken und an Jüngere weiterzugeben. Ich endete mit den Bertolt Brecht zugeschriebenen Worten, wonach ein guter Kommunist viele Beulen am Helm hat, manche auch vom Gegner.

An meiner Seite standen mein Nachfolger und die Stellvertreter. Würden auch sie solchen Beulen nicht ausweichen? Würde jeder einzelne die Stärke besitzen, dem Sog des Systems und der militärischen Hierarchie zu widerstehen und bei den Umwälzungen, die unausweichlich bevorstanden, einen eigenen Standpunkt zu behaupten?

»Es gehört oft Mut dazu, für einen Standpunkt einzutreten, auch im eigenen Land, auch im eigenen Lager«, sagte ich. »Wir waren anfangs sehr gläubig, sind jetzt weniger blind gläubig. Wir haben uns aber immer um selbständiges Denken bemüht. Der Aufklärer ist nicht dazu da, vorhandene Erkenntnisse wiederzukäuen, bis der Himmel eine neue Erleuchtung schickt, sondern er hat Tatsachen objektiv zu bewerten und zu analysieren. Die Fähigkeit, bisherige Erkenntnisse und Praktiken immer wieder in Frage zu stellen, ist die Voraussetzung für die Erarbeitung einer produktiven Strategie. Strategisches Denken und selbständiges Handeln waren die Grundlage für das›Geheimnis‹mancher unserer Erfolge, auch wenn dies im eigenen Haus nicht immer und nicht von allen gern gesehen

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wurde.« Zu den Umständen meines Ausscheidens zitierte ich einige

Zeilen aus einem Gedicht meines Vaters, das kurz vor Kriegsende entstanden ist:

Verzeiht, daß ich ein Mensch bin, Der in dem Haß und Todeshauch Vielleicht zuviel gehasset, Doch stark geliebet auch. Und wenn ich zuviel gehasset Und eine geliebet zu sehr, Verzeiht, daß ich ein Mensch bin Und nicht ein Heiliger. Es war mir bei diesem letzten Zusammensein mit meinen

engsten Mitarbeitern wichtig, das Persönliche aus meinem Credo, das ich ihnen mitgeben wollte, nicht auszuschließen. Ich wollte mich nicht als müder Rentner verabschieden, der in den Ruhestand geht, sondern aus der lange gewahrten Reserve heraustreten. »In einer Zeit, in der Verantwortliche vielleicht auch einmal den Mut haben müssen, sich etwas weiter aus dem Fenster zu lehnen, wenn der Wind schärfer weht und Rückgrat gezeigt werden muß, ist alles Dünkelhafte von Schaden«, fuhr ich in meiner Rede fort. »Dünkel paart sich oft mit forschem Auftreten, aber in Wirklichkeit sind Dünkel und Feigheit Geschwister. Dünkel, Arroganz und Eigenliebe vertragen sich nicht mit einfühlsamem Verhalten anderen Menschen gegenüber, auf das es in dieser Zeit besonders ankommt. Jeder Mensch hat das Bedürfnis, gebraucht und nicht benutzt zu werden.« Zuletzt zitierte ich aus dem Brief meines Vaters an meinen Bruder: »Wenn es schwere Situationen im Leben gibt, wo einem keiner raten und helfen kann, dann muß man selbst nach seinem Gewissen die Entscheidung mutig fällen und den

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Weg unbeirrt zu Ende gehen. Der größte Mut – das gilt auch für den Krieg – ist die Zivilcourage, das heißt, in allen wichtigen Dingen seine Überzeugung zu vertreten und seine Meinung zu sagen! Das kann einen gewiß manchmal bei kleinen Geistern mißliebig machen; aber letzten Endes ist es das richtige und hat auch den Aufrichtigen niemals gereut.«

Das Ausscheiden aus dem Dienst habe ich als Befreiung empfunden. Die Arbeit am Troika-Projekt und die anschließenden Lesungen aus dem Buch begleiteten mich bis zum Beginn der Umwälzungen im Herbst 1989. Es war eine aufregende, mich fordernde, kurzum produktive und schöne Zeit. Noch nie hatte ich mich so lebendig gefühlt. Die Arbeit in der Abgeschiedenheit unseres Waldgrundstücks mit den hohen Kiefern und den schlanken Birken, mit der imposanten Eiche am Eingangstor, dem weichen Morgenlicht über dem See und Andreas Katzen war eins mit dem Glück meiner neuen Ehe.

Trotz der Konzentration auf mein Buch ließ die Sorge um die Zukunft des Landes mir keine Ruhe. Die politische Führung distanzierte sich in selbstzerstörerischer Weise und weltfremder Selbstherrlichkeit von Perestroika und Glasnost, in die ich große Hoffnungen setzte – ganz so, als gäbe es bei uns nichts zu reformieren. Sie verharrte in einer Rechthaberei, die angesichts der weltpolitischen Entwicklung nach dem Beginn des KSZE-Prozesses kein gutes Ende nehmen konnte.

Als Troika im Frühjahr 1989 gleichzeitig in der BRD und der DDR erschien, erregte das Buch Aufsehen. Am Erscheinungstag gab ich im bundesrepublikanischen Fernsehen einige Interviews; Sequenzen aus diesen Sendungen wurden in den Nachrichtensendungen ausgestrahlt. Ich distanzierte mich darin vom Verbot der deutschsprachigen sowjetischen Zeitschrift Sputnik durch die DDR-Behörden, weil sie über Verbrechen im Stalinismus berichtete. Auf die Frage, was ich von Gorbatschow hielte, sagte ich, ich sei froh, daß es ihn gebe. Auf seiner nächsten Sitzung beschäftigte das Politbüro sich mit meinen

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Äußerungen. Nach der Sitzung rief Mielke mich an und teilte mir mit, das Politbüro betrachte meine Worte als Angriff auf die Parteiführung und erwarte, daß ich auf der bevorstehenden Leipziger Buchmesse von Interviews Abstand nähme.

Umschlag der Troika von 1989 (v. l. n. r.: George Fischer, Lothar Wloch,

Konrad Wolf)

Die Leser der Troika in der DDR nahmen den abweichenden

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Umgang mit den finsteren Seiten aus der Geschichte des Sozialismus in diesem Buch sehr wohl wahr und ebenso die Aufforderung zur Offenheit und zum demokratischen Meinungsstreit, zur Toleranz im Umgang mit anderen Gedanken, zur Verständigung über Ländergrenzen und Ideologien hinweg.

Für mich begann ein völlig neuer Lebensabschnitt, der mich so intensiv wie nie zuvor mit der Realität im Land konfrontierte. Bis dahin war mein Blick vorrangig nach außen gerichtet gewesen. Den Gegensatz zwischen der Scheinwelt der Lüge und der Realität der Wahrheit hatte es in der DDR schon immer gegeben; dieser Zwiespalt hatte mich häufig beschäftigt. Jetzt konnte ich ihn nicht mehr verdrängen, denn die Zuhörer auf meinen Lesungen forderten in den anschließenden Diskussionen Antworten von mir. Trotz des Verbots der Parteiführung gab ich der Süddeutschen Zeitung ein Interview. Mielke fragte mich irritiert, ob das gerade jetzt sein müsse, und ich antwortete stur, so sei es in der Tat. Mit mir sympathisierende Mitarbeiter der Staatssicherheit verrieten mir, daß mein Telefon inzwischen abgehört wurde.

Mitten in diesem Sommer traf mich aus heiterem Himmel eine seltsame Nachricht, die ich damals nicht sonderlich ernst nahm: Generalbundesanwalt Rebmann erwirkte gegen mich, der ich doch Bürger der DDR war, einen Haftbefehl. Weshalb ausgerechnet gegen mich? Ich war doch längst nicht mehr aktiv. Die einzig mögliche Erklärung schien mir die zu sein, daß ich in einem Gespräch mit dem Spiegel gesagt hatte, ich würde gern einmal wieder Stuttgart besuchen. Offenbar hatte Rebmann rein sicherheitshalber für diesen Fall einen Haftbefehl gegen mich erwirkt.

Am 18. Oktober 1989 traten Honecker und einige seiner Getreuen sang- und klanglos von der politischen Bühne ab. Keinen Monat später kam jener Tag, den keiner, der dabei war, jemals vergessen wird.

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Am 4. November war Ost-Berlin noch die Hauptstadt der DDR, noch stand die Mauer, noch existierten Armee, Staatssicherheit und Polizei. Trotzdem versammelten sich auf dem Alexanderplatz, mitten im Zentrum, eine halbe Million Menschen, um ihr Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit öffentlich einzuklagen. Das Recht der freien Versammlung nahmen sie sich an diesem Tag selbst. Die Stimmung war gelöst, fast euphorisch. Alle empfanden, daß ein Umschwung bevorstand, der noch keinen Namen hatte. Künstler und Journalisten hatten zu dieser Willenskundgebung aufgerufen. Als Rednertribüne diente die Ladefläche eines Lkw. Brechts Enkelin, die Schauspielerin Johanna Schall, hatte mich wenige Tage zuvor gefragt, ob ich bereit sei, auf der geplanten Kundgebung zu sprechen. Ich hatte zugesagt und war entschlossen, auch solche Gedanken auszusprechen, die Widerspruch erregen mußten.

Als die Reihe an mir war, wurden meine ersten Sätze mit Beifall quittiert. Ich bekannte mich zu Perestroika und zur Verbindung von Sozialismus und wahrer Demokratie, verschwieg aber nicht, daß ich General der Staatssicherheit gewesen war. Da kamen die ersten Pfiffe. Als ich verlangte, daß man nicht alle Mitarbeiter der Staatssicherheit undifferenziert zu Prügelknaben der Nation machen solle, wurden die Pfiffe lauter. Es hagelte Zwischenrufe; manche schrien: »Aufhören!«

Als ich meine Ansprache beendet hatte und vom Lastwagen stieg, war mein Mund ausgetrocknet. Christa Wolf umarmte mich, andere drückten mir die Hand. Nach langen inneren Auseinandersetzungen, Zweifeln und Widersprüchen war ich den Weg vom jugendlichen Bewunderer Stalins zum Befürworter demokratischer Wandlungen gegangen. Ich brauchte keine Feindbilder abzubauen, als ich nun inmitten oppositioneller Bürgerrechtler stand. Aber an diesem 4. November stieg eine erste Ahnung in mir auf, daß die Vergangenheit mich einholen würde.

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Später ging mir das Wort Tschingis Aitmatows durch den Kopf: »Jeder Mensch wird im Laufe des Lebens mit einer Richtstatt konfrontiert.« Die Richtstatt, das ist für Aitmatow nicht der Ort der Hinrichtung, sondern der Ort der Wahrheit.

Am 4. 11. 1989 auf dem Alexanderplatz

An diesem grauen, schönen Novembertag hatte ich das Gefühl, vor dem Ort meiner Wahrheit zu stehen.

Fünf Tage später diskutierte ich in einem Potsdamer Klub nach einer Troika-Lesung mit dem Publikum, als ein Mann die Tür aufriß und rief: »Die Grenze ist offen!« Ich glaube, niemand hat an diesem Abend die historische Dimension der Stunde ganz erfaßt.

Nach dem Fall der Mauer wurde von Woche zu Woche deutlicher, daß die Tage der DDR gezählt waren. An Stelle des Slogans »Wir sind das Volk« trat die Losung »Wir sind ein Volk«, und aus ihr entwickelte sich die Forderung »Deutschland, einig Vaterland«.

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Anfang 1990 zog ich mich zu meiner Schwester Lena nach Moskau zurück, um in Ruhe meine Gedanken zu ordnen und abseits aller Wirren in der DDR, an deren politischem Ausgang es keinen Zweifel mehr geben konnte, mein zweites Buch zu beginnen, in dem ich als Zeitzeuge meine Eindrücke des letzten Jahres festhalten wollte. Nur wenn ich mich sofort an die Arbeit machte, konnte ich die noch frisch in der Erinnerung haftenden Erlebnisse, Gespräche und Gedanken verarbeiten.

Als ich im Frühjahr aus Moskau zurückkehrte, geriet ich in die hysterische Atmosphäre einer Schlammschlacht. Der Rachedurst vieler konzentrierte sich in erster Linie auf die Staatssicherheit. Das ehemalige Ministerium war von einer Menschenmenge gestürmt worden. Seither sind bestimmte Akten insbesondere aus dem Bereich der Abwehr – verschwunden und erwiesenermaßen bei Diensten im Westen gelandet. Da ich außer Mielke als einziger einer größeren Öffentlichkeit bekannt war, verging kein Tag, ohne daß ich mich heftigen Angriffen, aber auch Verleumdungen ausgesetzt sah. Diese Attacken erreichten einen Höhepunkt, als bekannt wurde, daß ehemalige RAF-Angehörige seit Jahren unter neuer Identität in der DDR gelebt hatten. Wieder einmal nützte es mir herzlich wenig, daß die HVA damit nichts zu tun gehabt und auch keinerlei Kenntnis davon gehabt hatte.

Zu Beginn der 80er Jahre hatten Susanne Albrecht, Inge Viett und andere RAF-Mitglieder, die aussteigen wollten, sich an das MfS gewandt und waren heimlich in die DDR aufgenommen worden. Offiziere der Abteilung XXII hatten sich um sie gekümmert, ihnen neue Lebensläufe und Papiere verschafft und mit ihnen geübt, wie man als DDR-Bürger nicht auffiel. Vielleicht hatte Mielke sie aufgenommen, um den Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik in die Suppe zu spucken, vielleicht, weil er meinte, damit für den Fall des Falles erprobte Kämpfer in Reserve zu halten. Ihre Resozialisierung jedenfalls kann man im nachhinein nur als gelungen bezeichnen,

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und die Offiziere der Abteilung XXII, die für sie zuständig waren, haben sich als exzellente Bewährungshelfer erwiesen. Neueste Enthüllungen deuteten an, daß die Spitze der Bundesregierung die ganze Zeit über diese Vorgänge Bescheid gewußt hat, aber keinen Grund sah, einzugreifen oder sich zu beschweren.

Als die Vereinigung der beiden deutschen Staaten bereits abzusehen war, hatte ich nicht die Absicht, das Land zu verlassen. Nach dem Sommer 1990 stand ich jedoch vor einer völlig neuen Situation: Ein mit dem Einigungsvertrag vorbereitetes Amnestiegesetz, das den Mitarbeitern der DDR-Nachrichtendienste Straffreiheit zusichern sollte, war nicht verabschiedet worden, sondern gescheitert. Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Vereinigung, drohte mir unzweifelhaft der Vollzug des Haftbefehls. Nach Gesprächen mit meinen Anwälten und mit Freunden, darunter Walter Janka, beschloß ich schweren Herzens, vorübergehend das Land zu verlassen.

Ich schrieb Briefe an den Bundespräsidenten, an den Außenminister und an Willy Brandt, in denen ich klarstellte, daß eine zweite Emigration für mich nicht in Frage kam. Allein meine Erziehung zur Zivilcourage, fügte ich hinzu, sei Grund genug, daß ich mich unter fairen Bedingungen einer Klärung der gegen mich erhobenen Vorwürfe stellte. Aber faire Bedingungen waren in diesem deutschen Herbst des Jahres 1990 nicht gegeben.

Bewegte Monate folgten, zuerst in Österreich, dann in der Sowjetunion, wo ich das Scheitern der Perestroika miterlebte. Anatolij G. Nowikow, der Leiter der Berliner KGB-Niederlassung, dem ich sagte, daß ich Deutschland für eine Weile zu verlassen gedenke, erwiderte lächelnd, der KGB sei sehr froh, daß ich mich geweigert hätte, die Freiheit vor Strafverfolgung durch Ausplaudern von Informationen zu erkaufen. Woher sie das wußten, sagte er nicht, aber er fügte hinzu, daß ich mich über eine Geheimnummer mit einem

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Codewort an den KGB wenden könne, falls ich in Schwierigkeiten geriete.

Sechs Tage vor der Vereinigung packten Andrea und ich unsere Koffer und fuhren nach Österreich. Wir reisten mit echten Pässen und unserem Volvo, denn ich wollte jedes Merkmal illegalen Handelns vermeiden.

Am Grenzübergang in Richtung Karlsbad fuhr einer meiner Söhne sicherheitshalber mit Andrea den Volvo; ich folgte in gebührendem Abstand im Lada, den mein Schwiegervater Helmut Stingl steuerte. Der Grenzer warf nur einen oberflächlichen Blick auf die Papiere und winkte uns durch. Außer Sichtweite hielten wir in der nächsten Kurve und freuten uns wie kleine Kinder. Schwiegervater und Schwiegermutter waren zwar die Sorge um uns nicht los, konnten aber zunächst beruhigt umkehren.

Mit Yitzhak Shamir und Andrea Wolf 1996 in Tel Aviv

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Mit Ziwi Weinman 1996 in Jerusalem

Schon nach kurzem wurden Fotos von mir in den Zeitungen veröffentlicht, doch niemand, mit dem wir zu tun hatten, kam auf die Idee, mich mit dem verschwundenen Generaloberst Wolf in Verbindung zu bringen. Der Weg nach Israel war uns versperrt, wie wir feststellten, als wir in Wien nachfragten, ob die von der israelischen Zeitung anvisierten Tickets eingetroffen seien. Tatsächlich sollte ich erst 1996 auf eine Einladung der Zeitung Ma'ariv erstmals nach Israel kommen.

Aus Österreich schrieb ich an Gorbatschow, ohne eine Antwort zu erhalten, und Ende November holte ich die Geheimnummer hervor und sprach das Codewort. Zwei Tage später erwartete ein russischer Kurier Andrea und mich an der ungarischen Grenze und geleitete uns durch Ungarn und die Ukraine nach Moskau.

Erschöpft, aber erleichtert, daß die Wochen der Flucht ein Ende gefunden hatten, trafen wir dort ein. Bald darauf wurde ich in Jasenewo von Leonid Schebarschin empfangen. Natürlich tranken wir ein Glas auf meine Freiheit, die Stimmung war jedoch gespannt. Meinem Gastgeber war es peinlich, daß sein

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Dienst keine wirksamere Unterstützung des Präsidenten für den Freund erlangen konnte. Als seltsam empfand ich es, daß Wladimir Krjutschkow, nun Vorsitzender des KGB, mir als altem Bekannten über Valentin Falin Grüße und die Empfehlung ausrichten ließ, auf keinen Fall nach Deutschland zurückzukehren. Sehr schnell mußte ich erkennen, daß es im Kreml unterschiedliche Meinungen zu meinem Aufenthalt in Moskau gab. Einerseits galt die Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit, die gebot, mir Asyl zu gewähren, andererseits sollte meine Anwesenheit die Beziehungen zum vereinigten Deutschland auf keinen Fall stören oder gar belasten. So kam es, daß Freunde im KGB, die mir früher jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatten, bei bestimmten Wünschen nicht nein sagten, sondern einfach schwiegen.

Mit Andrea Wolf, Johann Schwenn und Heinrich Senfft 1991 in Moskau

Bis August 1991 lebten wir einfach, doch komfortabel genug.

Wir trafen die Familie meiner Schwester, alte und neue Freunde; ich schrieb an diesem Buch und sammelte Rezepte und Geschichten für ein Buch über die russische Küche. Zweimal besuchten uns mein Sohn Sascha und Andreas Tochter Claudia

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aus erster Ehe. Im Sommer waren wir in ein Ferienheim in Jalta an der Schwarzmeerküste eingeladen. Bei einem Ausflug nach Sewastopol fuhren wir an den Luxusunterkünften vorbei, in denen Gorbatschow mit Anhang untergebracht war und wo er wenig später die nicht geladene Delegation seiner Genossen vom Politbüro empfing, die ihm mitteilte, daß in Moskau ein Putsch stattgefunden hatte – inszeniert von KGB-Chef Krjutschkow, Gorbatschows Protege.

Krjutschkow war nie mein Wunschkandidat an der Spitze des KGB gewesen. Er war mir zu schmalspurig, ein typischer Verwaltungsmensch, intellektuell kein Vergleich mit Andropow. Doch nie hätte ich es für möglich gehalten, daß sich ein Mann seines Kalibers in eine so stümperhafte Aktion einlassen könnte wie diesen Coup.

Dieser Putschversuch bestärkte Andrea und mich in unserem Entschluß, die Rückkehr nach Deutschland nicht länger hinauszuschieben. Meine Anwälte hatten mich mehrmals besucht, um die Modalitäten der Rückkehr mit mir zu diskutieren. Ende August ließ ich mich bei Schebarschin anmelden, der den inhaftierten Krjutschkow als Chef des KGB vertrat. Er wirkte erschöpft und überanstrengt, hörte sich jedoch freundlich an, was ich ihm mitteilte, und sagte mit einer Geste der Ratlosigkeit: »Mischa, du siehst selbst, was hier los ist. Du warst uns immer ein treuer Freund, aber wir können im Augenblick nichts für dich tun. Wer hätte gedacht, daß es so kommen würde! Gott sei mit dir.«

Inzwischen war gegen meinen Nachfolger im Dienst und gegen leitende Mitarbeiter der HVA vor dem Berliner Kammergericht Anklage erhoben worden. In dieser Situation wollte ich mich keinesfalls meiner Verantwortung entziehen. Ich hätte bis Oktober abwarten und unter Zusicherung freien Geleits im Prozeß gegen den ehemaligen Leiter der Äußeren Abwehr meines Dienstes als Zeuge auftreten können, um danach zu entscheiden, ob ich im Lande bleiben wollte oder nicht. Allein

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schon um die Freiwilligkeit meiner Rückkehr zu verdeutlichen, habe ich diesen Zeitpunkt bewußt nicht abgewartet.

Wir fuhren zuerst wieder nach Österreich, weil ich mich von dort aus mit meinen Anwälten verständigen wollte, bevor ich die Grenze zur Bundesrepublik überschritt. Wenige Tage nach unserer Ankunft wurde von Moskau aus bekannt, daß ich mich in Wien aufhielt, und daraufhin entfachte die Presse einen Höllenspektakel. Um diesem Rummel ein Ende zu machen, stellte ich mich den Wiener Behörden und teilte ihnen mit, daß ich das Land innerhalb einer absehbaren Frist verlassen wolle.

Am 24. September 1991 überschritt ich die Grenze in Bayerisch Gmain, wo der Bundesanwalt, dem ich vor Gericht viele Monate lang gegenübersitzen sollte, mich schon erwartete. Der Triumph, meiner endlich habhaft zu werden, war ihm vom Gesicht abzulesen. In einem kleinen Hotel eröffnete er mir im Beisein meines Anwalts den Haftbefehl und nahm mich fest. In zwei gepanzerten Mercedes-Limousinen chauffierte man uns nach Karlsruhe, vorbei an meiner Heimatstadt Stuttgart, die ich seit 1933 nicht gesehen hatte.

Der Ermittlungsrichter in Karlsruhe setzte den Haftbefehl mit einigen Auflagen außer Kraft, doch der Bundesanwalt protestierte sofort beim Senat des Bundesgerichtshofs, der die Anordnung des Ermittlungsrichters noch zu später Stunde aufhob und meine sofortige Inhaftierung anordnete. So landete ich kurz vor Mitternacht an diesem ereignisreichen Tag als Untersuchungshäftling in der einzigen doppelt vergitterten Zelle des Karlsruher Gefängnisses.

Nach elf Tagen hinter Gefängnismauern entließ man mich gegen Hinterlegung einer so hohen Kaution, daß ich sie nur mit Mühe und dank der solidarischen Hilfe von Freunden aufbringen konnte, und unter schikanösen Auflagen aus der Haft.

Im Karlsruher Gefängnis hatte ich in der Presse Worte des

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Justizministers Kinkel zum ersten Jahrestag der Wiedervereinigung gelesen: Es gebe, so hatte er gesagt, in der deutschen Vereinigung keine Sieger und keine Besiegten. Das Berliner Kammergericht hatte seine Zweifel an der Vereinbarkeit der Anklage gegen meine Mitarbeiter mit dem Völkerrecht als so schwerwiegend bewertet, daß es das Bundesverfassungsgericht ersucht hatte, eine grundsätzliche Entscheidung zur Rechtmäßigkeit solcher Verfahren zu fällen. Andere Gerichte wiederum hatten Urteile gesprochen. Es herrschte also erhebliche Rechtsunsicherheit.

Wie bei vielen nach der Wiedervereinigung umstrittenen Fragen ging es auch in meinem Prozeß letztlich um die Grundfrage, ob es sich bei der Wiedervereinigung um die Vereinigung zweier souveräner Staaten oder um eine Einverleibung gehandelt hatte, die den Unterlegenen dem Sieger unterwirft.

Schon vor meinem Prozeß und erst recht während des Verfahrens mehrten sich in der Öffentlichkeit kritische Stimmen. Sogar frühere Kontrahenten aus den westdeutschen Nachrichtendiensten äußerten ihr Unverständnis. Heribert Hellenbroich, der ehemalige Präsident des BND, erklärte: »Den Prozeß gegen Wolf halte ich für verfassungswidrig. Wolf hat im damaligen Staatsauftrag Aufklärung betrieben. (…) Ihn jetzt (…) allein, weil der Zugriff möglich ist, des Landesverrats zu bezichtigen, das ist schwer zu verstehen. Diese quasi rückwirkend beanspruchte Zugriffsmöglichkeit kommt einem rückwirkend beschlossenen Strafgesetz gleich. Jemanden, der für die DDR spionierte, des Verrats an der Bundesrepublik zu bezichtigen, das hat eine Logik, allerdings eine seltsame.« Ähnliches war vom ehemaligen Chef des Militärischen Abschirmdienstes, Admiral Elmar Schmähling, zu vernehmen, der zudem den Fortbestand von Nachrichtendiensten nach dem Ende des kalten Krieges generell in Frage stellte.

Nach sieben Monaten neigte sich mein Prozeß vor dem

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Oberlandesgericht in Düsseldorf im Spätherbst 1993 seinem Ende zu. Mehr als dreißig Zeugen und Gutachter waren gehört, eine endlose Fülle von Papieren war verlesen worden. Hinter den Sitzlehnen der Richter stapelten sich Dutzende von Aktenordnern. Zu dem schon Bekannten war nichts Neues hinzugekommen. Als einziger zu Prozeßbeginn noch nicht bekannter Fall wurde »Topas« nachgeschoben. Während meines Prozesses war Rainer Rupp, unsere einstige Spitzenquelle bei der Nato in Brüssel, enttarnt und verhaftet worden. Aus dieser und anderen Verhaftungen ehemaliger Quellen in der Bundesrepublik mußte ich den Schluß ziehen, daß vermutlich auf Disketten gespeicherte Karteien mit dem geheimsten Wissen der HVA dank der CIA in die Hände westlicher Dienste gelangt waren, denen es gelungen war, die Informationen zu entschlüsseln. Später erfuhr ich, daß ein ehemaliger Mitarbeiter der HVA den Codenamen unserer Brüsseler Quelle 1990 dem BND verraten hatte, der dann mit Hilfe des aus den Disketten gewonnen Wissens die Identität von »Topas« lüften konnte.

Bewiesen wurde in meinem Prozeß, was nie in Zweifel gezogen worden war: daß ich Leiter eines leistungsfähigen Nachrichtendienstes gewesen war und mich in dieser Funktion mit Menschen getroffen hatte, die man als Agenten bezeichnen kann. Dazu hatte ich erklärt, daß ich für die auf der Grundlage von Gesetzen und der Verfassung der DDR getätigten Handlungen der mir unterstellten Mitarbeiter die volle Verantwortung übernahm.

Bundesanwaltschaft und Richter waren sich der Fragwürdigkeit der verfassungs- und völkerrechtlichen Grundlagen des Verfahrens sehr wohl bewußt. Deshalb bemühten sie sich, mich als das Oberhaupt einer kriminellen Vereinigung vorzuführen. Die als gefährliche Agenten aufgebotenen Zeugen erwiesen sich jedoch nicht als Finsterlinge aus der Unterwelt, sondern als Menschen, die aus der Überzeugung heraus gehandelt hatten, einer guten Sache zu

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dienen. Die Urteilsverkündung in meinem ersten Verfahren war auf

Montag, den 6. Dezember 1993 anberaumt worden. Der Generalbundesanwalt hatte sieben Jahre Freiheitsstrafe gefordert – ein Strafmaß wie bei Agenten, die als Bürger der alten Bundesrepublik verurteilt worden waren. Am Sonntag begleiteten meine Kinder und Schwiegerkinder Andrea und mich nach Düsseldorf. Den Abend verbrachten wir mit neugewonnenen Freunden aus dem Rheinland, die Andrea und mich in den vergangenen Monaten selbstlos beherbergt hatten. Ich war des Landesverrats angeklagt, und mir bis dahin unbekannte Menschen standen uns mit ihrer Solidarität wie selbstverständlich zur Seite, sprachen uns vor der Gerichtsverhandlung Mut zu und bewirteten uns bei sich zu Hause.

Ein Freund, der mir in dieser Zeit nahekam, war Karl Winkler. Ich hatte ihn auf der Novemberkundgebung 1989 in Berlin kennengelernt. Als Regimekritiker aus dem Kreis um Robert Havemann war er 1979 verurteilt und nach der Haft in den Westen abgeschoben worden.

Als wir uns nach dem 4. November 1989 unterhielten, stellte ich fest, daß dieser junge Mann trotz allem, was er durchgemacht hatte, nicht verbittert oder rachsüchtig geworden war, sondern ein offener, liebenswerter und mit neuen Ideen in die Zukunft blickender Mensch geblieben war, für den das Wort Dialog keine leere Floskel bildete. Gemeinsam entwickelten wir Projekte, die wir später verwirklichen wollten. Leider starb »Kalle« viel zu früh beim Baden im Mittelmeer 1994.

Bevor der Vorsitzende Richter die mündliche Urteilsbegründung vortrug, gab er bekannt, daß er dem Antrag der Bundesanwaltschaft auf sofortige Haftvollstreckung nicht folge, sondern dem Angeklagten Haftverschonung unter Auflagen gewähre. Das Urteil blieb ein Jahr unter dem Antrag der Bundesanwaltschaft. Meine Verteidigung ging umgehend in

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Revision. Im Sommer 1995 entschied das Bundesverfassungsgericht im Verfahren gegen Werner Großmann, daß Offiziere der DDR-Aufklärung nicht für Landesverrat und Spionage in der Bundesrepublik verfolgt werden können, und darum kassierte der Bundesgerichtshof auch das Urteil des Düsseldorfer Gerichts gegen mich.

Mit Karl Winkler 1993 in Düsseldorf

Der Kreuzzug der Gewinner, der die untergegangene DDR wie ein besetztes Land überzogen hatte, half mir die Lähmung überwinden, die der Zusammenbruch des sozialistischen Systems verursacht hatte. Der Gerichtssaal war nicht der Ort, Rechenschaft über das abzulegen, was wir uns vorzuwerfen haben mochten. Die Antwort auf vieles war ich mir selbst noch schuldig.

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18. Der menschliche Faktor

Als im Verlauf meines Prozesses vie le meiner ehemaligen Mitarbeiter als Zeugen aufgerufen wurden, gab es für mich immer wieder bewegende Augenblicke. Ich sah Frauen und Männer wieder, die mir viele Jahre lang nahegestanden hatten und die mir heute noch viel bedeuten. Obwohl auch für sie eine Welt zusammengebrochen war, obwohl die meisten von ihnen aus Gefängnissen vorgeführt wurden, wahrten sie ihre Haltung und Würde.

Dies galt ebenso für den von schwerer Krankheit gezeichneten Günter Guillaume wie für die beiden hochrangigen Diplomaten des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Dr. Hagen Blau und Klaus von Raussendorf. Zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt und in ihrer bürgerlichen Existenz ruiniert, ließen sie es sich als Zeugen nicht nehmen, die politischen Beweggründe ihres Handelns darzulegen. Auch Johanna Olbrich sah ich nicht ohne Bewegung. Auf dem Weg dazu, eine Spitzenquelle für unseren Dienst zu werden, war sie eine Zeitlang Sekretärin bei William Borm gewesen, ohne daß einer der beiden von der klandestinen Tätigkeit des anderen das geringste geahnt hätte.

Mögen die folgenden Porträts für all jene stehen, mit denen im Verlauf der Jahre und der Zusammenarbeit eine menschliche Bindung gewachsen ist.

Hannsheinz Porst lernte ich in den 50er Jahren durch seinen Vetter Karl Böhm kennen. Beide stammten aus Nürnberg, wo Porsts Vater ein Fotogeschäft betrieb. Den zehn Jahre älteren Böhm bewunderte Porst wie einen großen Bruder, doch mit Beginn des Dritten Reichs war Böhm auf einmal verschwunden. Als er sechs Jahre später aus Dachau zurückkam, brachte der alte Porst ihn in seiner Firma unter. Obwohl er ein unpolitischer Mensch war, bot er dem Gerede der Leute unerschrocken die

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Stirn, wenn es galt, einem »ehrlichen Kerl« zu helfen. Genauso hielt er Jahrzehnte später zu seinem Sohn, obwohl er von dessen Kontakten zum DDR-Geheimdienst nichts geahnt hatte.

Nachdem Porst junior und sein Vetter den Krieg überlebt hatten – der eine in einem Strafbataillon, der andere als Flak-Offizier –, wollten sie einen Verlag gründen. Da Böhm kein Hehl aus seiner kommunistischen Einstellung machte, verweigerten die amerikanischen Besatzungsbehörden ihnen die Lizenz. Böhm ging in den Osten, und Porst wurde Teilhaber in der Firma seines Vaters, deren Umsatz er innerhalb von zehn Jahren verzehnfachte.

Porsts Verbindung zu seinem Vetter im anderen deutschen Staat riß nie ab. Er sagte einmal über ihn: »Wenn Böhm seine Ideen von einer freien, gerechten Gesellschaft entwickelte, dann sprach er nicht nur mit Kenntnis, sondern auch mit der Glaubwürdigkeit eines Mannes, der wegen seiner Überzeugung verfolgt worden war, bei dem Theorie und Praxis sich nicht widersprachen.«

Karl Böhm war inzwischen im Kulturministerium der DDR für das Verlagswesen zuständig. Unter dem Dach seines Ressorts hatte mein Dienst eine legale Residentur eingerichtet, um westliche Verbindungen zu nutzen. Eher zufällig lernten Mitarbeiter meines Dienstes auf diesem Weg Porst auf der Leipziger Messe kennen. Da er im Gespräch kein Blatt vor den Mund nahm, glaubten sie, mit ihm leichtes Spiel zu haben, und forderten ihn auf, in die CDU einzutreten, um Informationen gegen die Aufrüstung für sie zu sammeln. Daraufhin beschwerte Porst sich bei seinem Vetter über das Ansinnen. Er sagte, er wolle der DDR gern helfen, mehr über die Politik der BRD zu erfahren, aber er sei keine Marionette.

Als ich einige Zeit darauf mit Böhm zu tun hatte, erzählte dieser mir die Geschichte der verunglückten Anwerbung und schloß mit dem Vorschlag, warum nicht ich selbst Kontakt zu Porst aufnehmen wolle. Porst wollte sich mit einem

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kompetenten Mann über politische Zusammenhänge unterhalten und erwartete, daß seine Ansichten auf hoher Ebene Beachtung fanden.

Unsere erste Begegnung verlief ein wenig steif. Er war von kleiner Statur, wirkte sportlich und ging temperamentvoll und ohne Umschweife auf sein Thema los. Heute noch erinnere ich mich gern an die Gespräche mit Hannsheinz Porst zurück. Es war ein Vergnügen, mit ihm zu diskutieren und auch zu streiten, denn sein Denken und Reden waren anspruchsvoll, von feiner Ironie und originell durch phantasievolle Abschweifungen über idealistische Weltverbesserungsideen. Auch er hat unsere Begegnungen in guter Erinnerung behalten: »General Markus Johannes Wolf […] konnte auf eine sehr distanzierte Weise herzlich sein und hatte keine Hemmungen, auf Gedanken einzugehen, selbst wenn sie nicht zu dem offiziellen Repertoire gehörten. Der gleiche Jahrgang wie ich, gutgeschnittene Anzüge, nicht ohne Humor. Ich muß sagen: So waren sie nicht alle.«

Porst machte sich ernsthafte Gedanken über die Perspektiven, Vor- und Nachteile sozialistischer Plan- und kapitalistischer Marktwirtschaft. Obwohl er die objektiven Schwierigkeiten nicht in Abrede stellte, mit denen unser Land zu kämpfen hatte, beharrte er auf der Meinung, daß die DDR selbst schuld sei, wenn die meisten im Westen und nicht geringe Teile der eigenen Bevölkerung ihr System ablehnten. Seine Kritik begann bei den schikanösen Grenzkontrollen und endete bei der schwerfälligen Bürokratie und der mangelhaften Effizienz der sozialistischen Wirtschaft. Vielem, was er vorbrachte, mußte ich recht geben, auch wenn ich widersprach und mein Land verteidigte. Einer Meinung waren wir allerdings sofort, als es um Presse und Medien der DDR ging, deren plumpe Agitation Hörer und Leser nur abschrecken konnte.

Porst blieb ein anregender und zuverlässiger Gesprächspartner. Seine Informationen und Urteile wurden noch

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wertvoller, als sich nach dem Mauerbau erste Ansätze eines politischen Umdenkens in der Bundesrepublik anzudeuten schienen. Er war nicht in die CDU eingetreten, deren Herrenreiterattitüden ihn zu sehr an die Zentrumspartei erinnerten, sondern in die FDP, die ihm als Unternehmer näherstand. Politiker wie Erich Mende, Walter Scheel, Thomas Dehler und Karl-Hermann Flach verkehrten auch privat mit dem ideenreichen Nürnberger Firmeninhaber.

Wie Porst seinen politischen Standort definierte, kann man daraus ersehen, daß er, nachdem er in die FDP eingetreten war, den Antrag auf Aufnahme in die SED stellte. Eigentlich war so etwas nicht möglich, aber mit Hilfe eines Ausnahmestatuts wurde ihm die Sondermitgliedschaft gewährt, an der sein Herz zu hängen schien. Nach zwei Jahren Kandidatenzeit wurde er Vollmitglied. Seinen Parteiausweis mußte er allerdings – zu seinem großen Bedauern – in Ost-Berlin lassen.

Um den Kontakt optimal zu halten, schickten wir einen Mitarbeiter mit der Vita eines Republikflüchtlings nach Nürnberg. Optik, so sein Deckname, unterrichtete offiziell Porsts Kinder als Hauslehrer, arbeitete in dessen Firma und trat ebenfalls in die FDP ein. Daneben leitete er Porsts Informationen an uns weiter und knüpfte selbst Verbindungen an. Mit der Zeit erreichten »Optiks« Informationen einen solchen Umfang, daß wir einen zweiten Mann damit beauftragen mußten, die Verbindung zu Porst und »Optik« zu betreuen.

Zu meinem Entsetzen berichtete Porst mir eines Tages ganz unbekümmert, daß er seinen persönlichen Referenten in alles eingeweiht habe, und zu meinem noch größeren Entsetzen brachte er den jungen Mann zu unserem nächsten Treffen nach Budapest als Überraschungsgast mit. Er fand es auch selbstverständlich, daß sein Assistent bei unserem vertraulichen Gespräch anwesend war. Offenkundig glaubte er, ihn so beeinflußt zu haben, daß er ihm gefahrlos alles anvertrauen konnte. Möglicherweise war dieses vertrauensselige Verhalten

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Ausdruck der naiven Überheblichkeit des erfolgreichen Unternehmers, der von dem Privilegierten aus der Schar seiner Angestellten für seinen Gunstbeweis unverbrüchliche Treue erwartet. Falls das so war, dann muß seine Verhaftung, nachdem der junge Mann ihn denunziert hatte, ein unsanftes Erwachen gewesen sein. Für uns galt allerdings das gleiche, denn »Optik« entpuppte sich ebenfalls als Judas.

Immer wieder mußte ich Porsts unternehmerisches Gespür bewundern. Als er die ersten Ausgaben einer neuen Rundfunk- und Fernsehbeilage, die den Grundstein für eine spätere Zeitschrift bilden sollte, zum Selbstkostenpreis mehreren Tageszeitungen zur Verfügung stellte, hielt ich ihn für einen Hasardeur, doch als er 1967 verhaftet wurde, ging diese Beilage bereits an fast zweihundert Zeitungen und machte einen Umsatz von drei Millionen Mark. Als wir uns in Budapest trafen, litt das Versandgeschäft, der Kern seines Unternehmens, unter starken Einbußen. Banken drohten, ihre Kredite zu sperren. Mit Feuereifer erklärte Porst mir seinen Plan, den Versandhandel durch eine Ladenkette zu ergänzen. Es funktionierte. Daran muß ich denken, wenn mir heute von Geschäften im Osten wie im Westen Deutschlands der Name Porst entgegenleuchtet.

Mit Hannsheinz Porst 1993 in Düsseldorf

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Bei einem Gespräch in Moskau entwickelte Porst seine Vorstellungen von einer Synthese unternehmerischer Initiative und Überführung des Eigentums in die Hände aller Beschäftigten des Unternehmens. So faszinierend die Idee war, so utopisch erschien sie mir. Auch konnte ich nicht glauben, daß ein Millionär zu derartigen Experimenten wirklich bereit sein könne. Doch unmittelbar nachdem Porst gegen Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, sprach er in der Nürnberger Meistersingerhalle vor zweitausend Belegschaftsmitgliedern über seine Vorstellungen von einer Dezentralisierung des Konzerns, mehr Mitbestimmung der Arbeitnehmer, Verantwortung und Initiative des einzelnen. Vier Jahre später, als seine Unternehmen fast zweihundert Millionen Mark Umsatz erzielten, übergab er die Porst-Gruppe mit hundertprozentiger Gewinnbeteiligung und Selbstbestimmung an die Mitarbeiter.

Heute sind wir beide Bürger der Bundesrepublik. Beim Nachdenken darüber fallen mir seine Worte ein, die er 1968 sprach: »Ich bin in der Bundesrepub lik Deutschland zu Hause. Und zwar mit meiner Meinung. Ich glaube immer noch, daß die Bundesrepublik ein Land ist, in dem auch Gedanken, die von den offiziellen Normen abweichen, gedacht werden dürfen. Ich nehme mir die Freiheit nach links, da die nach rechts schon längst wieder salonfähig geworden ist.«

William Borm war einer der interessantesten Menschen, die ich während meiner Tätigkeit an der Spitze des Nachrichtendienstes kennenlernte. Die Verbindung zu diesem Politiker währte annähernd zwei Jahrzehnte bis zu meinem Ausscheiden aus der HVA. Kurz darauf verstarb Borm im Alter von zweiundneunzig Jahren.

Mein Dienst war Ende der 50er Jahre auf den West-Berliner FDP-Politiker Borm gestoßen, als dieser nach Verbüßen einer Haftstrafe in Bautzen wegen »Kriegs- und Boykotthetze« kurz vor seiner Freilassung stand. Der wahre Grund für die neun

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Jahre Haft und auch für das Interesse meiner Leute an ihm war, daß man Borm verdächtigte, für den britischen Geheimdienst in der DDR tätig gewesen zu sein. Zwei Mitarbeiter der HVA suchten Borm im Gefängnis auf. Im Gespräch erklärte er sich bereit, nach seiner Entlassung den Kontakt zu ihnen fortzusetzen. 1960 wurde er zum Vorsitzenden der FDP-Landesparteiorganisation West-Berlins gewählt und wurde in den Bundesvorstand der Partei aufgenommen. Kurz darauf trat er in Verbindung mit den HVA-Männern, die ihn in Bautzen besucht hatten. Ich war neugierig geworden und beschloß, selbst einen Blick auf diesen Mann zu werfen.

In unserer konspirativen Villa erschien ein schlanker, hochgewachsener Mann, der das fünfundsechzigste Lebensjahr überschritten hatte. Sir William, der Beiname, den ihm die Jungdemokraten verliehen hatten, beschreibt recht gut den ersten Eindruck seiner Erscheinung. Selbst in legerer Kleidung wirkte er stets elegant und vornehm. Allem Anschein nach hatte er als Sohn eines Hamburger Fabrikbesitzers etwas von dem angenommen und behalten, was man dort unter einem »Herrn« versteht.

Nach unserem ersten Gespräch trafen wir uns regelmäßig. Unseren Konsens hatten wir in der Ablehnung der proamerikanischen Adenauer-Politik gefunden, der bundesdeutschen Wiederaufrüstung und der Erkenntnis, daß eine Verständigung zwischen beiden deutschen Staaten dringend notwendig war. Vor diesem Hintergrund beriet Borm mit mir sein politisches Agieren, zunächst innerhalb der West-Berliner FDP, dann auf seinem Weg in den Deutschen Bundestag.

Von Borms Rolle in der West-Berliner Lokalpolitik zeugen Willy Brandts Memoiren. Vor den Bundestagswahlen im Jahr 1965, bei denen Brandt Kanzlerkandidat war, wurden immer wieder Spekulationen über die Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung der SPD laut, auch in der Variante einer kleinen Koalition mit der FDP. Schon zwei Jahre zuvor hatte

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Borm sein Vorhaben einer solchen Koalition in der West-Berliner Regierung mit mir diskutiert und dieses Vorhaben auch in die Tat umgesetzt, nachdem es ihm gelungen war, Brandt davon zu überzeugen. Für Bonn aber war es noch früh, wie Brandt sich in seinem Buch erinnert: »Daß es nicht ging, erfuhr ich in den Sachgesprächen […] und, von Inhalten abgesehen: es hätte in der geheimen Kanzlerwahl nicht gereicht. Mein geschätzter Berliner FDP-Kollege William Borm hatte mir die Gründe genannt und gefolgert:›Machen Sie es nicht.‹«

Bei der nächsten Bundestagswahl Ende September 1969 sahen die Voraussetzungen anders aus. Unter denkbar knappen Mehrheitsverhältnissen läutete dieser Bundestag, dessen erste Sitzung mit einer Ansprache des Alterspräsidenten William Borm eröffnet wurde, die Geburtsstunde der sozialliberalen Koalition in Bonn ein. Borm war eine der Quellen unseres Wissens, die uns halfen, wie in einem Mosaik das Bild der Wandlung Willy Brandts vom kalten Krieger und Frontstadtpolitiker zum Befürworter einer neuen Ostpolitik der Verständigung zusammenzusetzen. Die Informationen meines Dienstes haben Ulbricht veranlaßt, eine behutsame Korrektur in seinen Äußerungen über die Beziehungen zwischen BRD und DDR vorzunehmen. Das zeugte von seinem guten Gespür. Honecker war von einer solchen feinen Auffassungsgabe damals noch weit entfernt.

In Borms Verhältnis zu meinem Dienst war der Meinungsaustausch das Entscheidende, das gleichberechtigte Geben und Nehmen. In mir sah er einen kompetenten und gleichzeitig unorthodoxen Gesprächspartner, von dem er wichtige Informationen erlangen konnte, so wie er uns wichtige Informationen zukommen ließ.

In privaten Gesprächen lernte ich den Menschen William Borm noch besser kennen. Daß er als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg gedient hatte und in der Weimarer Republik in die rechtsliberale Deutsche Volkspartei eingetreten war, wußte

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ich. Im Dritten Reich wurde er als Betriebsleiter zum »Wehrwirtschaftsführer« ernannt, und die Sowjets verhafteten ihn nach der Einnahme Berlins nur deshalb nicht, weil die Zwangsarbeiter in seinem Betrieb nur Gutes über ihn aussagten. Mitglied der NSDAP war er nie gewesen, und dennoch sprach er von seiner »Mitschuld«, weil er keinen Widerstand geleistet hatte. Das beschäftigte ihn bis zuletzt, und er sprach auch in der Öffentlichkeit darüber. Nie wieder sollte es geschehen, daß Unrecht widerspruchslos geduldet würde. »Ist es schon Mut, wenn man für seine Überzeugung eintritt?« fragte er.

In diesen Gesprächen lernte ich mehr von der Haltung eines Liberalen kennen, aber auch von einer anderen Komponente der Weltsicht Borms, die ihn in seiner Haft aufrechterhalten hatte. Es war das Freimaurertum, das mit Borms Verständnis von Liberalität eine Einheit bildete. Brüderlichkeit und Dienen, diese zentralen Begriffe der Freimaurer bestimmten für ihn den eigentlichen Inhalt liberalen Denkens. Den Begriff Liberalismus lehnte er zuletzt ab, weil er seiner Meinung nach aufgehört hatte, für eine freiheitliche und unabhängige Strömung zu stehen, und statt dessen für Opportunismus, Geschäftemacherei und Geldvergötzung stand.

Seine politischen Maximen machten den Altliberalen William Borm zu einer Vaterfigur für die Jungen in der Partei, denen er nicht als Besserwisser gegenübertrat, sondern als Gleichgesinnter. In seinem Denken war er jung und radikal. Ein Satz, den er häufig äußerte, lautete: »Die Ketzereien von heute sind die Banalitäten von morgen.«

Als der FDP-Vorstand sich 1979 auf die Zustimmung zum Nato-Doppelbeschluß einigte, stimmte Borm als einziges Vorstandsmitglied gegen den Beschluß. Als er 1981 zum Kampf gegen den »atomaren Selbstmord« aufrief, stand er an der Spitze der Opposition innerhalb der Partei. Im August desselben Jahres veröffentlichte der Spiegel eine scharfe Abrechnung Borms mit der Außenpolitik Genschers.

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Wie ungezwungen Borm mit meinen Leuten und mir umging, zeigt sich auch in der Offenheit, mit der er seine Parteikollegen charakterisierte. Bei aller Pointiertheit waren seine Porträts nie denunzierend. Genscher hielt er für einen Macher, dem er das Zeug zu einem guten zweiten Mann, nicht aber zu einem Strategen zubilligte. Mit Sorge beobachtete er, daß Genscher in Bonn immer häufiger bei sogenannten privaten Begegnungen mit Helmut Kohl gesehen wurde. Er tadelte Genschers Bereitschaft, eine politische Kehrtwende zu vollziehen, hielt ihn aber charakterlich nicht für unehrenhaft. Für den damals noch aufstrebenden Jürgen Möllemann hatte er allerdings nur Verachtung und den Spottnamen Mümmelmann übrig. An Genscher störte ihn, daß er gerade solche Karrieristen förderte.

Der Bruch mit der FDP war von Borm nicht so geplant und kam für uns völlig überraschend. Die Geister, die er gerufen hatte, warfen nach dem Eintritt der FDP in die Regierungskoalition mit der CDU jedes politische Kalkül über den Haufen. Unter Protest verließ die Parteiopposition im November 1982 die Tagungsstätte des Berliner FDP-Parteitags. »Hätte ich da sitzenbleiben sollen?« fragte er mich später.

Das war sein Ende als Parteipolitiker. Er wurde zwar noch von seinen Anhängern zum Ehrenvorsitzenden der neugegründeten Liberalen Demokraten ernannt, schätzte aber selbst nüchtern ein, daß dieser Partei keine Zukunft beschieden sein konnte.

Fortan sah er seine Aufgabe und sein Betätigungsfeld in der Friedensbewegung. Hinzu kam, daß er seine Lebensgeschichte aufzuzeichnen begann, wozu ich ihn ermuntert hatte. 1981 sah man ihn in der ersten Reihe der Demonstranten und als Redner vor der großen Kundgebung der Dreihunderttausend in Bonn; das folgende Jahr leitete er zusammen mit vielen bekannten Persönlichkeiten mit einem Friedensmanifest 1982 ein. Im Herbst 1983 demonstrierte er mit über einer Million Menschen gegen die geplante Aufstellung von US-Atomwaffen in der

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Bundesrepublik. Als der Bundestag im November nach turbulenten Debatten die Stationierung mehrheitlich billigte und die ersten Pershing-2-Raketen in das US-Depot in Mutlangen transportiert wurden, saß der Achtundachtzigjährige im Parka neben den anderen Demonstranten vor dem Raketenstützpunkt. Ein langer Lebensweg hatte ihn vom Freiwilligen der kaiserlichen Armee an die Seite der konsequentesten Kriegsgegner geführt.

Mit William Borm 1983 in Ost-Berlin

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William Borm war, so wie ich ihn kennengelernt habe, ein

echter Deutscher, der stets von deutscher Geschichte ausgehend politisch gedacht und gelebt hat. Zugleich war er ein überzeugter Liberaler, der die Gedanken anderer respektierte. Nach seinem Tod am 2. September 1987 schrieb Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seinem Kondolenzschreiben: »Sein Leben war bestimmt von der Überzeugungskraft eines Demokraten, der unbeirrbar und ungebrochen für Freiheit und Demokratie eingetreten ist, auch um den Preis der eigenen Freiheit. Er hat stets Opfer gebracht, wo es ihm geboten schien, seine grundlegenden Werte zu verteidigen. Sein Wort, so unbequem es auch oft war, galt viel. Es fand Gehör weit über die Grenzen seiner eigenen Partei hinaus. Er hat Konflikte nicht gescheut. Aber im Grunde war er beseelt von dem Drang, Trennendes zu überwinden nicht nur zwischen den Generationen, sondern auch zwischen den Deutschen im geteilten Vaterland.« Die Liberalen Demokraten schrieben über ihren Ehrenvorsitzenden: »William Borm hat deutsche Geschichte gestaltet. Obwohl gerade er unter langjähriger Einzelhaft besonders gelitten hatte, war er geistiger Wegbereiter der Friedenspolitik gegenüber dem Osten, der Aussöhnung gerade da, als sie nahezu allen anderen als unmöglich erschien. Er war der erste Politiker aus dem Westen, dem die Ehrendoktorwürde einer DDR-Universität angetragen wurde, als äußeres Zeichen, daß sein Einsatz, seine Mühen verstanden wurden. Zugleich vereinigte er damit in seiner Person die Widersprüche der deutschen Gegenwart.«

Wahrer und zutreffender kann man William Borm nicht würdigen, als es diese Nachrufe des von ihm geschätzten Bundespräsidenten und seiner Freunde, der Liberalen Demokraten, getan haben.

Gabriele Gast gehört zu jenen, die es mir besonders schwer machten, die Fäden zu durchtrennen, die mich mit Jahrzehnten

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der Arbeit im Nachrichtendienst verbanden. Diese Frau war ein weißer Rabe, eine Ausnahmeerscheinung in einer von Männern dominierten Welt. Als einzige Frau war sie im BND in eine Spitzenposition gelangt als Chefanalytikerin für die Sowjetunion und Osteuropa und dadurch für uns zu einer Quelle geworden, von der jeder Nachrichtendienst nur träumen kann. Lange Zeit war es ihre Aufgabe, aus sämtlichen wichtigen Informationen den Lagebericht für den Bundeskanzler zu erstellen.

Bei oberflächlicher Bekanntschaft lief man leicht Gefahr, Gaby Gast mit ihrem komplizierten Charakter, ihrer hohen Intelligenz und Bildung dem Typ kühler emanzipierter Frauen mit ausgeprägtem Ehrgeiz zuzurechen. Ein solches Psychogramm würde ihr Wesen jedoch völlig verfehlen, weil es ihre Sensibilität, ihre Einzigartigkeit und ihre Anteilnahme am anderen außer acht läßt. Die Mitarbeiter meines Dienstes, die den ersten Kontakt zu ihr aufnahmen und sich öfter mit ihr trafen, als dies noch möglich war, ohne daß man zu große Gefahren einging, könnten mehr dazu sagen, wenn sie noch lebten. Beide waren kluge Männer, die sich nicht nur durch Geduld, die Kardinaltugend des Aufklärers, ausze ichneten, sondern auch durch großes psychologisches Einfühlungsvermögen. Für Gaby waren sie väterliche Freunde und Vermittler einer Weltsicht, die zu der ihren wurde. Durch sie fühlte Gaby Gast sich einer Gemeinschaft zugehörig, die für eine gute Sache eintrat, für ein edles Ideal. Auch bei anderen Menschen bürgerlicher Herkunft, die sich für unseren Dienst engagierten, habe ich immer wieder festgestellt, daß eine solche starke Bindung ihr auffälligstes Motiv war.

Ihr soziales Verantwortungsgefühl beschränkte sich nicht auf die Theorie; als ihr Bruder und seine Frau ein schwerbehindertes Kind adoptierten und sich dieser emotionalen Belastung nicht gewachsen sahen, übernahm Gaby die zeitaufwendige und seelisch aufreibende Pflege des Jungen, weil sie nicht wollte, daß er in ein Heim abgeschoben wurde.

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Als Gaby Gast Ende der 60er Jahre an ihrer Dissertation über die politische Rolle der Frau in der DDR arbeitete, besuchte sie erstmals die DDR, um dort zu recherchieren, und lernte die beiden Mitarbeiter meines Dienstes kennen. Ab 1968 wurde ein Mitarbeiter der HVA, der sich Gaby gegenüber als Karl-Heinz Schmidt ausgab, zu ihrem ständigen Betreuer, und das Verhältnis zu ihm entwickelte sich zu einer Liebesbeziehung.

Einige Zeit nach ihrer Promotion 1973 bei Klaus Mehnert, dem bekannten Osteuropaspezialisten, bot ihr der BND eine Stelle als Analytikerin an. Die strengen Bestimmungen ihres neuen Arbeitgebers erlaubten keine Reisen in die DDR mehr. Treffen mußten während Gabys Urlaubstagen umständlich in Drittländern arrangiert werden.

Ihre Arbeit für uns war hervorragend. Sie hatte Zugang zu vielen außenpolitischen Interna der Bundesrepublik und der Nato und zu Berichten über die Einschätzung der Lage im Ostblock. Ihr verdankten wir ein Wissen über die Sicht des Westens auf den Osten, das uns erlaubte, die richtige Wertung zu haben, als Anfang der 80er Jahre die polnische Innenpolitik ihre dramatische Veränderung erlebte.

Die Analysen, die sie für uns verfaßte, zeugten von ihrer herausragenden Fähigkeit, das Wesentliche zu erfassen und darzustellen. Ich weiß, daß ihre Vorgesetzten beim BND diese Einschätzung geteilt haben. Wenn wir Originaldokumente benötigten, fertigte sie Mikrofilmkopien an, die sie in Toiletten- oder Kosmetikartikeln versteckte. Anfangs fand die Übergabe statt, indem Gaby Gast die präparierten Gegenstände im Toilettenabteil der Züge versteckte, die von München in den Osten fuhren, doch das war zu riskant und zu umständlich, und deshalb übernahm dies ein Kurier, der in München, vorzugsweise in Umkleidekabinen von Schwimmbädern, das Material entgegennahm.

Da Gaby Gast sich in kurzer Zeit zu einer unserer Spitzenquellen entwickelt hatte, fand ich es ratsam, mich Mitte

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der 70er Jahre selbst mit ihr zu treffen. Wir begegneten uns in einem Bungalow an der jugoslawischen Adriaküste. Die Atmosphäre war zu Anfang gehemmt, doch je länger wir uns unterhielten, um so ungezwungener und fesselnder wurde das Gespräch mit dieser Frau, deren wacher und lebhafter Intellekt mich tief beeindruckte.

Mit Gabriele Gast 1981 in Dresden

Als wir uns einige Jahre später wiedersahen, war sie vom Dauerstreß der Konspiration, von ihren persönlichen Problemen und von der Bürde der Verantwortung für das Kind gezeichnet. Als wir uns einmal über den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozeß unterhalten hatten, hatte sie mir danach einen Bildband über Nürnberg geschickt, in den sie geschrieben hatte: »Neues Nürnberg – Altes hinter neuen Fassaden oder Neues in wiedererstandenen alten Gemäuern? Dreißig Jahre nach ›Nürnberg‹ muß der Kampf weitergehen.« Diesen Kampfgeist sah ich ungemindert in ihr. Probleme waren daraus erwachsen, daß der Kontakt zwischen ihr und uns immer unpersönlicher,

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immer marginaler geworden war, so daß sie sich zu fragen begonnen hatte, ob sie nichts weiter als ein »Schräubchen im Getriebe« sei. Bei unserem Gespräch erfuhr ich, wie wichtig es ihr war, mit dem, was sie für uns tat, etwas Sinnvolles zu leisten. Meine anfänglichen Befürchtungen, sie wolle sich zurückziehen, hatte ich zu Unrecht gehegt. Gaby wollte nur offen mit mir über ihre Situation und über ihre politischen Sorgen sprechen. Sie prognostizierte, daß autonome Reformbewegungen über Polen hinaus im ganzen Ostblock Fuß fassen würden. Sie sah die größere Selbständigkeit der kleineren Staaten, ihr gewachsenes Selbstbewußtsein, als logische Folge vornehmlich ökonomischer Prozesse. Meine Sorge über die Stagnation im sozialistischen System, vor allem nach dem Tod Andropows, konnte ihr gewiß nicht verborgen bleiben.

Es war eine Begegnung, bei der wir sehr ernsthaft miteinander sprachen und die uns nachdenklich zurückließ.

Die Karriere unserer Spitzeninformantin in Pullach schien unaufhaltsam nach oben zu führen. Welche hohe Wertschätzung sie in ihrer Behörde genoß, läßt sich daraus ablesen, daß sie 1986 beauftragt wurde, einen Geheimbericht für den Bundeskanzler über den Verdacht abzufassen, daß westdeutsche Firmen in Libyen am Bau einer Fabrik für chemische Waffen beteiligt waren. Ein Jahr später wurde sie zur stellvertretenden Leiterin der Ostblockabteilung des BND befördert.

Nach dem Zusammenbruch der DDR fand noch ein Treffen Anfang 1990 in Salzburg statt, bei dem letzte Dinge mit ihr besprochen wurden. Alle Unterlagen, die mit ihr zu tun hatten, waren bereits vernichtet worden, so daß ihre Identität nicht enthüllt werden konnte. Aber das war ein Irrtum.

Wie sich herausstellen sollte, waren einige Mitarbeiter der HVA auf den Gedanken verfallen, sich im wiedervereinigten Land dadurch Vorteile zu sichern, daß sie andere denunzierten.

Karl-Christoph Großmann (mit Werner Großmann nicht

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verwandt) tat sich dabei besonders hervor. Er lieferte den entscheidenden Hinweis auf Gaby, weil er mitangehört hatte, wie sich andere Mitarbeiter darüber unterhielten, daß eine Frau mit einem behinderten Kind im BND für uns arbeitete. Im Spätherbst 1990 wurde sie an der österreichischen Grenze festgenommen.

Nach der schockierenden Meldung ihrer Verhaftung habe ich mich gefragt, ob ich sie damals, Mitte der 80er Jahre, hätten freigeben sollen, indem ich ihr offen meine Zweifel anvertraut und ihr eingestanden hätte, daß der »reale Sozialismus« sich auch für mich als Truggebilde herausgestellt hatte, an das ich nicht mehr glauben konnte. In einem Brief aus der Untersuchungshaft schilderte sie mir ihre Lage und besonders ihr Entsetzen, als sie begriff, daß ein leitender Offizier unserer Zentrale sie verraten hatte, daß genau das eingetreten war, was meinen wiederholten Versicherungen zufolge nie und nimmer hätte eintreten können.

Zwei Jahre vergingen zwischen unserem Briefwechsel und unserer Wiederbegegnung bei meinem Prozeß. Daß ihr Auftritt als Zeugin, die aus der Haft vorgeführt wurde, sie nervlich belastete, merkte man an ihrer Anspannung. In der Prozeßpause konnten wir uns ungestört unterhalten, und wir vereinbarten, uns sobald wie möglich zu treffen, um ausführlicher über alles zu sprechen, was uns bewegte. Anfang Februar 1994 war es soweit – Gaby Gast war nach Verbüßung der Hälfte ihrer Haftstrafe wieder auf freiem Fuß. Ende März besuchte sie mich. Wir unternahmen stundenlange Spaziergänge und redeten bis tief in die Nacht.

Wieder und wieder kam sie auf das zurück, was sie in den Haftjahren gequält hatte, die Frage nach den Quellen des detaillierten Wissens ihrer Vernehmer. Das Verhalten Karl-Heinz Schmidts, ihres »Karliceks«, der vor Gericht ganz anders hieß, und ihres letzten Führungsoffiziers wurde für sie zu einer herben Enttäuschung. Nach ihrer Rückkehr schrieb sie mir, daß

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unsere Gespräche die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit für sie erträglicher machen würden, obschon sie auch neue Verwundungen erlitten habe.

Wahrheiten können nicht nur hilfreich, sondern ebenso schmerzhaft sein. Gerade aus diesem Brief spürte ich ihre Charakterstärke und ihre Sensibilität gegenüber Lebensfragen. Deshalb möchte ich daran glauben, daß wir uns auf unserem »Weg der Erkenntnis« auch künftig immer wieder treffen werden. Daß nicht verlorengeht, was an die Stelle nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit getreten ist: eine Freundschaft.

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19 Glanz und Elend der Spionage

»Man darf die einen nicht unreflektiert zu Trägern des Guten machen und die anderen zu Missetätern, indem man sie nach relativ positiven oder negativen Kriterien bewertet. Diese wie jene wechseln je nach historischen Umständen, dem Charakter einer Gesellschaft, des Zeitalters und der subjektiven Ansichten«, schreibt der japanische Philosoph Daisaku Ikeda. Die eigene Verstrickung in die geheimen Seiten des kalten Krieges und die Erfahrung des im Namen Sozialismus betriebenen Machtmißbrauchs sind tiefe Einschnitte in meiner Biographie. Das Wissen um meine politische und moralische Mitverantwortung für vieles, was in der vierzigjährigen Geschichte der DDR geschah, wird mich verfolgen. Doch dies steht nicht zuvorderst auf dem Blatt meiner Verantwortung als Leiter eines Nachrichtendienstes.

Genausowenig wie die Partnerdienste der Warschauer-Pakt-Staaten konnte mein Dienst den Untergang des Systems verhindern, dem wir dienten. Im Gespräch mit Michael Kohl, dem Bonner Botschafter der DDR, hat Helmut Schmidt einmal in seiner direkten Art gesagt: »Man soll mit den lästigen Spionagegeschichten aufhören. (…) Das, worauf es ankommt, weiß man sowieso. (…) Der Aufwand ist unnötig und stellt eine Wichtigtuerei dieser Dienste dar, die ihre Existenzberechtigung nachweisen und ihre Planstellen erhalten wollen.«

Ein anderer Beobachter urteilte nach dem Übertritt Tiedges nicht weniger hart über das, was er den Unfug der Geheimdienste nannte: »Ihre Aktionen erinnern zuweilen an das Cowboy- und Indianerspiel von Kindern: KGB-Agenten wachen über CIA-Agenten, die gemeinsam mit dem Bundesnachrichtendienst, dem israelischen Mossad oder dem britischen MI 5 Moskaus KGB-Agenten beschatten und bekämpfen. Dafür werden den Diplomaten Callgirls auf den

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west-östlichen Diwan gelegt, Regenschirmspitzen vergiftet, alternde Sekretärinnen erhalten Rosen von östlichen Kavalieren. Keine Nation der Welt glaubt, ohne Geheimdienst auskommen zu können. Die Hauptarbeit der meist aufgeblähten Behörden erschöpft sich weitgehend darin, einander das Leben zu erschweren. Die Deutschen in ihrer geteilten Nation haben es dabei zu wahrer Meisterschaft gebracht, fügen Pyrrhussieg an Pyrrhussieg.«

Eine eigene Eintragung, 1974 nach den Feiern zum 25. Jahrestag der DDR geschrieben, führte mir beim Blättern in meinem Tagebuch vor Augen, daß die Frage nach dem Sinn nachrichtendienstlicher Tätigkeit mir nicht erst seit dem Scheitern des »real existierenden Sozialismus« durch den Kopf geht: »Bei der Diskussion über Geheimdienste taucht neben der Frage cui bono? die Frage auf: Nutzen sie überhaupt? Dabei geht es nicht nur um diese Apparate; die Armeen verschlingen das Vielfache an Milliarden. Doch fast sämtliches in der Nato produzierte Papier, mit Stempeln cosmic und streng geheim versehen, das wir mit hohem Aufwand beschaffen, ist bei näherem Hinsehen nicht einmal dafür gut, an einem stillen Örtchen verwendet zu werden. Und wer will bei uns im Innern den Nutzen der Riesenapparate von Partei, Staat und Wirtschaft messen, die sich zum erheblichen Teil gegenseitig beschäftigen, anleiten, kontrollieren? Wie viele nützlichere Dinge könnten getan werden, wie viele Menschen eine wirklich befriedigende Tätigkeit ausüben, wenn diese Zöpfe beschnitten würden. Aber die Monster wachsen unaufhaltsam.«

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Tagebucheintrag vom 16. 10. 1974 (Transkription im Anhang)

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Tagebucheintrag vom 17. 10. 1974 (Transkription im Anhang)

Das Elend beginnt dort, wo die Nachrichten der Dienste auf

Ignoranz und Arroganz stoßen, wo ihre Warnungen in den

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Archiven verstauben, falls sie nicht gleich in den Reißwolf gewandert sind. In der Politik fällt die Entscheidung, ob die Arbeit der Nachrichtendienste Nutzen stiftet oder zur Sinnlosigkeit verurteilt ist. Als ich an der Spitze meines Dienstes stand und mich immer wieder nach dem Sinn der Opfer fragen mußte, die wir vielen Mitarbeitern abverlangten, und auch jetzt beim Niederschreiben meiner Gedanken bewegte und beschäftigt mich das Schicksal jener, die wir als unsere Vorläufer und Vorbilder ehrten. Wie mochten Richard Sorge oder Harro Schulze-Boysen und seine Gefährten den Wert ihres Tuns, den Sinn ihres Lebens gesehen haben, als sie den Weg zum Schafott gingen?

Sie hatten, bevor sie starben, die verheerenden Niederlagen der Roten Armee in der ersten Phase des Zweiten Weltkriegs erlebt. Trotz ihrer sehr präzisen Warnungen schien die Führung der Sowjetarmee völlig überrascht worden zu sein. Dennoch setzten sie ihre lebensgefährliche Tätigkeit bis zuletzt fort. Durch ihren Tod blieb ihnen die bittere Wahrheit erspart, daß Stalin ihre Warnungen in den Wind geschlagen hatte.

Sorge in Tokio, die Rote Kapelle in Berlin, Leopold Trepper in Frankreich, Sandor Rado in der Schweiz und Gerhard Kegel an der deutschen Botschaft in Moskau – sie füllen die Ruhmesseiten nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Das Elend war die Behandlung ihrer Meldungen durch einen Mann, der in maßloser Selbstherrlichkeit alles, was seiner vorgefaßten Meinung nicht entsprach, mit einer Handbewegung vom Tisch fegte.

Mein Bruder Konrad empfahl mir eines Tages, den Roman Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss zu lesen, dem er eng verbunden war. Für das Erscheinen dieses Werkes in der DDR hatte er sich als Präsident der Akademie der Künste nachdrücklich eingesetzt und keine Auseinandersetzung mit der Kulturabteilung des Zentralkomitees der SED gescheut. In wenigen Tagen verschlang ich die drei Bände: Es war mein

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Thema! Zehn Jahre hindurch hatte Weiss umfangreiches Material für das Buch gesammelt. Seine Notizbücher darüber sind eine aufregende Lektüre. Immer wieder stieß ich auf vertraute Namen. Die Veröffentlichung seiner Recherchen über die Verbrechen und die Opfer des Stalinismus waren in der DDR sensationell.

Trotz der Faszination, die das Werk auf mich ausübte, blieb Widerspruch in mir zurück. Auch Peter Weiss stellte die Frage nach dem Sinn der Opfer und des Lebens von Kundschaftern. Er beschreibt ihren Gang zum Schafott und ihre Enthauptung so eindringlich, daß die Bilder mich bis in meine Träume verfolgten. Seine Darstellung empfand ich als zutiefst pessimistisch. Ich sträubte mich innerlich heftig gegen seine Skepsis. Noch stand ich im Bann des historischen Optimismus, zu dem sich Harro Schulze-Boysen bekannte, als er kurz vor seiner Hinrichtung schrieb: »Der Stunde Ernst will fragen: Hat es sich auch gelohnt? An Dir ist's nun zu sagen: Doch! Es war die rechte Front!« Dieses Bekenntnis entsprach meiner Überzeugung – die Opfer konnten, nein, sie durften nicht umsonst gewesen sein.

Aber Opfer und Entbehrungen, Risiken und Mut sagen nichts über den Wert nachrichtendienstlicher Tätigkeit aus, weil deren Effizienz letztlich nur von der Bereitschaft des Dienstherrn abhängt, den Informationen auch dann Rechnung zu tragen, wenn sie von seinem Urteil abweichen oder ihm sogar widersprechen.

Dem Außenstehenden muß die Welt der Geheimdienste manchmal absurd und surreal, ihr Tun unmoralisch, zumindest als sinnloses Spiel erscheinen. Um so dringlicher stellt sich nach dem Ende des kalten Krieges die Frage nach einer weiteren Existenzberechtigung der Dienste – nicht nur hierzulande, auch in der US-Öffentlichkeit. Nach dem Skandal um Aldrich Ames mußte die CIA es sich gefallen lassen, daß ihre Funktion kritisch durchleuchtet wurde, und sie bekam keine guten Noten.

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Gewiß könnten die aufgeblähten Apparate der Geheimdienste einer unparteiischen und objektiven Prüfung ihrer Effizienz und der sachlichen Notwendigkeit ihres Umfangs nicht standhalten. Im Satellitenzeitalter hat die technische Aufklärung Riesenschritte gemacht; die wachsende Bedeutung der analytischen Arbeit heißt, daß durch sinnvolle Konzentration viel überflüssiger Aufwand und Doppelgleisigkeit vermieden werden könnten. Dennoch glaube ich, daß die Arbeit mit menschlichen Quellen, solange diese Dienste existieren, nie ganz zu ersetzen sein wird. Technisch kann man nur den Ist-Zustand des überwachten Gebietes annähernd genau feststellen. Geheime Pläne, Optionen und Entscheidungen müssen auch dem höchstentwickelten Satelliten verborgen bleiben.

Hochwertige Quellen in den entscheidenden Bereichen, in die man eindringen will, zu gewinnen und aufzubauen, das allerdings hängt nicht von der Anzahl der Mitarbeiter in der Zentrale ab, sondern von den eigenen Führungsqualitäten. Im Unterschied zu anderen leitenden Offizieren im MfS habe ich nie um erweiterte Kompetenzen und Stellenpläne gekämpft.

Selbst wenn man also Nachrichtendienste auch künftig für unverzichtbar hielte, ließe sich ihre Größe erheblich einschränken. Gegenwärtig besteht jedoch eher die Tendenz, sie aufzublasen. Wenn als Begründung dafür sogar die Bekämpfung der Schwerkriminalität herhalten muß, dann drängt sich der Verdacht auf, daß hier unter der Hand ganz andere Ziele verfolgt werden.

Vielleicht steht es nicht gerade mir zu, darauf hinzuweisen, daß es gewissermaßen in der Natur der Sache liegt, daß Nachrichtendienste undemokratisch und denkbar ungeeignet sind, Bürgerrechte zu schützen. Aber es ist so. Die Arbeit mit Geheimagenten schließt eine vorbehaltlose Offenlegung aus. Selbst ein auf wenige, streng ausgesuchte Abgeordnete begrenzter Kontrollausschuß, wie er im Deutschen Bundestag oder im Kongreß der USA besteht, vermag diese Barriere nicht

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zu überwinden. Davon zeugt die endlose Geschichte der Skandale in allen parlamentarischen Demokratien.

Also doch weg mit den »Monstern«? Was spricht am Ende der Geschichte dieses Jahrhunderts,

dessen Zeugen wir gerade wurden, eigentlich dagegen, diese Frage zu bejahen? Erfahrung und Vernunft lassen mich an der Realisierbarkeit einer solchen Vorstellung in absehbarer Perspektive zweifeln. Regierungen sind niemals bereit, von sich aus darauf zu verzichten, Machtpolitik nach außen wie nach innen auszuüben und die überkommenen Bahnen ihres Denkens zu verlassen. Nach dem Verschwinden der behaupteten Bedrohung durch den Ostblock hat keine einzige Regierung eines Nato-Mitgliedstaates die Existenzberechtigung hochgerüsteter Armeen in Europa oder gar des Bündnisses selbst in Frage gestellt. Warum sollten sie dann ausgerechnet ihre Geheimdienste abschaffen?

Daß der BND auch lange nach der Ära Gehlen Dossiers über prominente Bundesbürger führte, vorzugsweise Sozialdemokraten und als linkslastig eingestufte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, ist allgemein bekannt. Er zeigte auch wenig Skrupel dabei, seine Beziehungen zu Nachrichtendiensten verbündeter Länder zu nutzen, um deren Interna mittels jener Chiffriertechnik auszuforschen, die er ihnen selbst geliefert hatte. Überhaup t ist es kaum zu fassen, mit welchem Aufwand die Nato-Verbündeten sich untereinander überwacht und bespitzelt haben. Aber ein besonders finsteres Kapitel stellen die illegalen Waffenlieferungen der Geheimdienste in Krisengebiete dar.

Eine 1994 vom Forschungsinstitut für Friedenspolitik in Weilheim erstellte Studie zur »Zukunft der Nachrichtendienste der KSZE-Staaten und Japans« gelangt zu dem Schluß, daß heute weltweit mehr spioniert wird als zu Zeiten des kalten Krieges. Vor allem in Deutschland, heißt es, »tummeln sich mehr Nachrichtendienste als je zuvor«, nur hat sich der

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Schwerpunkt von der Ausspähung militärischer Geheimnisse zur Wirtschaftsspionage verschoben. Diese Einschätzung deckt sich mit Erkenntnissen von Experten der Bundesregierung. Allerdings versäumen diese Experten, den naheliegenden Schluß zu ziehen, daß die Dienste sich mit fremden Federn schmücken, um gegenüber Regierungen und Parlamenten ihre Existenzberechtigung zu demonstrieren, denn die großen Wirtschaftsunternehmen haben längst ihre eigenen Spionage- und Sicherheitsdienste auf- und ausgebaut. Auf diesem Gebiet sind die Amerikaner von erfrischendem Pragmatismus: Robert Gates, CIA-Direktor unter Präsident Bush, hat offen ausgesprochen, daß gerade auf dem Feld der Wirtschaftsspionage seines Erachtens eine der wichtigsten Aufgaben nachrichtendienstlicher Tätigkeit in der Zukunft liegen wird. Mehr denn je benötige die Regierung zuverlässige Analysen globaler wirtschaftlicher Trends, der technologischen Entwicklung anderer Länder und deren Aktivitäten in der Wirtschaftsspionage. Im übrigen ist die Wirtschafts- und Industriespionage keine neue Entdeckung, sondern spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg fester Bestandteil aller Nachrichtendienste.

Aber es gibt noch andere Gebiete, auf denen die Geheimdienste trotz aller angebrachten Skepsis ihrem Tun gegenüber nützlich sein und international kooperieren könnten. Als Beispiele will ich nur die Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der sich ausbreitenden Drogenmafia nennen. Das leider bei Politikern immer noch verbreitete Lawandorder-Denken verleitet diese nur zu oft dazu, die mit dem Terrorismus und der Drogenmafia einhergehenden Gefahren als Rechtfertigung für den Ausbau eines inneren Repressionsapparates vorzuschieben. Allzu gern verlangen bestimmte Kreise bei jedem Anlaß Überwachung linker Organisationen und Einschränkung der Bürgerrechte.

Was die Atommafia betrifft, so entsprechen die bisherige

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Vorgehensweise und die internationale Koordinierung nicht einmal annähernd der Herausforderung, die das noch vorhandene Vernichtungspotential der Waffenarsenale darstellt. Trotz erster bescheidener Abrüstungsschritte bedrohen Kern- und Trägerwaffen nicht nur die Sicherheit einzelner Staaten und Regionen, sie gefährden noch immer den Weltfrieden. Meldungen über die Inbetriebnahme geheimer Anlagen in sogenannten

Schwellenländern, die meist in instabilen Regionen oder Krisengebieten liegen, signalisieren die latente Gefahr. Sofern Nachrichtendienste sich auf eine diesbezügliche Tätigkeit berufen, muß gefragt werden, in wessen Hände ihre Erkenntnisse gelangen und zu welchem Zweck. Dem echten friedlichen Zusammenwirken der Dienste sind noch immer zahlreiche und sehr enge Grenzen gesetzt. Deshalb geht der Kampf im dunkeln weiter. Dieser Kampf ist kein Spie l, denn er findet in einer sehr realen problembeladenen Welt statt.

Vielleicht ermöglicht es das Ende der Konfrontation zwischen Ost und West, die unkontrollierte Macht der Dienste zu beschneiden. Admiral Schmähling, dessen Forderung nach dem Abschaffen der Geheimdienste von Kollegen, die sich selbst gern realistisches Denken bescheinigen, als Utopie abgetan wird, pflegt auf dieses Argument zu erwidern, unsere Welt brauche Utopien. Dem möchte ich hinzufügen, daß eine zivilisierte Welt Regierungen braucht, deren Politik sich von der kompromittierten Machtausübung in internationalen Beziehungen wie gegenüber den Bürgern des eigenen Landes abwendet und zur Respektierung des Rechts auch auf Gebieten hinführt, wo es bisher ausgeklammert blieb. Ohne derartige politische Zielsetzungen muß die Forderung nach der Bändigung der »Monster« ein frommer Wunsch bleiben.

Als ehemaligen Leiter eines mit seinem Staat untergegangenen Nachrichtendienstes, der dem Urteil eines amerikanischen Kollegen zufolge zwar der bessere war, aber das

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Endspiel verloren hat, beschäftigt mich die Frage einer künftigen Rolle der Geheimdienste nur noch am Rande. Sie ist in meinen Augen Teil der größeren und wichtigeren Frage nach der Rolle der Macht in der Gesellschaft, ihres Gebrauchs oder Mißbrauchs, besonders durch den Staat.

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Epilog

Das Schlußwort, das ich zu meinem Prozeß in Düsseldorf 1993 hielt, endete mit den Worten: »Mit Siebzig ist es sicher an der Zeit, sich nach der Bilanz des eigenen Lebens zu befragen. Hier steht das Wort ›Verrat‹ im Raum. Habe ich etwas von den Werten verraten, die meinen Lebensweg begleitet haben, die meinen Vorbildern, meiner Familie, mir selbst wert und teuer waren? Wir haben geirrt, vieles haben wir falsch gemacht, die Fehler und ihre Ursachen viel zu spät erkannt. Aber ich halte an den Werten fest, mit denen wir die Welt verändern wollten. Es war ein hoher, wahrscheinlich zu hoher Anspruch.«

Wenn ich nach allem, was hinter mir liegt, mit gutem Gewissen sage, daß ich nichts verraten habe, was meiner Familie und mir teuer war, bedeutet dies, daß ich auch bei noch so kritischem Rückblick mein Leben und meine Wertvorstellungen nicht in Frage stelle. Wir haben Spuren hinterlassen, auch Wunden und schmerzende Narben, wir haben aber nicht umsonst gelebt.

Wenn ich mich an meine Jugend in der Sowjetunion erinnere, dann fallen mir nicht zuerst die Verbrechen Stalins ein, die mir erst später bewußt wurden, und es fällt mir auch nicht der Pakt mit Nazideutschland ein, sondern das Leben in Kriegszeiten. Der Zweite Weltkrieg war das tief eingreifende Ereignis im Leben vieler Menschen; er endete mit dem Untergang des Dritten Reichs. Daß wir als Deutsche an der Seite der Sowjets gegen Hitlers Truppen kämpften, war kein Verrat an Deutschland. Mag der Beitrag meiner Familie und der anderer Emigranten, gemessen an den Opfern und Leiden der überfallenen Völker, noch so gering gewesen sein, so brauche ich mich doch dieses Teils meiner Biographie nicht zu schämen.

Ebensowenig kann ich mich meines Anteils an dem Versuch schämen, den die DDR in den Nachkriegsjahren unternahm, die

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Wurzeln des Nationalsozialismus, seiner Verbrechen und des schlimmsten aller bisherigen Kriege bloßzulegen. Unter diesem Zeichen stand auch meine frühe Tätigkeit im Geheimdienst.

Und bei aller Verstrickung in Ungerechtigkeit und Niederträchtigkeiten des kalten Krieges bin ich stolz darauf, daß meine geheimdienstliche Tätigkeit zum Status quo in Europa und somit zur längsten Friedensperiode in der modernen Geschichte Europas und zur Verhinderung eines atomaren Infernos beigetragen hat.

Wenn ich mich entschieden gegen Versuche wehre, die Geschichte der DDR zu kriminalisieren und ihre antifaschistischen Ursprünge zu leugnen, kann ich dennoch meinen Anteil an der Verantwortung für die Schattenseiten ihres Systems und für die Ursachen ihres Scheiterns nicht abstreiten. Durch meine Position und meine Tätigkeit war ich Teil dieses Systems, nahm ich an der Macht teil. Mit der Macht umzugehen bedeutet aber immer, Verantwortung für ihren Mißbrauch, auch durch andere, auf sich nehmen zu müssen. Das habe ich als Teil meiner Lebensbilanz zu tragen.

Immer wieder habe ich mich seit 1989 nach den Ursachen des jämmerlichen Untergangs unseres Staates gefragt und danach, was ich meinen wachsenden Erkenntnissen folgend früher, mutiger, konsequenter hätte tun können, tun müssen. Mangelnde Courage, meine Meinung zu vertreten, war es nicht, was mich lahmte. Es war vielmehr der Zweifel, in dem System, wie es beschaffen war, durch offenes Opponieren etwas Sinnvolles bewirken zu können. Wie viele meiner Freunde scheute ich davor zurück, heilige Kühe wie die in der Verfassung festgeschriebene führende Rolle der Partei anzutasten, obwohl wir tagtäglich zu spüren bekamen, wie diese Führung jeden Meinungsstreit, jede schöpferische Diskussion im Keim erstickte. Wie gebannt warteten wir auf einen Generationswechsel in der Führung, auf Veränderungen von oben, vor allem in Moskau, ohne zu begreifen, daß wir uns

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selbst die Hände banden, indem wir alles Handeln delegierten. Schließlich kam die Veränderung von oben in Gestalt Michail Gorbatschows. Ihm galten auch meine Hoffnungen, doch nicht sehr lange. Die Zeit war abgelaufen; das 1917 in Rußland ausgerufene Gesellschaftsmodell gescheitert.

Was bleibt von unseren Idealen, was von den Mühen, den Sozialismus Wirklichkeit werden zu lassen? Wir glaubten, den Ideen treu zu folgen, die Marx und Engels im Kommunistischen Manifest formuliert hatten; wir glaubten, an einer Gesellschaft mitzuwirken, in der die großen Ideale der Französischen Revolution mehr Lebenskraft besäßen als im kapitalistischen System. Wir sind gescheitert – aber nicht, weil wir zuviel Sozialismus praktizierten, sondern zuwenig. Das ist meine feste Überzeugung, so, wie es meine Überzeugung ist, daß die unter Stalin begangenen Verbrechen nicht Verbrechen des Kommunismus, sondern Verbrechen am Kommunismus waren.

Mein Weg zur sozialistischen Bewegung begann zu einer Zeit, als unter Stalin der Begriff der Freiheit des einzelnen bereits der bedingungslosen Unterordnung unter die Parteidoktrin geopfert war, dem bedingungslosen Gehorsam, der sich letztlich in nichts vom Kadavergehorsam des Obrigkeitsstaates unterschied, zu einer Zeit, als Ideale von zynischen Machtinhabern mißbraucht wurden, um eine disziplinierte Gesellschaft zu manipulieren.

Die Realität in der Gesellschaft der DDR hatte mit Demokratie und Sozialismus zunehmend wenig zu tun, und daran ist diese Gesellschaft erstickt und ihr System zerbrochen. Ohne Demokratie als unerläßliche Prämisse aber mußte unsere Gesellschaft in einem Vergleich mit der pluralistischen Demokratie eines entwickelten kapitalistischen Landes den kürzeren ziehen. Die größere soziale Sicherheit allein konnte die fehlende Reisefreiheit und das ständige Reglementieren freier Meinungsäußerung nicht aufwiegen.

Für viele meiner Landsleute hat die strahlende Fassade des

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Westens mehr versprochen, als sie halten konnte. Viele müssen erkennen, daß manche Menschenrechte in der DDR größer geschrieben wurden. Das Recht auf Arbeit und das auf eine bezahlbare Wohnung werden in dem Maße wertgeschätzt, in dem sie verlorengehen. Die Entsolidarisierung in der Gesellschaft wird als schwerwiegender Verlust empfunden.

Man mag einwenden, daß eine Kritik an den demokratischen oder undemokratischen Verhältnissen im Kapitalismus nicht anhand der Meßlatte eines sozialistischen Ideals vorgenommen werden dürfe. So richtig das ist, kann ich darauf nur erwidern, daß ich mich genausowenig wie andere damit abfinden kann, ein Gesellschaftssystem zu akzeptieren, in dem seit Jahrzehnten die Reichen unbestritten immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Sollen die Menschen sich auf Dauer mit einem Zivilisationsmodell zufriedengeben, das dadurch charakterisiert werden kann, daß alles unter dem Diktat des Besitzes steht?

Die Macht des Geldes übt nicht weniger Gewalt aus als die Macht des Staates. Sie wirkt weniger vordergründig, ist aber nicht weniger brutal. Wenn Machtmißbrauch wie im »realen Sozialismus« mit der Manipulation eines Ideals beginnt, so wird im Kapitalismus das Ideal von der individuellen Freiheit im Interesse der Macht des Geldes und zum Schaden für die Mehrheit der Gesellschaft mißbraucht. Nicht nur ich empfinde großes Unbehagen angesichts einer Politik, die keine Zukunftsvisionen anzubieten hat und sich auf das Erhalten des Bestehenden zurückzieht. Eine diffuse Angst vor der Zukunft ist vielerorts zu spüren, und sie rührt daher, daß unser gegenwärtiges Gesellschaftssystem die großen Probleme, vor denen die Menschheit steht, nicht zu lösen vermag, sondern immer neue und größere Probleme erzeugt.

Manchmal werde ich gefragt, welchen Rat und welche Erfahrung ich meinen zehn Enkeln mit auf den Weg geben kann. Ihnen reiche ich die Lebensmaxime meines Vaters über die Zivilcourage weiter. Für einen jungen Menschen ist nichts

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wichtiger, als sich eine eigene Meinung zu bilden. Kaum weniger wichtig scheint mir jedoch der Mut, diese Meinung auch zu vertreten, selbst wenn dies mit Unannehmlichkeiten verbunden ist. Aus meiner Erfahrung möchte ich ihnen auch nahelegen, die Meinung anderer unbedingt zu respektieren und niemals zu versuchen, anderen die eigene Meinung mit Gewalt aufzuzwingen.

Ich weiß nicht, wie viele junge Menschen heute von einer gerechteren Welt träumen. Utopien – da pflichte ich Elmar Schmähling bei – werden gebraucht, sie lassen sich nicht einfach außer Kraft setzen. Ohne das weitere Suchen nach einer Alternative müßten wir zusehen, wie unser Planet schleichend oder mit einem Knall zerstört wird. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, daß auch künftig Idealisten eine Gesellschaftsordnung anstreben werden, in der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit Wirklichkeit werden sollen. Ob ihnen bei ihrem Weg der gute alte Marx noch eine Richtschnur sein kann, das müssen sie selbst prüfen und herausfinden.

Unweit meiner Wohnung im Zentrum Berlins haben junge Leute auf ein Marx-Engels-Denkmal die Worte aufgesprüht: Wir sind unschuldig. Sie hatten recht. Der kalte Krieg ist zu Ende, ein Modell des Sozialismus, dessen Beginn mit großen Hoffnungen verbunden war, ist gescheitert, doch meine Ideale habe ich nicht verloren. Die Worte der Sprayer drücken auch das aus, was Jean Ziegler sagte, als er seinem Buch über die Unsterblichkeit des Marxismus den Titel gab: A demain, Karl – bis morgen, Karl.

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Vor dem Marx-Engels-Denkmal in Berlin 1993

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Danksagung

Seit Ende der 70er Jahre hat dieses Buch mich beschäftigt. Daran zu schreiben begann ich 1991 in Moskau. Die erste Fassung habe ich während meines Prozesses Ende 1993 beendet, die Endfassung Anfang 1997.

Für Rat, Unterstützung und die in erster Linie bezeigte Solidarität und Hilfe bei der Vorbereitung der englisch- und deutschsprachigen Ausgabe danke ich insbesondere Anne McElvoy, Klaus Eichner, Kai Hermann, Jürgen Jessel, Aune Renk und Craig R. Whitney. Für die Erstellung von Glossar und Register sei an dieser Stelle Herbert Kloss gedankt.

Mein Dank gilt besonders meiner Frau Andrea, die am Werden dieses Buches den größten Anteil hat und die in dieser Zeit der Prüfung keinen Augenblick von meiner Seite gewichen ist.

Berlin, im März 1997

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Transkription der Tagebucheintragungen

Eintrag vom 15. und vom 16. April 1980 Der »Kanal« zum Onkel ist aktiv, u.a. in Vorbereitung der

Mittagreise. Onkel Herbert steht unter schwerem Beschuß, repräsentativ dafür ist ein Artikel der FAZ vom 29. 3.: »Sing anders, Sachse«, wo von möglichem Wiederentdecken des alten kommunist. Parteibuchs, seinem Übersollerfüllen auf seinem einzigen Feld der deutschsowjetischen Beziehungen, das von keinem »Einflußagenten« gelöst werden könnte u.a. Unterstellungen für das an die Heimat Sachsen gebundene »Rätsel Wehner« die Rede ist.

Frisch von der Krisensitzung am 13.4. mit Schmidt, Brandt, Wischnewski, Bahr und Apel im BKA kommend, bedankte er sich für die Grüße E. H.s. »Wir ziehen ja an einem Strang. Ich habe ihm versprochen, vor einer möglichen Kriegsgefahr zu warnen. Seit heute weiß ich, daß sie sich anbahnt, ja vielleicht schon brodelt.«

Es wird berichtet, wie in diesem Kreis die verschiedenen von den USA geforderten Maßnahmen behandelt wurden, mit unterschiedlichen Relationen beim Votum.

Beim Olympia-Boykott drohte Schmidt mit Rücktritt, als Wehner namens der Fraktion dagegen votierte. Schmidt schickte Wehner einen warnenden Brief, u. a. mit Zeitungsausschnitten, auch der FAZ (Wischnewski hat auch bei Moldt versucht, H.W. für unzurechnungsfähig zu erklären). Es ging auch um die Einladung L.I. Breshnews an Schmidt (wobei sich herausstellte, daß auch Brandt eine Einladung besitzt), um wirtschaftliche Sanktionen gegen die SU, für die nur Wischnewski eintrat, alle waren gegen den Abbruch der Beziehungen zum Iran und gegen jede militär. Eskalation.

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Die Lage wurde mit der Zeit unmittelbar vor Ausbruch des ersten Weltkrieges 1914 verglichen. »Sagen sie meinem Jugendfreund, Schmidt befindet sich in einem Dickicht von Wahnvorstellungen. Ob u. wie er sich da herauswindet, da ist alles drin.«

Später wurden Genscher, Lambsdorff, Mischnik u. Verheugen hinzugezogen.

H.W. gab dann noch Empfehlungen für G. Mittag, u.a. zum Ansprechen der »humanitären Fragen«, die im argen liegen. Es soll da einen Brief von RA Vogel an Stange geben, mit dem operiert werden soll.

Eintrag vom 24. August 1981 Bemerkenswert scharfe Abrechnung »Olafs« im Spiegel Nr.

35 mit der Außenpolitik Genschers. Das Bemerkenswerte für die Stimmungslage ist die Tatsache der Veröffentlichung.

Besuch von RA Vogel bei H. Wehner auf Öland/Schweden vom 7.- 10. 8.

Viel Freundschaftsbeteuerungen gegenüber E.H. Er beginnt sein physisches Unvermögen zu verstehen u. daß er aufhören muß. Stimmungslage insgesamt apokalyptisch. Der geschnitzte Holzfäller aus dem Erzgebirge – von E.H. zum 75. – sein liebstes Geschenk.

Plädiert für Schmidt als einzig vernünftige Alternative u. absolut gegen den von Moskau poussierten Brandt. Dieser glaube noch, die UdSSR könne die DDR opfern.

Bestätigt den für Sept. vorgesehenen Austausch von G. Guillaume.

Drängt auf entschlossene Maßnahmen gegenüber Polen. »Je eher, desto besser.«

Sorge, ob die UdSSR mit der amerik. Materialwalze auf Dauer mithalten könne.

Polen – gefährlicher »Ermunterungssog.«

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»Es geht nicht ohne innere Gewalt, leider. Es ist eine halbe Minute vor 12.«

Absolute Ablehnung Reagans u. seiner Politik. Eintrag vom 8. März 1983 Mit Herbert Wehner, der nicht mehr im Bundestag sein und

als Fraktionsvorsitzender von H.-J. Vogel abgelöst wird, tritt eine der markanten und schillernden Figuren von der politischen Arena ab.

Sein Leben voller jäher Wendungen, Winkelzüge und nur ihm selbst bekannter Geheimnisse wäre einer Beschreibung wert. Vom kommunistischen Funktionär über den aktiven Anti bis zu dem im Alter anscheinend weise werdenden humanistischen Weltverbesserer und Einzelkämpfer mit konspirativen Sonderbeziehungen, eigentlich immer ein Einzelgänger, Choleriker, bereit andere u. sich selbst zu zerfleischen, ein interessantes Leben unserer Zeit.

Es wäre schon ein Eckstein für meine Geschichte. Abend mit Barbara Koppe und Klaus Wischnewski.

Reagan am 8. 3. vor Evangelisten in Orlando/Florida warnte vor jedem Entgegenkommen gegenüber der UdSSR. Der Kommunismus bleibe das »Zentrum des Boesen in der modernen Welt«. Für alle, die an Gott glauben, sei es besser, tot als rot zu sein. »Laßt uns für die Rettung all jener zu beten, die in jener totalitären Finsternis leben – beten, daß sie die Freude entdecken, Gott zu kennen.«

Eintrag vom 27. Februar 1969 Es ist erstaunlich, wie sehr subjektive Einstellungen und sogar

Emotionen führende Leute beeinflussen. So hat die Antwort Brandts (ND 27. 2.) auf das Schreiben Walter U.s (PB) mit dem kernigen Satz: »Über die Bundesversammlung u. ihren Tagungsort kann es zwischen der SPD und Ihnen keine Erörterungen geben« – großen Ärger verursacht. Als ob von Brandt, der ja immer als Verräter in der Arbeiterklasse

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charakterisiert wird, etwas anderes zu erwarten gewesen wäre. Und doch geht man von alten Vorstellungen und taktischen Überlegungen aus.

Dabei ist es ein so nüchternes Geschäft: Wenn die Interessen aus entgegengesetzten Motiven zusammentreffen – gibt es eine Übereinstimmung; sonst nicht. Das Letztere scheint der Fall zu sein.

Nixon in Westberlin. Der Bursche versteht etwas vom Publicitygeschäft. Max Christiansen-Clausen 70.

Eintrag vom 25. April 1974 Großer Mist: »Hansen«, »Heinze« – sind verhaftet. Das ging auf den

Magen. Trotz aller Überlegungen u. Wissens über die Gefahr hatte unsere Rechnung und Risikobereitschaft war es eine Fehlkalkulation. Ausschlaggebend war die Annahme, man werde bei dringendem Verdacht Brandt einen Hinweis geben müssen. Dann hätte »Hansen« etwas gemerkt, der ja viele intime Geheimnisse des Kanzlers kannte und wahrte. Schade, schade, schade. Politisch völlig unpassend.

Eintrag vom 6. Mai 1974 Es schien kurze Zeit, als ob die Wogen in der Sache

Guillaume im Abklingen wäre[n]. Doch der Schein trügte. Seit Wochenende eskaliert die Kampagne der Rechten Zug um Zug, und die Regierungs- und Koalitionsspitze stellt einen desolaten Haufen dar. Er war es seit eh und je, nur wurde er hier zu einem Zeitpunkt sichtbar, als ein Tropfen genügte, um das Faß zum Überlaufen zu bringen.

Am Freitag hatte Onkel Herbert in einem Gespräch mit dem Beauftragten E. H.s, bei dem eine ganze Serie konstruktiver Vorschläge überbracht wurde, mitteilen lassen:

»Es sei das schlimmste zu befürchten. Die SED solle sich darauf einstellen, daß es den Willy Brandt nicht mehr gibt, der

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an die Hypothesen seiner Ostpolitik glaube.« Am Montag glich Bonn einem Wespennest, in dem

herumgestochert wurde. Ein Gerücht jagte das andere. BfV-Chef Nollau u. ehem. BKA-Min. Ehmke schlugen sich gegenseitig in die Pfann[e].

Zu Emmi sagte ich vor dem Schlafengehen: Ich glaube, Brandt tritt zurück.

Eintrag vom 7. und 8. Mai 1974 Brandt ist tatsächlich zurückgetreten. Ironie des Schicksals: Jahrelang schmiedeten wir Pläne und

Maßnahmen gegen Brandt, jetzt, wo wir das wirklich nicht wollten und sogar befürchteten, passiert dieser Unfall, betätigen wir den Abzug, liefern das Geschoß. Natürlich war [es] nur ein letzter Anstoß, aber kein geringer und im denkbar wirksamsten Augenblick.

Brandt – der Kämpfer gegen uns im kalten Krieg, zeigt hier seine bekannten emotionalen Empfindlichkeiten und Schwächen. Er glaubte tatsächlich, sich aus den Tiefen des politischen Geschäfts und Alltags zur einsamen Höhe und Größe einer politischen Sendung erhoben zu haben. Und nun zu allen Widerwärtigkeiten der letzten Monate noch dieser in seinen Augen unzulässige Tiefschlag.

Den hat er allerdings weniger uns, als seinen Gefährten zuzuschreiben, und das wußte u. weiß er. Daher die echte Resignation. Ein Mann, mit dem man manches machen konnte, in einigem Sympathie entgegenbringen, aber dessen demagogische Schauspielerei man auch registrieren mußte. Er wird in die Geschichte eingehen, auch unser Günter Guillaume, aber ein ganz Großer war er nicht.

Gut daß bei uns weiter gelassen reagiert wird. Rücktritte scheinen nicht fällig zu sein. Bei manchen Augure[n] herrscht Schadenfreude, u.a. mit dem Kalkül, daß es mit Helmut Schmidt vielleicht gar nicht schlechter gehen wird. Warum auch?

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In der PB-Sitzung wurde von E. H. unsere kurzfristig zusammengestellte Argumentation verwandt u. ohne großes Palaver richtige Reaktionen festgelegt.

Möglicherweise ist die Reaktion in Moskau anders. Dort gab es emotional und möglicherweise auch sachlich eine etwas differenzierende Einstellung.

Eintrag vom 16. und 17. Oktober 1974 Bei der aktuellen Diskussion über die Geheimdienste taucht

neben der Frage: Cui bono auch die Frage auf: Nützen sie überhaupt.

Eine durchaus berechtigte Frage und welcher ehrliche Eingeweihte würde sie ohne zu zögern beantworten.

Aber es geht ja nicht nur um diese Apparate. Will man mal von den Milliarden verschlingenden Armeen absehen:

Fast alles Papier, das die NATO produziert, mit Stempeln Geheim u. Cosmic versieht und das wir mit hohem Aufwand beschaffen, ist bei näherem Hinsehen nicht einmal gut, um an einem stillen Örtchen nutzbringend verwandt zu werden.

Ähnlich sieht es aber in unseren Bündnisapparaten auch aus. Beim RGW spricht wenigstens die Logik für einen möglichen Nutzen, wenn auch die Effektivität der in den verschiedenen Gremien produzierten Papierberge minimal ist.

Im Innern ist es aber auch nicht viel anders. Wer will den Anteil effektiven Nutzens der Riesenapparate von Partei, Staat, Wirtschaft messen, die sich zum erheblichen Teil gegenseitig beschäftigen, anleiten, kontrollieren.

Wie viele nützliche Dinge könnten getan, wie viele Menschen eine sie echt befriedigende Tätigkeit ausüben, wenn diese Zöpfe beschnitten würden. Vorläufig aber wachsen diese Monster unaufhaltsam.

Ob unsere Urenkel schon die Gegenmittel finden?

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Glossar

Abschöpfen

geheime Gewinnung von Informationen durch Gespräche mit einer Zielperson; auch Gesprächsaufklärung

Agent

für einen Geheimdienst wissentlich tätiger Spion, auch V-Mann oder Inoffizieller Mitarbeiter

Aktive Maßnahme verdeckte Aktivität, um Medien, Politik, Wirtschaft und

Öffentlichkeit zu beeinflussen Aufklärung geheimdienstliche Ermittlung und Analyse im In- und

Ausland; auch Spionage Bearbeiten Tätigkeit der Aufklärung im Zielgebiet Beschaffung, operative geheime Sammlung von Informationen, Dokumenten,

Gegenständen BfV Bundesamt für Verfassungsschutz BND Bundesnachrichtendienst CIA

Central Intelligence Agency (zentraler Nachrichtendienst der USA)

Chiffrieren vertrauliche Nachrichten verschlüsseln Codes

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Buchstaben oder Zahlenkombinationen, die zum Chiffrieren verwendet werden

Counterman

von westlichen Geheimdiensten enttarnter geheimer Mitarbeiter eines fremden Nachrichtendienstes, der umgedreht seine frühere Führungsstelle ausspäht

Deckadresse Deckname (auch Code- oder Tarnname) Anschrift für geheime Postsendungen falscher Name für

geheime Mitarbeiter, Zielpersonen und operative Vorgänge Desinformation (auch Aktive Maßname)

gezielte Indiskretion oder Falschinformation Doppelagent umgedrehte Agent, der nach seiner Enttarnung durch

gegnerischen Dienst für diesen tätig ist Einflußagent

im Rahmen Aktiver Maßnahmen tätiger Agent Einschleusen zielgerichtetes getarntes Eindringen eines Agenten in das

Operationsgebiet FBI

Federal Bureau of Investigation (Inlandsnachrichtendienst der USA)

Führungsoffizier

hauptamtlicher Geheimdienstmitarbeiter, der IM und Quellen betreut und koordiniert

Gegenspionage Eindringen in einen fremden Gehe imdienst durch

Einschleusen eines eigenen oder Umdrehen eines fremden Spions

IM

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Inoffizieller Mitarbeiter; geheimer nebenamtlicher Mitarbeiter der Abwehr und der Aufklärung (MfS und HVA)

KGB

Komitet Gossudarstwenoi Besopasnosti (Komitee für Staatssicherheit der UdSSR)

Kontaktperson Person, die unwissentlich in Verbindung zu einem

Geheimdienst steht und deren Wissen von diesem genutzt wird Kurier Bote zwischen Geheimdienstzentrale und Quelle Legende, operative glaubwürdiger Vorwand, um sich konspirativ an einem

bestimmten Ort aufzuhalten, Ermittlungen vorzunehmen, unter Täuschung über den wahren Hintergrund der nachrichtendienstlichen Tätigkeit

MAD Militärischer Abschirmdienst der Bundeswehr Maulwurf

eingeschleuster oder umgedrehter Agent, der innerhalb eines Geheimdienstes für einen gegnerischen Dienst tätig ist

MfS Ministerium für Staatssicherheit der DDR NSA

National Security Agency der USA (nationale Sicherheitsbehörde mit den Schwerpunkten der Satellitenund Funkaufklärung)

Observation heimliche Beobachtung von Zielpersonen

(umgangssprachlich: Beschattung) operativ

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geheimdienstlich Operationsgebiet Zielgebiet (Land) für nachrichtendienstliche Tätigkeit Quelle Person, die zur geheimdienstlichen Informationsgewinnung

dient; auch technisches Gerät zu diesem Zweck, wie Abhöreinrichtungen

Resident

getarnter Führungsbeamter oder offizier bzw. Leiter einer Agentengruppe

Residentur getarnte nachrichtendienstliche Führungsstelle außerhalb der

Zentrale des Apparats (legale Residentur: Botschaft oder Handelsmission, illegale Residentur: Agentengruppe mit Führungsoffizier)

SDECE Service de Documentation et d'Espionnage

(Auslandsnachrichtendienst Frankreichs) SIS Secret Intelligence Service (geheimer Aufklärungsdienst

Großbritanniens) Spielmaterial zur Beeinflussung bzw. Irreführung des Gegners eingesetzte –

oftmals gefälschte – Dokumente und Informationen Spionageabwehr

Behörde zur Bekämpfung gegnerischer Spionage Stützpunkt geheime Operationsbasis wie Wohn-, Funk- oder

Operationsstützpunkt, auch Geld- oder Materialdepot Subversion

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Sammelbegriff für organisierte Untergrundtätigkeit Tarnung verdeckte Tätigkeit oder Schutz eines Objekts zum Zweck der

Geheimhaltung Treff

geheime Zusammenkunft von Agent und Instrukteur oder Kurier im Operationsgebiet oder in Drittland; auch Führungstreff mit Führungsoffizier

Überwerben Werben eines bereits für einen anderen Nachrichtendienst

tätigen Agenten V-Mann/V-Frau geheime nebenamtliche Mitarbeiter eines Geheimdienstes

oder der Polizei Werbung

Gewinnung einer Zielperson zur Zusammenarbeit mit dem Nachrichtendienst

Zielobjekt

Objekt der Aufklärung, z. B. Behörde, militärische Einrichtung, Forschungsunternehmen

Zielperson Person im Visier des Geheimdienstes zum Zweck der

Werbung oder im Visier der Abwehr wegen Verdachts der Spionage


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