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suhrkamp taschenbuch wisserischaft 5 78
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Kants Moralphilosophie; die schon oft totgesagt wurde, hat in der EthikDiskussion der vergangenen zwei J ahrzehnte eine neue Aktualitat gewonnen. Dies ist um so bemerkenswerter, ais fast alie an Kant anknüpfenden Moralphilosophen sich in ihrer Kritik am Rigorismus und Formalismus der Kantischen Ethik sowie in der Skepsis gegenüber Kants Begründungsversuchen .einig sind. Albrecht Wellmer unternimmt in seinem neuen Buch den Versuch, Grundideen der Diskursethik aus dem Zusammenhang einer Konsenstheorie der Wahrheit, in dem sie bei Apel und Habermas stehen, herauszulõsen und neu zu formulieren. Dies bedeutet zugleich eine partielle Rehabilitierung Kants wie auch eine Veranderung der StoBrichtung der Kritik an Kant. Es soU nicht eine neue Moralphilosophie begründet werden, es sollen vielmehr Grundintuitionen der Kantischen und der an Kant anknüpfenden Moralphilosophie in einen engen Zusammenhang gebracht werden. Auf diese Weise soU gezeigt werden, daB die universalistische Ethik nicht auf die Mõglichkeit einer Letztbegründung und nicht auf die Perspektive eines letzten Konsenses angewiesen ist. Durch die Herauslõsung der Ethik aus dem Zusammenhang absolutistischer Begründungs- und Versõhnungsperspektiven soU zugleich die Mõglichkeit erõffnet werden, die Frage nach dem Zusammenhang der verschi"edenen Rationalitatsdimensionen - wissenschaftlich-technische, asthetische, moralisch-praktische Rationalitat -in einer neuen Weise zu stellen. Von Albrecht Wellmer, Professor für Philosophie an der Universitat Konstanz, liegt in der Reihe stw auBerdem vor: Zur Dialektik von M aderne und Postmodeme. Vemunftkritik nach Adorno (stw 53.2); Endspiele: Die unversohnliche Modeme (stw 1095).
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Albrecht Wellmer Ethik und Dialog
Elemente des moralischen Urteils hei Kant und in der Diskursethik
SBD-FFLCH-USP
111111111 276545
Suhrkamp
DEDALUS - Acervo - FFLCH
lllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll 20900013723
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Wellmer, Albrecht: Ethik und Dialog: Elemente
d. moral. Urteils bei Kant u. in d. Diskursethik I
Albrecht Wellmer. - 2. Aufl. -Frankfurt. am Main : Suhrkamp, 1999
(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 578) ISBN 3-518-28178-X
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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 578 Erste Auflage 1986
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1986 Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alie Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des offentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfun.k und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Forro
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oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfaltigt oder verbreitet werden. Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
Druck: Wagner GmbH, Nordlingen Printed in Germany
Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
2 3 4 5 6 7 8 - 04 OJ 02 OI 00 99
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Einleitung 7
1. Eine Kantische Exposition I4
2. Zur Kritik der Diskursethik 5 I
3. Ansatze einer Vermittlung zwischen Kantischer und Diskursethik I I4
Anhang Über Vernunft, Emanzipation und Utopie. Zur .kommunikationstheoretischen Begründung einer kritischen Gesellschaftstheorie 175
N~menregister 223
Einleitung
Moralphilosophischer Skeptizismus und revolutionarer Humanismus sind natürliche Kinder der AufkHirung; dies gilt in gewissem MaBe bereits für die Periode der griechischen Aufklarung, es gilt in weitaus starkerem MaBe für die moderne europaische Aufklarung. In beiden Fallen bedeutet Aufklarung die Entdeckung, daB die scheinbar festverbürgten, in der Ordnung der Dinge, dem Willen Gottes oder der Autoritat der Tradition »begründeten« Normen des richtigen Lebens kein mogliches Fundament haben auBer im Willen der Menschen. Diese Entdeckung, so denke ich, muB bei denjenigen, die sie zuerst gemacht haben, mit einem Gefühl des Schwindels verbunden gewesen sein, einem Gefühl des Schwindels, in dem ganz verschiedene Dinge sich miteinander vermischt haben mogen: die Erfahrung einer Erschütterung aller Fundamente; das Gewahrwerden einer Freiheit, die frosteln macht oder aufatmen laBt; oder auch die Entdeckung, daB die bisherigen sozialen Ordnungen auf Gewalt, auf U nterdrückung und auf Illusionen beruhten. Je nach dem Blickwinkel oder der sozialen Position derer, die vom aufgeklarten BewuBtsein angesteckt wurden, wird am Ende das eine oder andere Element überwogen haben: philosophischer Skeptizismus, konservativer Zynismus und revolutionares Menschheits-Pathos sind ebenso viele mogliche Weisen der Reaktion·auf die Entdekkung der Aufklarung. Den Zynismus- ais die >>schwarze« Variante des Skeptizismus -lasse ich hier auBer acht', weil er kein erkenntnistheoretisches, sondem ein psychologisches und - moralisches Problem darstellt. Skeptizismus und revolutionarer - oder doch universalistischer - Humanismus dagegen sind, er-
1 Vgl. hierzu Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde., Frankfurt 1983.
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kenntnistbeoretiscb betracbtet, alternative Antworten auf die Entdeckung der Aufklarung. Der Skeptizismus bestreitet die Moglicbkeit eines neuen Fundaments für die Moral, der revolutionare Humanismus siebt ein solcbes Fundament im vereinigten Willen vernünftiger Wesen. Fürs erste will icb es hei dieser Gegenüberstellung belassen und nicbts W:eiteres über die- moralpbilosopbiscbe Skepsis sagen; sie wud spater zu Wort kommen. Micb interessiert vorerst das Scbicksal- das pbilosophiscbe Scbicksal- des revolutionaren Humanismus. Nicbt, daB icb es nacberzablen wollte; icb will vielmebr den revolutionaren Humanismus in zwei seiner - pbilosopbiscb- avanciertesten Versionen untersucb:n, um .daraus Scblüsse binsicbtlicb seines tnoglichen -pbtlosopbtscben - Scbicksals zu zieben. Mit »avanciert« meine icb: avanciert jeweils zu ibrer Zeit. Und das Epitbeton >>tevolutionar« soll einen philosophischen Zusammenhang zwischen dem bier untersucbten Humanismus und den Revolutionen der Neuzeit andeuten, es sagt nicbts über den Untersucbungsgegenstand selbst. Dieser ist nicbt die Tbeorie der Revolution, sondem die - universalistiscbe -Etbik. Die beiden Positionen, die icb untersucben mocbte, sind die formale Etbik Kants und die Diskursetbik von Habermas und Apel. Es sind zwei Formen einer universalistiscben Vernunft-Etbik oder, wie Habermas sagen würde, einer »kognitivistiscben« Etbik. Cbarakteristiscb für beide Positionen ist, daB die Grundlage der Etbik in einem formalen Pri.nzip ~es~cbt. wird, da~ kraft seiner Formalitat zugleicb umversahsuscb 1st. Morahscbe Geltung wird in einem ratio-
. nalen Verfahren fundiert, das, indem es einerseits so etwas wie eill;en universellen Kern der Vernünftigkeit vernünftiger Wese~ b~zeicbnet, andererseits auf alle vernünftigen Wesen als "-- m em em fundamentalen Sinne- Freie und Gleicbe Bezug nimmt. Universelle Gültigkeit und universalistiscber Cbarakter des Moralprinzips sind miteinander verscbrankt: in dieser Grundidee sind sicb Habermas und Apel mit Kant
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und, soweit es um den Begriff der Recbts-»Legitimitat«. gebt, mit dem revolutionaren Naturrecbt einig. Und genau in di~sem Sinne geboren die genannten Autoren zum Lager des aufklareriscben Humanismus. Icb werde im folgenden keine erscbopfende Darstellung der moralphilosopbiscben Positionen von Kant, Apel oder Habermas. geben; meine Analysen und Interpretationeri sind vielmebr jeweils von begrenzten Absicbten geleitet. An Kants Etbik bin icb eber aus beuristiscben Gründen interessiert. Icb mocbte versucben, durcb ein selektives Interpretationsverfabren die Starken und Scbwacben der Kantiscben Etbik so weit berauszuarbeiten, daB sowohl di e Motive für die Entwicklung einer >>kommunikativen« oder »Diskursethik« als aucb deren Beweislasten deutlich werden. Da icb · d
davon ausgebej daB sicb die Kantiscbe Etbiknicbt als Gan-zes verteidigen laBt, babe ich insbesondere ibre Starken deutlicb zu macben versucbt; vielleicbt konnte man mir
. vorwerfen, daB ich sie gelegentlicb bebandle wie ein Liebbaber einen zerfallenen Tempel, aus dem er die besten Stücke zu retten versucbt. Demgegenüber babe icb die Diskursetbik in ibrem systematiscben Ansprucb ernst genommen, Kants Probleme mit den Mitteln. der Universal- oder Tran, szendentalpragmatik zu losen und bierdurcb zugleicb die durcb Kant reprasentierte Form des etbiscben Universalismus in eine dialogische Form des Universalismus »aufzubeben«. Da icb nicbt glaube, daB die Diskursetbik diesen Anspruch bisber eingelost bat, verbalte ich micb ihr gegenüber kritiscber als im Falle von Kants Etbik. Icb benutze die letztere gewissermaBen als einen MaBstab, der zwar selbst fragwürdig geworden ist, der aber docb nocb gute Dienste tun kann, wenn es darum gebt, das Problemlosungspotential von Tbeorien zu beurteilen, die den Ansprucb erbeben, Kants Etbik in sicb >>aufzubeben«. Was die Kritik der Diskursetbik an Kant betrifft, so zielt sie auf drei Scbwachstellen der Kantischen Ethik: Die Kritik · richtet sicb erstens gegen den formal-monologischen Cba-
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rakter des Kantischen Moralprinzips, demzufolge - entgegen Kants Meinung- die Frage nach der Moglichkeit intersubjektiv gültiger moralischer Urteile bei Kant unbeantwortet bleibt; die Kritik richtet sich zweitens gegen den Rigorismus der Kantischen Ethik, dem eine eigentümlich formalistische Hypostasierung des Gesetzesbegriffs zugrunde liegt; und çlie Kritik betrifft drittens Kants Versuche einer Begriindung des Moralprinzips. Die hier bezeichneten drei Schwachen der Kantischen Ethik sollen durch eine »Aufhebung« des formal-monologischen Universalismus Kants in einen formal-dialogischen Universalismus behoben werden: Erstens namlich verlangt das diskursethisch reformulierte Moralprinzip von moralisch gültigen Maximen nicht, daB ich, sondem daB wír sie ais allgemeine Gesetze wollen konrien; zweitens ist das Moralprinzip so formuliert, daB es die Frage des richtigen Handelns ais eine Frage des vernünftigen Umgangs bedürftiger und verletzbarer Wesen mit anderen bedürftigen und verletzharen Wesen zu verstehen erlaubt; hierdurch ist jede Form einer rigoristischen Gesinnungsethik ausgeschlossen. Drittens -schlieBlich soll die diskursethische Reformulierung des Moralprinzips eine neue Form der Letztbegründung moglich machen: Apel und Habermas versuchen zu zeigen, daB das Moralprinzip in allgemeinen Strukturen der Argumentation begründet ist. Um nun meine eigenen Einwande gegen die bisherige Form der Diskursethik auf einen Nenner ZU bringen, mochte ich behaupten, daB sie einerseits noch zu Kantisch und andererseits nicht niehr Kantisch genug ist. Der Vorwurf einer zu groBen Nahe zu Kant betrifft die konsenstheoretischen Voraussetzungen der Diskursethik sowie das Programm der Letztbegründung. Vordergründig betrachtet haben natürlich beide Aspekte der Diskursethik wenig mit Kant zu tun. Kantisch in einem problematischen Sinne sind aber, wie ich zeigen mochte, die formal-idealisierenden Begriffsbildungen der Konsenstheorie sowie der Versuch, eine universalistische Ethik gleichsam direkt, das heiBt ohne die Ver-
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mittlungsinstanz einer Geschichte des moralischen Bew~Btseins, aus universalen Strukturen der Vernunft abzuletten. Freilich will ich hiermit nicht sagen, daB der Weg von Kant zu Hegel für uns h eu te noch gangbar ware; vielmehr ?enke ich daB der Ausweg aus den Sackgassen der Kanttschen M~ralphilosophie, auf welche ~egel ais erste~ ~it aller Scharfe hingewiesen hat, wenn mcht Hegels Knttk uingehen so doch am Hegelschen System vorbeiführen wird. An die Stelle der konsenstheoretischen Deutung einer universalistischen Dialog-Ethik, in der Kants Idee eines »Reichs der Zwecke« nachklingt, mochte ich eine fallibilistische Deutung s~tzen; an die Stelle eines starken und eindimensiona.len Begründurigsanspruchs einen schwachen und m~hrdtmensionalen. Ein universalistisch gewordenes morahsches BewuBtsein bedarf in Wirklichkeit nicht des Vorgriffs auf einen Stand der Versohnung (wie immer auch formal dieser charakterisiert sein mag) oder des Halts in einer letzten Begründung: vielmehr glaube ich, daB die universalistische Ethik, solange sie an diesen beiden Absoluta festhalt, ebenso verwundbar bleibt für die Einwande Hegels wie für diejenigen des Skeptikers. Was also den Vo:.wurf einer ~u groBen Nahe der Diskursethik zu Kant betnfft, so gehe tch davon aus,.daB die Ethik über die falsche Alternative von Absoh~tismus und Relativismus hinauskommen müBte; soll hetBen, daB das Schicksal von Moral und Vernunft nicht mit dem Absolutismos letzter Verstandigungen und letzter Begründungen steht und fallt. DaB die Diskursethik in ihrer bisherigen Form nicht genügend Kantisch ist, sol!" heiBen, daB ~ie Differenz~erun.gen unterbietet, die bei Kant bereits deuthch ausgearbettet smd. Ich denke insbesondere an di e Differenzierung von Problemen der Moral und Problemen des Rechts. Zweifellos war es Kants Absicht, Recht und Moral miteinander zu verknüpfen; er hat aber- wie ich meine, mit guten Gründen - zumin.dest analytisch unterschieden zwischen Problet?en
' der N ormenlegitimitat und dem Problem des morahsch
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richtigen J:Iandelns. Es ~eht mir nicht um die - oft genug problematlschen - Detatls der Konsttuktion des Zusammenhangs von Recht und Moral bei Kant; es gebt mir vielmebr um die Art und Weise, in der Kant durcb die Formulierung des Moralprinzips Fragen des moraliscb richtigen Handelns von Fragen der Normengerecbtigkeit unterscheidet. Die Diskursetbik bat dies Niveau der Problemdifferen~ierung bisber noch ?icbt wieder erreicbt; dies bangt mit tbren konsenstbeorettscben Pramissen zusammen. Beides, die zu groBe Nahe der Diskursetbik zu Kant und ein Verlust an Problemdifferenzierung gegenüber Kant, hangt also mit den problematischen Annahmen einer Konsenstbeorie der Wabrbeit zusammen. Die Grundintuitionen der Diskursetbik scblieBlicb, die icb verteidigen mõcbte, betreffen ebenfalls deren Stellung zu Kant. Die Kritik am formalistiscb-monologiscben Rigorismus der Kantiscben Etbik halte icb für berecbtigt, desgleicben den Versucb, über den starren Formalismus der Kantis~ben Etbik durch eine dialogische Erweiterung der Etbik hmauszugelangen. ScblieBlich sebe ich ebenso wie Apel und Habermas einen Zusammenbang zwischen dem Übergang v~n einer form~listiscben zu einer dialogischen Etbik einersetts und dem Ubergang von der BewuBtseins- zur Spracbpbilosopbie. andererseits. Allerdings glaube icb, daB ·di e Anknüpfungspunkte, die die Kantiscbe Ethik für einen dialogetbiscb verstandenen Universalismus bietet, neu zu bestimmen waren. Dies zu tun ist die Absicbt, die den Überlegungen des ersten Teils dieser Arbeit zugrunde liegt. Der zweite Teil enthalt eine Kritik der Diskursetbik und ibrer konsenstheon:!tischen Pramissen. Im dritten Teil mõcbte ich zeigen, wie sicb Grundintuitionen der Diskursetbik im Rabmen der im ersten Teil entwickelten »quasi-Kantiscben« Perspéktive zur Geltung bringen lassen. Nocb ein Vor-Wort zum Problem des moralphilosophiscben Skeptizismus. Icb glaube, er verdient es, ebenso ernst genommen wie nicbt ernst genommen zu werden. Nicbt
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ernst zu nebmen ist er als eine moralische Haltung; ernst zu nebmen ist er ais Infragestellung rationalistischer und fundamentalistischer Erkenntnisansprüche. Damit will icb sagen: Ich glaube, daB der Rationalismus den Skeptizismus in sich aufnehmen und dadurcb in ein Ferment der Aufklarung verwandeln muB. Ein durch Skepsis belehrter Rationalismus ware weder rationalistiscb, noch ware er skeptisch; aber vielleicht ware er vernünftíg. Ich glaube also, daB wir die Tradition der Aufklarung und des revolutionaren Humanismus am besten fortsetzen kõnnen, wenn wir von einigen Idealen der Vernunft Abschied nebmen. Dies ware kein Abschied von der Vernunft; es ware vielmebr der Abschied einer falschen Vorstellung der Vernunft von sicb selbst. Die Kritik an den ldeen von Apel und Habermas im zweiten Teil dieser Arbeit ist zum Teil aucb ais Selbstkritik des Autors zu versteben. Ich babe mir aber nicht die Mühe gemacht, genau anzugeben, an welchen Punkten dies der Fali ist. Es wird im übrigen nicbt verborgen bleiben, daB icb den Ideen beider Autoren, die icb in Einzelbeiten kritisiere, zugleich entscheidende und weiterwirkende lmpulse verdanke.
r. Eine Kantische Exposition
J. Habermas hat verschiedentlich, zuletzt in seiner Arbeit »Diskursethik - Notizen · zu einem Begründungsprog~amm<<' das Universalisierungsprinzip der Ethik in Analo· gte geset~t zum sogenannten Induktionsprinzip der empirischen Wtssenschaft. Aus Gründen, die spater klar werden sollten, ?alte ich diese Analogie für problematisch; sie leuchtet mdessen sofort ein, wenn man sie zunachst in einem schwacheren, in verschiedener Form schon von M. G. Singer• und R. M. HareJ vertretenen Sinne versteht: namlich ais Ausdruck eines für kailsale und moralische Urtei-1~ gleichermaBen konstitutiven >>Verallgemeinerungsprinztps<<, Dies Verallgemeinerungsprinzip bringt den allgemeinen Charakter kausaler bzw. normativer Urteile und GrundFolge-Be~iehungen zum Ausdruck, der zur logischen Grammattk der Worte gehort, mit deren Hilfe wir kausale und normative Urteile formulieren. Für kausale Erklarungen gilt et~a: Wenn a, weil (kausal) b, so muB- ceteris paribus- auf b tmmer a folgen. Die Identifikation einer kausalen Beziehung bedeutet, zumindest implizit, die Identifikation ~iner kausalen Regelmiifligkeit. Das aber, so behaupte ich, tst der Kern des~e~, was man >>Induktionsprinzip<< genannt hat. Analoges wte 1m F alie des kausalen >>weil<< gilt nun auch für das n.or~ative :>weil<<: Wenn jemand a tun soll (muB, darf), wetl dte Bedtngungen b vorliegen, so sollte (müBte,
1 Jürgen J:iabermas, >>Dis~~rsethik- Notizen zu einem Begründungsprogramm<< (1m folgenden zmert ais DE), in: ders., Moralbewufltsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983. . 2 Vgl. Marcus G. Singer, Generalization in Ethics, New York 1971, S. 37ff. (de~tsch: Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt 1975). 3 Vgl. R1chard M. Hare, Moral Thinking, Oxford 1981, S. Bff.
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dürfte)- ceteris paribus- jedermann a tun, wenn die Bedingungen b vorliegen. Jedes kausale oder normative >>weil<< tragt einen Allgemeinheitsindex; es hat die Allgemeinheit der sprachlichen Ausdrücke, zwischen denen es steht- obwohl natürlich immer nur in dem durch die Ceteris-paribus-Klausel qualifizierten Sinne. »Moral judgements are thus analogous to causal judgements and >because< statements generally in possessing this character of implicit generality.<<' Statt von einem Verallgemeinerungsprinzip konnte man auch von einem >>Gleichheitsprinzip<< sprechen; das Verallgemeinerungsprinzip verlangt namlich die Gleichbehandlung gleicher Falle. Sowohl im Falle des kausalen ais auch in dem des normativeri >>weil<< bedarf eine Ungleichbehandlung prima facie gleicher F alie einer Erklarung ( oder Begründung), die dartut, daB die unterschiedenen Falle in einer (kausal oder normativ) relevanten Hinsicht nicht gleich sind. Vermutlich hat das Verallgemeinerungs- oder Gleichheitsprinzip eine allgemeinere Bedeutung, vergleichbar etwa der des logischen Widerspruchsprinzips. Indes interessiert uns hier nur die Bedeutung, die es im Zusammenhang mit der logischen Grammatik kausaler und normativer weil-Aussagen annimmt. Das normative Gleichheitsprinzip bezeichnet bereits einen elementàren Begriff von >>Gerechtigkeit<<. Dieser elementare Gerechtigkeitsbegriff meint nichts anderes ais die Gleichbehandlung gleicher Falle, er schlieBt eine Idee der Unparteilichkeit ein, wobei es hier vor aliem um die unparteiliche Anwendung vorgegebener Normen geht. In diesem Sinne nennen wir etwa einen Schiedsrichter einen >>Unparteiischen<<. In einem analogen Sinne nennen wir einen Lehrer gerecht, wenn er kein Kind >>Vorzieht<<, einen Richter gerecht, wenn er riicht »willkürlich<< Recht spricht. Freilich geht es beim Gleichheitsprinzip nicht nur um die Applikation vorgegebener Normen, sondem auch um den Prazedenzcharakter einzelner Handlungen und Urteile: So wie
r Singer, a.a.O., S. 38.
die kausale lnterpretation singuhirer Ereignisse eine unbestimmte Anweisung enthalt auf eine kausale RegelmaBigkeit, so enthalt der normativ verstandene Prazedenzfall eine implizite Norm. Beide, der kausale_ wie der normative Prazedenzfall, enthalten eine implizite Regei der Gleichbehandlung gleicher Falle; sie schranken die Freiheit der kausalen oder not:mativen lnterpretation für zukünftige Falle ein. Das Verallgemeinerungsprinzip in seiner normativen Bedeutung drückt eigentlich nichts anderes aus als den Zusammenhang zwischen Ausdrücken wie »soU«, »muB« oder »darf« und dem Begriff einer Norm. Daher wird der eben erwahnte elementare Gerechtigkeitsbegriff natürlich weitgehend unanwendbar, sobald die Frage nach der Begründung jener Normen gestellt wird, durch welch_e Standards der Gleichbehandlung gleicher Falle allererst definiert werden; das heiBt also, sobald die Ftage nach der »Gerechtigkeit« der Normen selbst gestellt wird. Das Gleichheitsprinzip betrifft ja nur den Allgemeinheitscharakter von GrundFolge-Beziehungen; ein Kriterium der"Triftigkeit kausaler Erkhirungen oder normativer Begründungen liefert er daher nur im Sinne eines Konsistenzprinzips. Demgegenüber geht es bei der Begründung von Normen unter anderem um die Frage, welche Standards der Gleichbehandlung gleicher Falle die richtigen seien. Dies ist die Frage, die Aristoteles in der Politik erõrtert; sie stellt sich für ihn etwa als die Frage, obbei der Verteilung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten die Besitzenden, die Freigeborenen oder die Tüchtigen jeweils als »Gleiche« zu behandeln seien. DaB die Menschen als Menschen hinsichtlich fundamentaler Rechte ais Gleiche zu zahlen seien, dies universalistische Prinzip gehõrt erst zur modernen Moral~ und Rechtsauffassung. Allerdings kõnpte man sagen, daB es das einzige Prinzip ist, das unter allen Menschen (als denjenigen, von deren Anerkennung normative Prinzipien leben) vernünftigerweise Zustimmung finden konnte, nachdem traditionelle Begrün-
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r ! dungen der Ungleichheit der Menschen ihre Überzeu
gungskraft und Verbindlichkeit eingebüBt haben. Sobald man sich also;;__überlegt, wie denn Normen überhaupt sollen begründet werden kõnnen, wenn sie nicht mehr auf eine transzendente Autoritat zurückgeführt werden kõnnen -und zwar begründet denjenigen gegenüber, die sie ais gültig anerkennen sollen, nimmt di e logische Grammatik der normativen Grundwõrter fast zwangshiufig eine universalistische Bedeutung an: wir kõnnen diese Ausdrücke rationalerweise nur noch in einem universalistischen Sinne verwenden. Hierdurch entsteht der Anschein, als sei das normative Verallgemeinerungsprinzip gleichbedeutend mit einem Universalisierungsprinzip. Ich denke aber, wir sollten vorerst die beiden Bedeutungsschichten - die eine betrifft den Allgemeinheitscharakter nbrmativer Urteile, die andere die universalistischen Bedinguqgen einer mõglichen intersubjektiven Normengeltung - auseinanderhalten. DaB in Habermas' lnterpretation des Universalisierungsprinzips die beiden Bedeutungsschichten zusammenfallen, hangt bereits mit seinem Konsensbegriff der praktischen Wahrheit zusammen; es hangt, mit anderen Worten, damit zusammen, daB für ihn der Sinn normativerGeltungsansprüche mit den universalistischen Bedingungen ihrer mõglichen intersubjektiven Anerkennung zusammenfallt. Im folgenden werde ich vom Verallgemeinerungsprinzip in seiner elementaren Bedeutung ausgehen, um dann das Kantische Moralprinzip ais ein Verallgemeinerungsprinzip zweiter Stufe zu interpretieren.
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Mit Singer und Hare gehe ich davon aus, daB das bisher betrachtete Verallgemeinerungsprinzip bereits eine wesentliche Dimension dessen darstellt, was Kant ais Kategorischen lmperativ formuliert hat. Allerdings mõchte ich gleich hin-
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zufügen, daB sich Kants >>Faktum der Vemunft« erstens nicht auf dies Veraligemeinerungsprinzip reduzieren laBt und daB sich - nach meiner Überzeugung - zweitens ein universalistisches Moralprinzip aus dem Veraligemeinerungsprinzip auch nicht durch Ableitung mit Hilfe einer zusatzlichen Pramisse ( etwa Singers >>principie o f consequences«) gewinnen laBt .. ' DaB das Veraligemeinerungsprinzip gleichwohl eine wesentliche Dimension des Kantischen Moralprinzips bezeichnet, kann man sich auf folgende Weise klarmachen: Der Kategorische Imperativ verlangt, ich solie nur nach Maximen handeln, von denen ich zugleich wolien kann, daB sie als aligemeine Gesetze gelten. Nun wird aber, was ich als aligemeines Gesetz wolien kann, faktisch in der Res_el durch meine- immer schon vorhandenen - normativen Uberzeugungen bestimmt sein; insbesondere durch meine- sozial eingespielten- normativen Erwartungen an andere. Soweit dies der Fali ist, sagt der Kategorische lmperativ letztlich nichts anderes als: >>Tue, wovon du glaubst, daB man es tun müsse« oder auch >>tue nicht, wovon du glaubst, daB man es nicht tun dürfe«; also: >>Mach für dich selbst in normativen Dingen keine Ausnahme« oder schlicht: >>Tue, was Du tun solist.« Ich denke, es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daB der Kategorische lmperativ schon in dieser- gleichsam elementaren - Bedeutung eine keinesfalis triviale Forderung darstelit: er verlangt namlich, ich solie die bereits anerkannten normativen Verpflichtungen hier und jetzt und ohne Selbstbetrug in meiner eigenen Handlung anerkennen. Kant hatte voliig recht, wenn er dieses Postulat als etwas Einfaches und jedem Einleuchtendes und gleichwohl als etwas schwer zu Erfüliendes verstand. Die Forderung, im Sinne meiner eigenep. normati:_ ven Überzeugtingen zu handeln, bedeutet ja nicht, daB ich mir jeweils eine geeignete Rechtfertigung für meine Hand-
r An diesem Punkte sehe ich die entscheidende Schwache von Singers in mancher Hinsicht durchaus überzeugender Rekonstruktion der Kantischen oder einer »Kantianischen« Ethik. Vgl. Singer, a.a.O., S. 63 ff.
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lungen ausdenke, sie bedeutet nicht, ich soli~. gemaB dem handeln, was ich jeweils als meine normative Uberzeugung ausgeben kann; vielmehr schlieBt diese Forderung die schwer zu erfüliende Forderung ein, daB ich mich nicht darüber tausche, was ich gegebenenfalls von den anderen bei entsprechend vertauschten Rolien wirklich erwarten würde. Freilich laBt sich, wie schon betont, der Kategorische lmperativ auf diese elementare Bedeutung nicht reduzieren. Der Kategorische lmperativ soli ja di e Moglichkeit des kategorischen >>Soli« oder >>MuB«, das im Begriff einer >>normativen Überzeugung« · immer schon impliziert ist, aliererst erkHiren, und zwar als die Moglichkeit eines rational einsehbaren >>Soli« oder >>MuB«. Erst auf diesem Wege kann der Kategorische lmperativ zu einem universalistischen Moralprinzip werden; das Veraligemeinerungsprinzip als solches ist zwar ein für alie >>rationalen Wesen<< gültiges Prinzip, aber kein Prinzip, das universalistische Normen notwendigerweise vor anderen auszeichnet. Wir konnen den Kategorischen lmperativ ein Veraligemeinerungsprinzip zweiter Stufe nenpen; erst hier legt sich der. Ausdruck Universalisierungsprinzip nahe. Dies Universalisierungsprinzip laBt sich nicht mehr als einfaches Analogon des Induktionsprinzips verstehen: Hier geht es namlich nicht mehr bloB um den Aligemeinheitscharakter, der zur logischen Grammatik von >>soli<<- oder >>muB<<-Aussagen gehort, sondem darüber hinaus um einen gemeinsamen Wilien rationaler Wesen (daher auch um die intersubjektive Geltung moralischer Urteile). Der Kategorische lmperativ ist ein Prinzip, das nicht nur für alie rationalen Wesen gilt, sondem das zugleich auf alie rationale Wesen Bezug nimmt (wie am deutlichsten die sog. >>Zwecke-Formel<< zeigt). Ich mochte im folgenden die Bedeutung des Kategorischen lmperativs so weit rekonstruieren, daB sowohl die Motive für den Übergang zu einer dialogischen Ethik deutlich werden als auch die Beweislasten, die sich für eine solche Ethik
ergeben. In meiner Rekonstruktion werde ich selektiv vorgehen; von mehreren mõglichen Interpretationen des Kategorischen Imperativs werde ich diejenige vertreten, die mir sachlich am starksten erscheint. Unter den Kantischen Texten kommt die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten dieser Interpretation am meisten entgegen. Ich gehe von der folgenden Formulierung Kants aus: »Man muB wollen kõnnen, daB eine Maxime unserer Handlung ein allgemeinesGesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben überhaupt.« 1 Die Forderung, ich solle nur nach Maximen handeln, von denen ich wollen
, kann, daB sie ais allgemeine Gesetzé gelten, ist gleichbedeutend mit der Forderung, ich solle nur riach Maximen handeln, von denen ich wollen kann, daB alie anderen nach ihr handeln (auch mir gegenüber). Nun ist für Kant ausgemacht, daB, wenn ich nicht wollen kann, daB eine Maxime ais allgemeines Gesetz gelte, auch kein anderes vernünftiges Wesen dies wollen kann: der Test der Verallgemeinerbarkeit ist zugleich ein Test auf di e allgemeine Zustimmungsfahigkeit von Maximen. Di e nicht-verallgemeinerbaren Maximen sind daher diejenigen, die ich- in einem Ausdruck von Gert• - nicht »õffentlich vertreten« kõnnte; und zwar gilt dies in einem doppelten Sinne: erstens kõnnte ich nicht wollen, daB die andern sich diese Maxime zu eigen machen, zweitens kõnnte ich nicht erwarten, daB die anderen einer solchen Maxime als einer allgemeinen Regei (d. h. insbesondere meiner Befolgung dieser Maxime) zustimmen kõnnten. Di e nicht-verallgemeinerbaren Maximen sind somit diejenigen, auf die sich rationale Wesen ais Regeln einer gemeinsamen Praxis nicht würden einigen kõnnen) In Kants Unter-
I lmmanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (im folgenden zitiert ais GMS), in: Werke in sechs Banden (Hrsg. W. Weischedel), Band IV, Darmstadt 1956, S. 54 (BA 57). z Bernard Gert, The Moral Rules, New York 1973 (deutsch: Die moralischen Regeln, Frankfurt I983). 3 Vgl. auch Gert, a.a.O., S. 6off.; Georg Henrik von Wright, The Varieties of Goodness, London 1963, S. I97ff.
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stellung, daB mein »Wollen-Kõnnen« oder »Nicht-wollenKonnen« im F alie der Verallgemeinerung von Maximen mit dem aller anderen rationalen Wesen koinzidieren müsse, liegt natürlich ein Problem; es ist genau das Problem, das zum Versuch einer dialogischen Erweiterung der Kantischen Ethik AnlaB gegeben hat. Ich mõchte dies Problem aber zunachst vernachlassigen und etwas mehr über den Zusammenhang zwischen Kategorischem Imperativ, moralischen Normen und moralischen Urteilen sagen. Die eigentliche Pointe des Kategorischen Imperativs, so kõnnte man sagen, liegt darin, daB durch ihn das kategorische >>Soll« oder >>MuB« oder >>Darf« moralischer Normen (also der »kategorischen Imperative« im Plural) und moralischer Urteile als ein rational einsehbares auf das kategorische >>Soll« eines einzigen Metaprinzips zurückgeführt wird. Danach bleibt als erklarungsbedürftig nur noch dieses eine kategorische >>Soll« übrig. Solange man unterstellt, daB Kant dieses fundamentale kategorische >>Soll« einsichtig gemacht babe, laBt sich von ihm her auch das >>Soll<< oder »MuB« dder >>Darf« unserer gewõhnlichen moralischen Urteile und Normen einsichtig machen. Im Gegensatz zu manchen AuBerungen von Kant und in Übereinstimmung mit Ebbinghaus 1 und Singer• gehe ich davon aus, daB der
I Vgl. J ulius Ebbinghaus, »Di e Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten<<, in: ders., Gesamme/te Aufsatze, Vortrage, Reden, Hildesheim I968, I, Abt. 7> S. 140-I60. 2 Marcus G. Singer, a.a.O., S. 240: ,If the maxim of an action cannot be willed to be a universallaw, then it is wrong to act on it, we have the duty or obligation not to, and it can be said that we ought not to. However, if a maxim can be willed to be a universallaw, it does not follow that it is obligatory to act on it or that it would be wrong not to. What follows is that it is permissible to doso, or not wrong (and thus right in the permissive sense), and hence that it cannot be said that we ought not to- which is not the same as saying that we ought to.<< An diese Position knüpft auch Joachim Aul an: >>Aspekte des Universalisierungspostulats in Kants Ethik<<, in: Neue Hefte für Philosophie, Heft zz, 1983, insbes. S. 85 ff. DaB Kant selbst eine solche lnterpretation nicht ganzlich ferngelegen hat, zeigt die folgende Stelle aus einer Vorlesungsnachschrift: »In allen moralischen Ur-
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>>Transfer<< des Verpflichtungscharakters vom Kategorischen lmperativ zu inhaltlichen moralischen Normen oder Urteilen primar auf dem Wege eines Verbots nicht-verallge~einerungsfahiger Handlungsweisen (bzw. Maximen) vor stch geht.• Nehmen wir als Beispiel dieMaxime•, daB ich mir aus Schwierigkeiten notfalls durch ein unaufrichtiges Versprechen heraushelfen werde. Ich unterstelle mit Kant, daB wir - als rationale Wesen - nicht wollerÍ kõnnen, daB eine entsprechende Praxis allgemein wird. Der Kategorische Imperativ sagt nun offenbar, daB ich (ebenso wie X oder Z) unter diesei:t Umstanden nach der Maxime >>Notfalls-unaufrichtig-Versprechen<< nicht handeln darf In der konkreten Situation heiBt das, wenn p die Handlung des unaufrichtigen Versprechens und nicht-p das Unterlassen dieser Handlung bedeutet: 1ch darf nicht p tun; oder ich muft (soll) nicht-p tun. Das >>muB<< des >>ich (oder man) muB p tun<< ergabe sich somit daraus, daB ich von einer 'bestimmten Maxime nicht wollen kann, daB sie als allgemeines Gesetz gilt. :qas >>muB<< oder >>soll<< unserer gewõhnlichen moralischen Ub_erzeugungen.lieBe sic.h a';ls dem Kategorischen Imperativ gletchsam nur vta negatwms >>ableiten<<. Nach der hier vorgeschlagenen Interpretation würde dage·gen die Verallgemeinerbarkeit von Maxi~en lediglich bedeuten, daB entsprechend zu handeln moralisch erlaubt ist. Nun sind freilich Formulierungen Kants unübersehbar, in denen er sagt, daB di e verallgemeinerbaren Maximen eo ipso
teilen fassen wir den Gedanken: wie ist di e Handlung beschaffen, wenn si e allgemein g~nommen wird? Stimmt die Intention der Handlung, wenn sie ~ur allgc;meme~ Regei g~macht wird, mit sich selbst, ist si e moralisch mi:ig!t~h - s~1mmt .d•C: lntent10n dc:r ~andlun~, wenn sie allgemein genommen w1rd, mcht m1t s•ch selbst, so 1st s1e mora!tsch unmi:iglich.<< Vgl. Kants Gesammelte Schriften (Hrsg. Akademie der Wissenschaften der DDR), Bd. xxvu (Kants Vorlesungen Bd. IV: Vorlesungen über Moralphilosophie), Berlin I979• S. I276f. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Henry Gerlach. I Ahnlich auch William K. Frankena, Analytische Ethik., München I972, S. 52· 2 Vgl. GMS 53 (BA 54).
praktische Gesetze sind.• Um diesen Widerspruch aufzuklaren, müssen wir den Begriff der >> Verallgemeinerbarkeit<< · prazisieren, das heiBt die Bedeutung des Ausdrucks >>wollen kõnnen, daB eine Maxime als allgemeines Gesetz gilt<<. Nun ist és, wie wir gleich sehen werden, kein Zufall, daB Kant selbst Beispiele negativer Art a:nführt. E r zeigt namlich, daB ich von bestimmten Maximen (vernünftigerweise) nicht wollen kann, daB sie als allgemeine Gesetze gelten; entweder, weil ich sie nicht einmal als allgemeine Gesetze denken kann oder weil andernfalls ein >>Widerstreit<< in meinem Willen entstehen würde• (weii ich etwa will, daB man mir hiift und zugieich will, daB man mir nicht hiift). An dieser Stelle ist es wichtig, sich zu vergegenwartigen, daB der Kategorische lmperativ, soweit er ein >>Prüfungsverfahren<< beinhaltet, sich nicht auf beiiebige Sâtze bezieht, sondern auf Maximen, die jemand- ein Handelnder- >>hat<<. Hierdurch entsteht namiich eine charakteristische Asymmetrie: Jemand, der etwa die Maxime hat, nicht die Wahrheit zu sagen, wenn es ihm Nachteiie bringt, kann sich Ieicht kiarmachen, daB er v~m dieser Maxime nicht wollen kann, daB sie ·. ais allgemeines Gesetz gilt. J emand dagegen, der die Maxime hat, immer die Wahrheit zu sagen, auch wenn es ihm Nachteile bringt, will, eo ipso, daB diese Maxime ais allgemeines Gesetz gilt (insofern kann er es auch wollen). Dagegen kann man dies vom ersten (dem mit der schiechten Maxime) nicht ohne weiteres sagen: in welchem Sinne sollte man von ihm behaupten kõnnen, daB er die Wahrhaftigkeitsmaxime ais allgemeines Gesetz »wollen kann<<'? Was ihn seibst betrifft, so will er ja einer a:nderen Regei foigen, und was die anderen betrifft, so reicht es ihm vielleicht, wenn sie ihm gegenüber wahrhaftig sind. Nehmen wir andererseits jemand, dessen Maxime es ist, keine Schwache zu zeigen, auch wenn es noch so schwer fallt. Wenn es seine Maxime ist, so wird er sie auch
I Vgl. etwa Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke in sechs Banden, (Hrsg. W. Weischedel), Bd. IV, a.a.O., S. IJ6 (A 49). 2 Vgl. GMS 54!55 (BA 56157).
als allgemeines Gesetz wollen konnen (vielleicht sogar wo1-len). Dasselbe gilt aber auch für derijenigen, dessen Maxime es ist, lieber mal eine Schwache zu zeigen, als immer den starken Mann zu markieren. Aus diesen wenigen Beispielen folgt aber schon, daB die Antwort auf die Frage, ob jemand eine bestimmte Maxime als allgemeines Gesetz wollen kann, davon abhangt, welche Maximen er faktisch hat. Deshalb kann, ob jemand eine Maxime als allgemeines Gesetz wollen kann, weder im positiven noch im negativen Sinne darüber entscheiden, ob diese Maxime ein >>praktisches Gesetz« ist. Wenn ich dagegen feststelle, daB ich meine Maxime nicht ais allgemeines Gesetz wollen kann, so folgt allein daraus schon, daB ein Handeln im Sinne dieser Maxime moralisch schlecht ware (weil ich für mich selbst eine »Ausnahme« mache): ich »darf \<-Ím Sinne dieser Maxime nicht handeln. Wenn ich es mir nun zur Maxime machte, das im Sinne der »nicht-verallgemeinerbaren« · Maxime Verbotene nicht zu tun, so konnte man diese neue Maxime die »Negation« der ersten Maxime nennen (also etwa: >Ich werde immer die Wahrheit sagen, auch wenn es Nachteile bringt< als Negation der Maxime >lch werde nicht die Wahrheit sagen, wenn es mir Nachteile bringt<). Wenn diese neue Maxime wirklich meine Handlungsmaxime ist, so will ich auch, daB sie als allgemeines Gesetz gilt. In diesem Falle hat aber di e Tatsache, daB ich meine Maxime als allgemeines Gesetz wollen kann, eine spezielle Bedeutung; diese spezielle Bedeutung ergibt sich aus der »logischen Genese« meines >>wollen konnen«, d. h. daraus, daB meine Maxime die Negation einer nichtverallgemeinerbaren Maxime ist. Di e in diesem Sinne verallgemeinerbare Maxime drückt eine moralische Verpflichtung aus, jedenfalls für mich. Mein Vorschlag ware also, zwischen einem »schwachen« und einem »Starken« Begriff der Verallgemeinerbarkeit von Maximen zu unterscheiden. Der schwache Begriff der Verallgemeinerbarkeit reicht aus, soweit es. um die Eliminierung nicht-verallgemeinet'barer Maximen geht; er reicht
dagegen nicht aus, um die These zu begründen, daB die verallgemeinerbaren Maximen praktische Gesetze (moralische Normen) sind. Hierzu ist vielmehr ein starker Begriff der Verallgemeinerbarkeit notwendig.; wobei die Verallgemeinerbarkeit von Maximen im starken Sinne aus einem negatorischen Bezug auf di e Nicht-Verallgemeinerbarkeit ihrer N egate zu verstehen ist. Dieser negatorische Bezug auf nicht-verallgemeinerbare Maximen ist wohlgemerkt zu unterscheiden von jenem negatorischen Bezug, den jede (im schwachen Sinne) verallgemeinerbare Maxime zu ihrer »Negation« hat: Wenn es meine M~xime ist, keine Schwache zu zeigen, auch wenn es zum AuBersten kommt, und wenn ich will, daB diese Maxime als allgemeines Gesetz gilt, dann heiBt das natürlich, daB ich nicht wollen kann, daB die Maxime, lieber einmal eine Schwache zu zeigen, als immer den starken Mann zu markieren, als allgemeines Gesetz gilt. Aber dieses »Nicht-wollen-Konnen« ist abhangig davon, daB eine entgegengesetzte Maxime bereits meine Maxime ist (in diesem Falle ist also das »Nicht-wollen-Konnen« gegenüber dem »Wollen-Konnen« sekundar). Ganz anders verhalt es sich mit dem »Nicht-wollen-Konnen« im Falle einer Maxime, die meine Maxime ist: die Nicht-Verallgemeinerbarkeit einer solchen Maxime ist unabhangig von anderen Maximen, die ich etwa auch noch babe. Man kann also nur dann behaupten, daB die verallgemeinerbaren Maximen eo ipso praktische Gesetze sind, wenn man als verallgemeinerbar nur jene Maximen versteht, deren »Negation« nicht-verallgemeinerbar ist auch unter derVoraussetzung, daB sie meine Maxime ware. Hierin ist der Vorrang der Negation bei der Frage nach der Verallgemeinerbarkeit von Maximen ·begründet. Freilich laBt sich das Problem der intersubjektiven Gültigkeit moralischer Normen auch auf diese Weise nicht defini ti v losen: Es ist keineswegs ausgemacht (wie Kant offenbar glaubte), daB die von mir anerkanhten moralischen Verpflichtungen auch von jedem anderen rationalen Wesen anerkannt werden müBten
( und vice versa). Auf dieses Problem werde ich zurückkomm.en. Für ?ie folg~nden Überlegungen werde ich indes der Emfachhett ha~ber unters.tellen, daB di e durch den Kategorischen Imperattv ausgezetchneten moralischen Normen intersubjektiv gültig sind.
III
Ich mõchte als nachstes Kants These diskutieren, da6 die durch den Kategorischen Imperativ ausgezeichneten Normen allgemeingültig, d. h, ohne Ausnahme verbindliche »praktische Gesetze« sind. Auch diese These la6t sich- mit Kant gegen ~arit - rechtferti~en, wenn man sie vorsichtig genug formuhert. Nehmen Wtr etwa die Maxime >Wenn es mir zweckma6ig erscheint, werde ich die Unwahrheit sagen<, ;on deren Nicht-Verallgemeinerbarkeit ich ausgehe. Da6 em Hand.eln .na~? dieser Maxime durch den Kategorischen Imperattv em fur allemal ausgeschlossen ist bedeutet d~B eirie im Sinne dieser Maxime begründete (~der moti~ vt~rt~) L~ge kategorisch und im Sinne strikter Allgemeinhett (1~ St.?ne ~er Kantisch~n »universalitas« 1
) verboten ist; und dtes la6t stch als morahsche Norm formulieren: »Man darf n~cht .~ügen« oder »Du sollst nicht lügen«. Nur darf man mcht ubersehen (Kant selbst hat es übersehen), da6 die Allgemeingültigkeit (universalitas) dieser Norm aus der Nicht-Verallgemeinerbarkeit einer bestimmten Art von Maxime ( oder aus der Unzulassigkeit einer bestimmten Art von Handlungsgründen) resultiert. Das strikte Verbot bez!eht sich. auf eine Klasse von Handlungsgründen; es kann stch gar mcht als ein striktes Verbot auf die entsprechenden ll_and~.un~en (?ier: lügen) beziehen. Kants Polemik gegen d.te Mog~tc~ket~ von Ausnahmen ist ganz richtig, wenn man ste auf dte nchttge Art von Ausnahmen bezieht: Die Norm »du sollst nicht lügen«, wenn man sie in dem oben erlauter-
I Vgl. GMS 55 (BA 58).
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ten Sinne versteht, erlaubt niemals eine Ausnahme. Damit ist aber noch nicht ausgemacht, ob es nicht mõgliche Handlungsgründe gibt, die aufgrund ihrer »Õffentlichen Vertretbar.keit« ( od~r- in erster Naherung -. aufgrund der Verallgememerbarkett entsprechender Maxtmen) verallgemeinerbare Ausnahmen bezeichnen. Es scheint, da6 Kant zwei verschiedene Kategorien von »Ausnahmen« miteinander konfundiert hat; wenn man ihm hierin nicht folgt, so ist es ohne Schwierigkeit mõglich, abgeleitete Moralnormen zugleich ais strikt allgeineingüh~ig und als auf mõgliche Ausnahmen »angelegt« zu verstehen. Die hier in Frage stehende Differenzierung fallt übrigens nicht zusaQJ.men mit der U nterscheidung zwischen »egoistischen:< und »altruistischen« Motiven: ich darf weder lügen, um mtr selbst, noch um meinem Kind oder meinem Freund einen Vorteil zu verschaffen. Was die oben angeführte Norm verbietet, ist das Lügen aufgrund von Privatzwecken (~b diese nun e~oistisch oder altruistisch sind). Die Rettung emes Unschuldtgen etwa vor der Gestapo ware kein Privatzweck in diesem Sinne; es ware vielmehr ein Handlungszweck, der sich durch eine andere moralische Norm begründen lie6e, namlich die Norm, daB man unschuldig Verfolgten Hilfe nicht versagen darf. Die Verletzung einer moralischen Norm (»Du sollst nicht lügen«) lie6e sich in diesem Falle durch einen »õffentlich vertretbaren« Grund rechtfertigen (auch wenn ich ihn unter den gegebenen Umstanden natürlich nicht, in einem Kantischen Ausdruck, »laut werden« lassen dürfte); statt dessen kõnnte man auch sagen, daB eine entspréchende Maxime »lch werde unschuldig Verfolgte notfalls durch eine Lüge zu retten versuchen« verallgemeinerbàr ist. Freilich entsteht an dieser Stelle eine Schwierigkeit, auf die Kant sich aufgrund seiner rigoristischen Interpretation moralischer Normen nicht mehr hat einlassen müssen: Im Gegensatz namlich ZU der oben betrachteten Maxime »Wenn nõtig (d. h. zweckma6ig), werde ich die Unwahrheit sagen«, deren Nicht-Verallgemeiner-
barkeit sozusagen auf der Hand liegt, ist die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der zuletzt betrachteten Maxime keineswegs eindeutig entscheidbar. Die Maxime ist zu vage, um eine klare Antwort zuzulassen; man mõchte sagen: Diese Maxime kann ich nur als allgemeines Gesetz wollen, wenn ich sicher sein kann, daB alle Menschen genügend Urteilskraft und gutep Willen haben, um richtig zu entscheiden, wann der Fall des >>notfalls« wirkiich vorliegt: Wenn ich aber dessen sicher sein kõnnte, dann bedürfte es einer entsprechenden Maxime nicht mehr, denn niemand würde mehr unschuldig verfolgt werden. Man muB daher Kant durchaus Konsequenz zubilligen, wenn er solche Maximen als untauglich für eine Gesetzgebung in einem mõglichen Reich der Zwecke verwarf. Ersichtlich müBte man, um die Ausnahme von der Regel »Du sollst nicht lügen« wirklich zu rechtfertigen,.auf die besonderen Umstande einer konkreten Situation eingehen. Hierbei lieBen sich die »Õffentlich vertretbaren« Gründe, mit denen ich die Ausnahme rechtfertigen würde, zwar prinzipiell wiederum inFormeiner verallgemeinerbaren Maxime ausdrücken, die áuf einen Situationstypus Bezug nimmt; aber es ergibt sich das Dilemma, daB der Anwendungsbereich einer solchen Maxime um so kleiner wird, je genauer ich den betreffenden Situationstypus charakterisiere, und daB er um so unbestimmter wird, je allgemeiner diese Charakterisierung ausfallt. Das bedeutet aber, daB die begründeten Ausnahmen von moralischen Normen nicht im gleichen Sinne unter Regeln fallen kõnnen wie die von jenen Normen verbotenen (oder auch gebotenen) Handlungen, und genau deshalb spielt die Urteilskraft bei der Anwendung moralischer Normen eine viel fundamentalere Rolle, als Kant dies zugestehen mochte. Hierin ist auch begründet, daB in moralischen Kontroversen in aller Regei nicht di e grundlegenden moralischen Normen kontrovers sind, sondem die Charakterisierungen von Situationen oder auch Situationstypen: sobald wir uris auf solche Charakterisierungen (also auf die »Tatsachen« im
weitesten Sinne des Wortes) geeinigt haben, lõsen sich die moralischen Kontroversen in der Regei auf; in diesem Sinne, so kõnnte man sagen, liegt die Moral in den Dingen selbst. Um die Analyse des eben angeführten Beispiels zu Eride zu führen, mõchte ich die Beschreibung der unterstellten moralischen Problem- und Urteilssituation noch einmal in einem wichtigen Punkte modifizieren. Die Modifikation besteht in einer Art »Zerlegung« des Problems in zwei Komponenten. Wenn wir statt von Handlungsmaximen von moralischen Normen ausgehen, besteht das Problem ja gerade in einem Konflikt zweier Normen: die erste Norm fordert, daB ich unschuldig Verfolgten beistehe, die zweite Norm fordert, daB ich nicht lüge. Wenn ich mir nun überlege, in welcher Weise diese beiden Normen negatorisch auf nicht~verallgemeinerbare Handlungsmaximen bezogen sind, wird sofort klar, daB die konstruierte Handlungssituation ein unmittelbarer Anwendungsfall der ersten Norm ist, dagegen nur ein mittelbarer Anwendungsfall der zweiten Norm. Das soll heiBen: Das Hilfsgebot ergibt sich aus der Nicht-Verallgemeinerbarkeit der Maxime »lch werde unschuldig Verfolgten nur beistehen, wenn es mir keine Nachteile bringt«; hiermit ist ein Handlungszweck- einem unschuldig Verfolgten beistehen - geboten. Das Verbot der Lüge dagegen ergibt sich aus der Nicht-Verallgemeinerbarkeit einer Maxime, die- unter den hier gemachten Voraussetzungen - in der gegebenen Situation gar nicht zur Diskussion steht, namlich der Maxime »lch werde die Unwahrheit sagen, wenn es mir vorteilhaft erscheint«. Dies ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daB die Lüge hier nicht als Mittel zur Realisierung eines »Privatzwecks~<, sondem allenfalls als Mittel für die Realisierung eines moralisch gebotenen Handlungszwecks zur Diskussion steht. Die miteinander konfligierenden moralischen Normen liegen also, wenn man ihren intemen Bezug zu nicht-verallgemeinerbaren Maximen und wenn man den spezifischen Charakter der
Handlungssituation in Rechnung stellt, gar nicht auf der gleichen Ebene. Für Falle dieser Art kõnnte man daher -freilich mit einer un-Kantischen Pointe- Kants These zustimmen, daB es sich in Wirklichkeit gar nicht um einen Konflikt zwischen verschiedenen moralischen Pflichten handelt. Meine zweite Charakterisierung unserer moralischen Beispielsituation macht einen Aspekt dieser Situation sichtbar, der bei der ersten Charakterisierung- mit Hilfe einer quasiverallgemeinerbaren Handlungsmaxime - verdeckt blieb. . Umgekehrt ist nun aber auch zu sagen, daB di e zweite Charakterisierung einen Aspekt verdeckt, der bei der ersten Charakterisierung in den Vordergrund trat: ich meine den Aspekt der »Konkretisierungs«- oder Anwendungsproblematik. Man muB ja den in unserem Beispiel suggerierten Extremfall nur ein wenig modifizieren, um zu sehen, daB eine Lüge keinesfalls immer ein legitimes Mittel sein kann, um
· einem unschuldig Verfolgten beizustehen. Das heiBt aber, daB die eben vorgeschlagene Auflõsung eines scheinbaren Normenkonflikts, trotz der Allgemeinheit der Konstruktion, nur in extremen Fallen gültig sein kann. Dieser Aspekt des Problems tritt jedoch erst in voller DeQtlichkeit zutage, wenn wir die Ausnahme voni Wahrhaftigkeitsgebot unter eine verallgemeinerbare Maxime zu bringen versuchen -wenn wir also eine Art von Erlaubnisgesetz zu formuliere.n versuchen. Wie wir oben gesehen haben, lassen sich, strikt gesprochen, verallgemeinerbare Maximen dieser Art nicht formulieren, weil sie letztlich ein indexikalisches Element enthalten müBten .. Ein »Erlaubnisgesetz« kõnnte daher nur lauten: In Situationen wie dieser ist es erlaubt zu lügen. Die · Allgemeingültigkeit von Ausnahmen laBt sich, anders ais die Allgemeingültigkeit der moralischen Gebote selbst, letztlich nur im Sinne einer Begründung bestimmter Handlungsweis.en in konkreten Situationen aufweisen. Hierin liegt das Wahrheitsmoment »situationistischer« oder >>existentialistischer« Ethiken. Man kann nur den ungeheuren
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Scharfsinn des alten Kant bewundern, der, weil er für ein solches >>Situationistisches« Moment und eine entsprechende Rolle der Urteilskraft in seiner Ethik keinen Platz vorgesehen hatte, die einzig mõgliche Alternative einer rigoristischen Pflichtethik bis zur letzten Konsequenz vertrat. Ich kehre noch einmal zu der These zurück, daB die >>abgeleiteten<< moralischen Normen- ais strikt allgemeine und gleichwohl auf mõgliche Ausnahmen >>angelegte« Normen - sich auf dem Wege der Negation aus nicht-verallgemeinerbaren Maximen ergeben. Diese These soll nicht besagen, daB, im Lichte des Kategorischen Imperativs betrachtet, alie grundlegenden moralischen Normen den Charakter von Verbotsnormen- im Sinne etwa von >>Du sollst nicht lügen«, »Du sollst'nicht tõten« oder auch >>Neminem laede«•- haben. Vielmehr lassen sich auch Normen wie >>Hilf den Hilfsbedürftigen (soweit Du kannst)« - denen nach Kant ethische Pflichten von >>weiter« Verbindlichkeit entsprechen2
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r Schopenhauers »Grundsatz der Gerechtigkeit«. Vgl. Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, in: Samtliche .Werke (Hrsg. W. Freiherrvon Liihneysen) Bd. m, Darmstadt 1968, S. 746. AufSchopenhauers Kritik der Kantischen Ethik gehe ich hier nicht ein. Nur erwahnen miichte ich Schopenhauers These, daB >>der Begriff des Sollens, die imperative Form der Ethik, allein in der theologischen Moral gilt, auBerhalb derselben aber allen Sinn und (alie) Bedeutung verliert« (a.a.O., S. 726). Eine ahnliche »Sinn-Kritik« des Begriffs eines unbedingten moralischen Sollens taucht auch in der neueren Ethik-Diskussion wieder auf; vgL z. B. G. E. M. Anscombe, »Modem Moral Philosophy«, in: Philosophy 33, 1958; A.·Macintyre, After Virtue, Notre Dame/Indiana 1981 (S. 57). Zur Sinnkritik des moralischen Sollens vgl. auch Ph. Foot, »Morality as a System o f Hypothetical Imperatives<<, in: Virtues and V ices, Berkeley and Los Angeles 1978, S. r63 ff., und U. Wo!f,Das Problem des moralischen Sollens, Berlin und New York 1984, S. 3 ff. Ich glaube, man kann das >>Problem Schopenhauers<<, wie ich es nennen miichte, nicht ignorieren, auch wenn die Kant-Kritik, in deren Kontext Schopenhauer seine These formuliert, nicht überzeugend ist. Indirekt komme ich auf dies Problem in Abschn. XI zurück. 2 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, in: Werke in sechs Banden (Hrsg. W. Weischedel), Bd. IV, a.a.O., S. 520 (A 20).
auf die gieiche Weise wie moraiische Verbotsnormen negatorisch auf nicht-verallgemeinerbare Maximen beziehen, etwa auf die Maxime: »lch werde niemand heifen, wenn es mir keinen Vorteii hringt.« Der Unterschied dieser >>positiven« moraiischen Normen, die dem nahestehen, was Gert moraiische >>ldeaie« nennt1
, zu moraiischen Verbotsnormen besteht darin, daB.im F alie der Ietzteren Handiungen verboten sind, im F alie der ersteren dagegen das Unterlassen von Handiungen (bzw. eines Handlungsversuchs). Wahrend aber das Verbot einer Handiung gieichbedeutend ist mit dem Gebot, diese Handiung nicht auszuführen, ist das Ver- · bot des >>Untatigbieibens« (in bestimmten Situationen) in der Regei nicht gieichbedeutend mit dem Gebot, eine bestimmte Handiung auszuführen. Ethische Pflichten von weiter Verbindiichkeit Iassen; wie Kant bemerkt, >>einen Spieiraum, mehr oder weniger hierin zu tun, ohne daB sich die Grenzen davon bestimmt angeben Iassen«.' Die positiven Normen, so kõnnte man sagen, gebieten es, in einer bestimmten Richtung zu handein (Kantisch gesprochen: die Giückseiigkeit der anderen mir zum Zweck zu machen), nicht dagegen, eine bestimmte Handiung auszuführen.
Exkurs. R. M. Hare hat versucht, das Probiem der Ausnahmen vún moraiischen »prima-facie-Prinzipien«J in einer etwas anderen Weise zu Iõsen, ais ich es oben vorgeschiagen
· babe. Hare unterscheidet zwischen zwei Ebenen der moraIischen Überiegung, die er die >>intuitive« und die >>kritische« nennt.4 Auf der intuitiven Ebene der moraiischen Überiegung haben wir es mit prima-facie-Prinzipien zu tun, die zugieich allgemein und mehr oder weniger unspezifisch, d. h. auf Ausnahinen angeiegt sind. Erst in Situationen des
I Vgl. Gert, a.a.O., S. u8ff. 2 Metaphysik der Sitten, a.a.O., S. P4 (A 27). 3 Zum Ausdruck »prima facie principies« vgl. Hare, Moral Thinking, a.a.O., S. 38. 4 A.a.O., S. 25ff.
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moraiischen Konflikts sind wir zum Übergang zur kritischen Ebene der moraiischen Überlegung genõtigt, das hei6t zur Formuiierung »kritischer Moraiprinzipien«, die von >>unbegrenzter Spezifizitat<< sein kõnnen. 1 Für Hare sind die prima-facie.:.Prinzipien Iedigiich ein Mittei zur EntIastung von Kompiexitat (bzw. zur Ausbiidung moraiischer »Gewohnheiten«) gieichsam im moraiischen Alltag; hatten wir die intellektuellen Kapazitaten eines Erzengeis, so kõnnten wir uns in unseren moraiischen Urteiien jederzeit kritisch verhalten und unser Handein daher von Moraiprinzipien bestimmen Iassen, die jeweiis der Besonderheit der Handiungssituationen gerecht werden, in denen wir uns gerade befinden. • Die >>kritischen Moraiprinzipien« Hares· sind durch Ausnahmekiausein modifizierte prima~facie-Prinzipien von der Art >>Üne ought never to do an act which is G, except that one may when it is necessary in order to avoid an act which is F, and the act is aiso H; but if the act is not H, one may not«J, wobei dies natürlich erst der Arifang der kritischen Spezifikation eines prima-facie-Prinzips ware. Diese Methode der Lõsung des >>Ausnahme«-Probiems scheint mir deshaib verquer, weii man tatsachiich die Fiktion eines Erzengeis (o der Gottes) braucht, um di e Allgemeinheit von Prinzipien auf Haresche Weise mit der Besonderheit von Situationen zusammenzudenken: Es ist die Fiktion einer unendiichen Intelligenz, die imstande ware, das Besondere ganz im Allgemeinen >>aufzuheben«. Nur wenn man eine solche Fiktion ais Fiuchtpunkt unserer endiichen Denkbemühungen voraussetzt, kann man das Probiem der moraiischen Ausnahmen oder Konflikte ( d. h. der moraiischen Prob/em-Situationen) durch den Hinweis .auf die unbegrenzte Spezifizierbarkeit moraiischer Normen zu Iosen versuchen. Hares Gebrauch dieser Fiktion beruht auf der
I A.a.O., S. 41. 2 Vgl. a.a.O., S. 46. 3 A.a.O., S. 33·
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Übertragung einer in der N aturwissenschaft ( d. h. der Idee einer unbegrenzten Speiifizierbarkeit von Kausalgesetzen) in gewissem Sinne legitimen Denkfigur auf das Gebiet geschichtlich-praktischer Phanomene. Illegitim ist diese Übertragung allein schon deshalb, weil im Bereich der Geschichte (zu der alies Handeln gehõrt) die Idee einer »letzten« Sprache, einer »erschõpfenden« Beschreibung nicht einmal als regulative Idee Sinn macht. Indes laíh sich der Einwand gegen Hares Idee einer unbegrenzten Spezifizierbarkeit moralischer Prinzipien spezifischer und praziser formulieren: Wir hatten oben gesehen, daB man- von -Kant ausgehend- eine klare Unterscheidung treffen kann zwischen (im starken Sinne) verallgemeinerbaren Maximen, denen allgemeingültige moralische Normen entsprechen, und >>quasi-verallgemeinerbaren<< Maximen, denen >>Erlaubnisgesetze<< entsprechen würden. Solche Erlaubnisgesetze lassen sich, wie wir gesehen haben, wegen ihrer Unbestimmtheit nicht wirklich als Gesetze (im Kantischen Sinne) formulieren. Das hei6t aber, sie decken unbestimmt viele Falle mit ab, in denen das, was sie zu erlauben scheinen, moralisch verboten ware. Einem Erlaubnisgesetz dieser Art entspricht die erste >>except<<-Klausel in dem oben zitierten Hareschen Beispiel einer (begrenzt) spezifizierten Norm, wahrend die zweite >>except<<-Klausel eine Einschrankung der Erlaubnis bedeutet. Nun geht ja auch Hare davon aus, daB wir als endliche Intelligenzen immer mit endlichen Spezifikationen von Moralprinzipien auskommen müssen. Wenn aber die kritischen Moralprinzipien, auf die wir uns stützen, >>Erlaubnisgesetze<< ·als Komponenten enthalten, die wegen der begrenzten Spezifikation unserer Prinzipien gleichsam nur mit den allernotwendigsten Einschrankungen versehen sein kõnnen, dann sind die Moralprinzipien selbst beinah notwendigerweise und sicherlich absehbarerweise falsch. Man denke etwa andas folgende Prinzip: >Es ist verboten, Menschen zu tõten, auBer wenn es notwendig ist, um einen Akt der Barmherzigkeit gegenüber einem Todkranken auszu-
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führen, der dich darum bittet, ihn von seinem Leiden zu erlõsen.< Wer ein solches Prinzip vertritt, hat bestimmte Situationen im Auge, in denen es vertretbar- vielleicht sogar ge-, boten- sein mag, entsprechend zu handeln. Es liegt aber auf der Hand, da6 ein solches Prinzip nicht nur, wenn es etwa die Form einer Rechtsregel bekame, zu unendlichem MiBbrauch AnlaB geben kõnnte ( dies ist di e exoterische Sei te des Problems), sondem daB es auch unter der Voraussetzung einer gutwilligen Anwendung in dieser Allgemeinheit wahrscheinlich moralisch falsch ist. In der Unbestimmtheit der Formulierung (wann ist eine Handlung als ein Akt der Barmherzigkeit notwendig ?) lauern zugleich tausend Gegengr~nde, die uns in konkreten Situationen (und sogar am Schreibtisch) einfallen kõnnten; ich meine Gegengründe gegen das Prinzip selbst in seiner allgemeinen Formulierung. In konkreten Situationen müssen wir aber, auf eigéne Verantwortung, handeln, so gut wir kõnnen. Würden wir nun die Logik moralischer Urteile oder Begründungen im Sinne von Hare rekonstruieren, so waren unsere moralischen Begründungen in Problemsituationen notwendigerweise falsch, weil gestützt auf falsche Prinzipien. In Wirklichkeit mu6 uns aber der Umstand, daB wir in konkreten Situationen (immer) noch-nicht-genügend-spezifizierte Prinzipien haben, keineswegs daran hindern, in diesen Situationen mit Gründen das Richtige zu tun. Ob solche Gründe stichhaltig sind, hangt, so scheint es, mehr von unserer Erfassung der ( dieser) Situation ab als vop der Formulierbarkeit allgemeingültiger Prinzipien. Oder, um es anders aúszudrücken: Auch wenn Gründe und Situationsbeschreibungen immer einen allgemeinen Charakter haben, haben doch die Begründungen, die wir formulieren kõnnen, in den hier betrachteten Fallen zugleich ein indexikalisches Moment: hierauf beruht- allenfalls - ihre Stichhaltigkeit. Unser Situationsverstandnis enthalt gewisserma6en immer einen · ÜberschuB über das, was in unseren Beschreibungen und Begründungen explizit wird: daher enthalten auch die (kri-
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tischen) Prinzipien, wenn wir sie formulieren, einen impliziten Bezug auf paradigmatische Situationen, m~t'denen wir vertraut sein müssen, um die Prinzipien anwenden zu konnen. Die Prinzipien selbst enthalten ein indexi~alisches Moment; nur deshalb konnen sie in moralischen Uberlegungen eine Rolle spielen, ohne schon ausreichend >>spezifiziert<< zu sein. Dasselbe gilt dagegen nicht für die prima-facie-Prinzipien, wenn wir sie als moralische Normen verstehen, deren Allgemeingültigkeit durch einen negatorischen Bezug auf nicht-verallgemeinerbare Maximen konstituiert ist. · Ich meine somit, daB .di e Kantische Ethik- was immer wir sonst von ihr halten mogen- uns eine kategoriale Unterscheidung zwischen moraiischen Normen und >>Eriaubnisgesetzen« zu formuiieren erlaubt, di-e etwas von der >>Feinstruktur« moraiischer Urteiie und Begründungen sichtbar macht, einer Feinstruktur, die unsichtbar wird, wenn man - wie H are dies tut- moraiische Gebote o der Verbo te einerseits, >>Eriaubnisgesetze« andererseits in der Formulierung >>kritischer« Moralprinzipien >>ineinanderschachtelt«. Aus diesem Grunde und wegen der oben charakterisierten rationalistischen Implikationen seines Ansatzes habe ich Hares Losung des Probiems der moraiischen Ausnahmen >>verquer« genannt. Obwohi nun Hare mit den eben kritisierten Ideen derseiben rationaiistischen Tradition zugehort, zu der man auch Kant rechnen m~B, scheint Kant doch bei seiner Übertragung des Gesetzesbegriffs auf die Moralphilosophie im Vergieich zu Hare ein Stück Aristotelischer Vorsicht bewahrt zu haben; gerade deshalb inufhe ihm eine Vermittlung von allgemeinem Prinzip undhesonderer Situation, so wie Hare sie konstruiert, unmoglich erscheinen. Kants moraiphilosophischer Rigorismus ist die rationaiistische Konsequenz, die er aus dieser Schwierigkeit gezogen hat: diese Konsequenz war der Preis, den er zahlte, um moralisches Handeln allge-, mein unter die Form der GesetzmaBigkeit zu bringen. Andererseits hatten wir gesehen, daB sich die >>universaiitas«
der grundlegenden moraiischen Normen (also der >>primafacie-Prinzipien« im Sinne Hares) durchaus retten laBt, wenn man sie negatorisch auf nicht-verallgemeinerbare Handlungsmaximen bezieht; das Problem der >>Ausnahmen« erscheint dann in einem anderen Licht: namiich als ein ietztlich nur in konkreten Handiungssituationen, zwar mit Gründen, aber nicht durch eine unbegrenzte Spezifikation von Prinzipien iosbares Problem. Ich will die Differenzen zu Hare nicht übertreiben. In gewissem Sinne kann man in Hares Unterscheidung zwischen >>intuitiven« und. >>ktitischen<< Moraiprinzipien auch eine Art Übersetzung der oben vorgeschlagenen Losung des Probiems der >>Ausnahme« (im Rahmen einer Kantischen Perspektive) in eine andere Sprache sehen; die strukturellen Homologien liegen auf der Hand. So verstanden ware dann Hare·einer Aristoteiischen Tradition naher ais Kant. Nur halte ich Hares Rede von >>Prinzipien«, wo strenggenommen keine mehr formuiiert werden konnen, für zumindest irreführend. Auch wenn di e Gründe, di e wir für moralische Urteile in konkreten Situationen anführen konnen, immer einen Allgemeinheitsindex haben, bleiben sie doch in Fallen des moraiischen Konflikts auf eine solche Weise mit den Situationen >>Verknüpft«, daB sie allenfalls in ad-hoc-Prinzipien transformiert werden konnen: das heiBt in Regein, deren richtige Anwendung an eine Urteilskraft gebunden bleibt, die sich ihrerseits nur im (moralischen) Umgang mit entsprechenden Beispielsituationen bilden kann. Etwas Anaioges gilt nicht für diejenigen moraiischen Prinzipien, di e nicht-verallgemeinérbaren Maximen >>entsprechen<<; hier handelt es sich ja wirklich - in dem Sinne, in dem ich es oben erklart habe- um universelle Prinzipien. Ich meine deshaib, daB zumindest im Rahmen einer Kantischen Perspektive - die ja, in einem weiteren Sinne, auch Hare teilt -di e oben vorgeschlagene Losung des Problems der moralischen Ausnahmen überzeugender ist ais die Losung Hares.
IV
Kant hat offenbar im Willen dessen, der eine Maxime als allgemeines Gesetz wollen oder nicht wollen kann, immer ,schon den Ausdruck eines den Menschen als vernünftigen Wesen gemeinsamen Willens gesehen; der »Kognitivismus« der Kantischen Ethik- d. h. der Anspruch moralischer U rteile auf allgemeine im Sinne von intersubjektiver Gültigkeit - steht und fallt mit dieser Voraussetzung (wenn wir vorderhand vom »Letzt«-Begründungsproblem absehen). DaB diese Voraussetzung problematisch ist, liegt auf der Hand: der Ausdruck »wollen kõnnen« enthalt ein irreduzibel >>empirisches« Moment; wir müssen daher mit der Mõglichkeit rechnen, daB verschiedene Menschen verschiedene Handlungsweisen als allgemeine wollen kõnnen. Oben hatte ich gezeigt, daB sich dies Problem bis zu einem gewissen Grade entscharfen laBt, wenn man sich den logischen Primat des
, Begriffs der Nicht-Verallgemeinerbarkeit im Begriff einer (im starken Sinne) verallgemeinerbaren Maxime klarmacht. Was namlich das >>Nicht-wollen-Kõnnen« betrifft, so befindet sich jeder moralisch U rteilende in einer privilegierten Position: Wenn ich nicht wollen kann, daB ... , so kõnnen auch wir nicht wollen, daB: .. Hierdurch ist freilich keineswegs die intersubjektive Geltung moralischer Urteile gesichert, denn was wir jeweils als allgemeine Handlungsweise wollen oder nicht wollen kõnnen, das hangt zweifellos entscheidend von der Matrix der Begriffe ab, durch welche wir jeweils die soziale Wirklichkeit und unsere Bedürfnisse interpretieren. Ob ich etwa die autoritare Maxime, im Falle von Widersetzlichkeit (von Schülern, Untertanen, Untergebenen) nicht lange zu fakkeln, sondern sofort hart durchzugreifen, als verallgemeinerbar beurteile oder nicht, das hangt davon ab, ob ich- als autoritarer Erzieher oder Vorgesetzter- die soziale Wirklichkeit mit Hilfe einer Matrix von Begriffen deute, bei der Gehorsam und Widersetzlichkeit gleichsam den positiven
und negativen Pol einer normativen Ordnung bezeichnen, oder ob ich sie - als Demokrat - mit Hilfe von Begriffen deute, der~n normatives Gefalle durch die Extrempole von Selbstbesttmmung und Abhangigkeit sich bezeichnen laBt. Ein Moralprinzip wie der Kategorische lmperativ kann niemals in einem normativ »luftleeren« Raum operieren; wenn es sich aber so verhalt, dann kann jedenfalls eine Befolgung des Kategorischen lmperativs in konkreten Handlungssituationen allein die intersubjektive Geltung entsprechender moralischer Urteile nicht garantieren. Und es ist zunachst überhaupt nicht zu sehen, wie sich mit Hilfe des Kategorischen Imperativs ein moralischer Konsens sollte sicherstellen lassen. Nehmen wir noch die oben diskutierte Problematik der »Ausnahmen« bzw. des situativen Aspekts moralischer Urteile hinzu, so zeigt sich ein Bündel von Schwierigkeiten, die Kant selbst nur mit Hilfe einer »formalistischen« lnterpretation des Kategorischen lmperativs überdecken konnte. Diese formalistische lnterpretation tritt in der Kritik der praktischen Vernunft in den Vordergrund, wo an entscheidenden Stellen das »wollen kõnnen« bezeichnenderweise durch ein »gelten kõnnen« ersetzt wird, als dessen Kr~terium ein »denken kõnnen<< angegeben wird.• Charakteristisch ist die folgende Formulierung:
»Also kann ein vernünftiges Wesen sich seine subjektiv-praktischen Prinzipien, d. i. Maximen, entweder gar nicht zugleich ais allgemeine Gesetze denken, oder es muB annehmen, daB die bloBe Form derselben, nach der jene sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicken, sie für sich allein zum praktischen Gesetze mache.« 1
Indem Kant die »Form der GesetzmaBigkeit<< von Maximen zum Kriterium des moralisch richtigen Handelns macht, rettet er- scheinbar- di e Objektivitat der Moral. Di e konsequente Ausführung dieses Gedankens bedeutet indes die Auflõsung der fruchtbaren Zweideutigkeiten der Kantischen Moralphilosophie zugunsten einer formalistischen
1 Kritik der praktischen Vernunft, S. 140, 136 (A 54, 49). 2 A.a.O., S. 136 (A 49).
Pflichtethik, die für uns kaum noch von Interesse sein dürfte. Demgegenüber meine ich - und hierin befinde ich mich wohl in Übereinstimmung mit fast allen an Kant anknüpfenden Moralphilosophen der Gegenwart -, daB das Produktive von Kants Formulierungen des Moralprinzips in ·der Grundlegung gerade in ihrem Rekurs auf den empirischen Willen der Handelnden liegt; einen Willen freilich, der nicht einzelne Ziele, sondem allgemeine Handlungsweisen betrifft. Wenn- so mochte man sagen- an Kants Rekonstruktion unserer moralischen Intuitionen überhaupt etwas richtig ist, so muB es darin liegen, daB die Rationalitat moralischer Urteile in·· einer bestimmten Beziehung zwischen (empirischem) Wollen und Sollen verankert wird. Ein groBer Teil der zeitgenossischen Moralphilosophie laBt sich als Versuch verstehen, diese Kantische Grundintuition gegen die formalistisché Verkümmerung der Kantischen Ethik zur Geltung zu bringen; hierin liegt nicht zuletzt auch di e Gemeinsamkeit zwischen dem Regelutilitarismus und der kommunikativen Ethik. Wenn man nun das Problem ernst nimmt, das sich hinter Kants Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen der Rationalitat und dem Wollen-Kõnnen handlungsfahiger Wesen verbirgt, dann scheint es, grob gesagt, drei mõgliche Lõsungs-Alternativen für eine an Kant anknüpfende Ethik zu geben: Die erste Alterna tive besteht in .dem Zugestandnis, daB verschiedene rationale Wesen mõglicherweise ganz verschiedene Handlungsweisen als allgemeine wollen kõnnen. In diesem Falle wird die notwendige Koinzidenz des vernünftigen Willens aller handlungsfahigen Wesen geleugnet; das moralische Universum zerfallt ...: potentiell - in eine Pluralitat moralischer Welten wie zumindest beim früheren Hare.' Hare hat im übrigen das »Letztbegründungsproblem« eliminiert, indem er den Universalismus der Ethik unmittelbar aus der logischen Grammatik der moralischen Grundwõrter (»sollen«, >>müs-
r Vgl. Richard M. Hare, The La~guage of Morais, Oxford 1952., S. 68f.
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sen<< usw.) ableitet. Er verankert die Ethik gewissermaBen in einem Faktum unserer (der modernen) Vernunft. Die zweite. Alternative besteht in dem Versuch, eine Minimalethik zu begründen, deren Gehalte mehr· oder weniger den moralischen Normen entsprechen, auf die man auch bei Kant stõBt, wenn man sich Bejspiele nicht-verallgemeinerungsfahiger Maximen überlegt. Auch der negatorische Bezug der moralischen Normen zu nicht-verallgemeinerbaren Maximen taucht in Veranderter Form in dieser zweiten Variante einer »Kantischen« Ethik wieder auf: die moralischen Normen sind in erster Linie Verbote von Handlungsweisen, über deren Zulassigkeit rationale Wesen sich nicht würden einigen kõnnen. Das Wort >>rational« ist hierbei in einem schwachen Sinne zu verstehen: der >>rationale« Wille ist ein eigeninteressierter, die Folgen alternativer Regelungsmõglichkeiten in Rechnung stellender Wille - genau so wie an den entsprechenden Stellen der Kantischen Konstruktion. Ich denke, daB die Theorie von B. Gert', Überleg.ungen G. H. v. Wrights 1 und in gewissem Grade auch die Theorien Singers und Rawls'3 dieser zweiten Alternative entsprechen. Da bei dieser zweiten Alternative das moralische Sollen von seinen elementaren Inhalten her rekonstruiert wird, bleibt zwar in gewissem Sinne die Einheit des moral.ischen U niversums erhalten, statt dessen wird aber der Begriff der moralischen Verbindlichkeit zum Problem: daB ich - hier und jetzt- nach verallgemeinerbaren Maximen oder, in Gerts Terminologie, im Sinne >>õffentlich vertretbarer« Gründe handeln soll, daB ich also - moralisch handeln soll, dies laBt sich nicht mehr mit Hilfe eines Kantischen GewaltStreichs begründen4, nachdemder rationale Sinn des moralischen Sollens fragwürdig geworden ist. Die Rekonstruktion
1 Vgl. Gert, The Moral Rules, a.a.O., Kap. 2, insbes. S. 37· 2 Vgl. von Wright, The Varieties of Goodness, a.a.O. 3 John Rawls,A Theory of ]ustice, Cambridge/Mass. 1971 (deutsch: Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975). 4 Vgl. die Überlegungen von Gert in The Moral Rules, a.a.O., Kap. 10:
>>Why should one be Moral?«
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intersubjektiv gültiger moralischer Gehalte im Sinne Kants hat die - paradoxe -· Folge, daB die unmittelbare Identitat des vernünftigen mit dem moralischen Willen zerbricht. 1 Sie la6t sich- nicht auf dem Wege einer Letztbegründung, sondem in schwacheren Formen- nur wiederherstellen, wenn man das kategorische Sollen selbst noch einmal mit einem (empirischen) »Wollen« verknüpft. Die zweite Altemative macht somit das Begründungsdefizit der Kantischen Ethik
· sichtbar; je mehr sie als Rekonstruktion von Grundgedanken der Kantischen Ethik überzeugt, um so deutlicher tritt in ihr hervor, daB das unbedingte moralische »Soll« des Kategorischen Imperativs schwerlich ein >>Soll« reiner praktischer Vemunft sein kann. Die dritte Altemative schlieBlich besteht in einer diskursethischen Erweiterung des Kantischen Moralprinzips, wie sie nicht nur von Apel und Habermas, sondem in anderer Form auch von Vertretem des Erlanger und Konstanzer »Konstruktivismus« vorgeschlagen worden ist! Âhnlich wie im Falle der eben besprochenen Altemative werden hier die gültigen moralischen Normen mit denjenigen Regeln gleichgesetzt, auf die wir uns in einem rationalen Dialog würden einigen kõnnen. Der entscheidende Unterschied zur zweiten Altemative besteht darin, daB der Anspruch auf eine philosophische Begründung inhaltlicher Moralnormen aufgegeben wird und statt dessen ein Prinzip dialogischer Einigung an die Stelle des Kantischen Moralprinzips tritt. Diese Wendung .erlaubt es, auch das Letztbegründungsproblem noch einmal neu in Angriffzu nehmen: Zumindest Apel und Habermas versuchen nachzuweisen, daB ein Prinzip der zwanglos-dialogischen Klarung normativer Geltungsansprüche als konstitutives Prinzip in die Bedingun-
1 Vgl. a.a.O., S. zo4ff. 2 Eine reprasentative Auswahl findet sich in Friedrich Kambartel (Hrsg.), Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt 1974. Aufierdem: Oswald Schwemmer, Philosophie der Praxis, Frankfurt 1971; Paul Lorenzen und Oswald Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, Mannheim-Wien-Zürich, 1973.
gen kommunikativen Handelns »eingebaut« ist, daB also sprach- und handlungsfahige Wesen ein solches Prinzip -zumindest implizit- immer schon anerkannt haben müssen. Von den hier unterschiedenen drei Altemativen einer an Kant anknüpfenden oder »Kantianischen« Ethik stellt nur die dritte Altemative einen emsthaften Versuch qar, einen emphatischen Begriff praktischer Vemunft im Kantischen Sinne zu rehabilitieren, d. h. aber sowohl die Begründbarkeit moralischer Normen als auch den rationalen Sinn eines unbedingten moralischen Sollens zu verteidigen~ Auf die Schwierigkeiten; zu denen diese dritte Altemative führt, werde ich spater eingehen.
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Die bisher vertretene selektive Lesart des Kantischen Moralprinzips entspricht strukturell mehr oder weniger der zweiten der oben unterschiedenen drei Altemativen. Dem entspricht, daB ich die Frage naf:h der Begründbarkeit des Kategorischen Imperativs, das hei6t aber die Frage nach dem rationalen Sinn des im Lichte des Kategorischen lmperativs gedeuteten moralischen Sollens, bisher vemachlassigt babe. Kant selbst hat- darin stimme ich mit anderen Kritikem Kants überein - auf diese Frage keine befriedigende Antwort gegeben. Dies ist aber, wie wir gesehen haben, sicherlich nicht die einzige Schwache der Kantischen Moralphilosophie. Wenn ich bisher ihre Starken betont babe, so geschah dies in folgender Absicht: Ich wollte einerseits zeigen, da6 Kants Rekonstruktion des moralischen Urteils für eine begrenzte, aber elementare Klasse von moralischen Problemen durchaus einleuchtend gemacht werden kann, und ich wollte andererseits durch Hervorhebung der Starken zugleich die Schwachen der Kantischen Konstruktion in ein scharferes Licht tauchen. Hierdurch hoffe ich sowohl einen gewissen Standard gewonnen zu haben, was die An-
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forderungen an eine über Kant hinausgehende Ethik betrifft, ais auch die Problemzonen bezeichnet zu haben, aus denen "sich Motive für die Entwicklung einer dialogischen Ethik ableiten lassen~ Die im Vorangehenden bezeichneten Problemzonen der Kantischen Ethik legen namlich den Gedanken nahe, das formale Prinzip der Ethik, nach dem Kant suchte, gleichsam eine Stufe tiefer anzusetzen, das heiBt, es im Zusammenhang "Zwischen (intersubjektiver) Geltung und (rationaler) Begründung aufzusuchen. Apel und Habermas versuchen dies; bei ihnen tritt an die SteUe des kantischen Formalismus ein »prozeduraler« Formalismus. Die Formulierung eines prozedural-formalen Moralprinzips soU nicht nur jene Problemzonen moralphilosophisch aufschlieBen, die in der Topographie der Kantischen Ethik blinde Flecken bleiben, sie soU auch - und zugleich- eine Lõsung des »LetztbegründungsproblemS<< ohne. einen Rückfall in Metaphysik mõglich machen. Di e beiden Grundintentionen der dialogischen Ethik hangen auf systematische Weise miteinander zusammen, wie wir spater sehen wer.den. Urn diese Intentionen - also auch Anspruch und Beweislast der Diskursethik - noch ein Stück weiter zu verdeudichen, mõchte ich ais nachstes der Frage nachgehen, ob sich nicht Anknüpfungspunkte für eine dialogische Erweiterung der Ethik bei Kant selbst finden lieBen. John R. Silber hat versucht zu zeigen, daB der Formalismus der Kantischen Ethik selbst schon ais ein »prozeduraler« Formalismus verstanden werden muB.' Hierbei geht es freilich nicht um die »Prozedur« eines realen Dialogs, sondem
. um diejenige der moralischen Urteilsbildung. Silber versucht, den >>prozeduralen. Formalismus« der Kantischen Ethik zu erlautern, indem er den Kategorischen Imperativ im Lichte der von Kant formulierten »Maximen des gemei-
. I John R. Silber, »Procedural Formalism in Kant's Ethics<<, in: Review of Metaphysics Vol. XXIII, Nr. 2 (I974).
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nen Menschenverstandes« interpretiert.' Für unseren Zusammenhang ist insbesondere die zweite dieser Maximen (»An der Stelle jedes andern denken«) wichtig. Im Lichte dieser Maxime verstanden, verlangt die moralische Prüfung einer Handlungsmaxi'me, so Silber, einen hypothetischen Perspektivenwechsel: Nur indem wir uns bei der Prüfung einer Maxime in die Lage der anderen, vor allem nai:ürlich der von unserem Handeln Betroffenen, versetzen, kõnnen wir zu einem begründeten Urteil darüber kommen, ob wir eine Maxime vernünftigerweise- d; i. ais rationale Wesenals allgemeines Gesetz wollen kõnnen. »In arder to respect the humanity of ali rational beings the moral agent must put himself into the place and point of view of others. In this way he will understand the values and needs of other beings and by moving out beyond himself willlimit his tendency to concentrate upon the fulfilment of his own needs to the neglect of the needs and legitimate desires of others.«• Silbers Interpretation des Kategorischen Imperativs im Lichte der Kantischen Maxime der Urteilskraft legt, so kõnnte es scheinen, t!Ínen immanenten Übergang von der Kantischen zu einer dialogischen Ethik nahe. Wenn ich namlich die Frage, ob ich eine Maxime (vernünftigerweise) ais allgemeines Gesetz wollen kann, angemessen nur beantworten kann, indem ich in meinen Überlegungen auch die Bedürfnis- und · Wertperspektiven der anderen - und das kann ja nur heiBen: der realen anderen- zur Geltung bringe, indem ich also die anderen in meinen Überlegungen gleichsam·zu Wort kommen lasse, dann erscheint hieraus· zweierlei zu folgen: namlich ( 1) daB in moralischen U rteilen ein hypothetisches Moment enthalten ist (was die Perspektive der anderen betrifft, so kann ich mich tauschen), und (2) daB
I Vgl. Immanuel Kant Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Biinden, (Hrsg. W. Weischedel), Bd. v, Darmstadt I957, S. 390 (B I 58). Die Maximen lauten: ,, r. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andem denken; 3· Je-derzeit mit sich selbst einstimmig denken.<< · 2 Silber, a.a.O., S. 2I6.
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die moralische Überlegung ihrem eigenen Sinne nach auf reale Dialoge verweist (weil ich nur durch reale Kommunikation mein Versüindnis der Perspektive der anderen über~ prufen konnte). Mit anderen Worten: Wenn das >~.an der Stelle jedes anderen Denken« im. Falle moralischer Uberlegungen ein Verstandnis der Bedürfnis- und Wertperspektiven anderer voraussetzt, so bezeichnet die Idee einer durch den Kategorischen Imperativ geleiteten moralischen Einsicht ein Problem, das ich monologisch immer nur in einem hypothetischen und vorlaufigen Sinne losen kann. Die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit von Maximen wird dann zur Frage, ob wir eine Maxime als allgemeines Gesetz wollen konnen; die Beantwortung dieser Frage aber ist letztlich nur durch eine real e Kommunikation unter den Betroffenen moglich. Silber selbst hat freilich diesen Schritt von einer prozeduralformalen zu einer dialogischen Ethik nicht vollzogen. Durch seine Abwehr >>formalist~scher<< Interpretationen der Kantischen Ethik will Silber vielmehr gerade zeigen, daB eine >>monologische« Anwendung des Kategorischen lmperativs bei der Prüfung von Maximen sehr wohl, wie Kant glaubte, ausreichend sei zur Herbeiführuns einer Koinzidenz von einzelnem und allgemeinem Willen. So gelesen, ware Silbers Hinweis auf die Maximen des gemeinen Verstandes zu verstehen als ein Versuch, zu zeigen, daB der Kategorische lmperativ diejenige Spezifikation jener Maximen darstellt, durch welche di e Vernunft sich als praktische konstituiert. Genau in diesem Sinne sagt Silber: >> The morallaw is itself to be understood as a principie which specifies the procedure of judgement in the act of moral schematism.«' Was allerdings bei Silber unklar bleibt, ist di e Frage, wie eine >>monologische« Anwendung des Kategorischen lmperativs sich vereinbaren laBt mit dem Desiderat, der moralisch Überlegende müsse die Bedürfnis- und Wertperspektiven der anderen in seinen Überlegungen zur Geltung bringen,
I A.a.O., S. I99·
denn dieses Des!derat scheint auf die Notwendigkeit eines Übergangs von der einsamen Überlegung zu einem realen Dialog zu verweisen. Silber gesteht freilich die Fallibilitat moralischer U rteile zu; in diesem Zusammenhang verweist er auf die von Kant zustimmend zitierte Forderung, der Mensch müsse >>seine Se-· ligkeit mit Furcht und Zittern ... schaffen«.' Indes geht es hierbei eigentlich um die unendlichen Moglichkeiten der Selbsttauschung, also darum, daB wir uns der moralischen Güte unserer Gesinnung nie ganz sicher sein konnen. Demgegenüber betrifft die Frage nach dem richtigen Verstandnis der Bedürfnis- und Wertperspektiven anderer, so wie sie durch Silbers Überlegungen nahegelegt wird, gar nicht in erster Linie das Problem der moralischen Selbsttauschung, sondern viel eher das Problem eines angemessenen Verstandnisses von Handlungssituationen, einschlieBlich der Art und Weise, in der die jeweils Betroffenen in solche Handlungssituationen verwickelt sind. Was dieses Problem betrifft, so erscheint Silbers Forderung, der moralisch Ur~ teilende müsse sich an die Stelle jedes anderen versetzen, weniger als Vorschlag für eine Losungs->>Prozedur« als vielmehr als eine- eher irreführende- Reformulierung des Problems selbst. Wenn aber andererseits Silber recht hatte mit seiner These, daB der prozedurale Formalismus des Kantischen Moralprinzips auf eine Losung gerade dieses Problems zumindest abzielt, dann müBte man auch zugestehen, daB der Kategorische lmperativ seinem eigenen Sinne nach einen Übergang zu realen Dialogen verlangt: nur im Medium realer Kommunikationen und Diskurse laBt sich klaren, ob ich mich in der richtigen Weise an die Stelle anderer versetzt habe. Silbers Überlegungen waren somit als Hinweis auf eine interne >>Dialogizitat« des Kantischen Moralprinzips zu verstehen. Die Frage ist: Kann man eine solche - implizite- Dialogizitat der Kantischen Ethik zugestehen,
I A.a.O., S. 221. Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloflen Vernunft, in: Werke Bd. v, a.a.O., S. 722.
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ohne damit zugleich Kants Fundierung der Ethik in einem »monologischen« Mora~prinzip in Frage zu stellen? Um diese, durch Silbers Uberlegungen nahegelegte Frage zu beantworten, mochte ich zwischen einer »dialogischen Ethik« und einer »Ethik des Dialogs« unterscheiden. Unter einer »dialogischen Ethik<< verstehe ich eine Ethik, in der ein Dialogprinzip an die Stelle des Moralprinzips tritt; unter einer »Ethik des Dialogs« verstehe ich eine Ethik, in der ein Dialogprinzip an zentraler Stelle unter den abgeleiteten Moralprinzipien auftritt. Meine These ist, daB Kant-immanent zwar nicht der Übergang zu einer dialogischen Ethik, wohl aber die Erweiterung der Ethik zu einer Ethik des Dialogs inoglich ist. Genau eine solche, in einem engeren Sinne »dialogisch« zu nennende Erweiterung der Kantischen Ethik wird durch Silbers Überlegungen nahegelegt: es ware eine Erweiterung der Kantischen Ethik, welche die faktische Pluraliüit von Bedürfnis- und Wertperspektiven sowie die Notwendigkeit ihrer transsubjektiven Vermittlung alsvon Kant vemachHissigte ...,.. Probleme in Rechnung stellt. Der entscheidende Gedanke ist dieser: soweit eine dialogische Klarung von Situationsdeutungen und Selbstverhaltnissen, soweit eine kommunikative Verstandigung iiber Bedürfnis- und Wertperspektiven moglich ist, wird sie von der Kantischen Ethik auch verlangt. Denn eine Maxime der Dialogverweigerung in Situationen, in denen inkompatible Ansprüche, Bedürfnisse oder Situationsdeutungen miteinander kollidieren, ist (im Kantischen Sinne) nicht verallgemeinerbar. Ein in diesem Sinne abgeleitetes Dialogprinzip wird aber nicht primar die Frage der Verallgemeinerbarkeit von Maximen betreffen, sondem vor aliem die Frage eines angemessenen Situations- und Selbstverstandnisses; es wird insbesondere wirksam dort, wo es um ein richtiges Versdindnis der Bedürfnis- · und Wertperspektiven anderer geht. Es handelt sich hier gleichsam um den >>kommunikativen Unterbau« der Kantischen Ethik - d. h. um jene Dimension praktischer Vemunft, in der es um die Gemein:..
samkeit des Weltbezugs und die Angemessenheit von Situationsdeutungen und Selbstverstandnissen geht. Bei Kant bleibt diese Dimension der moralischen Urteilsbildung weitgehend ausgeblendet. Silbers Überlegungen deuten zumindest auf sie hin; freilich bleibt bei ihm unklar, wie diese Dimension der moralischen Urteilsbildung im Rahmen einer Kantischen Perspektive zur Geltung gebracht werden konnte. Silber verkennt, daB Kant selbst das Problem systematisch trivialisiert hat. Letzteres kann man sich am Beispiel der nicht-verallgemei· nerbaren Maximen klarmachen, von denen bereits die Rede war. Sicherlich konnte man sagen, daB die Feststellung der Nicht-Verallgemeinerbarkeit atich im Falle dieser Maximen eine Art von hypothetischem Perspektivenwechsel voraussetzt: Ich muB mich in die Lage eines Hilflosen überhaupt versetzen konnen, um zu dem U rteil zu gelangen, daB ich die Maxime der Hilfsverweigerung nicht ais allgemeines Gesetz wollen kann. Hier geht es um anthropologisch elementare Gemeinsamkeiten, die für Kant so selbstverstandlich waren, daB er den von Silber geforderten Perspektivenwechsel schon darin als geleistet gesehen hatte, daB jemand in einer bestimmtel} Situation die Lage eines anderen als die eines Hilfsbedürftigen erkennt. Kant unterstellt somit den jeweils notwendigen Perspektivenwechsel als geleistet, bevor die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit von Handlungsmaximen sich stellt. Und dies macht im Bereich der moralischen »Elementarlehre«, auf die seine Ethik vorzüg~ lich >>paBt«, einen guten Sinn. Ganz anders verhalt es sich im nicht-elementaren Bereich der Moral, in dem es um ein richtiges Verstandnis komplexer Handlungssituationen oder um historisch variable Welt- und Selbstverstandnisse geht. In diesem nicht-elementaren Bereich der Moral wird nicht nur die Kenntnis, sondem zugleich das angemessene Verstandnis der Bedürfnis- und Wertperspektiven anderer, wird hiermit zugleich mein eigenes Welt- und Selbstverstandnis zum Problem, und zwar zu einem Problem, dessen
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Losung die Voraussetzung ist für di e Bildung eines richtigen moralischen Urteils. Silber versucht, das Moralprinzip Kants so zu lesen, daB es diese Dimension der moralischen Urteilsbildung noch mit umfaBt. Hierin liegt sicherlich eine von der Sache her gerechtfertigte »Óffnung« d~r Kantischen Ethik. Bei Silber werden aber die Schwierigkeiten verdunkelt, die sich einer solchen ,,bffnung« der Ethik aus einer Kantischen Perspektive entgegenstellen; unklar bleibt deshalb auch, an welcher Stelle genau das Problem eines hypothetischen Perspektivenwechsels im Rahmen einer Kantischen Ethik sich stellt.
Weder Silbers Überlegungen noch unsere Überlegungen im AnschluB an Silber haben uns bisher aus dem Bannkreis eines »monologischen« Moralprinzips herausgeführt. Allerdings ist deutlicher geworden, daB die vorhin erwahnten »Problemzonen« der Kantischen Ethik zugleich eine dialogische Dimension der Moral bezeichnen, auf die Silbers úberlegungen zumindest hindeuten. Vorerst aber hat uns unser Versuch, im AnschluB an Silbers lnterpretation des Kategorischen Imperativs einen Anknüpfungspunkt für eine dialogische Ethik hei Kant zu finden, zurückgeführt in die Nahe der zweiten der drei vorhin unterschiedenen Alternativen einer Rekonstruktion des Kantischen Universalismus. In den nachsten Abschnitten mochte ich die- ihrem Anspruch nach- starkere dritte Alterna tive in ihrer von Habermas und Apel ausgearbeiteten Form diskutieren: diejenige Alternative also, in der ein Dialogprinzip an die Stelle des Moralprinzips tritt.
2. Zur Kritik der Diskursethik
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Ich werde im folgenden vor aliem auf die von Habermas entwickelte Form der Diskursethik eingehen. Nur in meiner Diskussion der konsenstheoretischen Voraussetzungen der Diskursethik sowie der Letztbegrüridungsproblematik werde ich explizit auf die Apelsche Version der Diskursethik (und auf die Prazisierung des Letztbegründungsarguments durch W. Kuhlmann) eingehen. In diesem Verfahren liegt sicherlich eine Beschrankung; ich halte sie für gerechtfertigt, weil es mir darauf ankommt, einige prinzipielle Argumente exemplarisch an einem überschaubaren und besonders pragnanten Text zu verdeutlichen. Zwar gehe ich davon aus, daB meine Einwande gegen Habermas' bisherige Formulierungen der Diskursethik auch auf neuere entsprechende Überlegungen Apels• zutreffen; den Nachweis muB ich hier aber schuldig bleiben. ~abermas hat den gesthichtlichen (phylogenetischen) Ubergang zu einem universalistischen moralischen Be-
r Siehe unter anderem: K.-0. Apel!D. Bohler/G. Kadelbach (Hrsg.), Funkkolleg Praktische Philosophie!Ethik: Dialoge 2, Frankfurt 1984, insbes. r8.-2o. Studieneinheit. K.-0. Apel, >>1st die Ethik der idealen Kommunikationsgemeinschaft eine Utopie?<<, in: W. VoEkamp (Hrsg.), Utopieforschung, Bd. r, Stuttgart 1982; ders., »Kant, Hegel und das aktuelle Problem der normativen Grundlagen von Moral und Recht<<, in: Arno Werner (Hrsg.), Filosofi och Kultur, Lund 1982. Zur Frage der Letztbegründung s. insbes.: K.-0. Apel, »Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik<<, in: B. Kanitschneider (Hrsg.), Sprache und Erkenntnis, lnnsbruck 1976; »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen<<, in: K.-0. Apel (Hrsg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt 1976; »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, in: K.-0. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II, Frankfurt 1973·
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wuBtsein verglichen mit dem (ontogenetischen) Entwicklungsschritt, der hei Jugendlichen zur Ausbildung eines post-konventionellen moralischen BewuBtseins führt. Die Ausbildung eines post-konventionellen MoralbewuBtseins ist in beiden Fiillen die Antwort darauf, daB normative Selbstverstandlichkeiten als fragwürdig und begründungsbedürftig erfahren werden; wo dies geschieht, wird di e Argumentation - als >>Reflexionsform des kommunikativen Handelns«'- zur einzig mõglichen lnstanz einer Einlõsung normativer Geltungsansprüche. Der Übergang zum postkonventionellen MoralbewuBtsein bedeutet zugleich den Übergang zu einém neuen Verstandnis normativer Geltungsansprüche, deren intersubjektive Gültigkeit wird jetzt verstanden als Ausdruck eines mõglichen freien, durch Argumente herbeigeführten Einverstiindnisses aller von einer Norm Betroffenen. Ein prozedurales Kriterium- die argumentative Einlõsbarkeit normativer Geltungsansprüche - tritt an die Stelle materialer Kriterien, wie sie für die konventionelle Forro des moralischen BewuBtseins kennzeichnend sind. Das folgende Habermas-Zitat enthalt eine suggestive Darstellung der Ontogenese eines post-konventionellen Moralbewufhseins: ·
» Wenn ~an sich ... die Adoleszensphase in einem Gedankenexperiment auf einen einzigen kritischen Zeitpunkt zusammengedrangt vorstellt, an dem der Jugendliche gleichsam zum ersten Mal, und zugleich unerbittlich und alles durchdringend, eine hypothetische Einstellung gegenüber den normativen Kontexten seiner Lebenswelt einnimmt, zeigt sich die Natur des Problems, mit dem jeder beim Übergang vor\. der konventionellen zur post-konventionellen Ebene des moralischen Urteils fertig werden muB. Mit einem Schlage ist die naiv eingewiihnte, unproblematisch anerkannte soziale Welt der legitim geregelten interpersonalen Beziehungen entwurzelt, ihrer naturwüchsigen Geltung entkleidet. Wenn dann der Jugendliche nicht zum Traditionalismus und zur fraglosen ldentitat seiner Herkunftswelt zurückkehren kann und will, muB er die vor dem hypothetisch entschleiernden Blick zerfallenen Ordnungen des Nor-
I Jürgen Habermas, »MoralbewuBtsein und kommunikatives Handeln<<, in: ders., Moralbewufltsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983, S. r36.
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mativen. (bei St~afe viilliger Orientierungslosigkeit) grundbegrifflich rekonstrUJ.eren. D1ese müssen aus den Trümmern der entwerteten, ais bloB k~nventwnell und rechtfertigungsbedürftig durchschauten Traditionen w1eder so zusammengesetzt werden, daB der Neubau dem kritischen Blick eines Ernüchterten standhalt, der nicht mehr anders kann, ais· fortan zwischen sozial geltenden und gültigen, faktisch anerkannten und anerkennungswürdigen Normen zu unterscheiden. Zunachst sind es Prinzipien, nach denen d.er Neubau ge~lant, gültige Normen erzeugt werden kiinnen; am Ende bieibt nurmehr eme Prozedur für die rational motivierte Wahl ~wi~chen den ihrerseits ais .rechtfertigungsbedürftig erkannten Prinzipien ubng. Gemesse.n a~ morahschen Alltagshandeln behalt der Einstellungswechsel, ~en d1e D1skursethik für die von ihr ausgezeichnete Prozedur, eben den Ubergang zur Argumentation, fordern muB, etwas Unnatürliches - er b~deutet einen Bru.ch mit d.er ~aivitat geradehin erhobener Geltungsanspruche, auf deren mtersubjekuve Anerkennung die kommunikative Allta~spraxis angewiesen ist: Di~se Unnatürlichkeit ist wie ein Echo jener Ent':"Ickl~ngskatastrophe, d1e d1~ Entwertung der Traditionswelt auch histonsch emmal bedeutet- und dJC Anstrengung zu einer Rekonstruktion auf hiiherer Ebene provoziert hat.«'
Der Übergang zum post-konventionellen MoràlbewuBtsein ist somit für Habermas gleichbedeutend mit der Entde~kung,, daB e.~ j~nseits des Mediums rationaler Argumentatwn keme moghchen Grundlagen norma tiver (o der auch kognitiver) Geltung gibt. Das post-konventionelle Moralbewufhsein verdankt sich einer reflexiven Einsicht in die Bedingung~n der Moglichkeit normativer Geltung. Diese These bezetchnet den Ausgangspunkt für Habermas' Reformulierung des Kantischen Moralprinzips, das heifh für seine diskursethische Reformulierung des Universalisierungsgrundsatzes. Diese Reformulierung des U niversalisierungsgrunds~tzes (U) lautet folgendermaBen: .
»So muB_jede gültig~ N?r~ der .Bedin~ung genllgen,- daB die Folgen und Neb~n';Irkungen, d1e s1ch JC'•':'ei!s aus 1hrer allgemeinen Befolgung für die Befned1gung der Interessen emes jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von alle_n Betroffenen akzeptiert (un4 den Auswirkungen der bekannten alternat1ven Regelungsmiiglichkeiten vorgezogen) werden konnen.<< (DE 75 f.)
r A.a.O., S. 136f.
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Habermas bezeichnet den U niversalisierungsgrundsatz auch als >>Argumentationsregek Als Argumentationsregel legt der Grundsatz (U) fest, woraufhin in moralischen Argumentationen zu argumentieren ist; er legt, so kõnnte man sagen, den Sinn der moralischen Soli-Geltung fest. Haberm~s behauptet nun, daB diese Argumentationsregel. nicht >>monologisch« angewendet werden kann, sondem threm Sinne nach den Übergang zu realen Diskursen verla1;1gt.
. ,, Tatsiichlich zielt die angegebene Formulierung des Verallgemeinerungsgrundsatzes auf eine kooperative Durchflihr~ng der je.weil~gen Argumentation. Zum einen kann nur eine aktuelle Tednahme emes Jeden Betroffenen der perspektivisch verzerrten Deutung der jeweils eigenen lnteressen durch andere vorbcugen. In diesem pragmatischen Sinn ist jeder selbst die letzte lnstanz für die Beurteilung dessen, was wirklich im eigenen Interesse liegt. Zum anderen muB aber die Beschreibung, unter ~er j~der se~ne lnteressen wahrnimmt, auch der Kritik durch andere zuganghch ble1ben. Bedürfnisse werden im Lichte kultureller Werte interpretiert: und da diese immer Bestandteil einer intersubjektiv geteilten Überlieferung sind, kann die Revision von bedürfnisinterpretierenden Werten keine Sache sein, über die Einzelne monologisch verfügen.<< (DE nf.)
Diese Erlauterung von Habermas bezeichnet ziemlich genau die blinden Flecke der Kantischen Ethik, auf die- unter freilich anderen Vorzeichen - auch schon Hegel hingewiesen hat. So intuitiv einleuchtend aber diese Erlauterung auch ist, so probl~matisch ist die Reformulierung des Universalisierungsgrundsatzes selbst. Das mõchte ich im folgend.en zeigen. Und zwar werde ich zunachst Habermas' Formuherung des Grundsatzes (U) und danach dessen Voraussetzung, die Konsenstheorie der Wahrheit, erõrtern. Auf den ersten Blick erscheint als eine besondere Starke des Grundsatzes (U), daB er Fragen des moralisch richtigen Handelns mit solchen der Normengerechtigkeit unmittelbar verknüpft. Recht und Moral werden auf diese Weise v~n vornherein durch einen für beide grundlegenden Begnff normativer Richtigkeit aufeinander bezogen. Diese Starke des Grundsatzes (U) erweist sich bei naherem Hinsehen freilich eher als eine Schwache: Die Rückbindung des
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Rechts an di~ Moral im Grundsatz (U) gelingt namlich nur um den Preis einer begrifflichen Assimilierung moralischer an Rechtsprobleme. Im Grundsatz (U) wird ein universalistisches Moralprinzip mit einem demokratischen Legitimitatsprinzip auf undurchsichtige Weise >>vermischt<~, und zwar so, daB er am Ende weder als Moralprinzip noch als Legitimitatsprinzip überzeugen kann. Diese These mõchte ich in vier Schritten erlautern. (1) Versucht ~an, was durch die Formulierung nahegelegt wird, den Grundsatz (U) als Legitimitats- (Gerechtigkeits-)Prinzip zu lesen, so ergibt sich folgende Schwierigkeit: Der Grundsatz (U) laBt die Frage offen, was es bedeutet zu sagen, daB jemand (ich) die Folgen, die die aligemeine Befolgung einer Norm für jeden einzelnen haben würde, >>Zwanglos akzeptieren kõnnte«; daher laBt er auch die Frage offen, was es bedeutet zu sagen, daB alie eine Norm
· in diesem Sinne akzeptieren kõnnen. Aus vielen Formulierungen von Habermas geht hervor, daB er den Ausdruck >>zwanglos akzeptieren kõnnen« im Sinne einer unparteiischen Urteilsbildung versteht; gemeint ware somit, daB eine Norm dann gültig ist, wenn alie von ihr Betroffenen sich davon überzeugen kõnnen, daB die allgemeine Befolgung dieser Norm >>im gleichmaBigen Interesse aller Betroffenen « liegt- wie Habermas denn auch an anderer Stelle sagt (vgl. DE 76). Dies also ware es, woraufhin zu argumentieren ware, wenn der Grundsatz (U) als Argumentationsregel >>angewendet« wird: In einer Argumentation über Normen würde jeder allen anderen zu zeigen versuchen, daB eine bestimmte Norm im gleichmaBigen Interesse aller liegt. Entsprechend ware der Grundsatz (U) ( abgekürzt) so umzuformulieren:
(U,) Eine Norm ist gültig genau dann, wenn ihre allgemeine Befolgung von allen Betroffenen ais gleichmiiBig im Interesse aller Betroffenen liegend beurteilt werden konnte.
Ob letzteres aber der Fali ist, das kõnnen wir, so Habermas, nur durch einen realen Diskurs herausfinden.
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<l.
Frageno wir ais nãchstes, was das Wort »gültig« bedeutet, das im Grundsatz (U) vorkommt. Auf diese Frage gibt es zwei mõgiiche Antworten. Wir kõnnten zunachst versuchen, das Prinzip (U) weiterhin ais Prinzip der Normengerechtigkeit zu Iesen. Dann ergabe sich die Antwort auf unsere Frage aus einer Bemerkung von Habermas im Zusammenhang seiner Abieitung des Universalisierungsgrundsatzes, wo es heiBt, daB »wir mit gerechtfertigten Normen den Sinn verbinden, daB diese gesellschaftlichen Materien im gemeinsamen Interesse der mõgiicherweise Betroffenen regein« (vgl. DE 103). Es Iiegt nahe, das Wort >>gerechtfertigt~< ais gieichbedeutend mit »güitig« zu verstehen; wenn aber >>güitig« genau jene Normen sind, von denen sich zeigen laBt, daB sie gesellschaftliche Materien im gemeinsamen Interesse der mõgiicherweise Betroffenen regein, und wertn wir ferner das durch den Grundsati (U) formulierte Kriterium der Normengültigkeit hinzunehmen, dann legt sich folgende, quasi-zirkuiare Reformulierung des Gnindsatzes (U) nahe:
(U,) Eine Norm liegt genau dann im gleichmaBigen Interesse aller von ihr Betroffenen, wenn si e von allen Betroffenen ais gleichmaBig im Interesse aller Betroffenen zwanglos akzeptiert werden kann.
Ich babe von einer quasi-zirkularen (und nicht schiicht von einer zirkuiaren) Formuiierurtg eines Gerechtigkeitsprinzips gesprochen, wdi in (U ,) verschiederte Ebenen zu unterscheiden sind, in denen der Ausdruck >>gieichmaBig im Interesse aller Betroffenen iiegend<< vorkommt. Erstens wird namiich unterstellt, daB die Betroffenen wissen, woraufhin sie argumentieren müssen, um zu zeigen, daB eine Norm gerechtfertigt ist; zweitens sagt (U,), daB erst ein zwangioser Konsens aller Betroffenen zeigen kann, ob eine Norm wirkiich >>iin gieichmaBigen Interesse aller }3etroffenen << iiegt. F reiiich ist e in e Deutung von (U) durch (U ,) deshaib unpiausibei, weil (U ,) ja eigentlich nichts anderes enthait ais die Anwendung einer allgemeinen Konsenstheorie der Wahrheit auf den speziellen Fali des Gerechtigkeits-
begriffs. Insofern ware (U ,) überhaupt kein spezielles Gerechtigkeitsprinzip. Auch unabhangig von den Probiemen einer Konsenstheorie der Wahrheit, auf die ich spater zurückkommen werde, hat unsere bisherige Deutung des Grundsatzes (U) in eine Sackgasse geführt. Offenbar war unsere erste Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Wortes >>gültig<< im Grundsatz (U) faisch. Habermas seibst hat freiiich eine andere Antwort nahegeiegt. Diese Antwort wird uns o zu einer Deutung des Grundsatzes (U) ais M oralprinzip führen. (~) Der Fehier unserer bisherigen Betrachtung iiegt darin, daB wir die Ausdrücke >>Norm<< und >>Befoigung einer Norm<<, die im Grundsatz (U) vorkommen, gieichsam naiv geiesen haben. Dies steht namiich im Widerspruch zu Habermas' eigener Erlauterung der >>Grammatik<< normativer Geltungsansprüche. U nd zwar deutet Habermas das moraiische >>soll<< oder >>muB<< ais ein >>hõherstufiges<< Pradikat, das dem Pradikat >>wahr<< anaiog ware (vgl. DE 63). Demnach ware di e ,, Tiefengrammatik« des Satzes
»Unter den gegebenen Umstanden soll man lügen«
wiederzugeben durch
»Unter den gegebenen Umstanden zu lügen, ist richtig (geboten)<<,
wobei das >>ist richtig<< gieichsam ais normatives Ãquivaient des Ausdruéks »ist wahr<< zu verstehen ware. Für Habermas ergibt sich somit eine strukturelle Paralleie zwischen
»Es ist wahr (der Fali), daB p«
und
>>Es ist richtig (geboten), daB h«. (DE 63)
In diesem Sinne iieBe sich dann norma tive Richtigkeit ais ein wahrheitsanaioger Geltungsanspruch verstehen. Diese Interpretation des Sinns von Soll-Aussagen würde die Mõgiichkeit erõffnen, das Wort >>gültig«, das im Grundsatz (U)
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vorkommt, als gleichbedeutend mit dem wahrheitsanalogen Pradikat >>richtig<< zu verstehen. Der Grundsatz (U) ware dann folgendermaBen zu lesen:
(U3) In Situationen S h zu tun, ist (moralisch) richtig (geboten), wenn die
entsprechende Handlungsweise ais allgemeine gedacht und hei Berücksichtigung ihrer voraussichtlichen Folgen für jeden einzelnen, von allen (Betroffenen) ais gleichmaBig im Interesse aller liegend zwanglos akzeptiert werden kõnnte.
Eine weitere mõgliche Lesart ware diese:
(U4
) In SituationenS h zu tun, ist (moralisch) richtig(geboten), wenn alie (zwanglos) wollen kõnnen, daB die entsprechende Handlungsweise - unter Berücksichtigung ihrer voraussichtlichen Folgen für jeden einzelnen - allgemein wird.
Das scheinbare Normenpradikat >>gültig« (>>gerechtfertigt«) ware also durch das normative Pradikat >>richtig« ersetzt;'in gewõhnliche Redeweise übersetzt, würden (U 3) und (U 4)
daher lauten:
>>Man muB in Situationen S h tun, wenn ... usw.<<
Statt dessen kõnnten wir auch,-ohne weitere MiBverstandnisse befürchten zu müssen, zur Formulierung von (U)·zurückkehren:
. ••Jede gültige Norm muB der Bedingung genügen, daB ... <<
Der Grundsatz (U) hat sich unterderhand als ein echtes Moralprinzip erwiesen. Wie steht es aber mit der vorausgesetzten Parallelisierung von >>Es ist wahr, daB p« und >>Es ist richtig (geboten), daB h«? Im ersten Fall gilt ja eine Ãquivalenz der Art
>>Es ist wahr, daB p genau dann wenn p<<,
wahrend im zweiten Fall die Ãquivalenz nur lauten konnte: I
>>Es ist richtig (geboten), daB h genau dann wenn X«,
wobei X für das durch den Grundsatz (U) formulierte Gültigkeitskriterium steht. Das bedeutet aber, daB der formalen
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Erlauterung des Pradikats >>wahr« eine materiale Erlauterung des Pradikats >>richtig« gegenüberstehen würde. Anders ausgedrückt: als >>wahr« ware dasjenige bestimmt, was berechtigterweise behauptet werden kann, ohne daB. aber hiermit ein Wahrheitskriterium gegeben ware; als >>richtig« dagegen ware dasjenige bestimmt, was im Sinne eines ganz bestimmten Richtigkeitskriteriums berechtigterweise gefordert werden kann. Der Sinn der (moralischen) Soll-Geltung ware somit durch ein Kriterium der moralischen Soll-Geltung a priori festgelegt. Ein Vergleich mit Kant legt sich nahe. Auch Kant hatte ja in gewissem Sinne den rationalen Sinn der moralischen (kategorischen) Soll-Geltung durch ein Kriterium der moralischen Soll-Geltung (den Kategorischen Imperativ) bestimmt. Laut Kant haben wir als. vernünftige Wesen ein entsprechendes kategorisches Sollen immer schon als berechtigt anerkannt; ihm zuwiderzuhandeln bedeutet, den Bedingungen unserer moglichen Selbstachtung als vernünftiger Wesen zuwiderzuhandeln. In diesem Sinne ist das unbedingte moralische Sollen, wie es durch den Kategorischen Imperativ zum A1,1sdruck gebracht wird, für Kant ein >>Faktum der Vernunft«. Ganz analog ware Habermas' Erlauterung des Sinns moralischer Geltung durch ein Kriterium moralischer Geltung zu verstehen als Hinweis auf eine universale Struktur sprachlich vermittelter Intersubjektivitat; im Unbedingtheitscharakter des moralischen Sollens kame zum Ausdruck, daB unsere mogliche Identitat als sprachfahiger Wesen an eine solche Struktur der Intersubjektivitat gebunden ist. Ich werde auf diesen Gedanken spater zurückkommen. Zunachst mõchte ich die Frage erõrtern, oh der Grundsatz (U), als Moralprinzip verstanden- also in einer der Fassungen (U
3) oder (U4) -, befriedigend i'st.
(3) Ich erinnere daran, daB der Grundsatz (U) als diskursethische Reformulierung des Kategorischen Imperativs verstanden werden soll. In diesem Sinne zitiert Habermas zustimmend McCarthy:
•Statt allen anderen eine Maxime, von der ich will, daB sie ein allgemeines Gesetz sei, ais gültig vorzuschreiben, muB ich meine Maxime zum Zweck derdiskursiven Prüfung ihres Universaiiditsanspruchs allen anderen vorlegen. Das Gewicht verschiebt sich von dem, was jeder ( einzeln) ais allgemeines Gesetz wollen kann, auf das, was alie in Übereinstimmung ais universaie Norm anerkennen wollen.<< (vgl. DE nr Wenn aiso Kant sagt; »man (d. h. ich, A. W.) muB wollen konnen, daB eine Maxime unserer Handiung ein allgemeines Gesetz werde: dles ist der Kanon der moralischen Beurteilung überhaupt«•, so soll der Grundsatz (U) das Gewicht von dem >>ich muB wollen konnen<< auf das »wir müssen wollen konnen« verschieben. Und die weitere These ware, daB wir nur durch einen realen Diskurs herausfinden konnen, ob wir wollen konnen, daB eine Maxime ais allgemeines Gesetz gilt. Nun geht es freiiich bei dem Kantischen PostuIat der Verallgemeinerbarkeit von Maximen gar nicht um di e Frage der Normengerechtigkeit. Das Postuiat veriangt vielmehr von mir zu prüfen, ob ich wohi in einer Weit Ieben wollte, in der- wie durch Naturgesetz- alie so handelten (insbesondere auch mir gegenüber), wie meine Maxime es naheiegt; ob ich aiso -wollen konnte, daB die durch meine Maxime ausgedrückte Handiungsweise allgemein wird. Wenn ich hier und im foigenden das Wort »Handlungsweise<< verwende, so ist es immer im Sinne von »Handlungsweise-in-Situationen-einer-Art« zu verstehen. Ich ziehe das Wort »Handlungsweise« (in diesem Sinne verstanden) dem Wort »Maxime« aus verschiedenen Gründen vor; der an dieser Stelle entscheidende Grund ist, daB ich den Anschein vermeiden mochte, als ware hier bereits von Normen die Rede- ais würde also genau jenes moralische »muB«. schon vorausgesetzt, dessen Sino und dessen Mogiichkeit Kant erst erklaren will. (Maximen, in anderen Worten, als »subjektive« Prinzipien des Handelns, muB man sich o~ne ein
r Vgl. Thomas McCarthy, Kritik der Ve~standigungsverhaltnisse. Zur Theorie von ]ürgen Habermas, Frankfurt 198o, S. 371.
2 GMS 54 (BA 57).
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T moraiisches »muB« formuiiert denken.) Nun habe ich bereits oben (Abschn. n) die These begründet, daB das Kantische Kriterium moralisch richtigen Handelns nur Sino macht, wenn mán es in einem negatorischen Sinne versteht: Jene Handiungsweisen, die ich als allgemeine wollen kann konnen - entgegen Kants eigener These - nicht schon di; morai~sch gesollten seio, was »gesollt« oder »gemuBt« ist, sagt v1eimehr der Kategorische Imperativ selbst: daB ich namli~h ei~e Handlung p in einer Situation S nicht tun darf, wenn 1ch eme entsprechende Handlungsweise nicht als all~ gemeine wollen kann. Wenn ich also nicht wolle~ kann daB jéder mich belügt, wenn er sich einen Vorteil davon 'verspricht, dano darf ich nicht lügen, nur weil ich mir einen Vorteil davon verspreche. Hieraus konnte man nun eine moralische Norm ableiten: Man darf nicht lügen- wobei man sich solche Normen aber immer zusammen denken müBte mit denjenigen Situationscharakterisierungen, aus denen die Nicht-Verallgemeinerbarkeit einer Handiungsweise sich ergibt. Versteht man den Kategorischen Imperativ in di.eser Weise, so ist der »monologische« Charakter des Kahtischen Moraiprinzips ein weniger g~avierendes Problem, als es bei Apel und Habermas erschemt: wenn namlich ich nicht wollen k~nn, daB eine Handlungsweise zur allgemeinen Regei w1rd, dano konnen auch wir es nicht wollen (denn andernfalls niüBte ja auch ich es wollen konnen). Im moralischen Urteil, so konnte man es auch ausdrücken, bin ich zunachst einmal mit mir selbst konfrontiert. Die Frage aber, die ich hierbei jeweils zu beantworten habe, ist ersichtlich von anderer Art ais die Frage, ob eine soziale Norm gerecht ist oder nicht. . Gleichwohl bleibt der Einwand richtig, daB Kant zu Unrecht angenommen habe, ein ernsthaftes moralisches U rteil sei eo ipso auch intersubjektiv gültig; daB also mein »Wollen-Konnen« oder »Nicht-wollen-Konnen« mit dem aller anderen rationalen Wesen notwendig koinzidieren müsse ..
Kant hat diese Annahrne nur machen kõnnen, weii er den · fruchtharen Gedanken der Grundlegung aishaid formaiistisch ausgearheitet hat. Wenn aher eine monoiogische Anwendung des Kategorischen Imperativs die intersuhjektive Güitigkeit moraiischer Urteiie nicht garantiert, dann ist es in der Tat naheliegend, die Kantische Voraussetzung ais ein Postulat zu formuiieren, etwa: Handie so, daB deine Handiungsweise von allen ais allgemeine gewollt werden kõnnte. In diesem Sinne ware auch die von Hahermas zitierte Umformuiierung des Kategorischen Imperativs durch McCarthy zu verstehen. . Nun scheint auch der Grundsatz (U) auf den ersten Biick dasseihe zu sagen: eine Handiungsweise ist richtig, wenn sie, ais allgemeine verstanden, für alle (Betroffenen) akzeptahei ware. (U) kommt dieser Lésart am nachsten. Freiiich müBten wir d;s Wort »richtig«, das in (U4) vorkommt, im Sinne von »moraiisch eriauht« statt im Sinne von »moraiisch gehoten« verstehen: Wenn namiich meine Bemerkungen zu Kant richtig waren, macht es keinen Sinn anzunehmen, daB die Handiungsweisen, die wir ais allgemeine wollen kõnnen, auch die nioraiisch gebotenen sind. Wir kõnnen aher diese Differenz zunachst auf sich heruhen iassen, da unsere jetzige Lesart des Grund$atzes (U) einer Reformulierung des Kategorischen Imperativs wie der foigenden:
>>Handle nur nach Maximen, von denen wir wollen konnen, daB sie ais allgemeine Gesetze gelten<<,
. zumindest sehr nahe kommt. Ich denke, daB (U 4) diejenige Lesart des Grundsatzes (U) ist, di e am wenigsten heiastet ist von konsenstheoretischen Pramissen. Ich werde. deshaih spater an diese Lesart anknüpfen. (4) Freiiich entspricht nicht (U 4), sondem viei eher (U 3) der Idee von Habermas, daB hei einer Argumentation üher moraiische Normen jeder einzeine eine Norm unparteiisch daraufhin heurteilen soll, oh die allgemeine Befoigung dieser Norm im gieichmaBigen Interesse aller iiegt. Kehren wir
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aiso noc~ einmai zu (U), gelesen im Lichte von (U 3), zurück. Wenn w1r (U) verstehen ais Erlauterung unseres Vorverstandnisses von moraiischer Geltung, dann hedeutet dies, daB in unseren moralischen Üherzeugimgen und in unseren moralischen Urteilen Urteile der Art impliziért sein müBten, daB die Folgen und Nehenwirkungen, die die allgemeine Befolgung einer hestimmten Norm für jeden einzelnen hahen würde, .von allen zwanglos akzeptiert werden kõnnten. Dies aher, so scheint mir, würde hegründete moralische Urteile zu einem Ding der Unmõglichkeit machen. Nehmen wir als Beispiel Normen wie »Neminem iaede« oder »Du sollst nicht lügen«. Wahrend eine einfache Üherlegung im Sinne des Kategorischen Imperativs zu dem Ergehnis führt, daB ich nicht wollen kann, daB in der Welt, in der ich lehe, nach Beliehen die Unwahrheit gesagt wird oder lehendig~ Wesen verletzt werden, stellt uns eine entsprechende Uherlegung im Sinne des Grundsatzes (U) vor ungeheure Prohleme. Der Einfachheit halher gehe ich davon aus, daB alle Menschen unter idealen Diskurshedingungen darin ühereinkommen würden, daB die allgemeine Befolgung der heiden ohen formulierten Normen, ideale Verstandigungshedingungen vorausgesetzt, im gleichmaBigen Interesse ailer liegen würde. Damit ist aher natürlich noch wenig darüher ausgesagt, wie wir unter realen Verstandigungshedingungen- also in der geschichtlichen Wirklichkeit, so wie sie ist - handeln sollen. Wenn wir aher versuchen, den Grundsatz (U) ais Beurteilungsprinzip für Handein unter nicht-idealen Bedingungen anzuwenden, ergehen sich die folgenden Schwierigkeiten: (a) Versuchen wir uns ais erstes klarzumachen, welche Folgen und Nebenwirkungen sich für jeden einzelnen ergehen würden, wenn die Norm »Du sollst nicht lügen« allgemein - und das kann ja, wenn die Worte »Norm« und »allgemein« hier einen Sinn hahen sollen, nur heiBen: ohne Ausnahme- hefolgt würden. Kant konnte das Lügen allgemein - d. h. ohne Ausnahme- verhieten, weil er sich um di e Foi-
gen nicht kümmerte. Wenn wir uns. aber .um die. F~.lge~ kümmern und wenn·wir annehmen, daB dte Welt 1m ubngen bleibt: wie sie ist, dann ist zu vermuten, daB die Folgen einer allgemeinen Wahrhaftigkeit die Opfer s~hwerer treffen müBten als die Henker: insofern konnte dte Norm »Du sollst nicht lügen« - rebus sic stantibus - nicht gültig sein. Ersichtlich müBten wir, um herauszufinden, wie unter den gegebenen Umstanden zu handeln richtig sei, kompliziertere Normen formulieren, mit Einschrankungen und Ausnahmeklauseln, etwa in dem Sin'ne, in dem H are es ( als eine freilich unabschlieBbare Aufgabe) postuliert hat. 1 Hierdurch wachst aber die Schwierigkeit der Aufgabe, die Folgen und Nebenwirkungen einer a~lgemeinen Normbefolgung für jeden einzelnen zu besttmmen und d~zu noch herauszufinden, ob alie diese Folgen und N ebenwtrkungen, die sich für jeden einzelnen ergeben würden, zwanglos a~zeptieren konnten, ins Ungeheuerliche. Auch der reale Dt~kurs kann hier am Ende nicht weiterhelfen. Solange wu namlich den Diskurs unter Bedingungen führen müssen, unter denen die Opfer sich durch Lügen vor den Henkern schützen müssen, ist ein zwangloser Konsens nicht vorstellbar; sobald aber ein allgemeiner Konsens real herbeigeführt werden konnte, würden die Bedingungen wegfallen, unter denen die erwahnten Ausnahmen und Einschrankungen notwendig waren. In jedem Fall macht es offensichtlich keinen Sinn anzunehmen, daB wir, unter nicht-idealen Verstandigungsbedingungen, unsere realen moralischen ~ro~ bleme durch die Herbei.führung realer Konsense losen konnten. Wo die Mõglichkeit der Verstandigung aufhõrt, konnen wir uns nur noch überlegen, was die Vernünftigen und U rteilsfahigen oder was di e von unserem Handeln Betroffenen, waren sie genügend vernünftig, gutwillig und urteilsfahig, sagen würden. Und in diesem Sinne ist natürlich in jedem moralischen Urteil ein moglicher rationaler Konsens antizipiert. Wenn wir aber in jeder - am Ende eben
r Vgl. oben, Abschn. m (Exkurs).
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doch immer wieder: monologischen- moralischen Überleg~ng zu einer Entscheidung der Frage kommen müBten, ob dte. Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgememen Normbefolgung- und hier müBte ja eine allgemeine Norm formuliert werden - für jeden einzelnen ergeben würden, von allen zwanglos akzeptiert werden kõnnten, dann würden wir niemals zu einem begründeten moralischen Urteil kommen kõnnen. (b) Eine andere Schwierigkeit ergibt sich, wenn wir Normen wie »Neminem laede« betrachten, von denen wir unterstellen dürfen, daB ein zwangloser Konsens darüber moglich sein müBte, daB ihre allgemeine Befolgung im gleichmaBigen Interesse aller liegt- und zwar auch dann, wenn wir von den nicht-idealen Bedingungen ausgehen, unter denen wir leben. DaB die Unterstellung der Mõglichkeit eines solchen Konsenses in diesem Falle sinnvõll ist, liegt daran, daB die allgemeine Befolgung einer Norm wie »Neminem laede« genau jene Bedingungen auBer Kraft setzen würde, unter denen Ausnahmen und Einschrankungen - etwa für den Fali der legitimen Selbstverteidigung, der Strafe usw.- faktisch notwendig sind. Gerade deshalb muB aber der Grundsatz (U) hier zu falschen, d. h. gegen unsere moralischen lntuitionen verstoBenden Resultaten führen: die- kontrafaktische - Unterstellung einer allgemeinen. Normbefolgung bedeutet in diesem Falle ja, daB Fragen der moralischen Richtigkeit mit Bezug auf ideale únd nicht auf reale Handlungsbedingungen beantwortet werden. (U) würde uns also gebieten, so zu handeln, wie wir, nach unserem freilich immer nur hypothetischen Urteil, unter idealen Verstandigungs- u~d Handlungsbedingungen tatsachlich handeln würden. Uberraschenderweise taucht an dieser Stelle ein Problem wieder auf, das schon in der Kantischen Ethik eine zentrale Rólle spielt: Kants >>praktische Gesetze« sind ja eigent!ich Handlurigsnormen für die Glieder eines moglichen Retchs der Zwecke. Kant war freilich konsequent und hat di e Mõglichkeit von Ausnahmen- etwa vom Lügenver-
,,.
hot- kategorisch hestritten. Genau diese Konsequen~ steht der Diskursethik nicht offen; sie widersprache 1hrem Grundansatz. Als Ausweg aus den hier angedeuteten Schwie~i~keiten hietet sich noch die Moglichkeit einer »EntdramatlSlerung« des Normhegriffs an. Man konnte den Ausdruck »Norm« etwa
· im Sinne von Hares »prima facie-Normen« verstehen; der Grundsatz (U) hatte es danri nur noch mit der Begründung jener Normen zu tun, hei denen ein zwangloser Konsens darüber moglich sein müBte, daB ihre allgemeine Befolgung unter idealeri Verstandigungs- und Handlungshedingungen im gleichmaBigen Interesse aller lage. Alies andere ware ~in Prohlem der richtigenAnwendung solcher Normen auf eme nicht-ideale Wirklichkeit. Ganz ahgesehen aher von den Prohlemen, die in den hier vorausgesetzten idealisierenden Begriffshildungen als so1chen stecken (ich komme darauf im nachsten Abschnitt zurück), scheint es mir klar, daB der
. ehen angedeutete Ausweg in Wirklichkeit keiner ist. Ich nenne nur den entscheidenden Grund: Der Grundsatz (U) verlore seinen Witz, wenn seine Anwendung auf jenen mo-· ralischen Elementarhereich heschrankt würde, in dem wir schon mit Kant leidlich zurechtkommen. Gemeint ist der Grundsatz (U) doch gerade als ein Prinzip der Beurteilung solcher Normen, die hei Kant gar nicht vorkommen konnen, weil Kànt die moralisch gültigen Normen als Hand-. lungsnormen für Glieder eines Reichs der Zwecke ver.steht. Wenn dies aber richtig ist, dann greift die Untersche1dung zwischen Prohlemen der Normenbegründung und Prohlemen der N ormenanwendung an dieser Stelle nicht. Die Prohleme und Unklarheiten, auf die wir hei unserer Diskussion des Grundsatzes (U) gestoBen sind, lassen sich, wie ich denke, zurückführen auf zwei prohlematische Vorentscheidungen von Hahermas. Die erste hetrifft die Angleichung von Fragen des ~ora~isch ri~htige~ Hand:Ins ~n Fragen der Normengerecht1gke1t (a), d1e zwe1te betnfft d1e konsenstheoretischen Pramissen der Diskursethik (h).
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I 1:
(a)~abermas h~t das ~oralprinzip so formuliert, als ginge es be1 der morahschen Uberlegung um die gleiche Frage wie hei einer Diskussion über die Gerechtigkeit sozialer Normen, die wir einführen oder nicht einführen, auBer Kraft setzen oder heibehalten konnen. Bei einer solchen Diskus· sion geht es ja tatsachlich um die Frage, ob alle von einer Norm Betroffenen die Folgen, die eine aligemeine Normbefolgung für jeden einzelnen hatte, als unparteiisch Urteilende müBten akzeptieren konnen, um di e Frage also, ob die Einführung oder Beibehaltung einer Norm »im gleichmaBigen Interesse alier« liegt. Paradigmatischer Fali einer entspreche~den Normeneinführung ware dt;r einmütige BeschluB emer Gruppe von Menschen, Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse nach bestimmten Regeln abzuwikkeln. An diesem Fali kann man namlich ablesen, daB zwar die kontrafaktische Untersteliung einer aligemeinen Normbefolgung für die Beurteilung der Gerechtigkeit der Norm· eine Rolie spielt, daB aber zum Urteil über die Normengerechtigkeit noch etwas anderes hinzukommen muB - in diesem Fali ein Beschlufi -, um eine entsprechende Handlungsverpflichtung zu konstituieren. Diese, aus einem gemeinsamen BeschluB resultierende Verpflichtung konnen wir als moralische verstehen; sie kann aber offensichtlich nicht in der gleichen Weise begründet sein wie das U rteil über die Gerechtigkeit einer Norm, die wir im Prinzip durch BeschluB einführen oder auBer Kraft setzen kõnnen. Kant hat die Differenz, um die es hier geht, durchaus beachtet. Sie laBt sich daher auch erlautern durch die unterschiedliche Art der Bezugnahme auf einen zwanglosen Konsens vernünftiger Wesen; wie sie in Habermas' bzw. in Kants Formulierung des Moralprinzips impliziert ist. Der Inhalt eines begründeten Konsenses im Sinne des Grundsat'zes (U) ware, wie wir uns klargemacht haben, das U rteil, daB di e allgemeine Befolgung einer bestimmten Norm im gleichmaBigen Interesse alier (Betroffenen) liegt. Der Inhalt eines »Kantischen« Konsenses im Falle moralischer Normen
ware dagegen, daB wir (als vernünftige Wesen~ nicht woll~n konnen, · daB eine bestimmte Handlungswe1se allgemem wird. Hierbei gehe ich mit Habermas davon .aus, daB das Kantische »ich« durch ein »wir« zu ersetzen 1st, was auch immer die Probleme sein mogen, die sich hieraus ergeben mogen. Unter dieser Vorausset~ung war~ die Antizi~ation eines vernünftigen Konsenses 1m morahschen U~te1l aus Kantischer Perspektive so zu denken,' daB der morahsch U rteilende etwa sagt: Ich kann nicht, und keiner von »uns« kann vernünftigerweise wollen, daB in dies~r Wei~e allgemein gehandelt wird. Das Wort »vernünftiger';e1S~« ~ezieht sich hier auf das >>wollen konnen«; ob w1r namhch faktisch etwa~.wollen konnen, das hangt von ~~ser~n Interpretationen, Uberzeugungen un? Selbstve.~sta~dmssen ab, und diese konnen mehr oder wemger >>vernunftig«, d. h. angemessen, begründet, richtig oder . auch. wahrhaftig. seio.
· >>Vetnünftigerweise« heiBt also sov1el W1e: wenn. w1~ uns selbst und dieWelt und die Situation der anderen ncht1g sehen. Hier nun sind argumentative oder auch kommunikative Klarungen, sind Lernprozesse im .Medi um von ~rgumentationen ohne Schwierigkeiten denkbar. Wenn wu aber die diskursive Dimension der Moral in dieser Weise verstehén dann kommen wir ohne eine Konsenstheorie der Wahrheit aus· wir konnen vielmehr, wie ich spater zeigen werde, die A~tizipation vernünftiger Konsense im morali-
' schen Urteilfallibilistisch verstehen. Wenn ~an dage~en als den Inhalt des vernünftigen Konsenses, der 1m morahschen Urteil >>antizipiert« ist, das gemeinsame :Urteil über die Gerechtigkeit einer Norm versteht, dann 1st kaum z.u sehen, wie ein solcher Gedanke anders als konsenstheoretisch aus-. formuliert werdenkonnte. Dies bringt mich zur zweiten der oben erwahnten problematischen Vorentscheidungen von Habermâs. · . (b) Da ich die Konsensthe~rie der Wahrh~~t aus~ührl.ich 1m folgenden Abschnitt vn erortern werd.e, m~chte 1~h h.1er nur noch einmal auf die Folgeprobleme hmwe1sen, d1e s1ch aus
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der konsenstheoretischen Vor~ntscheidung ergeben. Ich hatte oben auf die Paradoxien hingewiesen, die sich aus der Gegenü.berstellu~g von idealen und realen Verstandigungsoder D1skursbedmgungen ergeben, die gleichsam in den <?runds~tz (U) einge~aut ist. Diese Gegenüberstellung ist em unmittelbarer Ausdruck konsenstheoretischer Pramissen. Meine Kritik der Konsenstheorie wird dementsprechend zugleich eine Kritik der Idealisierungen sein, a.uf denen sie beruht. Was sich bisher gezeigt hat, ist, daB diese konsenstheoretischen Idealisierungen auch zu internen S~hw_ieri~keiten d~r J?is~urse.thik f~hren, Schwierigkeiten, d1e d1e Dtskurseth1k m eme stcherhch ungewollte Nahe zu Kant rücken. Indes bleibt noch zu zeigen, daB es wirklich die konsenstheoretischen Pramissen selbst sind und nicht Zufalligkeiten von Habermas' Formulierung des Grundsatzes (U), welche den Schwierigkeiten der Diskursethik zugrunde liegen.
VII
Die Grundthes~ der Konsens- oder Diskurstheorie der Wahrheit in ihrer Habermasschen Fassung ist, daB >>wahr« oder >>gültig« genau jene Geltungsansprüche genannt werden dürfen, über die ein diskursiver Konsens unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation herbeige(ührt werden ~onn~e. Habermas hat die Strukturen einer idealen Sprechsttuatwn, von denen er auch sagt, daB sie in jeder ernsthaften Argumentation ais wirklich unterstellt werden, durch eine Gleichverteilung der Chancen, verschiedene Arten von Sprechakten auszuführen, sowie durch das Merkmal der Freizügigkeit hinsichtlich eines Wechsels der Diskursebenen charakterisiert.' Durch di e Grundthese· der Konsens-
1 Zuerst in Jürgen Habermas, » Wahrheitstheorien«, in: Helmut Fahrenbach. (Hrsg.), W~rklichkeit und Reflexion. Festschrift für Walter Schulz, Pfullmgen 1973, msbes. S. 252 ff. Die nachfolgende Kritik berührt sich an
theorie wird somit erstens die »Rationaliüit« von Konsensen dur~h die formalen Strukturmerkmal: einer ideale_n Sprechsituation und wird zw~it~ns »Wahr~.ett« als Inhalt etnes rationalen Konsenses deftmert. Ich mochte demgegenüber zeigen, daB sich ( 1) di e Rationalitat vo~ Ko?~.ensen nicht formal charakterisieren laBt, (2) daB Rattonahtat und
. Wahrheit von Konsensen nicht zusammenfallen müssen, daB deshalb (3) der rationale Konsens ke.in W~hrheit~kr~terium sein kann und daB schlieBlich (4) eme mcht-kntenale Interpretation der ~onsenstheorie ~iese, ~en.n ni~?t gehal:los, so doch ungeetgnet machen wurde fur dte Stutzung etnes diskursethischen U niversalisierungssatzes. (
1) Meine These ist, daB unsere ~eurteilung von. Konsensen
als rational von unserer Beurtetlung unserer (etgenen oder gemeinsamen) <?ründe als :ri~tig abhangt. Di.ese ~bhangigkeit ist eine logtsche (begnffhche): der Begnff e~nes durch Gründe herbeigeführten ~onsenses setzt den emer ~u~ch Gründe herbeigeführten Uberzeugung voraus .. Nat~rhch ist zuzugestehen, daB wir einen Konsens dann mcht fur rational halten, wenn wir Grund zu der Annahme haben, daB einige der Teilnehmer nur zu~ Schein ode.r aus Furcht oder aufgrund psychischer Blo~kte~ung. z~sttmmen. lnso.~ern ware das Habermassche Kntenum m emem abgeschwachten Sinne richtig: Zum Begriff eines radonalen Ko.nsenses gehõrt, daB er auf gut~n Gründen_ be~uh~ u~d mcht auf Furcht usw. Dasselbe gtlt aber beretts fur dte Uberzeugu~gen einzelner: deren Rationalitat erweist sich daran, daB ste
auf guten Gründen b~r_uhen. . ·. .. . Nun gilt sicherlich tnvtalerwetse, daB wtr eme gememsam gewonnene Überzeugung für wahr hal~en werden,. und zwar kraft der Gründe oder Argumente, dte uns allen emgeleuchtet haben. U nd sofern wir uns wirklich gemeinsam von etwas überzeugt haben, dürfen wir. von einem rationalen
~inigen Punkten mit R. Zimmermann~ ausfü~rlich~: und .scharfs~.nniger Kritik der Konsenstheorie, in: Utopze-Rattonalttat-Poltttk, Munchen
r98 5, S. 303 ff.
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Konsens sprechen. So kann es also scheinen, als ob ein rationaler notwendigerweise auch ein wahr,er Konsens sei. Aber so sieht es nur aus der lnnenperspektiv~ der jeweils Beteiligten ~us: ~enn ich mit Gründen zustinüne, so heifit das ja, daB tch emen Geltungsanspruch für wahr halte. Die Wahrheitfo/gt hier aber nicht aus der Rationalitat des Konsenses, sondem aus der Triftigkeit der Grünâe, die ich für einen Geltungsanspruch anführen kann und von der ich mich überzeugt haben muB, bevor ich von der Rationalitat des Konsenses sprechen kann. Nun kõnnen sich solche Gründe aber im Prinzip immer nachtraglich ais unzureichend erweisen. Wenn .das ~ber geschieht, kann es unmõglich gleichbedeutend sem mtt der Entdeckung, daB ein früherer Konsens nicht rational war in dem Sinne, daB die Symmetrie- und Freizügigkeitsbedingungen der idealen Sprechsituation nicht realisiert waren. Wenn diese vielmehr formal charakterisierbar sein sollen, dann darf unser Urteil darüber, oh sie vorliegen, gerade nicht davon abhangen, welche Gründe wir jeweils für triftig halten. Andernfalls würde sich die kriteriale Bedeutung der Konsenstheorie in nichts auflõsen. Aber auch unabhangig davon gibt es starke Gründe dagegen, die Rationalitat mit der Wahrheit von Konsensen gleichzusetzen: Weshalb sollte der Konsens bedeutender Physiker des neunzehnten Jahrhunderts über die Wahrheit d~r Newtons~hen Theorie nicht rational gewesen sein (im Smne der Bedmgungen einer idealen Sprechsituation)? Dies kann doch nicht schon deshalb der Fali sein, weil wir in der Physik heute weiter sind. (2) Ebensowenig wie aus der Unwahrheit von Konsensen au.tomatisch de:en ~angel an Rationalitat folgen kann ( es se1 denn, man zteht stch auf tautologische Begriffserklarungen zurück), kann aus der Rationalitat von Konsensen deren Wahrheit folgen. Nur aus der lnnenperspektive der jeweils Beteiligten fallt beides, Konsens-Rationalitat und Wahrheit zusammen. Das kann a~er nicht bedeuten, daB die Rati.ona~ litat des Konsenses ein zusatzlicher Wahrheitsgrund ist.
Dies zu behaupten ware ebe~~o falsch, als wenn ich neben den Gründen, di e ich für eine Uberzeugung habe, auch noch die Tatsache, daB meine Überzeugung gut begründet ist, als einen zusatzlichen Wahrheitsgrund anführen wollte. Mein begründetes Für-wahr-Halten kann jedenfalls für mich kein zusatzlicher Grund für .die Wahrheit des Für-wahr-Gehaltenen sein; ebensowenig kann unser begründetes Für-wahrHalten für uns ein zusatzlicher Grund für die Wahrheit des Für-wahr"-Gehdtenen sein. Mit anderen Worten: Das Faktum des Konsenses, selbst wenn er unter idealen'Bedingungen eintrate, kann kein Grund für die Wahrheit des für wahr Gehaltenen sein. Dann sind wir aber auf die Gründe oder Kriterien der Wahrheit zurückgeworfen, die uns immer · schon verfügbar sind, wenn wir den Sinn von Geltungsansprüchen verstehen. Nur dann konnten wir aus der Rationalitat auf di e Wahrheit von Konsensen schlieBen, wenn wir eine ausreichende Urteilsfahigkeit aller Beteiligt~n unter die Bedingungen einer idealen Sprechsituation aufnahmen. Dann aber lieBen sich erstens di e Bedingungen einer idealen Sprechsituation nicht mehr formal charakterisieren, und zweitens würde die Konsenstheorie der Wahrheit sich im
· wesentlichen auf die These reduzieren, daB wahr genau die Geltungsansprüche sind, über die unter den genügend Urteilsfahigen ein zwangloser Konsens herbeigeführt werden kann. Diese These ware aber ohne jeden substantiellen Gehalt. Die Konsenstheorie als eine gehaltvolle Wahrheitstheorie steht und fallt mit einer formalen Charakterisierung der Rationalitat von Konsensen; aber gerade diese formale Rationalitatsbedingung macht sie falsch. Wenn man dagegen, was nach dem Vorangegangenen naheliegt, den Rationalitatsbegriff nicht-formal zu fassen versucht, wird die Konsenstheorie leer. (3) Nun ist freilich Habermas von einer kriterialen Interpre-tation der Konsenstheorie inzwischen abgerückt.' Und
I Vgl. etwaJürgen Habermas, »Ein Interview mit der New Left Review<<, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt I985, S. 228. Habermas
zwar gesteht er zu, daB wir in einem gewissen Sinne immer schon wis~en müssen, was gute Gründe sind, um überhaupt argu~ent1~re~ zu konnen. Ob aber solche »guten« Gründe letz.tltch ?mrezchend gute <?ründe sin~, dies, so sagt er jetzt, »Zet?t« stch erst unter Bedmgungen emer idealen Sprechsitu~twn. I Ich mochte diese neue Wendung des Gedankens bet ~aberm~s zum AnlaB nehmen, um noch einmal die eigentl~che Pomte der Konsenstheorie, so wie ich si e verstehe, deuthch zu mache(ol. Wenn Habermas sagt, daB erst der Kor:sens unter Bedmgungen einer idealen Sprechsituation »Zetgen« kann; ob unsere Argumente wirklich hinreichend gute. Argumente sifold, so trifft er damit eine spezifische Verg:~wtsserungsfunkuon von Konsensen: Durch die Herbeifuhrung von ~o.nsensen vergewissern wir uns gemeinsam desse~, daB ~1r (Jeder vo~ »uns«) di e Dinge wirklich von ei-
. nem offenthchen, von em em allgemeinen Standpunkt aus sehen, des~en also,. daB nicht Idiosynkrasien, Blockierun~~n.' Er~10t1onen, wtshful thinking, Trübungen der U rteilsfahtgkett usw. unser U rteil verzerren und daB unsere Überzeugungen oder Gründe auch einem erneuten Diskurs unter g~_nügend Gutwilligen und Urteilsfahigen standhalten konnten .. Im Kons~ns vergewissern wir uns, daB wir den Boden emer gememsamen Welt oder einer gemeinsamen Sprache nicht verlassen haben oder daB, wenn wir ihn verla~sen ~abe~ - und das geschieht ja gewissermaBen immer · wteder m Wtssenschaft und Philosophie-, wir es mit Gründe.~ 9etan haben, die eine neue, bessere Gemeinsamkeit mo.ghch mache~. ~u~ kann man ~iesen internen Bezug zwtsc~en der ?ul.ugkett von Wahrhettsansprüchen und der Gemems~m~ett·emer Welt verschieden auffassen; die Konsenstheorte 1st der Versuch, ihn nicht-relativistisch zu fas-
fügt an der betref~enden Stel!e allerdings einschrankend hinzu, daB die Kon~ens- bzw: Drskurstheone der Wahrheit zugleich »die klare Unter-scherdung zwrschen Bedeutung und Kriterium (untergrabt) a a 0 S. 228. <<, • • .,
I Briefliche Mitteilung.
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sen. Um das deutlich zu machen, mõchte ich zwischen zwei Formen der Gemeinsamkeit oder des Einversüindnisses in der Sprache unteischeiden. Die erste Form liegt vor in der immer schon vorauszusetzenden Gemeinsamkeit einer Sprache. Was diese Gemeinsamkeit betrifft, so kõnnen wir - mit Wittgenstein - sagen, daB das, was »richtig« und »falsch« bei der Verwendung von Worten oder auch hinsichtlich unserer Urteile heiBt, letztlich durch eine intersubjektive Praxis festgelegt ist. In gewissem Sinn ist daher die Übereinstimmung der erwachsenen Sprecher einer Sprache das Kriterium dafür, ob ein Wort richtig oder falsch verwendet oder ob eine Behauptung wahr ist. >>Zur Verst::indigung durch die Sprache gehõrt«, wie Wittgenstein sagt, »nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondem (so .seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen.« 1 Hier geht es aber nicht um argumentativ herbeigeführte Konsense; sondem um ein Einverstandnis in der Sprache, welches Argumentationen überhaupt erst mõglich macht. Freilich geschieht es immer wieder, daB solche »naturwüchsigen« Einverstandnisse in der Sprache mit Gründen hinterfragt werden; die Wissenschaft etwa lieBe sich in bestimmten Hinsichten als ein ProzeB fortlaufender, im Medium der Argumentation stattfindender Sprachkritik auffassen. Dies legt den Gedanken nahe, daB im Prinzip an die Stelle »naturwüchsiger« Einverstandnisse in der Sprache ein diskursiv herbeigeführtes Einverstandn,is über di e Angemessenheit sprachlicher Regeln und Grundbegriffe, kurz, über die Angemessenheit unserer sprachlichen Weltauslegung treten kõnnte. Habermas hat (in » Wahrheitstheorien«) in der Tat eine solche diskursive Form der Sprachveranderung und Sprachkritik als mõglich und in gewissem Sinne sogar notwendig ins Auge gefaBt: Von wahren Aussagen im vollen Sinne kõnnen wir, so Habermas, erst dort reden, wo auch die Sprache, in der wir solche Aussagen
I Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Schriften Bd. I, S. 389 (§ 242).
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formulieren, »angemessen« ist1; von einer »angemessenen«
Sprache aber kõnnten wir erst dort reden, wo auch die Sprachentwicklung sich im Medium der Argumentation vollziehen würde, das heiBt also dort, wo der rationale Konsens über Geltungsansprüche einen rationalen Konsens über di e Angemessenheit der Sprache einschlieBt. • Auf diese Weise würde also das von Wittgenstein analysierte, je vorgangige Einverstandnis in der Sprache gleichsam in den Sog der diskursiven Revision unserer Überzeugungen hineingezogen. Erst durch eine solche Annahme wird die Pointe der · Konsenstheorie ganz deutlich: Wenn man namlich zugesteht, daB auf einer ersten Stufe das Einverstandnis der Sprecher einer Sprache eine Art vorlaufig letzter MaBstab der Wahrheit oder Falschheit von Aussagen ist, und wenn man zugesteht, daB eine diskursive Revision solcher Einverstandnisse im Prinzip mõglich ist, so liegt es nahe zu sagen, daB zwar nicht der faktische, wohl aber ein rationaler, d. h. diskursiv herbeigeführter Konsens eine letzte Instanz der Vergewisserung der Wahrheit unserer Geltungs:;J.nsprüche ist. Zugleich wird deutlich, weshalb die Rationalitat eines solchen Konsenses nur noch formal charakterisiert werden darf. Es scheint namlich nur zwei Mõglichkeiten zu geben: Entwederwir sagen, daB jede Sprache, jede Lebensform ihre eigenen MaBstabe von »wahr« und ,falsch« in sich enthalt, und zwar so, daB die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit dieser MaBstabe sich nicht mehr sinnvoll stellen laBtdies ist die Antwort, die auf der Ebene des Kulturvergleichs Peter Winch, auf der Ebene des Theorienvergleichs Thomas Kuhn gegeben hat. Oderwir halten, gegen diese tiefbeunruhigende These des Relativismus, an der Unbedingtheit von Wahrheitsansprüchen fest und daher an der Mõglichkeit eines MaBstabs, der jede partikulare Sprache und jede partikulare Lebensform übergreift. Die Gegenthese zur Position des Relativismus ware also, daB nicht di e faktische Überein-
I »Wahrheitstheorien<<, a.a.O., S. 244. 2 A.a.O., S. 249.
stimmung der Sprecher einer Sprache die letzten MaBstabe von Wahrheit und Falschheit liefert, sondem nur diejenige Überein~timmung, die sich àls rationaler Konsens deuten laBt. Und hier darf nun, was >>rational« heiBen soU, ersichtlich nicht wieder durch die inhaldichen RationalitatsmaBstabe einer bestimmten Kultur erklart werden; es muB vielmehr durch rein formal e Merkmale definiert werden. Es liegt also in der Konsequenz ihres anti-relativistischen Ansatzes, wenn die Konsenstheorie der Wahrheit die Strukturmerkmale einer idealen Sprechsituation zum Definiens der Rationalitat von Konsensen macht. (4) Nun gilt aber für die von Habermas neuerlich betonte >>Zeige-<< oder Vergewisserungsfunktion rationaler. Konsense das gleiche, was ich bereits über ihre kriteriale Funktion gesagt habe. Die Tatsache namlich, daB wir uns durch die diskursive Herbeiführung von Konsensen vergewissern konnen, daB unsere Gründe w1rklich gute Gründe sind, andert nichts daran, daB jeder Konsens unter Vorbehalt steht. Wenn aber daraus, daB Gründe sich uns in einem endlichen ràtionalen Konsens als hinreichend gute Gründe zeigen, nich~ notwendigerweise folgt, daB sie sich auch auf Dauer als hinreichend gute Gründe bewahren werden, dann kann auch die unbestreitbare Vergewisserungsfunktion von Konsensen die schwere Bürde einer Konsenstheorie der Wahrheit nicht tragen. Als Ausweg aus dieser Schwierigkeit legt sich der Versuch nahe, die kriteriale oder auch die Vergewisserungsfunktion von Konseilsen einem infiniten rationalen Konsens zu übertragen.' Ein infiniter rationaler· Konsens ware ja ein Kon-
r Dies entsprache eher dem Ansatz Apels. Für besonders pragmmte Formulierungen vgl. Kari-Otto Apel, »Szientismus oder transzendentale Hermeneutik<<, in: ders.; Transformation der Philosophie, Bd. n, Frankfurt 1973, z. B. S. 192, 207. Allerdings unterscheiden sich die Ansatze von Apel und Habermas zum Teil nur in ihren Ausgangspunkten und Akzentsetzungen; was die Resultate betrifft, so ist die Differenz nicht immer ganz leicht zu bestimmen. Apel beruft sich z. B. auf Habermas, wenn e r di e Notwendigkeit der Unterstellung einer »idealen Sprechsituation« ais Bedin-
sens, der niemals mit Gründen in Frage gestellt wird. In diesem Falle entfallt daher das Problem, das sich daraus ergibt, daB jeder endliche rationale Konsens unter Vorbehalt steht und daher kein Explikat für >> Wahrheit« sein kann. Dies Problem lieBe sich in der Habermasschen Version der Konsenstheorie- wie ich oben gezeigt habe- nur dadurch um-
gung der Moglichkeit des Argumentierens postuliert. (Vgl. etwa k.-0. AP,el, ••Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen<i, in: K.-0. Apel (Hrsg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt 1976, S. 121). Umgekehrt ist natürlich für Habermas der rationale Konsens (also ein unter Bedingungen einer idealen Spechsituation erzielter Konsens) eo ipso auch ein moglichcr infiniter Konsens. (V gl. » Wahrheitstheorien«, a.a.O., S. 2 39: » ... der Sinn von Wahrheit ist nicht der Umstand, dall überhaupt ein Konsens erreicht wird, sondem: dall jederzeit und überall, wenn wir nur in einen Diskurs eintreten, ein Konsens unter Bedingungen erzielt werden kann, di e diesen ais begründeten Konsensus auszeichnen.<<) Dall ich die (für Habermas selbstverstandliche) Bedingung der infiniten Wiederholbarkeit rationaler Konsense nicht von vomherein in meinen Überlegungen berücksichtigt habe, hat einen einfachen Grund: Solange das Vorliegen der formalen Bedingungen einer idealen Sprechsituation ais Kriterium der Wahrheit von Konsensen ver'standen wird (vgl. »Wahrheitstheorien<<, a.a.O., S. 239f.), ist die Mõglichkeit eines infiniten Konsenscs bloll eine Folge der (durch formale Bedingungen definierten) R,ationalitat von Konsensen. Das eigentliche Explikat des Wahrheitsbegriffs ist also nicht der infinite, sondem der rationale Konsens. Hiergegen richteten sich zunachst meine Einwa~de: Ich babe zu zeigen versucht, dall die - formal charakterisierten - Strukturmerkmale idealer Sprechsituationen kein geeignetes Wahrheitskriterium darstellen konnen; entweder ist das Kriterium falsch oder es Hiuft leer, ist also ·kein Kriterium. Wenn man nun den von Habermas unterstellten Zusammenhang zwischen der Rationalitat und der infiniten Wiederholbarkeit von Konsensen berücksichtigt, wird deutlich, dall die ideale Sprechsituation von Anfang an eher im Sinne eines leerlaufenden Kriteriums konzipiert ist. Wenn namlich aus der Rationalitat von Konsensen rein analytisch ihre infinite Wiederholbarkeit folgt, so ergibt sich ebenfalls rein analytisch, dall ein Konsens, der sich nachtriiglich als falsch, ais nicht kritikfest erweist, nicht unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation zustandegekommen sein kann (vgl. » Wahrheitstheorien«, a.a.O., S. 257f.). Dann ware aber in Wirklichkeit die Permanenz von Konsensen das Kriterium ihrer Rationalitat (ihrer Wahrheit). Dies ist die zweite Variante der Konsenstheorie, die eher den Grundintuitionen von Ape1 entspricht.
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gehen, daB eine zureichende Urteilsfahigkeit aller Beteiligten unter die Strukturmerkmale einer idealen Sprechsituation aufgenommen würde. Dann lieBen sich ideale Sprechsituationen jedoch nicht mehr durch rein formale Strukturbeschreibungen charakterisieren, gerade dies ist aber notwendig, wenn der Begriff eines >>Konsenses unter
· Bedingungen einer idealen Sprechsituation« ein gehaltvolles Explikat für >> Wahrheit« sein soll. Wenn man beim Konsensbegriff der Wahrheit dagegen an einen infiniten rationalen Konsens denkt, so entfallt dies Problem: Die Idee eines infiniten rationalen Konsenses enthalt ja mit der Unterstellung der Rationalitat zugleich die Unterstellung, daB keine neuen Argumente mehr auftauchen werden (und natürlich keine unterdrückt werden). Nun kann aber ein infiniter rationaler Konsens nicht nur keine kriteriale, sondem strenggenommen auch keine Vergewisserungsfunktion mehr haben: Er ist kein >>Gegenstand moglicher Erfahrung«, sondem eine Idee, die über die Grenzen mogliéher Erfahrung hinausweist. Damit andert sich áuch der mogliche Sinn einer Konsenstheorie der Wahrheit: wenn nicht jeder rationale Konsens, s.ondem nur ein infiniter rationaler Konsens wahrheitsverbürgend sein soll, dann verliert die Theorie wiederum jenen explikativen Gehalt, d~m Habermas ihr geben mochte. Das konnen wir uns anhand von Habermas' neuester Darstellung des Grundgedankens der Konsenstheorie klarmachen. 1 »Der Kem der Diskurstheorie der Wahrheit<<, so heiBt es bei Habermas jetzt, >>laBt sich mit Hilfe von drei Grundbegriffen formulieren:
Geltungsbedingungen (di e erfüllt sind, wenn eine Auílerung gilt), Geltungsansprüche (die Sprechcr mit ihren Auílerungen für deren Gültigkeit erheben) und Einlosung eines Geltungsanspruchs (im Rahmen eines Diskurses, der den Bedingungen einer idcalen Sprechsituation hinreichend angenahert ist, so daí! ein unter den Teilnehmern erzielter Konsens einzig
I >>Ein Interview mit der New Left Review«, a.a.O., S. 227ff.
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durch den Zwang des besseren Arguments herbeigeführt werden kann und in diesem Sinne >rational motiviert< ist).<< 1
Die Pointe der Konsenstheorie besteht nun dariri, daB sie, was >>Erfüllung von Geltungsbedingungen« heiBt, mit Hilfe der beiden anderen Grundbegriffe erlautert:
Eine A~Berung ist gültig, wenn ihre Gültigkeitsbedingungen erfüllt sind. Nun lassen sich aber ... di e Erfüllung o der Nichterfüllung von Geltungsbedingungen nur mit Hilfe der argumentativen Einliisung eines entsprechenden Geltungsanspruchs feststellen. Deshalb mui! der Sinn der Erfüllungvon Geltungsbedingungen anhand des Verfahrens für die Einliisung entsprechender Geltungsansprüche erlautert werden. Di e Diskursethik der Wahr-
. heit unternimmt einen solchen Erlauterungsversuch, indem sie in Begriffen allgemeiner pragmatischer Voraussetzungen für die diskursive Herbeiführung eines rational motivierten Einverstandnisses erklart, was es heií!t, einen Geltungsanspruch einzuliisen. Diese Wahrheitstheorie leistet nur eine Bedeutungsexplikation, si e gibt kein Kriterium an; zugleich untergrabtsie freilich die klare Unterscheidung zwischen Bedeutung und Kriterium.<< 2
Versteht man die >>Einlüsung« von Geltungsansprüchen hier im Sinne der argumentativen Herbeiführung eines Konsenses unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation, so bleiben die oben .~argelegten Einwande gegen die Konsenstheorie in Kraft. Ubertragt man dagegen die Funktion der Wahrheitsverbürgung einem infiniten rationalen Konsens, so kann von einer Einlosung von Geltungsansprüchen strenggenommen überhaupt nicht mehr die Rede sein; hierdurch würde sich zugleich der explikative Zusammenhang der drei Grundbegriffe, wie Haberma:s ihn konstruiert, auflosen. Diese Schwierigkeit laBt sich aber nicht dadurch umgehen, daB man den partikularen ( erfahrbaren) Konsens gleichsam mit dem infiniten Konsens >>kurzschlieBt«. Wenn man namlich sagt, daB ein rationaler Konsens- als rationaler- per definitionem ein infinit wiederholbarer Konsens ist, dann macht man in Wirklichkeit nicht den infiniten Konsens, sondem den Konsens unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation zur wahrheitsverbür-
I A.a.O., S. 227. 2 A.a.O., S. 228.
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. genden Instanz, und alle Einwande bleiben in Kraft, die ich gegen diese Version der Konsenstheorie angeführt habe. Das heiíh: Die Moglichkeit eines infiniten Konsenses· kann nicht allein daraus folgen, daB ein Konsens unter den (formal charakterisierten) Bedingungen einer idealen Sprechsituation herbeigeführt worden ist - genau dies war ja die Pointe meiner Einwande. Die Moglichkeit eines infiniten Konsenses zu unterstellen bedeutet in Wirklichkeit mehroder anderes - als die Rationalitat eines partikularen Kons.enses im Sinne der formalen Charakterisierungen einer idealen Sprechsituation zu unterstellen. Dieses >>Mehr« hangt damit zusammen, daB, um es noch einmal zu sagen, der Begriff eines mit Argumenten herbeigeführten Konsenses sinnvollerweise nicht gleichgesetzt werden kann mit dem Begriff eines Konsenses, gegen den auch in aller Zukunft keine triftigen Argumente werden vorgebracht werden konnen. Andernfalls müBte man namlich die Bedingung, daB alle moglichen Argumente berücksichtigt worden sind, unter die Rationalitatsbedingungen endlicher Konsense aufnehmen. Dies ist aber unmoglich, es sei denn, man
· machte di e Moglichkeit eines infiniten Konsenses zum Kriterium dafür, daB die Rationalitatsbedingungen endlicher Konsense erfüllt sind. Dann lieBen sich diese ·aber nicht mehr formal charakterisieren - namlich durch das Verfahren der Argumentation und die Strukturmerkmale einer idealen Sprechsituation. Wie sich jetzt zeigt, konnte man zwischen einer starkeren und einer schwacheren Version der Konsenstheorie der Wahrheit unterscheiden. Die schwachere Version ist diejenige, die einen infiniten rationalen Konsens zur wahrheitsverbürgenden Instanz macht. Die beiden Versionen der Konsenstheorie lassen sich deshalb nicht miteinander zur Deckung bringen, weil sich aus der formalen Charakterisierung idealer Diskursbedingungen keine Garantien dafür ableiten lassen, daB eín unter solchen Bedingungen erzielter Konsens einer infiniten diskursiven Überprüfung standhal-
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ten wird. Aber konnte es nicht sein, daB sich auf dem Umweg über die schwachere Version der· Konsenstheorie - die sich, wie gesagt, nicht mehr kriterial verstehen laBt - die starken Hintergrundannahmen rechtfertigen lassen, die der diskursethischen Reformulierung des Universalisierungsgrundsatzes zugrunde liegen? Dieser Frage mochte ich im nachsten Abschnitt nachgehen.
VIII
Ich habe es bisher vermieden, di e beiden oben unterschiedenen Versionen der Konsenstheorie eindeutig mit den Namen Habermas und Apel zu verbinden; Der Grund hierfür ist, daB erstens beide Autoren bis zu einem gewissen Grade beide Versionen der Konsenstheorie in Anspruch nehmen und daB zweitens Apels Version der Konsenstheorie an einem wesentlichen Punkte über das hinausgeht, was ich hier als die >>schwachere« Version der Konsenstheorie bezeichnet habe. Diese schwachere Version der Konsenstheorie lieBe sich verstehen als die Erlauterung des internen Zusammenhangs zwischen der Idee der Wahrheit und der Idee eines moglichen allgemeinen, begründeten Einverstandnisses. Diese beiden Ideen, so konnte man sagen, erlautern einander wechselseitig: Zur Idee der Wahrheit gehort es, daB es gegen das, was wir jetzt als wahr einsehen, auch in Zukunft keine triftigen Gegenargumente geben wird, und dies schlieBt ein, daB auch unsere Art, über die Welt zu reden und unsere Probleme zu formulieren, nicht künftig mit guten Argumenten in Frage gestellt werden wird. Andererseits ist schwer zu sehen, in welchem Sinne ein infiniter begründeter Konsens nicht auch wahr genannt werden sollte; jedenfalls konnte man argumentieren, daB dies nur denkbar ware, wenn wir den problematischen Begriff einer nicht erkennbaren oder sprachlich nicht faBbaren Wahrheit einführen würden.
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Apels Version der Konsenstheorie unterscheidet sich nun von dieser >>schwacheren« Version der Konsenstheorie darin, daB er die Idee eines infiniten (hegründeten) Konsenses durch di e Idee einer unhe'grenzten idealen Kommunikationsgemeinschaft erlautert. Di e Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft hezeichnet hei Apel - ahnlich wie die Idee der idealen Sprechsituation hei Hahermas.- zugleich eine für Argumentationssituationen konstitutive notwendige Unterstellung und ein futurisch gemeintes Ideal hzw. eine regulative Idee. In heiden Fallen kennzeichnet di e idealisierende Unterstellung- hzw. Antizipation- zugleich die Bedingungen, die die Rationalitat moglicher Konsense garantieren. Nun hatten wir uns aher erstens klargemacht, daB die Idealitat von Diskurshedingungen. die Wahrheit von Konsensen so lange nicht garantieren kann, als diese Konsense partikular- d. h. endlich und erfahrhar- sind, und wir hatten uns zweitens klargemacht, daB wir die Rationalitat von Konsensen faktisch immer nach MaBgahe der Gründe heurteilen müssen, auf denen sie heruhen. I-lieraus ergiht sich aher, daB die Idealisierung im Begriff der idealen Kommunikationsgemeinschaft gleichsam leerlauft: Sie tragt nichts hei zu unserem Verstandnis dessen, was ein hegründeter Konsens - oder auch ein infiniter hegründeter Konsens - ist: Andererseits suggeriert aher der Begriff einer idealen Kommunikationsgemeinschaft einen zukünftigen Ort endgültiger und ahsoluter Wahrheit, er suggeriert die Idee einer letzten Sprache, in der nicht nur die Wissenschaft an ihr Ende gekommen, sondem auch die Menschheit sich selhst vollkommen transparent geworden ware. GewiB: für Apel handelt es sich hier nur um regula tive Ideen; für ihn hezeichnen diese regulativen Ideen aher ideale Grenzwerte, die zu realisieren - wenn auch vielleicht nur approximativ - der Menschheit zugleich aufgegehen und auch moglich ist. 1 Aus Prasuppositionen des Sprechens und Argumentie-
1 Apel sagt freilich auch, daB es sich um eine regulative Idee handelt,
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rens sind Ideale der Wirklichkeit geworden, auf deren Realisierung wir- und dies ist hereits der Kern der Diskursethik - als Sprecher und Argumentierende immer schon verpflichtet sind. DaB an dieser Konstruktion etwas nicht stimmen kann, zeigte sich hisher nur an der eigentümlichen Redundanz der idealisierenden Begriffshildungen in Hinsicht 01-uf das Wahrheitsprohlem. Nun konnte man, wie ich meine, durchaus zugestehen, daB diese idealisierenden Begriffshildungen, wie Apel und Hahermas es hehaupten, an unvermeidliche idealisierende Prasuppositionen des Sprechens und Argumentierens anknüpfen; ich vermute aher, daB sie solche idealisierende Prasuppositionen in irreführender Weise aufnehmen und interpretieren. Es laBt sich ja leicht zugestehen, daB die Antizipation eines infini~en Konsenses - wie auch di eU nterstellung einer >> idealen Sprechsituation «-in jedem diskursiv herheigeführten Konsens wirksam ist. Unvermeidliche U nterstellungen dieser Art werden aher von der Konsenstheorie der Wahrheit, so scheint es mir, in ahnlicher Weise hypostasiert, wie die ehenso unvermeidliche Unterstellung, daB unsere Worte und Satze einen definitiven intersuhjektiven Sinn hahen, von der formalen Semantik hypostasiert wird. Solche unvermeidlichen Unterstellungen des Sprechens und Argumentierens führen, wie ich denke, einen quasi·transzendentalen, einen dialektischen Schein mit sich; in ihnen vergessen wir gleichsam den Zeitkern sprachlicher Bedeutungen und sprachlich formulierharer Einsichten, dessen wir uns reflexiv vergewissern konnen. Nur wo hermeneutische Prohleme und Prohleme des sprachlichen Ausdrucks marginal werden- wie z. B. in.der mathematischen Physik -, konnen wir di e unvermeidlichen Unterstellungen des Sprechens und Argumentierens im die niemals >>vollig realisiert werden<< kann. Vgl. K.-0. Apei/D. Bohler/G. Kadelbach, Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge 2,
Frankfurt 1984, S. 136. Vgl. auch »Kant, Hegel und das aktuelle Problem der normativen Grundlagen von Moral und Recht<<, in: Arno Werner, (Hrsg.), Filosofi och Kultur, Lund 1982, S. 85.
Sinne von Apel und Habermas gewissermaBen realistisch verstehen, nur dort macht namlich die Icl.ee einer >>letzten« Sprache, die ja in der eines infiniten Konsenses einer idealen Kommunikationsgemeinschaft enthalten ist, Sinn, zumindest als eine regulative Idee.' Nicht zufallig hat Peirce entsprechende Überlegungen, wie sie dann insbesondere Apels Version der Konsenstheorie inspiriert haben, vor allem im Hinblick auf den physikalischen Erkenntnisfortschritt entwickelt. Zu der von Peirce angeregten sprachpragmatischen Reformulierung der Transzendentalphilosophie gehõrt die Interpretation .des Wissenschaftsfortschritts als eines Prozesses fortlaufender Sprachkritik unter der regulativen Idee einer letzten, einer >>richtigen« Sprache (bzw. eines infiniten Konsenses). Nun scheint mir aber, daB eine sprachpragmatisch aufgeklarte Transzendentalphilosophie, die, wie diejenige Apels, Peirce' regulatives Prinzip eines infiniten Konsenses der Forschergemeinschaft zur Idee einer idealen
I In diesen Zusammenhang gehoren die Überlegungen C. F. von Weizsackers über eine mêigliche EirÍheit der Physik, die zugleich ihre Vollendung ware. (Vgl. Carl Friedrich von Weizsacker, Die Einheit der Jl(.atur, München I971, insbes. S. 207ff.) Von Weizsackerverficht mit seinen Uberlegungen freilich die anspruchsvollere Hypothese, daB sich alie Grundg~setze einer vollendeten Physik am Ende aus der Analyse der Bedingungen der Moglichkeit von Erfahrung ergeben müBten. (Vgl. a.a.O., s: 217) In einer anderen Form taucht die Idee einer >>letzten<<, das heiBt: angemessenen Sprache der Physik heute in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus auf, am subtilsten ausgearbeitet in Wilfrid Sellars' Philosophie eines »wissenschaftlichen Realismus<<. Ahnlich wie schon fü,r Peirce stellt sich für· Sellars der Wissenschaftsfortschritt ais ein ProzeB fortlaufender Sprachkritik dar; » Wirklichkeit<< ware nach dieser Konzeption das Korrelat der schlieB!ich gefundencn wahren physikalischen Theorien. (Vgl. Wilfrid Sellars, .The Language ofTheories<<, in: ders., Science, Perc~ption and Reality, London I963, insbes. S. II9, 126. Dcrs., »Scientific Realism or Irenic Instrumentalism. Comments on J. J. C. Smart<<, in: R. S. Cohen u. M. W. Wartofsky (Hrsg.), Boston Studies in the Philosophy of Science, Bd. 11, New York I965, insbes. S. 204. Ders., »Counterfactuals, Dispositions, and the Causal Modalities<<, in: H. Feigl, M. Scriven u. G. Maxwell (Hrsg.), MinnesotaStudies in the Philosophy ofScience, Bd. u, Minneapolis I958; insbes. S. 263. Ders., »Theoretical Explanation<<, in: ders., Philosophical Perspectives, Springfield/Ill. I967.
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Kommunikationsgemeinschaft zu >>verallgemeinern« sucht, letztlich im Bann eines objektivistischen Erkenntnis- und Erfahrungsbegriffs verbleiben muB, und zwar deshalb, weil sie den dialektischen Schein nicht durchschaüt, der den idealisierenden · Unterstellungen sprachlicher Verstandigung anhaftet. Der Schein besteht nicht darin, daB diese Unterstellu~gen sich immer wieder als falsch erweisen (wenn unsere AuBerungen sich als unverstandlich oder wenn Kommunikationssituationen sich als verzerrt erweisen), sondem darin, daB sie sich uns als Ideale der Wirklichkeit aufdrangen und gerade hierin die Geschichtlichkeit und Unvollendbarkeit des sprachlichen Sinns verdecken. Die sprachpragmatisch transformierte Transzendentalphilosophie kommuniziert insgeheim noch mit der szientistischen Tradition der europaischen Aufklarung, die ja in der Transzendentalphilosophie Kants einmal ihren klassischen Ausdruck gefunden hat. Auch in ihrer sprachpragmatischen Gestalt bleibt die Transzendentalphilosophie gleichsam noch verhakt in Denkfiguren, die zwar nicht am Erkenntnisfortschritt der Physik abgelesen wurden, aber doch gewissermaBen auf ihn zugeschnitten sind. Diese zugegebenermaBen starke These mõchte ich an einem alteren Text Apels, der bedeutenden Abhandlung über >>Szientismus und transzendentale Hermeneutik<< ', erlautern. In dieser Abhandlung versucht Apel zu zeigen, daB Peirce' Interpretation der Wahrheit als der >>ultimate opinion« einer »indefinite community of investigators« 2 sich verallgemeinern laBt zum 'regulativen Prinzip »einer sich selbst in the long run theoretisch-praktisch realisierenden unbegrenzten lnterpretaÚ.onsgemeinschaft<<.J Apel hatte bekanntlich den Konsens einer unbegrenzten Experimentier- und Interpretationsgemeinschaft der Forscher im Sinne von Peirce als
I In: Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. u, a.a.O., S. I78 ff. 2 Vgl. K.-0. Apel, »Von Kant zu Peirce<<, a.a.O., S. I73.
3 »Szientismus oder transzendentale Hermcneutik<<, a.a.O., S. 217.
den »hõchsten Punkt« einer sprachpragmatisch transformierten Transzendentalphilosophie interpretiert, der gewissermaBen die Stelle des transzendentalen >>BewuBtseins überhaupt« als des hõchsten Punktes der Kantischen Transzendentalphilosophie einnimmt.' Peirce' sinnkritisch begründeter und forschungslogisch >>dynamisierter«. U niversalienrealismus sieht die Objektiviüitsgarantie der Erkenntnis nicht in einem in der Einheit des transzendentalen Ich begründeten kategorialen synthetischen Apriori, sondem in der Logik eines Forschungsprozesses, der, im Zusammenspiel von Abduktion, Induktion und Deduktion, erfinderisch und seibstkorrektiv alies Falsche mit der Zeit eliminieren muB. Wahr sind diejenigen Überzeugungen, die sich in diesem selbstkorrektiven ProzeB auf Dauer intersubjektiv als kritikfest etablieren, und Wirklichkeit ist das Korrelat solcher wahrer Überzeugungen. ·
>>The real. .. is that which, sooner or !ater, information and reasoning would finally result in, and which is therefore independent of the vagaries of me and you. Thus, the very origin of the conception of reality shows that this cortception essentially involves the notion of a Community, without definite limits, and capable of a definite increase of know-
legde_.«'
In Anknüpfung an diese frühe Formulierung von Peirce resümiert Apel den Witz der Peirceschen Transformation der transzendentalen Logik:
»Mit anderen Worten: Die >ultimate opinion< der >indefinite community of investigators< ist der >hõchste Punkt< der Peirceschen Transformation der >transzendentalen Logik< Kants. In ihm konvergiert das semiotische Postulat einer überindividuellen Einheit der lnterpretation und das forschungslogische Postulat einer experimentellen Bewahrung in the long run. Das quasi-transzendentale Subjekt dieser postulierten Einheit ist die unbegrenzte Experimentier-Gemeinschaft, die zugleich unbegrenzte lnterpre
tations-Gemeinschaft ist.«3
1 Vgl. etwa »Von Kant zu Peirce<<, a.a.O., S. 163 f., 173. 2 Charles Sanders Peirce, Collected Papers, 5. 311, zitiert nach Apel,
a.a.O., S. 173. 3 A.a.O.
An die Stelle einer Begründung synthetischer Grundsatze a priori tritt in dieser dynamisierten Version der Transzendentalp?ilosophie der Nachweis der notwendigen Geltung synthettscher Schluflformen, namlich der Abduktion und Induktion, in the long run.
»-(\n die ~telle von Kants >konstitutiven Prinzipien< der Erfahrung werden h1er gew1ssermaBen die >regulativen Prinzipien< gesetzt, wobei aber vora~sgesetzt wird, daB die regulativen Prinzipien in the long run sich ais konstltutiv erweisen müssen. Diese Verlagerung der Notwendigkeit und Universalitat der Geltu_ng wis.~e~schaftlicher Satze ans Ziel des Forschungsproze.sses macht es Pe1rce moghch, Humes Skeptizismus zu vermeiden, ohne m1t Kant auf der Notwendigkeit bzw. Universalitat jetzt gültiger wissenschaftlicher Satze zu bestehen.«'
In dem Aufsatz »Szientismus oder transzendentale Hermeneutik« versucht Apel nun, diesen futurisch gedachten Wahrheitsbegriff aus dem, wie er selbst bemerkt, szientistisch verengten Horizont der Peirceschen Fragestellung' herauszulõsen: er mõchte die Idee des Konsenses einer unbegrenzten Forschergeméinschaft erweitern zur Idee >>einer absoluten Wah~heit der Verstandigung in einer unbegrenzten l?terpret~tiOns- und lnteraktionsgemeinschaft«.J Apel e~twtck:It d~es~n Gedanken zunachst in Anknüpfung an dte neo-tdeahsttsche Umdeutung der Peirceschen Semiotik durch J. Royce, versucht dann aber, ihn aus dem idealistischen Bezugssystem herauszulõsen und · gegen Einwande von seiten der hermeneutischen Philosophie zu v'erteidigen. ' Gegen Gadamer macht Apel geltend, daB auch für das Feld ?.es Sinnverstehens - also für di e lnterpretation von Texten, ~uBerung~n, Handlungen oder Lebensformen- die regulative Idee emer absoluten Wahrheit grundlegend ist.4 Diese I.~ee ~iner absol.u.ten ~ahrheit im Felde der Interpretation laBt stch nun frethch mcht mehr kognitivistisch erlautern ais
1 A.a.O., S. 174. 2 Vgl. »Szientismus oder transzendentale Hermeneutik«, a.a.O., S. 203. 3 A.a.O., S. 217f. 4 Vgl. a.a.O., S. 215.
die ietzte theoretische Überze~gung einer Forschergemeinschaft, die sich der methodischen Disziplin forschungslogi:scher Prinzipien unterviirft, sie mu~ vielmehr dem von der Hermeneutik geltend gemachten Moment der Applikation im Verstehen Rechnung tragen, das heiBt aber ietztlich jener Struktur des Verstehens, an der jeder Versuch einer szientifischen Reduktion des Sinnverstehens auf ein Phanomen innerhaib der Welt objektivierbarer Tatsachen scheitern muB. Es ist ja im übrigen geradezu der Witz von Apeis sprachpragrilatischer Transformation der Transzendentaiphilosophie, daB das Sinnverstehen ais Komplementarphanomen zur >>szientifischen Erkenntnis objektiver Tatsachen« hervortritt. 1 SoU daher Peirce' futurischer Wahrheitsbegriff auf das Feid des Sinnverstehens übertragen werden, so ist dies nur moglich, wenn an die Stelle der regulativen Idee eines infiniten theoretischen Konsenses die reguiative Idee einer idealen Verstandigungsgemeinschaft tritt; das heiBt, einer >>Unbegrenzten lnterpretations- und Interaktionsgemeinschaft«, die zugleich einen ideaien Grenzwert des Sinnverstehens bezeichnet, dessen Reaiisierung gieichbedeutend ware mit der >>Beseitigung aller Hindernisse der Verstandigung«.' In der Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft konvergieren theoretische und praktische Vernunft im Grenzwert einer ideaien Verstandigungssituation. Die >>absolute Wahrheit<< von Interpretationen kann nur gedacht werden im Zusammenháng mit der praktischen Herbeiführung einer solchen idealen Verstandigungssituation; das praktische Moment, das Moment der Applikation im Verstehen notigt dazu, die Wahrheit der Interpretation auf einen gewaltlos und transparent gewordenen Lebenszusammenhang zu beziehen. Es ist schwer, sich der Faszination dieses Gedankens zu entziehen, der ja in ahniicher Form auch bei Habermas auftaucht: die sprachpragmatische Umdeutung der Tran-
1 A.a.O., S. 201. 2. A.a.O., S. 217.
szendentaiphilosophie ist hier eins geworden mit einer sprachpragmatischen Umdeutung von Adornos Phiiosophie der Versohnung. Ist aber die Ideaiisierung im Begriff der idealen Kommunikationsgemeinschaft eine sinnvolle Idealisierung? Apei hat, wenngleich in indirekter Weise, den entscheidenden Einwand seibst formuliert. Er weist namiich darauf hin, daB der infinite Konsens der Forschergemeinschaft bei Peirce eine Neutraiisierung des Verstandigungsproblems zur Voraussetzung hat: die »ietzte« Sprache der Physik, das Korrelat der ultimate opinion, laBt sich nur denken ais éine Sprache, die sich von den Bedingungen einer hermeneutischen Sinnvermittlung emanzipiert hatte. Peirce' pragmatische Maxime der Sinnkiarung zielt auf diesen Grenzfall ab, sie bezeichnet namiich den Versuch,
>>allen Sinn auf Operationen und zugeordnete Erfahrungen zu beziehen, die jedes einsame Subjekt unabhangig von seiner geschichtlichen Interaktion mit anderen jederzeit machen kann und die insofern a priori intersubjektiv und d. h. zugleich: objektiv sind. Darin liegt das für jede progressive empirisch-analytische Wissenschaft (>Science<) grundlegende Bestreben, die intersubjektive Verstandigung durch eine letzte Verstandigung für die Zukunft überflüssig zu machen und dadurch die Bedingungen der Mi:iglichkeit und Gültigkeit logisch und empirisch überprüfbarer Theorien ein für allemal herzustellen. (Das Ideal dieser letzten metaszientifischen Verstandigung ware die einmalige Ersetzung der geschichtlich gewordenen Umgangssprache einschlieB!ich der auf ihr erwachsenen experimentell bewahrten Wissénschaftssprache durch eine universelle Kalkülsprache, die zugleich garantiert widerspruchsfrei und experimentell-pragmatisch anwendbar ware- der ursprüngliche Traum des logischen Empirismus.)<< 1
Apel spricht hier kiar aus, daB die Idee eines >>unbegrenzten moglichen FortschrittS<< 2 der Wissenschaft unter der reguiativen ·Idee eines ietzten Konsenses der Forschergemeinschaft, einer ietzten Sprache der Physik, bei Peirce intern zusammenhangt mit der Konzeption der Fórschergemeinschaft gieichsam ais eines Singuiars im Plural; die ultimate opinion wird in einer Sprache formuliert sein, die deshalb keine Probieme der Sinnklarung, keine Probleme der Ver-
1 A.a.O., S. 211f. 2 Vgl. a.a.O., S. 215.
standigung mehr aufwirft, weii in ihr aller Sino auf Operationen und Erfahrungen bezogen ist, »die jedes einsame Subjekt unabhangig von seiner geschichtlichen Interaktion jederzeit machen kann«. Nur aus diesem Grunde kann die unbegrenzte Gemeinschaft der Forscher die Rolle des transzendentaien Subjekts übernehmen; der Fortschritt der Wissenschaft laíh sich verstehen ais das Werden dieses transzendentaien Subjekts. Ich will sagen: Bei Peirce handelt es sich um eine Transformation der Transzendentaiphiiosophie gerade deshaib, weii am »hochsten Punkt<< dieser Philosophie die SprachIichkeit der Vernunft, wie sie von der transzendentaien Hermeneutik gegen Kant geltend gemacht wird, weggearbeitet ware. Oder, weniger miBverstandiich ausgedrückt: am hochsten Punkt dieser Phiiosophie hatte die Sprache der Wissenschaft jenen posthermeneutischen Zustand erreicht, der, wie Apei es formuliert, der >>ursprüngiiche Traum des Iogischen Empirismus« war. Die Ideaiisierung, die hier im Spiei ist, betrifft nicht die (pragmatischen) Strukturen der Kómmunikation, sondem die (zeitenthobene) lntersubjektivitat sprachiicher Bedeutungen. Das ~?tscheidende Probiem Iiegt daher in dem unauffalligen Ubergang von der Idee eines infiniten Konsenses der Forscher zur Idee einer ideaien Kommunikationsgemeinschaft ais dem Ort einer absoiuten Wahrheit der lnterpretation. Sollen wir hier auch an eine >>Ietzte« Sprache denken, in der etwa der Wahrheitsgehalt aller phiiosophischen Texte in ungetrübter Prasenz verfügbar geworden ware? Dies ware die Idee einer ideaien Verstandigung im Sinne des Verstandigtseins; eines Verstandigtseins, durch welches die Menschen der Mühe einer immer wieder erneuten Aneignung phiiosophischer oder praktischer Wahrheiten endiich enthoben waren. Oder sollen wir an ideaie Bedingungen der
. Verstandigung denken, Bedingungen aiso, unter denen Verstiãndigun·g und Seibstverstandigung, obgieich immer noch notwendig, doch gieichsam reibungsios vonstatten
gingen? Dies ware di e Idee einer ideaien Verstandigung im Sinne des lmmer-wieder-sich-verstandigen-Konnens-undWollens und zugieich, sofern namiich die Konnotation eines infiniten Konsenses erhalten bieiben soll, die Idee eines immer wieder sich erneuernden rationaien Konsenses. lch behaupte nun, daB in Apels Begriff der ideaien Kommunikationsgemeinschaft die beiden hier unterschiedenen lnterpretationen notwendig miteinander verschrankt sind, so daB also, was ais Situation ideaier Verstandigung gemeint ist, sich als Situation jenseits der Notwendigkeit (und der Probieme) sprachiicher Verstandigung enthüllt. Damit ware aber im Begriff der ideaien Kommunikationsgemeinschaft erneut die konstitutive Piuraiitat der Zeichenbenutzer aufgehoben zugunsten der Singuiaritat eines nun auch praktisch-hermeneutisch mit sich verstandigten transzendentaien Subjekts, eines Subjekts, das ais gewordenes nun gleichsam in der Wahrheit ist. Zur Erlauterung meiner These mochte ich versuchen, den Sino der Rede von einer »unbegrenzten Verstandigung« oder einer »idealen Kommunikation« genauer zu fassen. Apei spricht auch von einer »Beseitigung aller Hindernisse der Verstandigung«.' Man konnte zunachst versuchen,
1wie
Apei seibst es geiegentlich naheiegt, die Idealitat von Kommunikationssitu.ationen im Sinne von Habermas' Bedingungen einer idealen Sprechsituation zu verstehen. Nun hatten wir aber bereits gesehen, daB der Begriff einer idealen Sprechsituation; so wie wir ihn bisher verstanden hatten, nicht ausreicht, um die Konvergenz von geiingender Verstandigung und intersubjektiver Gültigkeit zu fassen, die Apei im Begriff einer ideaien Kommunikationsgemeinschaft zu denken versucht. Wenn die ideaie Kommunika-
. tionsgemeinschaft wirkiich ein- wenn auch nur antizipierter - Ort absoiuter Wahrheit seio soll, so ist dies nur mogiich, wenn in ihr die Unterstellungen der Verstandiichkeit und Konsensfahigkeit von Geltungsansprüchen, die
1 A.a.O., S. 217.
jeder Sprecher mit seinen Ã.u~erungen macht, sich bestandig als erfüllte Antizipation erweisen. Was das Sinnverste
. hen betrifft, so folgt dies unmittelbar aus der Idealitat der Verstandigungssituation als solcher, und was die Konsensfahigkeit von . Geltungsansprüchen betrifft, so ergibt sie sich daraus, da~ im Grenzfall idealer Verstandigung der » Vorgriff auf Vollkommenheit« bei der Interpretation von Texten und Ã.u~erungen nicht mehr an der faktischen Beschranktheit nicht-idealer Verstandigungsverhaltnisse scheitern konnte. Letzteres macht Apel indirekt klar, wenn er das Scheitern des Vorgriffs auf di e » Wahrheit im Sinne eines moglichen consensus omnium.~ bei der Interpretation von Texten der Nicht-Idealitat faktischer Verstandigungsverhaltnisse anlastet•: das Unwahre ist, hermeneutisch gesprochen, das Unverstandliche. Das »im normativen Sinne ideale Sprachspiel einer idealen Kommunikationsgemeinschaft«, das, wie Apel an anderer Stelle sagtJ,
»von jedem, der eine Rege! befolgt- implizit z. B. von dem, der dem Anspruch nach sinnvollhandelt, explizitvon dem, dér argumentiert-, ais reale Moglichkeit des Sprachspiels, an das er anknüpft, antizipiert, u. d. h. ais Bedingung der Moglichkeit und Gültigkeit seines Tuns ais eines sinnvollen Tuns vorausgesetzt<<
wird, bezeichnet daher ideale Bedingungen der Verstandigung ebensowohl als das ideale Resultat eines geschichtlichen Verstandigungsprozesses, das hei~t ein ideales und unbegrenztes Verstandigtsein der Menschen als Fluchtpunkt ihrer je aktuellen Verstandigungsbemühungen. Wenn dies aber richtig ist- und ich sehe nicht, wie man diese Konsequenz vermeiden konnte -, dann mü~te di e Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft zugleich die Idee einer idealen, einer letzten Sprache bezeichnen, durch welche die U nterstellung intersubjektiver Verstandlichkeit, di e wir
1 A.a.O., S. 216.
2 A.a.O. S. 216f.
3 K.-0. Apef, »Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache<<, a.a.O., S. 348.
in jeder sprachlichen Ã.u~erung vornehmen, zur jederzeit erfüllten Antizipation geworden ware. Dies ist abér nichts anderes als >>der ursprüngliche Traum des logischen Empirismus«, projiziert auf das Bezugssystem einer sprachpragmatischen Philosophie. Die ideale Kommunikationsgemeinschaft ware über lrrtum, Dissens, Nicht-Verstehen und Konflikt hinaus, aber nur um den Preis einer Stillstellung der Sprache, eines Absterbens ihrer produktiven Energien, das hei~t aber um den Preis einer Aufhebung der sprachlich-geschichtlichen Lebensform der Menschen. An dieser Stelle zeigt sich die tiefe Zweideutigkeit in der Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft. Diese enthüllt sich in dem Ma~e als gleichsinnig mit dem »ursprünglichen Traum des logischen Empirismus«, als sie einen Versuch darstellt, die Idee des Absoluten noch einmal als die Idee eines innerweltlichen »hochsten Punktes« auszubuchstabieren. Indem Apel das Absolute als Grenzwert eines unendlichen moglichen Fortschritts der theoretischen, praktischen und hermeneutischen Vernunft· zu fassen versucht, verkehrt es sich zum Bild einer Vernunft, die sich von den Bedingun.gen ihrer Sprachlichkeit emanzipiert hatte. Adorno war noch Theologe genug, um zu wissen, daK ein solches Absolutes - das auch für ihn die Bedingung der Moglichkeit von Wahrheit bezeichnete- nur dann als Horizont der Vernunftgeschichte gedacht werden konnte, wenn man in ihm zugleich den radikalen Bruch mit der geschichtlichen Kontinuitat mitdachte: Versohnung ware das ganz Andere der existierenden Vernunft. Apel hingegen, nachdem er zu Recht die (partielle) Vernünftigkeit der existierenden Vernunft und die Moglichkeit eines moralischen Fortschritts gegen Adorno eingeklagt hat, la~t sich von diesem ersten Schritt zu einem zweiten Schritt verführen, der ihn in Wirklichkeit hinter die von Adorno (und Benjamin) erreichten Positionen zurückführt: Apel versucht das Absolute, das bei Adorno »schwarz verhüllt« ist, theologisch gesprochen: das Reich Gottes, ins Kontinuum der Ge-
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schichte zurückzuholen. Die messianische Perspektive wird zurückverwandelt in die Perspektive eines mõglichen unendlichen Fortschritts zum Absoluten. Diese Perspektive hat nun zwar als wissenschaftstheoretische Perspektive im Sinne von Peirce ihr partielles Recht, übertragt man sie aber auf die geschichtlich-moralische Welt im Ganzen, so zeigt sich, daB ihr die versõhnende Kraft fehlt, die sie doch beansprucht. Nicht zufallig wird ja sub specie einer vollendeten Physik die Geschichte zur Vorgeschichte, die Individualitat zur Zufalligkeitund die lebendige Sprache zu einem Durchgangsstadium entwertet; immerhin aber laBt sich eine vollendete Physik noch als ein Wissen endlicher Menschen denken. Demgegenüber müBte die Verallgemeinerung eines futurisch gemeinten Begriffs absoluter Wahrheit am Grenzpunkt des Absoluten eigentlich auch noch di e geschichtliche Zeit durchstreichen: an der Wahrheit, die vor aller Augen liegt, müBten auch die langst Gestorbenen noch teilhaben, die Versõhnung der Menschen untereinander müBte auch die Toten noch einbeziehen. Dies aber laBt sich, wie Adorno sehr wohl wuBte1
, nur noc~ theologisch denken. Nicht in
I Adornos >>Meditationen ~ur Met'aphysik<< im dritten Teil der Negativen Dialektik sind ein einziger Versuch, das theologische Motiv zu retten, das hei Kant in die Konstruktion des Zusammenhangs zwischen dem Begriff des Intelligihlen und den Postulaten der reinen praktischen Vernunft eingegangen ist. Zwar versucht Adorno dieses theologische Motiv- materialistisch- aus der starren Gegenüherstellung von Immanenz und Transzendenz herauszuli:isen; indem er es aher wi:irtlich nimmt - namlich ais Hoffnung auf die Auferstehung des Leihes -, verhietet er sich zugleich die hloBe Einehnung der Differenz. Die Zweideutigkeit und das Aporetische von Kants Konstruktion sieht er am Ende ais darin gerechtfertigt, daí! für uns das Ahsolute, wie er an anderer Stelle sagt, »schwarz verhüllt<< ist. »Daí! keine innerwelt!iche Besserung ausreichte, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; daB keine ans Unrecht das Todes rührte, hewegt die Kantische Vernunft dazu, gegen Vernunft zu hoffen. Das Geheimnis seiner Philosophie ist die Unausdenkharkeit der Verzweiflung. Genotigt von der Konvergenz aller Gedanken in einem Absoluten, helieB er es nicht hei der ahsoluten Grenze zwischen dem Ahsoluten und dem Seienden, die zu ziehen er nicht minder genotigt war. Er hielt an den metaphysischen Ideen fest und verhot denrioch, vom Gedanken des Ahsoluten, das einmal so sich
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der Idee einer vollendeten Physik, sondem im Bild des Jüngsten Gerichts ist die Idee einer die Menschen und ihre Geschichte betreffenden vollendeten Wahrheit vorgebildet, die offen vor a/ler Augen liegt. Zum Bild des Jüngsten Gerichts aber gehõrt di e Hoffnung auf Auferstehung und Erlõsung. Gericht, Erlõsung und Auferstehung sind Kategorien eines radikalen Bruchs, mit der geschichtlichen Welt; dies gerade macht sie zu theologischen Kategorien. Zwar ware die Gewalt der Bilder, die in diesen Kategorien sich niedergeschlagen haben, philosophisch zu entratseln, aber diese Entratselung ist in der Philosophie der »idealen Kommunikationsgemeinschaft« kaum überzeugender géleistet als in Adornos Philosophie der Versõhnung. 1 Ob namlich das Absolute als Horizont der Vernunftgeschichte im Modus des Bruchs mit der existierenden Vernunft (Adorno) oder ob es als deren immanentes Te los (Apel) gedacht wird: beide Male erweist es sich als nicht einholbar in die Grenzen der geschichtlichen Welt. •
verwirklichen konne wie der ewige Friede, üherzuspringen in den Satz, das Ahsolute seidarum. Seine Philosophie kreist, wie ührigens wohl eine jede, um den ontologischen Gottesheweis. In groBartiger Zweideutigkeit hat er die eigene Position offengelassen; dem Motiv des >MuB ein ewiger V ater wohnen<, das Beethovens Komposition der kantianischen Hymne an die Freude in Kantischem Geist auf dem MuB akzentuierte, stehen die Passagen gegenüher, in denen Kant, darin Schopenhauer so nahe, wie dieser spiiter es reklamierte, die metaphysischen Ideen, inshesondere die der Unsterhlichkeit, ais gefangen in den Vorstellungen von Raum und Zeit, und. darum ihrerseits heschrankt, verwarf. Verschmiiht hat er den Ühergang zur Affirmation<< (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Gesammelte Schriften 6, Frankfurt I973• S. 378). I Vgl. Albrecht Wellmer, »Adorno, Anwa!t des Nicht-Identischen<<, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt I985, S. I6of. 2 Auch für Kant ist freilich die Idee einer unendlichen Annaherung an einen Stand moralischer Vollkommenheit, und daher letztlich einer unendlichen Annaherung ans Reich Gottes, eine praktisch notwendige Idee. (V gl. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloflen Vernunft, Werke in sechs Banden, Hrsg. W. Weischedel, Bd. rv, S. 68zf., 697, 7I3, 72of., 786f.) Aber eben eine praktisch notwendige Idee; diese Idee ist eigentlich die eines unendlichen mi:iglichen Fortschritts »VOn mangelhaftem Guten zum Besse-
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Ich babe Apels Philosophie der idealen Kommunikationsgemeinschaft nicht ohne Absicht mit Adornos Philosophie der Versohnung verglíchen. Das Gemeinsame beider Positionen liegt darin, da6 Apel ebenso wie Adorno glaubt, die ldee der Wahrheit lasse sich nur retten, wenn sie aus dem Bezugspunkt einer versohnten Menschheit- einer »idealen Komrriunikationsgemeinschaft« - gedacht wird. In beiden Fallen bezeichnet die ldee des Absoluten die Bedingung der Moglichkeit von Wahrheit. Für Apel bedeutet dies, da6 ~ie
ren<< (a.a.O., S. 720). Was die >>Grenzwerte<< der moralischen Vollkommenheit oder auch dcs »ethischen StaateS<< (des »Reichs der Tugend<<) (vgl. a.a.O., S. 75 3) bctrifft, so bleiben Kants Überlegungen auBerordentlich zweideutig; unübersehbar sind namlich Kants Hinweise, daB cine Realisierung dieser Grenzwerte von einer endlichen Vernunft und unter Bedingungen einer endlichen Vernunft kaum angemessen gedacht werden kann (vgl. etwa a.a.O., S. 718, Anm. 720, 8o2). Das theologische Motiv, von dem ich oben sprach (Anm. 76), kommt gerade an jenen Stellen zur Geltung, wo Kant über die Pflicht zum moralischen Fortschritt hinaus dessen Grenzwerte (die moralische Vollkommenheit oder das Reich Gotte~) ais etwas von endlichen Vernunftwesen Realisiertes zu denken versucht. Kant jedenfalls war sich der Schwierigkeit bewuBt, ein in der Sphare des lntelligiblen beheimatetes Reich dér Zwecke ais empirisch verwitklicht zu denken. Apel versucht ~ich dieser Schwierigkeit zu entziehen, indem er- mit Peirce- di e Kantische Unterscheidung zwischen Noumena und Phainomena und zugleich die zwischen regulativen Prinzipien und moralischen Postulaten in Frage stellt (vgl. »Von Kant zu Peirce<<, a.a.O., S. 176). Hierdurch erhalt nun aber die Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft neben ihrer regulativen zugleich eine konstitutive Funktion, nicht bloB für die erripirische Erkenntnis, sondern auch fürs moralische Urteil. Dies bedeutet aber, daB Kants Schwierigkeiten mit der Sphare des lntelligiblen unter Auflõ; sung aller Zweideutigkeiten ins Zentrum der Erkenntnistheorie und Moralphilosophie hineingetragen werden. Der Kern dieser Schwierigkeiten ist darin begründet, daB ein Subjekt im Singular der »hõchste Punkt<< der (Kantischen) Transzendentalphilosophie ist. Mein Einwand gegen Apel ist, daB auch die ideale Kommunikationsgemeinschaft noch die Stelle eines Subjekts im Singular besetzt halt- freilich eines Subjekts, das jetzt ais ein innerweltlich erst Werdendes vorgestellt wird. (A_pel spricht explizit von einem transzendentalen Subjekt, das »Zwar immer schon antizipiert, andererseits aber auch immer noch erst realisiert werden muB<<, vgl. »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen<<, a.a.O., S. 127).
ldee eines unbegrenzten Fortschritts in Richtung auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft - als dem Ort »absoluter Wahrheit<< - die einzig mogliche Alternative zu einer relativistisch-historistischen Auflosung des Wahrheitsbegriffs eroffneu lch glaube nicht, da6 diese Diagnose Apels zutreffend ist. lch mochte vielmehr zeigen, da6 sich das ganze Problem neu darstellt, wenn man nicht, wie Apel dies tut, die Antizipation eines infiniten rationalen Konsenses von vornherein gleichsetzt mit dem Vorgriff auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft.• Apel weist ausdrücklich auf das Beispiel philosophischer Satze hin, deren Allgemeingültigkeitsanspruch, wie er meint, sich nur unter Voraussetzung eines. solchen Vorgriffs auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft »verstehen und sinnvoll zur Geltung bringen<< lasse;3 Nun sind aber Geltungsansprüche der Art, wie ·si e durch philosophische Satze zum Ausdruck gebracht werden, an das Medium der U~gangssprache und an den Kontext ihres eígenen Explikatwnszusammenhangs gebunden. Die argumentative Bewegung des Philosophierens, wie sie in philosophischen Satzen ihren Niederschlag findet und wie sie philosophischen Thesen allererst ihren Gehalt und ihr Gewicht verleiht, la6t sich daher in philosophischen Satzen oder Satzsystemen nicht ein für allemal »eiqfrieren<;, In diesem Sinne
r Vgl. »Szientismus oder transzendentale Hermeneutik<<, a.a.O., S. 2r6. 2 Man kõnnte natürlich di e Antizipation eines infiniten· Konsenses gleichsetzen mit dem Vorgriff auf eine ideale Kommunikationsgemeinscha:ft. Hierin scbeint mire in mõglicher unverdachtiger Sinn des Begriffs einer idealen Kommunikationsgemeinschaft zu liegen; ich glaube, daB z. B. Habermas den Begriff gelegentlich in diesem Sinne verwendet (vgl. J. Habermas, »Moral und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwande gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?<<, a.a.O., S. 13). Die ideale Kommunikationsgemeinschaft ist in diesem F alie einfach die Gemeinschaft aller sprachfahigen Wesen, die wir uns gleichsam in idealer Gleichzeitigkeit versammelt denken. Bei dieser Bedeutung des Begriffs kann aber von einer, und sei es auch nur ap.proximativen Realisierung des Ideais sinnvollerweise gar nicht die Rede sem.
3 »Szientismus oder transzend~ntale Hermeneutik<<, a.a.O., S. 218.
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hatte Adorno durchaus recht, wenn er behauptete, die Philosophie las se sich nicht auf These~ bringen.' "W_enn dies aber richtig ist, dano sind philosophtsche Wahrh~tten darauf angewiesen, immer wieder neu entdeckt, angee1gnet, gedacht und formuliert zu werden. Selbst die groBen philosophischen Texte, auf die wir uns immer wieder als Paradigm.a einer schriftlich objektivierten philosophischen Wahrhett beziehen, enthalten die Wahrheit nur in verschlüsselter Form; diese Wahrheit gibt sich uns nur preis, indem wir sie übersetzend neu denken, indem wir ihren EntstehungsprozeB gleichsam mit unseren eigenen Mitteln noch einmal wiederholen. Aus diesem Grunde spielt die Interpretation philosophischer Texte eine so groBe Rolle in der Phil?sophie. Und zwar gilt dies ganz unabhangig davon, daB dte lnterpretation philosophischer Texte immer auch eine Scheidung des Wahren und Falschen· an ihnen bedeutet, unabhangig davon also, daB es auch Fortschritte in der Philosophie gibt. Entscheidend ist, daB jede philosophische Wahrheit, einmal ausgesprochen, schon verloren ware ohne die u_nabschlieBbare Mühe einer immer wieder erneuten Anetgnung und Übersetzung. Die Bewahrung phílosophischer Wahrheiten ist ein produktiver ProzeB. Selbst wenn die ganze Wahrheit der Philosophie in einem einzigen Text versammelt ware, so kõnnten wir sie doch nur aufbewahren, indem wir diesen Text mit upendlichen Kommentaren versahen; als bloBer Behalter der Wahrheit ware dieser Text in dem Augenblick tot, in dem wir aufhõrten, ihn neu zu schreiben. · Wenn es sich aber so verhalt, dano kann die Antizipation eines infiniten Konsenses in diesem besonderen Falle nicht die Bedeutung haben, die Apel ihr gibt. Apel denkt die Antizipation des infiniten Konsenses letztlich nach dem Modell
1 » ... was in ihr (der Philosophie, A. W.) sich zutragt, entscheidet, nicht .These odei- Position ·das Gewebe, nicht der deduktive oder induktive, eingleisige Gedankeng~ng. Daher ist Philosophie wesentlich nicht r:ferierbar. Sonst ware sie überflüssig; daB sie meist sich referieren laBt, spncht gegen sie<< (Negative Dialektik, a.a.O., S. 44) ..
der Physik, wonach die ultimate opinion der Forscher irr einer letzten Sprache und in einem stabilen System von Satzen ihren Ausdruck finden würde. Wenn aber jeder philosophische Satz einen Index der geschichtlichen Zeit und des geschichtlichen Ortes tragt, an dem er gesprochen wird, und wenn der Sinn philosophischer Satze eine Funktion des Explikationszusammenhanges ist, in dem sie stehen, dann kann die Mõglichkeit eines infiniten Konsenses in diesem Falle eigentlich nur die Mõglichkeit einer infiniten Wiederholung im Sinne der Wieder-Aneignung, der Neuformulierung oder hermeneutischen Rekonstruktion philosophischer Einsichten bedeuten. Hier macht aber die Idee eines Grenzwerts idealer Verstandigung überhaupt keinen Sinn mehr. Die »Hindernisse der Verstandigung« sind hier namlich gleichursprünglich mit den Bedingungen der Mõglichkeit der Verstandigung: beide sind begründet in der Sprachlichkeit des philosophischen Gedankens selbst. »Ideal« im Sinne von Apel kõnnte eine Verstandigungssituation daher nur heiBen, wenn die sprachlichen Zeichen zu einemvollkommen transparenten Medium der Kommunikation von Bedeutungsintentionen geworden waren, so daB also die Verstandigung selbst den Charakter der Unmittelbarkeit angenommen hatte. Dies aber ware ein Zustand jenseits der Sprache. Ein mõglicher »infiniter Konsens« kann also im Falle philosophischer Satze nicht als ein letzter und gleichsam >>stabiler« Konsens gedacht werden. Gerade weil in diesem Falle die in the long run wahrheitsverbürgenden Regeln einer Forschungslogik fehlen, hat es keinen Sinn, den Ort der Wahrheit ail.s Ende der Geschichte zu verlegen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind vielmehr gleichermaBen mõgliche »Ürte« philosophischer Wahrheit. Natürlich mü6te ein Konsens über philosophische Wahrheiten unter den genügend U rteilsfahigen sich immer wieder erneuern lassen, freilich vermittelt durch ein produktives Neuverstehen philosophischer Texte. Aber um diesen Gedanken zti
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denken, bedarf es der Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft nicht, auch nicht als eines regulativen Prinzips. Eine »letzte« Bewahrung philosophischer Einsichten kann es ebensowenig geben wie eine »letzte« Fundierung philosophischer Wahrheiten. Dies hat mit Relativismus nicht das geringste zu tun. Das Problem des Relativismus wird vielmehr nur durch die Blickrichtung erzeugt, aus der die Philosophie des Absoluten die Probleme der Wahrheitsgeltung gewahrt. Es kame darauf an, die Blickrichtung zu andem, um das Problem des Relativismus zum Verschwin~ den zu bringen.' Bisherbin ich freilich nur auf das von Apel hervorgehobene Problem des moglichen Wahrheitsanspruchs philosophischer Satze eingegangen. Indes scheint es mir ausreichend, an einem Punkt zu zeigen, daB wir nicht genotigt sind, die Idee der Wahrheit auf die Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft im Sinne Apels zu beziehen. Wenn sich namlich an einer Stelle zeigen laBt, daB di e immanente Kritik an den idealisierenden Begriffsbildungen der Apelschen Transzendentalpragmatik nicht zu jener »relativistisch-historistischen« Auflosung des Wahrheitsbegriffs führen muB, die Apel befürchtet, dann dürfen wir hieraus schlieBen, daB das Problem des Relativismus falsch gestellt war. Und zwar liegt di e Vermutung nahe, daB das Problem des Relativismus bloB der bestandige Schatten eines Absolutismos ist, der die Wahrheit in einem Archimedischen Punkte verankern mochte, der auBerhalb unserer tatsachlichen Diskurse liegt. Der Relativismus ware die Erinnerung daran, daB es einen solchen Archimedischen Punkt nicht geben kann. Wenn es aber stimmt, daB wir keines solchen Archimedischen Punktes bedürfen, um an der Idee der Wahrheit festzuhalten, dann konnten wir mit dem Absolutismos zugleich auch dessen Schatten, den Relativismus, verabschieden. Es dürfte sich jetzt gezeigt haben, daB die »schwachere«
1 Dies ist, wenn ich es richtig sebe, auch die Grundidee Richard Bernsteins in Beyond Objectivism and Relativism, Oxford 1983.
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Version der Konsenstheorie, d~e ich oben (vgl. Abschn. vn) von der starkeren HaJ:,ermasschen Version unterschieden babe, nicht ausreicht, um die starken Hintergrundannahmen zu rechtfertigen, die der diskursethischen Reformulierung des Universalisierungsgrundsatzes zugrunde liegen. Wenn sich namlich die Idee eines infiniten rationalen Konsenses unabhangig von der Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft erlautern laBt, dann zeigt dies, daB die idealisierenden Begriffsbildungen, die den konsenstheoretischen Pramissen bei Habermas und Apel zugrunde liegen, keine zwingende begriffliche Rekonstruktion unvermeidlicher Prasuppositionen des Sprecherts und Argumentierens darstellen konnen. An dieser Stelle zeigt sich zugleich, inwiefern die Diskursethik zu Kantisch geblieben ist. So wie namlich Kant, um die Idee der praktischen Vernunft zu erlautern, zur Idee eines Reichs der Zwecke Zuflucht nehmen muíhe, so konnen Apel und Habermas den Zusammenhang zwischen Rationalitat und Wahrheit - und daher auch den Begriff praktischer Vemunft- nur durch Rekurs auf eine ideale Verstandigungssituation erlautem. In beiden Fallen steckt das Problem in den idealisierenden Begriffsbildungen selbst bzw. darin, daB sie als »ldeale der Wirklichkeit<< genommen werden. Versteht man sie namlich so, so racht sich das Scheinhafte an ihnen darin, daB sie gleichsam zu flattem beginnen und ungreifbar werden: So wie das Reich der Zwecke einen Zustand bezeichnet, in dem es nicht nur keine moralischen Konflikte mehr geben kann, sondem in dem eine bruchlose Einheit und Verstandigung der Subjekte miteinander realisiert ware- einen Zustand also in Wirklichkeit; in dem eine Pluralitat von Subjekten gar nicht mehr gedacht werden
· kann; so bezeichnen di e formalen Strukturen der idealen Sprechsituation oder die BediJ?-gungen einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, nimmt man sie als idealen Fluchtpunkt einer sprachlichen Wirklichkeit, nicht nur eine ideale Bedingung rationaler Verstandigung, sondem in
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Wirkli~hkeit zugleich eine Bedingung idealen Verstandigtseins - einen Zustand also wiederum, in dem das Dunkel, das zwischen den Subjekten und in ihnen ist, sich endgültig gelichtet hatte. Ohne dieses Dunkel aber ware au~h keine Sprache mehr; es sei denn di e ideale der konstrukttv.~n Se~ mantiker, die freilich den Tag zur Nacht machen w~rde.
IX
Mit den Überlegungen der beiden letzten Abschnitte ha?e ich implizit bereits dem Letztbegründungsanspruch der Diskursethik widersprochen. Dieser Widerspruch bedarf allerdings, soweit er sich gegen Letztbegründungsargumente von Apel und Habermas richtet, selbst noch einer Begrün~un?. Meine These ist, da6 sich ein universalistisches Moralpnnz1p nicht aus, wie es bei Habermas hei6t, »normativ gehaltvollen Prasuppositionen« der Ar~umentati?n able~ten la6t. Ich übergehe hier die Untersche1dung zw1schen emer »Starken« 'und einer »schwachen<< Versiori des Letztbegründungsarguments (Apel versus Habermas'), da si emir für meine eigen~n Überlegungen nur von sekundarer Bedeutung. zu ~em scheint .. Ich werde nicht direkt auf Habermas' Sk1zze emer Ableitung des U niversalis~erun~sgrundsatz~s a~s Pr~su~positionen der Argumentatwn emgehen, we1l d1e sk1Zz1erte Ableitung, wie ich meine, evidenterma6en falsch ist: Habermas führt namlich an entscheidender Stelle eine zusatzliche »Semantische<< Pramisse ein (da6 wir »mit gerechtfertigten Normen den Sinn verbindert, da6 diese gesellschaftliche Materien im gemeinsamen Interesse der moglicherweise Betroffenen regeln <<, vgl. DE r o 3 ), durch welc?e der zentr~le Gehalt des Universalisierungsgrundsatzes gle1chsam auf emem verbotenen Seitenweg eingeführt wird. Ich mochte im folge~den das Problem direkt angehen, das hei6t, ich mochte d1e Frage stellen, in welchem Sinne Prasuppositionen der Argu-
r Vgl. auch die auf Seite 51 Anm. I angegebene Literatur.
mentation einen universalistisch verstandenen moralischen Gehalt haben konnen. Meine Antwort wird sein, da6 dies allenfalls unter Voraussetzung einer (starken) Konsenstheorie der Wahrheit der Fali sein konnte, von der ich aber gezeigt habe, da6 sie falsch ist. Ich gehe davon aus, da6 Apels und Habermas' Begründung von unvermeidlichen Prasuppositionen der Argumentation richtig ist, da6 also derjenige, der die Çültigkeit dieser Prasuppositionen argumentativ zu bestreiten versucht, sich in einen performativen Widerspruch verwickelt.• Argumen-
I Apel hat das Prinzip der Letztbegründung der normativen Grundlagen der Argumentation folgendermaBen formuliert: » Wenn ich etwas ·nicht ohne aktuellen Selbstwiderspruch bestreiten und zugleich nicht ohne formallogische petitio principii deduktiv begründen kann, dann gehiirt es ... zu jenen transzendentalpragmatischen Voraussetzungen der Argumentation, die man immer schon anerkannt haben muB, wenn das Sprachspiel der Argumentation seinen Sinn behalten soU. Man kann daher diese transzendentalpragmatische Argumentationsweise auch die sinnkritische Form der Letztbegründung nennen« (K.-0. Apel, >>Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik«, in: B. Kanitschneider (Hrsg.), Sprache und Erkenntnis, Innsbruck 1976, S. 72f.). Obwohl ich im folgenden davon ausgehe, daB es im Sinne von Apel und Habermas unhintergehbare Prasuppositionen des Argumentierens gibt, habe ich eine stringente Durchführung des Letztbegründungsarguments bei Apel oder Habermas bisher nicht gefunden. Hiermit hangt, wie ich glaube, zusammen, daB bisher nicht klargeworden ist, welches genau die unhintergehbaren Prasuppositionen des Argumentierens wirklich sind. Hier zwei Beispiele für einen angeblich »performativen<< oder »pragmatischen<< Selbstwiderspruch, der keiner ist: (r) Apel behauptet, daB die folgende Behauptung einen pragmatischen Selbstwiderspruch enthalte: »Ich behaupte hiermit (= ich proponiere ais universal konsensfahig in der idealen Kommunikationsgemeinschaft), daB nicht alie diskursiv begründbaren Normen - einschlieBiich der pragmatisch zweckmaBigen Diskurseinschrankungen - universal konsensfahig sein müssen« (K.-0. Apel, »LaBt sich ethische Vernunft von strategischer Zweckrationalitat unterscheiden?<<, in:Archivo diFilosifia, 1983, Nr. 1-3, S. 424). Die Behauptung, um die es geht, ist, daB nicht alie diskursiv begründbaren (also auch konsensfahigen) Normen konsensfahig sein müssen. Dies scheint mir eine Behauptung der Art zu sein wie etwa, daB nicht alie weiBen Elefanten weiB sein müssen. Daher handelt es sich zwar um einen Widerspruch, aber doch wohl eher um einen simplen logisch-semantischen Widerspruch. (2) Das
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tierend kann ich nicht bestreiten, daB ich meinen Argumentationspartnern gegenüber zur Aufrichtigkeit verpflichtet bin, daB nur das bessere Argument zahlen soll oder daB niemand der Beteiligten daran, gehindert werden darf, Argumente vorzubringen. Ich behaupte aber, daB die allgemeine~ Argumentationsnormen, auf die wir hier stoBen, keine universalistischen Moralnormen oder auch Metanormen der Moral sind. Diese These mõchte ich in zwei Schritten begründen: . (1) Die Argumentationsnormen, von denen die Rede ist,
zweite Beispiel stammt aus Habermas' Arbeit über die Diskursethik. Es heilh dort: »Auf ahnliche Weise mügten sich performative Widersprüche für AuBerungen eines Proponenten nachweisen lassen, der den folgenden Satz, begründen mochte: (3)'' Nachdem wir A, B, C, ... von der Diskussion ausgeschlossen (zum Schweigen gebracht bzw. ihnen unsere Interpretation aufgedrangt) haben, konnten wir uns endlich davon überzeugen, dag N zu Recht besteht, wobei von A, B, C, ..• gelten soll, daB sie (a) zum Kreise derer gehoren, die von der Inkraftsetzung der Norm N betroffen sein würden, und sich (b) ais Argumentationsteilnehmer in keiner relevanten Hinsicht von den übrigen unterscheiden<< (DE 101).
In welchem Sinne konnte die Behauptung (3)* unter den Voraussetzungen (a) und (b) einen Widerspruch enthalten? Ich glaube, die Antwort ist wiederum einfach: Wenn di e aus der Diskussion Ausgeschlossenen .sich in keiner relevanten Hinsicht von den Argumentierenden unterscheiden, so kann dies nur heiBen, daB ihre Argumente ebenso gewichtig oder ernst zu nehmen sind wie die der zur Diskussion Zugelassenen. Diese Argumente zu unterdrücken heiBt somit, Argumente zu unterdrücken, die für die Wahrheitsfindung erheblich sein konnen. Die Behauptung (3)'' besagt daher, daB »WÍr« uns von etwas überzeugt haben, indem wir einen Teil der moglicherweise relevanten Argumente nicht zur Kenntnis genommen haben. Es heiBt also zu sagen, daB es moglicherweise gute Argumente gegen unsere Überzeugung gibt: aber wir werden sie nicht zur Kenntnis nehmen. Es heiBt zu sagen, daB unsere Überzeugung gut begründet, aber moglicherweise nicht gut begründet ist. Und dies scheint mir wiederum kein performativer, sondern ein .logischer Widerspruch zu sein. Ich babe diese beiden Beispiele angeführt, um deutlich zu machen, daB alies davon abhangt, daB genau gezeigt wird, an welcher Stelle di e Letztbegründung wirklich greift.
kõnnen evidenterweise keine Normen für die Aufnahme oder den Abbruch von Argumentationen sein. Wenn diese Normen mir aber freistellen, ob ich mich auf Argumentationen einlasse oder nicht, ob ich Dialoge abbreche oder nicht dann ist es prima facie unplausibel, sie überhaupt als mora~ li~ch gehalt.vo~l z~ verstehen. Apel und Habermas glauben d1ese Schw1engke1t umgehen zu kõnnen, indem siê auf die allgemeine ?eltungsorientierung der Rede oder sogar, wie Apel, des emsamen Denkens hinweisen. Wenn ich diese Geltungsorientierung der sprachlichen Rede und des Denkens wirklich verstanden habe, so kõnnte man sagen, dann habe ich auch verstanden, daB ich Argumente - vor aliem solche; die gegen mich sprechen- nicht unterdrücken darf, und zwar unabhangig davon, wer sie auBert. Dies ist sicherlich in gewissem Sinne richtig: Wir nennen jemand irrational, der Argumente oder Erfahrungen, die seine Überzeugungen erschüttern müBten, nicht an sich herankommen laBt; der also Argumente und Erfahrungen >>Unterdrückt« nicht, weil die Argumente ín Wirklichkeit schlecht oder di~ Erfahrungen irrelevant waren, sondern im Sinne einer bloBen Abwehr. Zum Begriff eines guten Arguments aber gehõrt es, daB ~~~ von der Person absehen, die es jeweils auBert. Diese Uberlegungen scheinen nun, jedenfalls für den .Fall kontr.?verser Geltungsansprüche; gleichsam eine Nõugung des Ubergangs vom Reden, Handeln und Denken zum Argumentieren zu beweisen, und zwar so, als ware es in einem fundamentalen Sinne irrational, wenn wir uns nicht mit jedem sprach- und handlungsfahigen Wesen auf dessen Verlangen auf einen Diskurs einlassen würden. Ich glaube, daB dies .in etwa clie Grundintuition ist, welche bei Apel und Habermas gleichsam die Brücke schliigt von den Prasuppositionen der Argumentation zur universalistischen Moral. Aber diese Brücke tragt nicht. Di e Forderung, keine ~rgume?te zu unterdrücke~, die wir als q:undforderung emes ratwnalen Umgangs m1t den eigenen Uberzeugungen anerkannt haben, ist namlich keineswegs gleichbedeutend
o '
mit der Forderung, uns der Argumentation mit anderen -wer immer sie seien - nicht zu verweigern. Irrational wird eine spkhe Verweigerung erst, wenn wir uns verweigern,
'etwa weil wir Angst vor den Argumenten der anderen haben. Im übrigen mag eine solche Verweigerung unmoralisch sein, weil wir dem anderen ein Recht bestreiten, das wir ceteris paribus sehr wohl für uns selbst in Anspruch nehmen würden. Diese moralische Dimension der Argumentation lafh sich aber nicht aus der Geltungsorientierung der Rede zusammen mit den Prasuppositionen der Argumentation erklaren, sondem viel eher durch ein Verallgemeinerungsprinzip im Kantischen Sinne. Ich behaupte also, da6 die Verpflichtung, keine Argumente zu unterdrücken, die in der Geltungsorientierung der Rede begründet ist, keinerlei direkte Konsequenzen hinsichtlich der Frage hat, wann und mit wem und worüber ich zu argumentieren verpflichtet bin. 1 Nur unter Voraussetzung einer Konsenstheorie der Wahrheit kann es so scheinen, und zwar deshalb, weil unter dieser Voraussetzung die argumentative Herbeiführung von Konsensen als Grundform eines rationalen Umgangs mit den jeweils eigenen Geltungsansprüchen definiert ist. (2) Die bisherigen Überlegungen legen die Vermutung nahe, da6 es sich bei den unausweichlichen Prasuppositionen der
I Dies zeigt sich auch an den von Habermas (im AnschiuB an Aiexy) angeführten Diskursregein, aus denen dann der Grundsatz (U) abgeieitet werden soll. Di e Regei (3. I) (vgl. DE 99) iautet: >> Jedes sprach- und handiungsfahige Subjekt darf an Diskursen teiinehmen<<. Ich brauche nicht zu betonen, daB ich die universaiistischen lntuitionen teiie, die in dieser Regei zum Ausdruck kommen. Aber es iaBt sich doch nicht übersehen, daB die Regei, so wie sie formuiiert ist, entweder faisch oder (reiativ) nichtssagend ist. Entweder sagt die Regei namlich, daB ich vcrpflichtet bin, mit jedem sprach- und handlungsfahigen Wesen auf dessen WUJisch jederzeit und über jeden Gegenstand in einen Diskurs einzutreten, und dann ist sie evi.dentermaBenfalsch. Oder sie sagt, daB kein sprach- und handlungsfahiges Wesen prinzipiell von Diskursen ·ausgeschlossen werden darf, und in diesem Falle ware die Regei viel zu schwach.
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Argumentation gar nicht um moralische Verpflichtungen handelt. Wohlgemerkt: Ich bestreite nicht, da6 moralische Verpflichtungen gleichsam die Praxis des Argumentierens durchdringen. Dies lie6e sich aber dadurch erklaren, da6 eine Maxime der Dialogverweigerung nicht verallgemeinerbar ist. Fraglich ist aber, ob diejenigen Argumentationsnormen, die wir nicht ohne performativen Widerspruch bestreiten konnen, Verpflichtungen moralischer Art bezeichnen. Anders ausgedrückt: Fraglich ist, ob das »müssen<< der Argumentationsnormen sich sinnvoll als ein moralisches »müssen« verstehen la6t. Ein solches »müssen« kommt sicherlich an den »Randern« der Argumentation ins Spiel, dort also, wo es um den B.eginn oder die Fortsetzung oder die Verweigerung von Dialogen geht. Wenn aber die Argumentationsnormen nichts darüber sagen, ob ich dem anderen, dem ich als Argumentationspartner gleiche Rederechte zugestehen mu6, auch noch die Ausübung dieser Rechte gleichsam im nachsten Augenblick gestatten werde, dann la6t sich das »müssen« der Argumentationsnormen schwerlich als ein moralisch gehaltvolles »müssen« interpretieren. Es scheint sich hier vielmehr um ein »müssen« zu handeln, wie es mit konstitutiven Regeln verbunden ist: dieses »müssen« kann ich als Argumentierender deshalb nicht bestreiten, weil es für die Praxis des Argumentierens konstitutiv ist. Freilich sind Argumentationsnormen nicht Regeln eines Spiels, auf das wir uns nach Belieben einlassen oder nicht einlassen konnen. Si e hangen vielmehr intern zusammen mit Rationalitatsnormen wie etwa derjenigen, die besagt, da6 wir keine für unsere Geltungsansprüche relevanten Argumente unterdrücken dürfen, und solchen Normen konnen wir uns - das ist das Richtige an den lntuitionen von Apel und Habermas - als sprechende und argumentierende ·Wesen nicht entziehen. Gerade darin aber, da6 sich die Unausweichlichkeit von Rationalitats-Verpflichtungen durch ein »Prinzip des zu vermeidenden performativen Wider-
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spruchs<< zum Ausdruck bringen laBt, zeigt sich zugleich, daB die allgemeinsten Rationalitatsnormen nicht unmittelbar einen moralischen Gehalthaben kõnnen. RationalitatsVerpflichtungen beziehen sich auf die Anerkennung von Argumenten, moralische Verpflichtungen auf die Anerkennung von Personen. Es ist eine Forderung der Rationalitat, auch di~ Argumente meines Feindes. anzuerkennen, wenn si e gut sind; es ist eine Forderung der Moral, auch diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die noch nicht gut argumentieren kõnnen. Überspitzt gesagt: Rationalitats-Verpflichtungen beziehen sich auf Argumente ohne Ansehen der Person; moralische Verpflichtungen beziehen sich auf Personen ohne Ansehen ihrer Argumente. DaB Rationalitatsforderungen und moralische Verpflichtungen vielfach und auf komplexe Weise miteinander verschrankt sind, ist natürlich gar nicht zu leugnen, aber nur vom imaginaren >>hõchsten (Blick-)Punkt<< einer idealen Kommunikationsgemeinschaft kann es so scheinen, als ob beide letztlich zusammenfallen würden. Ich mõchte meine grundsatzlichen Argumente gegen den Versuch einer Letztbegründung der Diskursethik verdeutlichen am Beispiel der klaren und sorgfaltigen Ausarbeitung des Letztbegründungsarguments durch Wolfgang Kuhlmann.' Die Letztbegründung bezieht sich bei Kuhlmann zunachst - ebenso wie bei Apel und Habermas - auf die »Regeln und Prasuppositionen sinnvollen Argumentierens', die in einem zweiten Schritt dano als (diskursinterne) Normen der Kooperation gedeutetwerden.J Diese Kooperationsnormen sind das Gegenstück zu den von Habermas angeführten >>Diskursnormen<< (vgl. DE 99); sie verpflichten uns, wie es bei Kuhlmann heiBt, >>dazu, als gleichberechtigte Partner zu kooperieren, uns wechselseitig als gleichbe-
I Wolfgang Kuhlmann, Ref/exive Letztbegründ11ng, München I985. 2 A.a.O., S. 22ff. 3 A.a.O., S. I96ff.
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rechtigt in der Argumentation anzuerkennen und zu behandeln.« Sie verlangen, >>daB in der Argumentation jedem Teilnehmer das gleiche Recht zugestanden wird, zu widersprechen, zu unterbrechen, neu anzufangen, die Fortsetzung der Argumentation zu verlangen, Fragén zu stellen, auf Begründung zu bestehen, neue Gesichtspunkte heranzuziehen etc.«' Auf dem Umweg über diese in den Prasuppositionen der Argumentation impliziten Kooperationsnormen versucht nun Kuhlmann, die Grundncirm der Kommunikationsethik abzuleiten; sie lautet bei ihm: >>Bemühe dich in allen Fallen, in denen deine lnteressen mit denen anderer kollidieren konnten, um einen vernünftigen praktischen Konsens mit ihnen.<< 2 Nun kann aber Kuhlmann die Brücke von den diskursinternen Verpflichtungen zu einem diskursübergreifenden Moralprinzip nur dadurch schlagen, daB er die Differenz zwischen einsamer Überlegung und realem Diskurs von vornherein einzieht: er gebraucht das Wort »Argumentation« so, daK es die geltungsorientierte einsame Überlegung mit umfaBt.J Weil er die einsame Überlegung von der realen Argumentation her deutet, fühlt er sich berechtigt, an entscheidenden Stellen seiner Ableitung die Bemühung .um konsensfahige (d. h. wahre) Lõsungen gleichzusetzen mit der Bemühung um die Herbeiführung vernünftiger Konsense. So etwa in der Grundnorm Nz, die >>die Unhintergehbarkeit des Willens zum vernünftigen KonsenS<< zum Ausdruck bringen soll; sie lautet: >>Wenn wir an der Lõsung eines Problems ernsthaft interessiert sind, dann müssen wir uns um eine Lõsung bemühen, der jedermann zustimmen konnte, um einen vernünftigen Konsens«.4 Erlauternd hierzu heiBt es bei Kuhlmann: >>Was wir in Wahrheit wollen, wenn wir wirklich
I A.a.O., S. I98. . 2 A.a.O., S. 208.
3 Vgl. die Diskussion des >>Zweiten Einwandes«, a.a.O., S. 227ff. 4 A.a.O., S. I89.
etwas wissen wollen, wenn wir wirklich die Losung eines Problems haben wollen, das ist eine Losung,für die sich alle guten Gründe anführen lassen, gegen die sich kein berechtigter Widerspruch erhebt und erheben kann, eine Losung also, der jedermann mit Recht zustimmen konnte. Was wir wollen, ist ein vernünftiger Konsens.«' Wenn der Wille zur Wahrheit gleichbedeutend ist mit dem Willen zur Herbeiführung vernünftiger Konsense, dann sind in der Tat universalistisch zu verstehende Normen einer.realen, gleichberechtigten Kooperation mit allen anderen von allem Anfang an in die Geltungsorientierung der Rede eingebaut. In diesem Falle ware die Grundnorm der Kommunikationsethik nichts weiter als eine Spezifikation der allgemeinsten Rationalitatsverpflichtungen für den Spezialfall von lnteressenkonflikten. Meine Einwande betreffen nicht eigentlich die Deutung der einsamen Überlegung als eines virtuellen Dialogs. lm Gegenteil: Wenn wir in unseren Überlegungep verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigen, ·uns selbst Einwande machen usw., so laíh sich dies kaum anders verstehen als nach dem Bild eines verinnerlichten Dialogs. Dementsprechend konnte mandas Bemühen um »richtige<< Losungen verstehen als die Bemühung, zu einem Einverstandnis mit uns selbst zu kommen, das stellvertretend steht für ein in einem offentlichen Dialog erzielbares Einverstandnis: auf der inneren Bühne des einzelnen Subjekts werden zugleich die Stimmen der anderen laut. Aus diesem Grunde haben reale »Offentliche« Dialoge immer auch die Funktion eines Tests, in ihnen muB sich erst erweisen, ob wir di e moglichen Argu- · mente, Gesichtspunkte oder Einwande der anderen in unseren einsamen Überlegungen wirklich richtig getroffen haben. Nun sind aber die anderen, die in unseren einsamen Überlegungen zu Wort kommen, immer »reprasentative« andere, ihr Anspruch, gehort zu werden, ist der Anspruch,
I A.a.O., S. I90.
den ihre Argumente darauf haben, berücksichtigt zu werden. Deshalb kann aber auch die Verpflichtung zum Eintritt in reale Diskurse nur so weit reichen wie die Verpflichtung, keine relevanten Argumente ZU unterdrücken oder moglichen Einwanden nicht auszuweichen. Diese Verpflichtung ist aber nicht gleichbedeutend mit der Verpflichtung, einen realen und allgemeinen vernünftigen Konsens herbeizuführen, sie ist daher auch nicht gleichbedeutend mit universalistisch verstandenen Kooperationsverpflichtungen. Di e Forderung, keine Argumente zu unterdrücken, laBt vielmehr die Frage offen, mit welchen realen Personen und worüber und wann ich zu argumentieren verpflichtet bin, sie laBt daher auch die Frage offen, in welchen Fallen ich verpflichtet bin, auf einen realen Konsens hinzuwirken. Nur wenn man eine starke, kriteriale Version der Konsenstheorie voraussetzt, lassen sich elementare Rationalitatsverpflichtungen unmittelbar deuten als die Verpflichtung, in strittigen Fragen auf die Herbeiführung eines vernünftigen Konsenses hinzuarbeiten. Wenn man diese Voraussetzung fallenlaBt, zeigt sich dagegen, daB allgemeine Rationalitatsverpflich~ tungen oder auch allgemeine Prasuppositionen des Argumentierens zu schwach sind, um allein ein universalistisches Moralprinzip zu tragen.' · . Die letzten Uberlegungen legen im übrigen eine neue Deutung des Begriffs einer >>idealen Kommunikationsgemeinschaft<< nahe. In der einsamen Überlegung, so konnte man sagen, ist die reale Kommunikationsgemeinschaft als ideale prasent, das heiBt aber: sie ist prasent in der Form aller der moglichen Argumente, die von den Mitgliedern einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft geauBert werden · konnten. »Ideal« aber ist diese virtuell prasente Kommunikationsgemeinschaft in einem doppelten Sinn: si e ist erstens ideal, weil sie nur in der Form moglicherArgumente prasent ist, die von wirklichen Personen und aus einer Vielzahl von
I Vgl. aber unter Abschn. XI.
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Perspektiven geauBert werden konnten; si e ist also prasent als eine Gemeinschaft der Argumentierenden, in welcher nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments zahlt. Und diese Gemeinschaft ist zweitens ideal, weil wir uns auf eine unbegrenzte Komrriunikationsgemeinschaft so beziehen, als ware sie in idealer Gleichzeitigkeit versammelt. In diesem Sinne nun laBt sich leicht zugestehen, daB die Unterstellung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft konstitutiv ist auch für reale Argumentationssituationen. Die Idealisierung erlautert hier iri der Tat eine Sinnbedingung dessen, was wir »rationales Argumentieren<< oder auch >>rationales Überlegen« nennen. Es handelt sich um eine idealisierende Abstraktion von den empirischen Personen, welche Argumente auBern- daR wir Argumente als Argumente betrachten, schlieBt ein, daB wir sie uns gleichsam abgelõst denken von den Personen, die sie vorbringen oder vorbringen kõnnten. So verstanden ist die Unterstellung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft zwar notwendig; wir würden uns aber über den moglichen Sinn dieser V nterstellung tauschen, wenn wir sie als Antizipation eines von der realen Kommunikationsgemeinschaft zu realisierenden I dealzustands verstehen würden, und zwar eb~nso, wie wir uns über den Sinn der notwendigen Unterstellung intersubjektiv geteilter Bedeutungen tauschen, wenn wir sie als Antizipation einer letzten, einer idealen Sprache verstehen. Ich will sagen: Wir tauschen uns über den Sinn der Notwendigkeit dieser Untersiellungen, wenn wir sie zu Idealen der Wirklichkeit hypostasieren, auch wenn vielleicht, wie ich es früher angedeutet habe, der tauschende Schein in der Sprache selbst verankert ist. Die Prasenz der idealen Kommunikationsgemeinschaft in der realen laBt sich zwar, wie Apel es mõchte, verstehen als Ausdruck der unhintergehbaren Geltungsorientierung menschlicher Rede, aber der Stoff, aus dem dies Ideal gemacht ist, eignet sich nicht für den Entwurf einer idéalen Lebensform. Die idealisierenden Unterstellungen der Argumentation enthalten weder ein letztes
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Fundament der Moral noch den Vorschein emer letzten Versõhnung.'
r Nach diesen Überlegungen iaBt sich der Fehier der Apeischen Letztbegründungsidee an eirÍer einzigen kurzen Passage aus einem neueren Text Apeis verdeutlichen (K.-0. Apel, »Laih sich ethische Vernunft von strategischer Zweckrationaiiüit unterscheiden?«, a.a.O., S. 375 ff.). Die Passage steht im Zusammenhang einer Kritik am transzendentaien Soiipsismus Kants, der Kant, wie Apel meint, dazu notigte, das Moraigesetz ais ein >>Faktum der Vernunft<< auszugeben, statt es zu begründen. »Diese Situation andert sich entscheidend<<, so Apei, »wenn gezeigt wird, daB schon das intersubjektiv gültige Denken ais sprachgebundenes die Struktur des Diskurses hat. Jetzt iaBt sich durch transzendentaie Seibstreflexion des >lch denke< nachweisen, daB mit der Diskursstruktur zugieich auch eine - im Prinzip unbegrenzte - Gemeinschaft endlicher Vernunftwesen und die ebenso grenzenios zu verallgemeinernde Gegenseitigkeit der Ansprüche (=der argumentativ vertretbaren Interessen bzw. Bedürfnisse) und der Überprüfungskompetenz für Argumente, kurz: eine in der reaien Kommunikationsgemeinschaft kontrafaktisch antizipierte ideale Kommunikationsgemeinschaft vorausgesetzt wird. Konsensfiihigkeit für die ideaie, unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft ist damit ais reguiative Idee intersubjektiver Gültigkeit von theoretisch relevanten wie von praktischethisch reievanten Argumenten anerkannt<< (a.a.O., S. 421). An dieser Passage wird unmitteibar deutlich, daB die vermeintliche Letztbegrilndung der Ethik unmitteibar zusammenhangt mit der Transformation einer notwendigen Unterstellung i~ eine notwendige Antizipation ( eine notwendige reguiative Idee), wobei natürliéh entscheidend ist, daB der Sinn der Unter~ stellung seibst miBdeutet wurde. ·
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3. Ansatze einer Vermittlung zwischen Kantischer und Diskursethik
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Ich habe oben (Abschn. VI) zu zeigen versucht, daB in Habermas' Formulierung des Universalisierungsgrundsatzes ein universalistisches Moralprinzip auf unglückliche Weise mit · einem prozeduralen (naturrechtlichen) Legitimitatsprinzip konfundiert ist. Diese Konfundierung ist in einer Konsenstheorie der Wahrheit begründet, die sich ais eine gehaltvolle Theorie im Sinne von Habermas und Apel nicht verteidigen laBt. Was allerdings die Konfundierung von Moral- und Legitimitatsprinzip bei Habermas betrifft, so habe ich die Unterscheidung zwischen Fragen der moralischen Richtigkeit und Fragen der Normengerechtigkeit bisher mehr vorausgesetzt ais erlautert. Der Einfachheit halber werde ich die Unterscheidung zunachst ais eine zwischen moralischen u~d Rechtsnormen erlautern. Was die sogenannten morahschen Normen betrifft, so ist bei ihnen immer mitzudenken, daB sie entweder unbestimmt sind wÍe das Moralprinzip selbst (>>Die Würde des Menschen ist unantastbar«) oder auch wie ethische Pflichten von »weiter<< Verbindlichkeit (»hilf den Notleidenden<<) oder aber auf die Moglichkeit von Ausnahmen hin »angelegt« sind. Letzteres hangt damit zusammen, daB es beim moralischen Urteil primar um Handlungsweisen-in-Situationen- Kantisch: Maximen- geht und erst in einem abgeleiteten, wenngleich moralpsychologisch wichtigen Sinne um allgemeine Normen. Diesen Vorbehalt vorausgesetzt, mochte ich auf drei charakteristische Unterschiede zwischen moralischen und Rechtsnormen hinweisen. (I) Rechtsnormen werden, im Gegensatz zu Moralnormen in Kraft oder auBer Kraft gesetzt, und sie gelten, wenn si~
in Kraft sind, jeweils für einen bestimmten Kreis von Betroffenen. Rechtliche Verpflichtungen sind eine Funktion von in Kraft befindlichen Rechtsnormen. Moralische Normen dagegen und desgleichen moralische Verpflichtungen gelten, wenn sie gelten, unabhangig von Akten der Inkraftsetzung. Den Unterschied, auf den es hier ankommt, kann man sich leicht am Artikel I. I unseres Grundgesetzes klarmachen: DaB die Würde des Menschen unantastbar ist, gilt - ais moralisches Gebot - auch unabhangig davon, daB es in unserer Verfassung steht. DaB dieses moralische Gebot ais eine Rechtsnorm in unsere Verfassung aufgenommen wurde, hatte natürlich den Sinn, nach den Erfahrungen der deutschen Geschichte den Gesetzgeber und die Rechtsprechung auch durch eine entsprechende rechtliche Verpflichtung zu binden. - Natürlich paBt die analytische Unterscheidung zwischen Moral- und Rechtsnormen nicht auf die konkrete Sittlichkeit traditionaler Gesellschaften. Der Übergang zur post-konventionellen .Moral bedeutet aber zugleich eine Konventionalisierung des Rechts: Rechtsgeltung wird gewissermaBen frei verfügbar, wenngleich moralischen Einschrankungen unterworfen. Einige dieser moralischen Einschrankungen sind als Rechtsnormen- und zwar mit gutem Grund - in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen worden. Der Begriff der moralischen Verpflichtung hangt zusammen mit dem der Begründung eines normativen Geltungsanspruchs; der Begriff der rechtlichen Verpflichtung dagegen hangt zusammen mit dem der sozialen ( also in gewissem Sinne faktischen) Geltung einer Norm. Auch wenn Rechtsgeltung ohne ein Moment von Anerkennung kaum denkbar ist, geht sie doch in Anerkennung niemals auf: es gehort zu ihr ein Moment purer Faktizitat, und sei es auch nur das eines freiwilligen gemeinsamen Beschlusses. Nur weil moralische und Rechtsgeltung analytisch nicht zusammenfallen, konnen wir überhaupt die Frage stellen, bis zu welchem Grade wir moralisch verpflichtet sind, den faktisch gelten-
den Rechtsnormen zu folgen. U nd selbst wenn wir eine mo~ raiisch begründete Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Normen voraussetzen, bieibt es immer sinnvoll zu fragen, wie weit wir moraiisch verpflichtet sind, auch ungerechte Normen zu respektieren, oder ob wir unter bestimmten Umstanden das moraiische Recht oder sogar die moraiische Pflicht haben kõnnten, eine gerechte Norm zu verietzten. Dagegen ware es purer Unsinn, wenn jemand die Frage stellte, ob wir auch ungültigen moraiischen Normen zu foigen moraiisch verpfiichtet sind. (2) Rechtsnormen sind in der Regel- im Gegensatz zu moraiischen N ormen- konstitutiv für eine Praxis: Wir kõn.nen uns Rechtssysteme ohne einen groBen Anteii konstitutiver Regein gar nicht denken. Rechtsnormen sind konstitutive Regeln, insofern sie nicht bioB Rechte und Pflichten, Befugnisse und Sanktionen festlegen, sondem darüber hinaus Praktiken (etwa »Wahi zum Bundestag«), lnstitutionen ( etwa »Bundestag«, » Verfassungsgericht«) oder Organe ( >> Bundeskanzier«) >> konstituieren «. Bundestagswahien, Regierurigsbeschlüsse, Gesetzesverkündigungen oder ~uch Steuerschulden gabe es nicht ohne das System einander wechselseitig stützender Definitionen und konstitutiver Regein, weiches das Recht auch ist. Natürlich kõnnte sich, wie es in Engiand der Fali war, ein entsprechendes System von lnstitutionen und Praktiken gieichsam naturwüchsigdas heiBt namiich: historisch - herausgebiidet haben, ebenso wie sich inxevoiutionaren Situationen neue lnstitutionen und Praktiken spontan herausbiiden kõnnen- etwa ein System von Raten. Aber für den konstitutiven Charakter von Regeln spielt es keine entscheidende Rolle, oh sie expiizit kodifiziert oder nur in einem allgemeinen Einverstandnis begründet sind. Wie hei Spielen kann eine Praxis bestehen, ohne daB die für diese Praxis konstitutiven Regein ·(etwa: was zahit ais >>Tor«, als >>Schach«, was ist ein richtiger Zug im Schachspiei usw.) schriftlich kodifiziert worden sind; es genügt, wenn in strittigen Fallen jeweils- sei es ein
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für allemai, sei es ad hoc- solche Kodifikationen vorgenommen werden kõnnen. Der konstitutive Aspekt von Rechtsnormen bringt es mit sich, daB Rechtsnormen in Form von Systemen auftreten, hierin wiederum vergieichbar Spieiregein: Man kann nicht Gefangnis für Totschiag androhen, ohne festzuiegen, was ais Totschiag gelten soll, ohne die Regein eines Gerichtsverfahrens festzuiegen und ohne Regein für den Strafvollzug. Man kann nicht Abstimmungsprozeduren im Bundestag festlegen, ohne zugieich festzulegen, worüber der Bundestag ~u beschiieBen hat, wie er zu wahlen ist, wer über die Ausführung der beschiossenen Gesetze wacht usw. Moraiische Normen haben diesen systemischen Charakter deshaib nicht, weil sie die Frage des richtigen Handeins in einer mir vorgegebenen Welt betreffen, wobei zu dem, was in der Wirkiichkeit vorgegeben ist, unter anderem auch Rechtsnormen zahien. Die soziaie Geltung von Rechtsnormen ist unter moraiischen Gesichtspunkten zunachst einmai eine Tatsache unter anderen; so etwa, daB ich weiB, daB meine Stimme nicht >>zahlt«, wenn ich den Wahischein nicht richtig ausfülle, oder daB ich mit Strafe rechnen muB, wenn ich gegen die Verkehrsregein oder gegen die Steuergesetze verstoBe. Dies bringt mich zum dritten Punkt: zum Probiem der Sanktionen. (3) Rechtsnormen sind in der Regei mit der Androhung auBerer Sanktionen verbunden. Soweit es sichum konstitutive Regein handelt, bestehen di e Sanktionen ganz einfach darin, daB die Nicht-Beachtung der Regein eine entsprechende Handiung rechtlich ungültig oder unwirksam macht: Abstimmungen oder Gerichtsurteiie etwa sind ungültig, wenn Verfahrensregein verletzt wurden- so wie ein Tor kein Tor ist, wenn es aus dem Abseits erzielt wurde. In anderen FaiIen bestehen die Sanktionen in gesetzlich festgelegten Strafen, wie Gefangnis, GeidbuBe, Veriust der bürgerlichen Ehrenrechte usw. Man kõnnte sogar behaupten, daB moraIische Grundnormen wie >>Neminem laede<<, >>nichttõten<<,
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»nicht lügen« usw. vor aliem in Form von Strafgesetzen in das Recht Eingang finden; wer das und das tut, wird mit Gefangnis nicht unter ... Jahren bestraft. lm Strafrecht werden Sachverhalte und Tatbestande mit StrafmaBnahmen verknüpft; es ist gleichsam der Witz des Strafrechts, daB es ein System abgestufter Sanktionen einführt für Handlungen, deren moralische Verwerflichkeit in der Regei (und durchaus nicht immer zu Recht) einfach vorausgesetzt wird. Die Notwendigkeit einer analytischen Unterscheidung zwischen moralischen und entsprechenden Rechtsnormen wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich klarmacht, daB es zwei ganz verschiedene Fragen sind, ob eine Handlung moralisch verwerflich ist oder ob man si e unter Strafe stelien sollte. Ich kann die Rede von der Auschwitzlüge für moralisch absGheulich halten und doch zugleich dagegen sein, daB man sie genereli mit Strafen bedroht. Im Gegensatz zu Rechtsnormen sind moralische Normen nicht in einem wesentlichen Sinne mit auBeren Sanktionen verknüpft; moralisch gutes Handeln ist nicht erzwingbar, im Gegensatz zu rechtmaBigem Handeln. lm F alie der Moral sind die wesentlichen Sanktionen interner Art': Schuldgefühl, Reue, Selbstvorwürfe, Selbstverachtung. Daher kann aber auch das moralische »muB«· nicht den gleichen Sinn haben wie das rechtliche »muB<< oder »solk Der Sinn des jeweiligen >>muB<< oder >>soli<< kann nicht unabhangig sein von der Antwort auf die Frage: Und was geschieht, wenn ich nicht tue, was ich tun muB? lm ersten Fali, dem des moralischen >>muB<<, kann die Antwort nur von der Art sein: Ich werde mit mir selbst uneins sein, werde mir selbst
I Hierauf hat insbesondere Ursula Wolf in ihrer Kritik an Tugendhat hingewiesen; in: Das Problem des moralischen Sollens, Berlin und New York I984, S. 23, 35ff. Tugendhat hat diese Kritik aufgenommen und im AnschluB daran eine sich wieder Kant nahernde Begründung der Moral vorgeschlagen, an deren Grundgedanken ich weiter unten anknüpfen werde. Vgl. Ernst Tugendhat, >>Retraktationen«, in: ders., Probleme der Ethik, Stuttgart I 984, S. I 32 ff.
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T nicht mehr in die Augen sehen konnen. lm zweiten Fali, dem des rechtlichen >>muB<<, besteht die typische Antwort in der Androhung einer auBeren Sanktion. Das Moment der Faktizitat im Begriff der Rechtsgeltung, auf das ich unter Punkt (1) hingewiesen habe, hat natürlich unter anderem etwas mit dem System abgestufter auBerer Sanktionen zu tun, welches das Rechtauch ist. Freilich konnen Rechtssysteme nicht auf Dauer durch pure Gewalt bestehen: zur sozialen Geltung des Rech~s gehort auch, daB zumindest ein wesentlicher Teil des Rechtssystems von den Betroffenen als legitim (>>gerecht<<) und daher als mit moralischen Verpflichtungen verbunden anerkannt wird. Aber >>geltendes Recht<< bedeutet nicht dasselbe wie >>als gültig (gerecht) anerkanntes Recht<<.' Vielmehr sind im Begriff der Rechtsgeltung die Momente der Anerkennung und der Erzwingbarkeit auf eine komplexe Weise miteinander vermischt. Das Moment der mit erwartbaren auBeren Sanktionen verbundenen Faktizitat laBt sich aus dem Begriff der Rechtsgeltung ebensowenig eliminieren wie das der Anerkennung. Ware es nicht so, so hatte die Frage, ob und wann und wie weit ich moralisch verpflichtet bin, den geltenden Gesetzen zu gehorchen (oder sie anzuwenden), überhaupt keinen Sinn. Wo freilich die Legitimitat des Rechts mit der Idee einer freien Zustimmung aller Betroffenen (up.d daher letztlich mit demokratischen Prozeduren) verknüpft wird, wird ein Rechtszustand denkbar, in dem physische Sanktio-
I Hierin sieht H. L. A. Hart das Wahrheitsmoment der rechtspositivistischen Tradition. Hart erkennt durchaus die Moral ais Bewertungsmaftstab für Rechtsnormen an, wendet sich aber gegen die Reduktion des Begriffs der Rechtsgeltung auf den der moralischen Gültigkeit. »Es gibt also zwei Gefahren, zwischen denen hindurchzusteuern das Bestehen auf diesem Unterschied (d. h. dem Unterschied zwischen Sein und Sollen, A. W.) uns helfen wird: die Gefahr, daB das Recht und scine Autoritat sich in den Vorstellungen der Leute davon, was Recht sein sollte, auflõst; und die Gefahr, daB das bestehende Recht die Moral in ihrer Funktion ais letzten MaBstab des Verhaltens verdrangt und sich so der Kritik entzieht<< (H. L. A. Hart, Recht und Moral, Gõttingen I97I, S. I9).
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nen nicht mehr notwendig waren, weil Konflikte in gewaltloser Form ausgetragen würden. Eine Gesellschaft ohne Gefangnisse ist denkbar. Ob es aber sinnvoll ware, die Mõglichkeit eines Rechts ohne auBere Sanktionen anzunehmen, scheint mir. ungewiB: in der » VerauBerlichung« der Sittlichkeit in positiviertes Recht und seine externen Sanktionen steckt ja auch ein S~ück Befreiung von verinnerlichtem normativem Zwang. Ich habe den Unterschied zwischen Moral und Recht an drei charakteristischen Aspekten des Rechts zu verdeutlichen versucht. Ich mõchte jetzt genauer erlautern, warum und in welchem Sinne ein universalistisches Moralprinzip von einem demokratischen Legitimitatsprinzip zu unterscheiden ist. In beiden Fallen wird die Unterscheidung zwi~ schen »richtig<< und >>falsch<< verknüpft mit dem Bezug· auf einen zwanglos gebildeten gemeinsamen Willen, sei es vernünftiger Wesen, sei es der Betroffenen. Dieser Bezug auf einen gemeinsamen Willen ist in den beiden Fallen aber unterschiedlich zu verstehen. Beim moralischen Urteil geht es darum, in konkre.ten Situationen das zu treffen, was wir als eine verallgemeinerbare Handlungsweise- in der Terminologie von B. Gert - »õffentlich vertreten<< kõnnten. Ich werde noch zeigen, welche Rolle Argumentationen in diesem Zusammenhang spielen. Die Frage, die sich jeweils stellt, ist, ob wir- namlich vernünftige Wesen- wollen kõnnen, daB eine bestimmte Handlungsweise allgemein wird, Und erst die negative Antwort auf diese Frage konstituiert ein moralisches >>muB<<. Normen spielen daher in der Moral eine abgeleitete Rolle, so wichtig sie auch unter moral- und erkenntnispsychologischen Gesichtspunkten sein mõgen. Im Recht geht es dagegen wirklich um Normen und Regeln. Ich hatte oben darauf hingewiesen, daB die >>Ent-Konventionalisierung<< der Moral im Übergang zur post-traditionalen Gesellschaft zugleich die Konventionalisierung des Rechts bedeutet hat. Mit dieser gegenlaufigen Entwicklung von Recht und Moral wird freilich zugleich das Recht unter
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die Forderungen der Moral gestellt: Die Moral wird zu einer Instanz jenseits und »oberhalb<< des Rechts. Hiermit hangt zugleich die Entwicklung eines prozeduralen, eines demokratischen Legitimitatsbegriffs zusammen: Danach ist eine Rechtsordnung legitim, wenn sie ais Ausdruck des gemeinsamen Willens der ihr Unterworfenen verstanden werden kann. Das moderne Naturrecht bis hin zu Kant hat versucht, einen entsprechenden Begriff der Rechtslegitimitat auszuarbeiten. Nun bedeutet aber der Bezug auf einen gemeinsamen Willen der von einem Réchtssystem Betroffenen hier etwas strukturell anderes ais im Falle der Moral: Es geht hier namlich um den positiven gemeinsamen Wilien der Betroffenen, ihr Leben gewissen Regeln- und das heiBt immer auch i diesen und nicht anderen- und den mit ihnen ver..; knüpften Sanktionen zu unterwerfen. Der gemeinsame Wille ist hier gleichsam in Aktion zu denken: als BeschluB oder Abmachung; zum positivierten Recht gehõrt die Handlung des In-Kraft-Setzens oder AuBer-Kraft-Setzens analytisch hinzu. Dieser Begriff der Rechtslegitimitat hat durchaus auch eine kontrafaktische Anwendung; in diesem Sinne etwa sagt Kant, der Gesetzgeber dürfe nur Gesetze erlassen, die das Volk auch über sich selbst hatte beschlieBen kônnen. Freilich liegt es in der Logik des modernen Legitimitatsbegriffs, daB die Gemeinsamkeit des BeschlieBens so weit wie mõg1ich als eine faktische realisiert wird - sofern · namlich allen Betroffenen schlieBlich ein gleiches Recht zur Teilnahme an den koliektiven Wiliensbildungsprozessen zuzugestehen ist: dies ist die Idee der Demokratie. Wenn aber legitime Gesetze so sein solien, daB alie Betroffenen sie hatten gemeinsam beschlieBen kõnnen, und wenn alie Betroffenen - im Prinzip - ein gleiches Recht zur Teilnahme ari der koliektiven BeschluBfassung haben sollen, dann versteht sich von selbst, daB die õffentlich-argumentative Klarung normativer Fragen eine zentrale Rolle bei jedem Versuch spielen muB, legitimes Recht im Sinne des .modernen Legitimitatsbegriffs zu verwirklicheri und die Anerkennung ·
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seiner Legitimiüit sicherzustellen. Für eine Rechtsnorm -oder ein System von Rechtsnormen- zu argumentieren bedeutet in diesem Falle den Versuch,gegenüber allen anderen Betroffenen mit Gründen zu zeigen, weshalb alle Gutwilligen und Einsichtigen das soziale Gelten dieser Norm oder dieser Normen als gleichermaBen gut für alle müBten beurteilen kõnnen. Habermas hat im Grunde, wie wir gesehen
. haben, diesen besonderen Fali des Zusammenhangs zwi-schen normativer Gültigkeit und realen Argumentationen zum Modellfall normativer Gültigkeit gemacht. Hierdurch fallt aber sein Universalisierungsgrundsatz hinter eine Differenzierung von moralischen und Rechtsfragen zurück, die bei Kant bereits deutlich ausgearbeitet (wenngleich nicht befriedigend gekHirt) ist. Dies bedeutet insbesondere, daB Habermas, weil er strukturell gesehen auf der Ebene der Normengerechtigkeit ansetzt, das Problem der moralischen Geltung verfehlen muB. Es ist kein Zufall, sondem durchaus in der Sache begründet, daB von Hobbes bis Kant die Vertragstheoretiker des modernen Naturrechts Fragen moralischer Geltung entweder im Vorfeld oder aber als Grundlage von Fragen der Rechtslegitimitat behandelt haben. Das berechtigte Anlieg~n de~ Diskursethik, das Recht gegen die moralische Gegenaufklarung an eine universalistische Moral zurückzubinden und hierdurch zugleich di e Ethik Kants und das moderne Naturrecht in sich »aufzuheben« - dies Anliegen laBt sich nur verwirklichen, wenn wir nicht hinter bereits erreichte Problemdifferenzierungen zurückfallen.
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In den vorangegangenen Überlegungen sind die wichtigsten Elemente einer fallibilistischen Rekonstruktion der Diskursethik bereits enthalten. Diese Elemente·gilt es jetzt zusammenzufügen. Ich werde dies auf eine indirekte Weise tun, indem ich zeige, in welcher Weise di e Idee einer diskur-
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siven Klarun'g moralischer Geltungsansprüche innerhalb der quasi-Kantischen Perspektive, die ich bisher vertreten habe, zur Geltung gebracht werden kann. Ich nenne diese Perspektive »quasi-Kantisch<<, weil ich von vornherein versucht habe, den fruchtbaren Grund~edanken Kants aus der formalistischen Hülle herauszulõsen, in der Kant ihn versteckt hat. Diese selektive Kant-Lektüre beruht auf einer Kritik an Kant, die meiner K.ritik an der Diskursethik ganz analog ist: In beiden Fallen richtet sich die Kritik gegen eine philosophische Architektonik, di e. auf ein Ideal als SchluBstein angewiesen ist: das Reich der Zwecke bei Kant, eine ideale Verstandigungssituation bei Apel und Habermas. So wie aber Gewõlbe und SchluBstein nur gemeinsam ihre Lage behaupten kõnnen, so gilt auch hier, daB die Kritik an den idealisierenden Begriffsbildungen Auswirkungen haben muB auf die ganze Konstruktion. Was dies im Falle Kants bedeutet, habe ich bisher nur angedeutet, aber nicht im Zusammenhang erlautert. Meine These ist, daB der Formalismus und Rigorismus der Kantischen Ethik direkt zusammenhangt mit dem Versuch, die Ethik sub specie aeternitatis, das heiBt aus dem Gesichtspunkt eines Reichs der Zwecke, zu begründen. Kants Moralnormen sind Handlungsmaximen für die Mitglieder eines Reichs der Zwecke. Deshalb kann es für Kant keine Ausnahmen, Unentscheidbarkeiten, Uneinigkeiten oder unlõsbaren Konflikte geben, und aus demselben Grund kann die U rteilskraft keine wichtige Rolle in der Kantischen Ethik spielen. Fürs Reich der Zwecke genügt·die »Fo'rm der Allgemeinheit«, und diese duldet keine Verunklarungen. Die wirklichen Probleme der Moral dagegen beginnen erst mit dem Problem der Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem; hierin zumindest hatte Hegel recht. Nun ist zwar die Diskursethik eigentlich genau auf dieses Problem zugeschnitten, sie kann es aber nicht lõsen, weil sie in einer zentralen Hinsicht an einer Kantischen Architektonik festhalt: auch die Diskursethik beschreibt die Moral sub specie aeternitatis.
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Gegen eine Deutung der Ethik, die von deddee einer Vollendung des Sinos geleitet ist, mêichte ich eine Deutung setzen, di e auf dem Gedanken einer Eliminierung des U nsinns beruht. Meine These ist, daB die Eliminierung des Unsinns denkbar ist, auch wenn wir sie nicht auf die Idee eines vollendeten Sinos, einer letzten Versêihnung, einer endgültigen Wahrheit beziehen. Ich glaube ferner, daB Kants Gnindgedanke sich in diesem Sinne fallibilistisch (und zugleich dia-logisch) deuten laBt. · Ich wahle, wie gesagt, einen indirekten Weg, indem ich . zeige, welchen Stellenwert Argumente und Argumentationen in Zusammenhangen moralischer Urteilsbildung und moralischer Lernprozesse haben, wenn man diese- in dem bisher erlauterten Sinne- »Kantisch<< versteht. Sobald erst einmal klar ist, in welchem Sinne argumentative und kommunikative Klarungen moralischer Fragen moglich sind, wird es üb.rigens nicht schwer sein, auch eine Dialognorm Kantisch zu begründen. Denn sofern überhaupt dialogische Klarungen moglich und womêiglich für die Betroffenen· wichtig sind, ist leicht zu sehen, daB eine Maxime der Dialogverweigerung nicht verallgemeinerbar ist. DaB eine entsprechende Dialognorm weitgehend unbestimmt bleiben muB und gleichsam erst im Kontext bestimmter.Situationsdeutungen - die freilich ihrerseits revidierbar sind - einen qestimmten Gehalt annehmen kann, betrachte ich eher als Vorzug gegenüber den quasi-transzendentalen Argumentationsnormen der Diskursethik: diese versprechen namlich zwangslaufig mehr, als sie halten kêinnen. Ich gehe im folgenden von einer simplifizierenden Voraussetzung aus, die ich erst in einem zweiten Schritt zurücknehmen werde. Die Voraussetzung ist, daB die Logik moralischer Argumentationen bereits durch ein universalistisch vetstandenes Moralprinzip bestimmt ist. Dies ist nicht im Sinne einer empirischen Annahme über alle Mitglieder unserer Gesellschaft zu verstehen, sondem im Sinne einer (me~ thodischen) Ausgrenzung solcher Argumente und Über-
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zeugungen, in denen konkurrierende Quellen normativer Geltung wie etwa Gottes Wille, die natürliche Ordnung oder die Autoritat der Tradition vorausgesetzt werden. Wir beschranken uns ·also auf moralische Argumentationen, in denen die Verallgemeinerbarkeit von Handlungsweisen als Kriterium des moralisch Richtigen oder als MaBstab des moralischen Wertes vorausgesetzt ist. Meine These ist, daB unter dieser Voraussetzung moralische Argumentationen fast ausschlieBlich die lnterpretation von Handlungs- und Bedürfnissituationen sowie das Selbstverstandnis von Handelnden und Leidenden betrifft; so daB also, wenn wir uns über Situationsdeutungen und Selbstverstandnisse geeinigt haben, di e moralischen Kontroversen in aller Regei sich auflêisen. Dies heiBt, daB die Frage, ob wir (vernünftigerweise) wollen kêinnen, daB meine Maxime ein allgemeines Gesetz. wird, mehr oder weniger gleichbedeutend wird mit der Frage, ob meine Situationsdeutungen, mein Selbstverstandnis, meine lnterpretationen angemessen, treffend oder wahrhaftig sind. Das »Wir«, das die Diskursethik so beunruhigt, steckt gleichsam in der Gültigkeit meiner Situationsbeschreibungen, meiner Wirklichkeitsauffassung und meines Selbstverstandnisses. Hier liegt deshalb auch der Einsatzpunkt für Kritik und argumentative Klarungen. Diese These ware aufzwei verschiedenen Beispielebenen zu erHiutern: erstens der der kollektiven Deutungsmuster, zweitens derdes moralischen Urteils.in komplexen Situationen. Was die Ebene der kollektiven Deutungsmuster betrifft, so lieBen sich einschlagige Beispiele in der Revision traditioneller Auffassungen der Homosexualitat, der Frauenrolle, der Erziehung, der Abtreibung oder der Kinderrechte finden. Natürlich haben die Vertreter einer universalistischen Moral (und um die geht es hier) auch früher nicht geglaubt, daB die Moral bei Homosexuellen, Frauen oder Kindern aufhêirt. Sie haben vielmehr geglaubt, daB Homosexualitat die Menschen verdirbt, daB Frauen nicht zu vernünftiger Selbstbestimmung fahig sind oder daB Kinder vor
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allem gehorchen lernen müssen, um anstandige Menschen zu werden. In dem MaBe, in dem solche Auffassungen fragwürdig werden, und da~ heiBt: nicht mehr mit guten Gründen verteidigt werden konnen, andern sich auch di e moralischen Auffassungen, die mit ihnen verbunden waren: Kinder zu schlagen wird moralisch fragwürdig, wenn man erkennt, daB es eine sinnlose Verletzung statt eine notwendige ErziehungsmaBnahme bedeutet; Homosexuelle rechtlich zu verfolgen und gesellschaftlich zu diskriminieren wird moralisch fragwürdig, wenn man erkennt, daB die Verurteilung der Homosexuellen unbegründet ist; Frauen an der Selbstverwirklichung zu hindern, wird moralisch fragwürdig, wenn man erkerint, daB die traditionellen Auffassungen über die Natur der Frau unhaltbar sind. Mit anderen WoÍ'ten: Gesellschaftlich wirksame moralische Orientierungen, wie sie etwa das Verhalten gegenüber Homosexuellen, Frauen oder Kindern bestimmen, sind verankert in kollektiven Deutungsmustern; kollektive moralische Lernprozesse finden dort statt, wo solche Deutungsmuster mit Gründen in.Frage gestellt und mit Gründen revidiert werden, wobei sogleich hinzuzufügen ist, daB solche Revisionen in der Regei nicht im Medium von Argumentationen allein, sondern unter dem Druck eines Kampfes um Anerkennung und unter dem Einflufl neuer Erfahrungen stattfinden. Das Result~t solcher Lernprozesse ist, um hei den angeführten Beispielen zu bleiben, eine neue Art und Weise, in der wir über Homosexuelle, Frauen und Kinder reden und uns zu ihnen verhalten; eine neue Art und Weise zugleich~ in der die jeweils Betroffenen sich selbst sehen und sich zu sich selbst verhalten. M oralisch gesehen aber handelt es sich dabei um eine Eliminierung von Ungleichheiten und U ngleichbehandlungen, di e gleichsam ihren Boden verloren haben, nachdem der Dogmatismus traditioneller Auffassungen sich ais grundlos erwiesen hat. Kollektive moralische Lernprozesse, so betrachtet, bestünden in der Erweiterung von Verhaltnissen wechselseitiger Anerkennung durch
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die kritische Zersetzung gesellschaftlich tradierter Deutungsmuster und Einstellungen. DaB es sich hier eher um bestimmte Negationen ais um Annaherungen ·an ein Ideal handelt, kann man daran sehen, daB di e falschen ode r ideologischen Ungleichbehandlungen ja gleichsam ein genuines Urbild haben: Ich meine jene Falle begründeter Ungleichbehandlung, in denen Menschen eine gleiche Moglichkeit zur faktischen Selbstbestimmung nicht, oder noch nicht, oder nicht mehr eingeraumt wird. Kleine Kinder, schwer Geisteskranke und Verbrecher sind drei Beispiele. Ich mochte nicht miBverstanden werden: Gerade Kinder, Geisteskranke und Verbrecher sind zugleich Beispiele dafür, daB die Idee der Selbstbestimmung weit über die Grenzen traditioneller Auffassungen hinaus in Geltung bleibt. Das heiBt aber nur, daB die Forderung, uns zu jedem menschlichen Wesen sub specie seiner moglichen Selbstbestimmung zu verhalten, in dem MaBe in ihrer Bedeutung sich radikalisieren muB, ais falsche Auffassungen über die kindliche Sozialisation, über die Natur psychischer Krankheiten oder über die Ursachen des Verbrechens sich auflosen. Kants Einsicht, daB Freiheit nur durch Einübung in die Freiheit gelernt werden kann, hat heute zum Beispiel ein ganz neues Anwendungsfeld in der demokratischen Psychiatrie gefunden. Einen idealen Grenzwert solcher Veranderungen a:ber konnen wir nicht einmal denken: nicht die Vollendung des Sinns, .sondern die Eliminierung des Unsinns ist das Prinzip des moralischen Fortschritts. Die zweite Beispielebene, auf der ich meine Grundthese erlautern mochte, ist die des moralischen Urteils in komplexen Situationen. Ich mõchte zunachst zwischen drei verschiedenen Formen der moralisch relevanten Komplexitat von Situationen unterscheiden. Moralisch komplex nenne ich Situationen, in denen verschiedene moralische Forderungen gleichsam aufeinanderstoBen, ohne daB eine leichte oder auch eine eindeutige Entscheidung moglich ist. Moralisch undurchsichtig nenne ich Situationen, in denen die mo-
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ralische Bedeutung von Handlungen unklar ist; entweder weil die Handelnden sich über ihre Motive tauschen oder weil die Kommunikationssituation im Ganzen verzerrt ist. Praktisch undurchsichtig schlieBlich nenne ich Situationen, in denen dieFolgen unserer Handlungen unklar sind. Moralisch komplex ware eine Situation, in der sich mir die Frage stellt: >Soll (oder darf) ich ihm (wirklich) helfen?< Moralisch undurchsichtig ware eine Situation, in der ich mich frage oder fragen müBte: > Will ich ihm wirklich helfen?< Praktisch undurchsichtig schlieBlich ware eine Situation, in der ich mich frage: >Kann ich ihm auf diese Weise helfen?< Alle drei Formen einer moralisch relevanten Komplexitat von Situationen müssen offenbar berücksichtigt werden, wenn man mich der Logik moralischer Argumentationen fragt, in denen es um das richtige Handeln in konkreten Situationen geht. Nun konnte man aber, zumindest im Sinne einer ersten groben Orientierung, die moralisch undurchsichtigen Situationen der Geltungsdimension der Wahrhaftigkeit, die praktisch undurchsichtigen Situationen der Geltungsdimension der empirischen Wahrheit zuordnen. Die entsprechenden Dimensionen des moralischen Diskurses konnte man dann, im Sinne von Habermas' Unterscheidungen, mit den Namen »therapeutischer« bzw. »empirisch-theoretischer« Diskurs belegen. Ich benutze diese Klassifizierungen hier nur, um jene Dimension einer spezifisch normativen Argumentation auszusondem, die im diskursethischen Moralprinzip gemeint ist und die als normativer Diskurs dem therapeutischen und dem empirisch-theoretischen Diskurs zur Seite gestellt wird. Darüber hinaus müssen wir noch eine weitere Einschrankung vornehmen: Wir haben ja einen wichtigen Aspekt moralischer Diskurse bereits behandelt, jenen namlich, hei dem es um allgemeine moralische Orientierungen, letztlich aber um gesellschaftlich wirksame Weisen der Wirklichkeitsdeutung und Bedürfnisinterpretation geht. An dem, was nach ali diesen Einschrankungen ais Kem des moralischen Diskurses übrigbleibt, müBten wir
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uns die Logik moralischer Argumentationen klarmachen konnen. Es mag zunachst unbillig erscheinen, die Diskussion auf moralisch komplexe Situationen einzuschranken. Ich gehe aber davon aus, daB, was die moralische Elementarlehre betrifft- also das willkürliche Belügen, Verletzen, Toten oder auch Im-Stich-Lassen anderer -, für di e hier vertretene quasi-Kantische Perspektive keine Probleme entstehen. Das heiBt, ich gehe davon aus, daB wir- und zwar vernünftigerweise - nicht wollen konnen, daB entsprechende Handlungsweisen allgemein werden. Daraus ergeben sich prima facie Normen wie »Neminem laede« oder ein Verbot, die Unwahrheit zu sagen. Das Problem der moralisch komplexen Situationen betrifft dann die Frage, wie, etwa im Falle des .Normenkonflikts, die Begründung von Ausnahmen zu verstehen ist. Allerdi:ngs enthalt diese Formulierung bereits eine Irreführung. Wenn Normen in der Moral nicht ein Erstes, sondem -logisch gesehen- ein Abgeleitetes sind, dann bedeutet die Begründung eines moralischen Urteils in moralisch komplexen Situationen nicht die Begründung einer Ausnahme, sondem letztlich wiederum nur die Begründung der Verallgemeinerbarkeit- oder Nicht-Verallgemeinerbarkeit - einer Handlungsweise. Ich greife an dieser Stelle zurück auf die Überlegungen des Abschnitts III. Ich hatte dort gezeigt, daB sich die sogenannten moralischen Ausnahmesituationen nicht in einem strengen (Kantischen) Sinne unter Regeln bringen lassen. Ich mochte dies noch einmal anhand von zwei Beispielen in Erinnerung rufen. Ais Beispiele wahlen wir di e beiden folgenden Maximen: >Notfalls werde ich einen unschuldig Verfolgten (Angeklagten) durch eine Lüge vor der Verhaftung (vor der Verurteilung) zu bewahren versuchen<; und: >Einem Todkranken werde ich auf dessen Wunsch Sterbehilfe leisten<. Bei beiden Maximen scheint klar, daB sie, so wie sie da stehen, nicht verallgemeinerbar genannt werden konnen. In beiden Fallen kann ich mir namlich ohne Mühe Situationen ausden-
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ken, in denen ich es für katastrophal oder doch für falsch halten würde, wenn nach diesen Maximen gehandelt würde. Der Mensch, dem ich Sterbehilfe leiste, kõnnte ja nur glauben, todkrank zu sein; ich kõnnte ihn auch ganz gern loswerden wollen, bevor er ein Testament hat machen kõnnen,
· und diesen günstigen Augenblick ausnutzen usw. Was den Unschuldigen betrifft, so kõnnte ich mich in seiner Unschuld tauschen, es kõnnte sein, daB meine Lüge einen ande-. ren Unschuldigen gefahrdet usw. Wohlgemerkt handelt es sich hier nicht um die Frage, ob das, was ich als allgemeines Gesetz wollen kann, auch alle anderen als allgemeines Gesetz wollen kõnnen. Vielmehr kann schon ich selbst, wenn ich es recht bedenke, selbst wenn ich vielleicht in einer bestimmten Situation eine entsprechende Handlung für richtig halte, die entsprechende Maxime nicht als allgemeines Gesetz wollen. Es zeigt sich also in der Tat, daB sich di e sogenannten moralischen Ausnahmesituationen im Gegensatz zu den moralisch elementaren Situationen nicht wirklich unter Regeln bringen lassen. Wollte man entsprechende »Erlaubnisnormen« formulieren, so müBten sie lauten: »In Situationen, die dieser hier genügend ahnlich sind, darf man ... « ( oder vielleicht sogar: »muB man ... «). Wir stoBen hier wieder auf die eigentümliche Asymmetrie zwischen moralisch elementaren und moralisch komplexen Situationen. Im ersten Fali ergibt sich aus der Nicht-Verallgemeinerbarkeit von Handlungsweisen wie derjenigen einer willkürlichen Verletzung anderer die Norm >>Neminem laede, es sei denn, du hattest einen guten, einen >õffentlich vertretbaren< Grund«. Solche õffentlich vertretbaren Grü.nde aber, das zeigt die Analyse des zweiten Falls, lassen sich in Form von Ausnahmenormen nur formulieren, wenn man sie entweder mit einem indexikalischen Element versehen denkt oder aber mit einer unbestimmten Einschrankungsklausel wie >>Unter bestimmten Umstanden ist es moralisch richtig, .. ;« Dies alies gilt, wie gesagt, ganz unabhangig von der Frage einer mõglichen Koinzidenz zwischen meinem
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»Wollen-Kõnnen« und dem aller anderen. Jedoch: wenn meine Analyse richtig ist, stellt sich das Problem, weil es ein rein begriffliches Problem ist, für jeden moralisch Urteilenden in derselben Weise. Dies bringt mich zum letzten Schritt meiner Überlegungen. Wir haben gesehen, daB sich das moralische Urteil in moralisch komplexen Situationen nicht als Urteil über die Verallgemeinerbarkeit einer Maxime (in einem strengen Sinne des Wortes) wiedergeben laBt. Dies bedeutet aber, daB ein Urteil über di e Verallgemeinerbarkeit o der Nicht-Verallgemeinerbarkeit von Handlungsweisen-in-Situationen- und an dieser Deutung des moralischen Urteils mõchte ich festhalten- sich in diesem Falle letztlich nur durch di e Analyse konkreter Situationen begründen laBt. Anders ausgedrückt: Moralische Argumentationen betreffen in diesem Falle vor aliem die Angemessenheit und relative Vollstandigkeit von Situationsbeschreibungen, einschlieBlich der in einer Situation gegebenen Handlungsalternativen .. Dies wird noch deutlicher; wenn wir uns an die >>negatorische Genese« des moraJischen >>muB« oder >>soll« erinnern, auf die ich oben (Abschn. n) hingewiesen habe. Aus dieser negatorischen Genese des moralischen >>muB« oder »SOll« folgt namlich, daB nicht die Verallgemeinerbarkeit, sondem die NichtVerallgemeinerbarkeit von Handlungsweisen das primare Thema der moralischen U rteilsbildung und der moralischen Argumentation ist. Verallgemeinerbar ( erlaubt, legitim) sind Handlungsweisen, die nicht nicht-verallgemeinerbar sind. Das ist deshalb nicht tautologisch, weil es hier um einen begrifflichen und kognitiven Primat der Negation geht; einen kognitiven Primat deshalb, weil die Feststellung der Nicht-Verallgemeinerbarkeit von Handlungsweisen in einer gegebenert Situation gleichsam die elementare Operation der moralischen Urteilsbildung ist. Nun scheint mir aber klar zu sein, daB die Beurteilung einer Handlungsweise ais nicht-verallgemeinerbar eine Funktion ihres Verstandnisses ais Handlungsweise in einer gegebenen Situation ist.
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Ob ich etwa di e Ausiieferung eines Fiüchtigen an di e Poiizei ais Akt der Kooperation init der Iegitimen Staatsgewalt oder ais das Im-Stich-Lassen eines Hilfiosen und unschuidig Verfoigten (bzw. ais Akt der Kompiizitat mit einem Terrorsystem) verstehe, davon hangt ab, ob ich die entsprechende Handiungsweise ais nichtverallgemeinerbar beurteilen werde oder nicht. In einer gegebenen Situation kann aber hõchstens eine der beiden Interpretationen richtig sein. Sobaid jedoch die Frage eines richtigen Situationsverstandnisses gekiart ist, wird sich in der Regei auch die Frage ~ach der Verallgemeinerbarkeit bestimmter Handiungswe1sen eriedigen. Moraiische Urteilskraft Iief~e sich demnach verstehen ais die Fahigkeit, diejenigen Aspekte von HandIungssituationen zu erfassen, von denen die Nicht-Verallgemeinerbarkeit (oder die Veraligemeinerbarkeit) von HandIungsweisen abhangt. Der moraiisch~ Diskurs ab~rware vor aliem ein Diskurs über das unter emem morahschen Gesichtspunkt richtige Wirkiichkeitsverstandnis. Meine These ist somit, daB in alier Regei moraiische Kontroversen sich auflõsen, wenn in den bisher erwahnteri verschiedenen Dimensionen des moraiischen Diskurses -allgemeine lnterpretationen, Seibstverstandnisse der Betroffenen, Situationsbeschreibungen sowie das Verstan?nis der in einer Situation absehbaren Handiungsalternauven und Handiungsfoigen- Einverstandnis erzieit ist. In diesem Sinne kõnnte man sagen, daB die Frage, ob wir- vernünftigerweise- wolien konnen, daB eine Handiungsweise aligemein wird, vor aliem die Frage. nach einem angemessenen Verstandnis konkreter Handiungssituationen ist. Auf diese Weise erkiart sich auchv.daB die Frage, was wir -ais vernünftige Wesen - gemeinsam wolien kõnnen, sich praktisch zusammenzieht auf die Frage, wie wir - die Betroffenen - unsere Handiungssituationen angemessen verstehen kõnnen. Was aber diese Frage betrifft, so .ist der Konsens einiger weniger l,Jrteiisfahiger, die den konkreten Situationen genügend pahe stehen, für die moralische Ver-
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gewisserung haufig wichtiger ais ein reaies Einverstandnis aller. Die vorangegangenen Überiegungen nõtigen uns, die zuvor eingeführte Unterscheidung zwischen >>therapeutischen«,' •empirisch-theoretischen« und (im engeren Sinne) »normativen« Aspekten des moraiischen Diskurses wieder in Frage zu stellen. Es dürfte namiich deutlich geworden sein, daB man Fragen der Wahrhaftigkeit und der empirischen Wahrheit (im weitesten Sinne) aus dem moraiischen Diskurs nicht ausgrenzen kann, ohne ihn seiner Substanz ZU berauben. Es ist ersichtlich nicht so, daB nach der Ausgrenzung jener Fra~ gen noch ein - gieichsam anaiytisch scharfgeschnittenes -Probiem der Begründung moraiischer Normen übrigbieibt. Das, was ich den » Kern des moraiischen Diskurses«- namlich nach dér Ausgrenzung jener subsidiaren Aspekte ..: genannt habe, scheint vieimehr jenen Aspekt der moraiischen Urteiisbiidung zu bezeichnen, der sich entwr:der von seibst versteht (in dem Sinne, in dem es sich nach Kant von seibst versteht, daB ich, im Lichte des kategorischen lmperativs besehen, nicht zum eigenen Vorteii lügen darf) oder aber keine intersubjektiv verbindlich!! Entscheidung mehr zu- . laBt. Dies ist weniger paradoxais es klingt; man muB namlich nur die Pramisse aufgeben, daB móralische Urteile nur durch Rekurs auf Normen begründet werden kõnnen, um zu sehen, daB moraiische Argumente nicht normativer Art zu sein brauchen. >Du hast es ihm versprochen<- das ist ein (einfaches) moralisches Argument. DaB man aber- ceteris paribus - Versprechen halten solle, das ist nicht eigentlich die Pramisse des Schlusses >Also muBt du es tun<; eine >>Pramisse<<, über die sich dann auf einer hõheren Ebene der Argumentation mit guten Gründen streiten lieBe. Vielmehr bringt diese »Praniisse« eigentlich nur unser .Verstandnis entsprechender Handiungssituationen in der Form einer prima-facie-Norm zum Ausdruck. Natürlich will ich nicht bestreiten, daB moraiische Urteile einen Index normativer Allgemeinheit tragen; in diesem
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Sinno in leicht zuzugestehen, d.Jl es in m~<ali,chen A.-gu- T mentationen immer aucb .um die Begründung von Normen f gebt. Entscbeidend ist aber, wie man diesen Zusammenbang zwiscben der Begründung von Normen und der Bewe~tung von Handlungsweisen verstebt. Habermas verstebt dtesen Zusammenbang im Sinne eines Ableitung~zusammenban-ges: daB eine bestimmte Handlung ~eboten tst, folgt ?araus, daB sie einer gültigen Norm entspncbt. Nacb der bter vertretenen Auffassung reicbt dagegen die Gültigkeit moraliscber Normen nur so weit wie die Gültigkeit der moraliscben Urteile, welcbe durcb diese Normen- nicbt ~egrün-det sondem - zum Ausdruck gebracbt werden. Dte Nor-me~ selbst tragen gleicbsam ein~n situati;en _Jnd~x, du~cb welchen sie zurückgebunden bletben an dte Sttuauonen tb-rer Generierung. Nur desbalb gibt es ein Problem der ~nwendung moraliscber Normen - und nur so laBt es stcb verstehen. M:it anderen Worten: Begründungs- und Anwendungsdiskurs lassen sich im Falle moraliscber Norm~n nicht kategorial voneinander trennen. Nur wen~ man cites im Auge bebalt, kann mandas Problem der morahsc?en U rteilsbildung in konkreten Situationen .sinnvoll.als emes der »Anwendung« moraliscber Normen mterprettere~. Icb glaube, daB die h~er vorg~scblag~n.e_J~terpre~atton m~raliscber Argumentatwnen dte Plaustbt~ttat der dtskur~etbtscben Grundidee eber verstarkt. Morahscber Dogmattsmus und moraliscber Selbstbetrug verscbanzen sicb namlicb in der Regei· binter Situationsdeutungen - einscblieBlic.b der Interpretation von Bedürfnissen und lnteressen -, dte .der Diskussion entzogen werden. In solcber Abwebr von Wuklicbkeit steckt aber potentiell immer aucb ein Stüc~ Ve~letzung von Menschen. Das Gebot. ein~r kommumkauven oder diskursiven Klarung von Sttuatwnsdeutungen ·~nd Selbstverstandnissen bat daher nicbt nur den Status emer Rationalitatsverpflicbtung, sondem den Rang ein~r moraliscben Norm- zumindest soweit es darum gebt, dte Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen. Freilicb gilt aucb
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für diese Norm, was icb früber über andere moralische Normen gesagt habe; scbon aus diesem Grunde kann sie nicbt alies andere tragen.
Exkurs. Entgegen der bier vertretene~ Position insistiert Habermas auf einer scbarfen analytiscben Unterscbeidung zwiscben Begründungs- und Anwendungsproblematik.' Habermas siebt in der Ausdifferenzierung der Begründungsproblematik von der Problematik der Anwendung sogar ein erst durcb Kant erreicbtes neues Differenzierungsniveau, hinter das >>wir nicbt zurückfallen dürfen«. 2 lcb babe demgegenüber argumentiert, daB Kant das Anwendungsproblem aufgrund seines Gesetzes-Rigorismus systematiscb vernachlassigt. Es bandelt sicb bei Kant in Wirklicbkeit um eine Ausdifferenzierung der Problematik der Normenbegründung auf Kosten der Anwen.dungsproblematik. Habermas' Differenzierungstbese leucbtet mir denn aucb nicbt ein. Was die Begründung moraliscber Normen betrifft, so batten wir ja bereits geseben, daB es sicb allenfalls um »prima facie«-Normen handeln kann (wie: Du sollst nicht lügen). Wenn es sicb aber so verbalt, dann fallt die Anwendungsproblematik zu einem guten Teil zusammen mit der Problematik der Ausnabme- oder Konfliktsituationen (das beiBt mebr oder weniger: der moraliscb komplexen Situationen). Wenn sicb aber, wie icb weiter gezeigt babe, moraliscb komplexe Situationen nicbt im gleicben Sinne unter Regeln bringen lassen wie moraliscb elementare Situationen und wenn, was eigentlicb begründet wird, die Verallgemeinerbarkeit oder Nicbt-Verallgemeinerbarkeit von Handlungsweisen in Situationen-einer-Art ist, dann lassen sicb
r Vgl. Jürgen Habermas, Die neue Übersichtlichkeit, a.a.O., S. 237; ders., »Moral und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwande gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?,,, a.a.O., S. 21 f.
2 »Moral und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwande gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?«, a.a.O., S. 2rf.
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Begründungs- und Anwendungsprohlematik nicht mehr im Hahérmasschen Sinne voneinander trennen. Etwas üherspitzt ko!Jnte man hehaupten, daB das, worum es hei moralischen Begründungen geht, ein Anwendungsprohlem ist; was »angewendet«' wird, ist das Moralprinzip selhst; Für den Fall moralisch komplexer Situationen hahe ich dies hereits erlautert, aher auch die Begründung allge~einer inoralischer Orientierungen, von denen ohen die Rede war, kõnnte manso verstehen. Um hei meinen Beispielen zu hleihen: Es ging dort um die Frage, was Prinzipien wie »Die Würde des Menschen ist unantasthat« oder »Jeder Mensch
. hat ein gleiches Recht auf freie Entfaltung seiner Persõnlichkeit« - Prinzipien, die gleichsam noch nicht sehr weit entfernt sind von der Zweckeformel des Kategorischen Imperativs - in Hinsicht auf das Verhalten gegenüher Frauen, Kindern oder Homosexuellen bedeuten. Im Gegensatz zu Hahermas hin ich also der Meinung, daB das Begründungsprohlem im Falle der Moral den Charakter eines Anwendungsprohlems hat; das, worum es im moralischen Diskurs
· geht, ist die »Anwendung« des moral point of view, sei es auf konkrete gesellschaftliche·Prohlemlagen, sei es auf individuelle Handlungssituationen. Wenn Hahermas demgegenüher sagt, daB >>keine Norm ... die Regeln ihrer eigenen Anwendung (enthalt)«', so ist dies zwar richtig, es rechtfertigt aher in dieseni Falle nicht die Trennung der Begründungs- von der Anwendungsprohlematik. Hier liegt vielmehr, wie mir scheint, eine Konfundierung zweier verschiedener Anwendungsprohleme vor. Das eine dieser heiden Prohleme stellt sich, wenn vorgegehene Regeln, Verhaltensvorschriften oder Normen- etwa Normen des Strafrechts - auf konkrete Falle angewendet werden sollen; in solchen Fallen sind Normenbegründung und Normenapplikation zwei verschiedene Dinge: Die Begründung der Norm (oder doch ihr >>ErlaB«) geht ihrer Anwendung,voraus~ Gerade aher weil mit der.Ausdifferenzierung
r A.a.O.
v_on Recht und Moral und dem Ühergang zum postkonvent!Onellen MoralhewuBtsein das moralische BewuBtsein sich emanzipiert von d~r Dogmatik vorgegehe~er Normeninhalte, ergiht sich für die Prohleme der Moral ein Anwendungsprohlem anderer Art: Bei diesem zweiten Anwendungsprohlem geht es um die Frage, wie der >>Standpunkt der Moral« selhst jeweils in der richtigen Weise :zur Geltung gehracht werden kann. Der moralische Diskurs hat es mit dieser Frage zu tun und erst in einem ahgeleiteten Sinn mit der Begründung von Normen; er ist also in einem wesentlichen Sinne ein Anwendungsdiskurs. Moralischer Diskurs und m~ralische ~ rteilskraft sind daher ihrem Gegenstand nach mcht vonemander verschieden; praktische Vernunft auBert sich als moralische Urteilskraft. (Dies scheint mir auch die eigentliche Pointe von Hannah Arendts Üherle~ungen in ih~em Aufsatz >>Thinking and Moral Consideratwns«' zu sem. Hannah Arendt trifft freilich wiederum nur den im Vergleich zu Hahermas' Vorgehen koniplementaren Aspekt der Sache: Wahrend Hahermas das Anwendungs~rohle~ geg~nüher dem Beg~ündungsprohlem marginalistert, wtrd het Arendt undeuthch, was das moralische Urteil mit mõgliche-?' mor~lischen Diskursen zu tun hat.) In dem Int.ervtew mtt der N ew Left Review, auf das ich mich ohen heretts hezogen hahe, hat Hahermas eine weitere eigentümliche Begründung für die Ahtrennung des Begründungs- vom A~we?dungsprohlem gegehen. Er sagt dort, daB 1'.:1oraltheonen m der Nachfolge Kants >>typischerweise auf dte Frage der Rechtfertigung von Normen und Handlun~en spezialisiert« sind und >>auf die Frage, wie gerechtferttgt~ Norm~n auf ?es.timmte Situationen angewendet und Wte morahsche Emstchten verwirklicht werden kõnnen, ... keine Ant~ort« hahen. Zur Begründung aher giht er an, man solle >>dte Moraltheorie nicht üherfordern sondem einiges der Gesellschaftstheorie und das meiste d:n Beteiligten selhst üherlassen- sei es deren moralischen Diskur-
r In: Social Research, Vol. 38 Nr. 3, Herbst ·I97I.
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sen oder deren Klugheit«.' Diese Begründung der »Differenzierungsthese« ist deshalb eigentümlich, weil ja gar nicht in Frage steht, daB »das meiste den Beteiligten selbst überlassen« werden soll. Auch nach Habermas gehort ja gerade die Normenbegründung nicht zum Geschaft der Moraltheorie, sondem ist Sache des moralischen Diskurses unter den »Beteiligten«. Was in Frage steht, ist also gar nicht eine richtige Grenzziehung für die Moraltheorie, sondem das richtige Verstandnis dessen, was den Beteiligten überlassen werden soll: des moralischen Diskurses.
Ich bin bisher von der Voraussetzung ausgegangen, daB die Logik moralischer Argumentationen durch ein universalistisches Moralprinzip bestimmt ist. Wie früher angekündigt, will ich in einem zweiten Schriti: jetzt diese Voraussetzung fallen lassen .. Wenn Kant behauptet, der Kategorische Imperativ sei ein universelles und unausweichliches >>Faktum der Vemunft«, dann macht eine solche These offenbar wenig Sinn, wenn man den Kategorischen lmperativ bereits als ein universalistisches Moralprinzip versteht. Man konnte ihn aber auch in einem schwacheren Sinne verstehen; er konnte dann etwa lauten: »Handle entsprechend deinen normativen Überzeugungen«, will heiBen: »Mach für dich selbst keine Ausnahme«, oder: »Tue, was du (glaubst, das du) tun sollst<<. In diesem Sin·ne verstanden ist der Kategorische Imperativ ein Faktum der Vernunft; er formuliert namlich nu reine elementare Konsistenzbedingung für menschliches Handeln. So verstanden ist der Kategorische Imperativ freilich vereinbar mit partikularistischen, feudalen oder religios fundierten Normensyste1:11en der verschiedensten Art. lch glaube freilich, daB er selbst in dieser eingeschrankten Bedeutung keine triviale Forderung enthalt - zumindest dann nicht, wenn man annehmen darf, daB die "Neigung zum moralischen Selbstbetrug und zur Ausnahme im eigenen Fall in allen bekannten menschlichen Gesellschaften verbreitet .ist.
1 In: Die neue Unübersichtlichkeit, a.a.O., S. 237·
Die hier erwogene »minimale<< lnterpretation des Kategorischen Imperativs beruht natürlic}l auf der Annahme, daB für alle Fornien menschlichen Zusammenlebens eine Dimension der moralischen Beurteilung und Selbstbeurteilung konstitutiv ist.' Das soll heiBen: In die Reziprozitatsstruktur menschlicher Sozialbeziehungen ist ein kategorisches »muB« eingebaut, dessen Gebote nur um den Preis von moralischer Verurtepungund Selbstverurteilung (Schuldgefühl) verletztwerdenkonnen. Darin, daB wiruns di e ser Dimension des moralischen Urteils als solcher nicht entziehen konnen, kommt zum Ausdruck, daB wir uns den Bedingungen eines Lebens .in wechselseitiger Anerkennung nicht entziehen konnen. Gleichwohl bezeichnet die (vielleicht) universale Existenz eines kategorischen »muB« natürlich als solche noch kein Faktum der Vernunft. Es ist vielmehr so, daB partikularistische, traditionalistische oder religiose Auffassungen und Begründungen dieses kategorischen »mug« sich erst zersetzt haben müssen, bevor überhaupt die Frage nách seinem moglichen rationalen Sinn gestellt werden kann. Nun denke ich, daB das Kantische Moralprinzip eine Antwort, wenn nicht auf die Frage nach dem rationalen Sinn des kategorischen »muB<<, so doch auf die Frage nach seinem rationalisierbaren Kern gibt. Der rationalisierbare Kem des kategorischen »muB<<- das als solches weniger ein Fa,ktum der Vernunft als ein Faktum der menschlichen Naturgeschichte ist- ist das GemuBte als die Negation dessen, was wir nicht als allgemeine Handlungsweise wollen konnen. Retrospektiv gilt dies auch für traditionale Gesellschaften oder auch für partikularistische Stammesmoralen, Qbwohl es dort natürlich nicht so verstanden wurde, sondem- zum Beispiel- als Gebot Gottes o der als Ausdruck einer natürlichen Ordnung. Der rationalisierbare Kem des kategorischen »muB<< wird somit in der Reziprozitatsstruktur als
1 Ich knüpfe hier und im folgenden, allerdings in freier Variation an Überlegungen von Ernst Tugendhat an. Vgl. ders,, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. IJÚ.
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solcher verankert. Die Entwicklung einer uoiversalistischen MorallaBt sich dann verstehen ais die sukzessive Eliminie~ rung der Grundlagen eines parcikularistischen Verstandnisses solcher Reziprozitatsstrukturen. Wahrend wir retrospektiv auf jenes Gemeinsame stoBen, das in allen Reziprozitatsstrukturen einen universellen Kern der Moral bildet -es laBt sich, inhaltlich betrachtet, wiedergeben durch Gebote wie >Nicht lügen<, >Nicht tõten<, >Nicht willkürlich verletzen< usw. -, wird doch erst durch die Entdeckung der Bodenlosigkeit des traditionellen kategorischen »muB« dieses für die Vernunft zuganglich, »rationalisierbar«. Auch die universalistische Moral verdankt ihre Entstehung einer Eliminierung des Falschen, und zwar ohne daB si e ihre eigenenGrundlagen auf dem Wege einer Letztbegründung ganz einholen kõnnte: Es bleibt in ihr ein Moment bloBer Faktizitat, welches datnit zusammenhangt, dàB wir nicht auBerhalb von Strukturen wechselseitiger Anerkennung wir selbst werden und leben kõnnen. Dies Faktum aber, das kein Faktum der Vernunft, sondern eine Grundlage aller mõglichen Vernunft ist, kõnnen wir nachtraglich unter Bedingungen der Vernunft bringen. In diesem Sinne holt in der universalistischen Moral die Vernunft ihre eigene Grundlage ein. DaB aber eine sprachpragmatische Letztbegründung der Moral nicht mõglich ist, hangt damit zusammen, daB wir die Untnõglichkeit, ein gutes Leben zu führen, wenn wir uns selbst nicht in die Augen sehen kõnnen, in letzter Instanz nicht begründen, sondern nur hinnehmen kõnnen. Wir kõnnen keine Prozesse gelungener Individuierung denken, in denen nicht andere, Kantisch gesprochen, als »Zwecke an sich« uns gegenübertreten, oder welche nicht, Hegelisch gesprochen, in Strukturen wechselseitiger Anerkennung eingebunden waren. Das Medium solcher Anerkennungsverhaltnisse ist die Sprache. In der Sprache sind Anerkennungsverhaltnisse als normative Geltungsansprüche reprasentiert, und als sprachliche sind solche Geltungsansprüche immer schon implizit auf die mõgliche
Zustimmung aller sprachfahigen Wesen bezogen. Genau hierin liegt das Recht des Versuchs, die universalistische Moral in den Grundlagen der Sprache aufzusuchen. Aber das Wegarbeiten der ursprünglichen Partikularitat von Anerkennungsverhaltnissen ·im Medium der Sprache ware nicht denkbar, wenn nicht die Grundlage eines affektiv verankerten moralischen »muB« vorgegeben ware, das mit den Bedingungen unseres mõglichen Selbstseins zusammenhangt. In der Gewalt dieses moralischen »muB« sind rioch die schwachen Spuren einer realen Gewalt erkennbar, die als Drohung den ProzeB der Selbstwerdung begleitete. In der universalistischen Moral ist diese reale Gewalt aufgehoben im zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Aufgehoben freilich nur, wenn an die Stelle der bloBen »Nõtigung« durchs moralische Gesetz ein BewuBtsein dessen tritt, welchen Preis die Verletzung von Reziprozitatsstrukturen für ein Selbst hat, das sich der Verinnerliehung solcher Reziprozitatsstrukturen ·verdankt. Dann- und erst dann- ist namlich das kategorische »muB« moralischer Geltungsansprüche aufgehoben in einem praktischen Wissen um die Bedingurigen eines guten Lebens. Moralische Geltungsansprüche sind ja Ansprüche in einem doppelten Sinn: Sie enthalten ein Ansinnen auf allgemeine Zustimmung, und sie fordern ein bestimmtes Verhalten. Kants kategorisches »Sollen« ist der Ausdruck dieses Forderungscharakters der MoraL Von Schopenhauer bis Maclntyre ist der rationale Sinn dieses kategorische,n Sollens immer wieder in Frage gestellt worden'; für Kant dagegen war er schlicht ein Ausdruck des Spannungsverhaltnisses zwischen Vernunft und Sinnlichkeit in endlichen vernünftigen Wesen. Erst ein »vollkommen guter Wille« würde, wie Kant sagt, nicht mehr als durch objektive Gesetze des Guten »ZU gesetztnaBigen Handlungen genotigt vorgestellt werden kõnnen,
weil er von selbst, nach seiner subjektive~ Beschaffenheit, nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werderi kann. Daher gelten für den gottli-
1 Vgl. oben Anm. 17.
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chen und überhaupt für eirien heiligen Willen keine lmperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist.<< 1
Kant denkt di e Aufhebung des >>Sollens« in ein >> Wollen« als Fluchtpunkt eines mõglichen moralischen Fortschritts. Da aber der >>vollkommen gute Wille« Kantisch eígentlich nur als der Wille eines vollkommen entkõrperlichten Subjekts, und daher gar nicht mehr als Wille, vorgestellt werden kann, bleibt die Aufhebungsformel aporetisch. Sie ware - gegen Kant- zu verweltlichen, nicht indem die Idee eines vollkommen guten Willens verweltlicht wird, sondem indem das Stück Weltlichkeit im kategorischen Sollen selbst- verinnerlichter Zwang- namhaft gemacht wird, durch welches es noch auflerhalb de.r Vernunft steht. Die Aufhebung des Sollens in ein Wollen - und das ware zugleich die Aufhebung des Gegensatzes von deontologischer und teleologischer Ethik - ware zu denken als die Form eines moralischen BewuBtseins, für welches Selbstliebe und Solidaritat mit anderen, Selbstbehauptung und Anerkennung anderer kein Gegensatz mehr ware. Diese Aufh~bungsfigur nõtigt uns nicht zur Annahme eines >>vollkommen<< guten Willens - von dem wir nicht einmal sagen kõnnten, wie er beschaffen sein müBte -, sie bringt vielmehr eine mõgliche Aufklarung des moralischen BewuBtseins über sich · selbst zum Ausdruck, die Aufhebung der (bloBen) Tugend in ein (praktisches) Wissen. In diesem Sinn ist eine universalistische Moral kognitiv. Gleichwohl ist der >>lack of moral set'lse« kein kognitives Defizit. In ihm kommt vielmehr zum Ausdruck, daB die Einübung in Verhaltnisse wechselseitiger Anerkennung miBlungen ist. Dagegen aber sind bloBe Argumente machtlos. Gesetzt aber, ein MoralbewuBtsein hatte sich bereits entwickelt, dann ist unter Bedingungen der Aufklarung die Entwicklung eines universalistischen MoralbewuBtseins die einzige Alternative zum Rückzug au.s dem Sprachspiel der
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Moral. Ein solcher Rückzug aber, der die Bande der Solidaritat mlt den anderen zerrisse, statt sie zu erweitern, bedeutete zugleich eine Selbstverletzung des Individuums, im Grenzfall seine Selbstzerstõrung.' Eine Einsicht dieser Art war es, so denke ich, die Kant zum Ausdruck brachte, wenn er die Nõtigung des Willens durchs moralische Gesetz ein >>Faktum der Vernunft« nannte. Weniger irreführend kõnnte man vom Faktum eines Lebens unter Bedingungen der Vernunft reden. An dieses Faktum kõnnen wir uns selbst und andere erinnern, aber diese Erinnerung ist nicht gleichbedeutend mit dem Nachweis der Unausweichlichkeit von Rationalitatsverpflichtungen. Vielleicht ist jedoch
I In diesem Sinne mochte ich die von Habermas in seinem neuesten Buch zitierten Satze von Klaus Heinrich verstehen: >>Den Bund mit Gott halten ist das Symbol der Treue, diesen Bund brechen das Modell des Verrats. Gott die Treue halten heilh, dem lebendig-machenden Sein selbst die Treue halten, in sich und anderen- und in allen Bereichen des Seins. Es verleugnen in irgendeinem Bereich des Seins heiBt, den Bund mit Gott brechen und das eigene Fundament verraten ... Darum ist Verrat an anderen zugleich Selbstverrat, und jeder Protest gegen Verrat nicht nur Protest im eigenen Namen, sondem zugleich in dem der anderen<< (Kiaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt I964, S. 20. Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt I985, S. 377f.). Erlautemd, in Anknüpfung an den frühen Hegel, sagt Habermas: »In der Unrast der realen Lebensverhaltnisse brütet eine Ambivalenz, ~ie,sich der Dialektik von Vcrrat und rachender Gewalt verdankt<< (a.a.O., S. 378). Mit der »rachenden Gewait<< ereilt die Verletzung eines gemeinsamen Lebens den, der die Verletzung bewirkt hat. Von einer »Dialektik<< aber konnen wir nur sprechen, wenn wir die rachende Gewalt zugleich ais eine in sprachliche Urteile aufgehobene Gewalt denken: ais Verurteilung oder Verachtung durch die anderen und - wegen der unausweichlichen Intersubjektivitat solchen Urteilens - ais Selbstverurteilung oder Selbstverachtung. Aber eben ais eine im sprachlichen Urteil- und in der Selbstverurteilung aufgehobene Gewalt. DaB in der moralischen Verurteilung und Selbstverurteilung noch ein Abglanz der realen Gewalt erhalten bleibt, das zeigt sich daran, daB solche Verurteilung und Selbstverurteilung eine das Leben des "Verurteilten<< verletzende Kraft besitzt. Diese lebensverletzende Kraft der moralischen Verurteilung und Selbstverurteilung ware nicht erklarbar, wenn die »rachende Gewalt<< im moralischen Urteil nicht nur aufgehoben, sondem ganz verschwunden ware.
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diese Erinnerung, die sicherlich nicht die Form eines Letztbegründungsarguments annehmen kann, die einzig mõgli
.che Form einer Letztbegründung der Moral.
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Ich habe oben (Abschn. VI) Habermas' Versuch erwahnt, das moraiische Sollen ais ein Pradikat hõherer Stufe- anaiog zum Pradikat »ist wahr«- zu interpretieren. Habermas versucht auf diesem Wege, das Probiem des moraiischen SoiIens kognitivistisch aufzuiosen, indem er das Sollen ais einen von drei Typen universaler Geltungsansprüche interpretiert, In der Durchführung des diskursethischen Ansatzes führt dieser Versuch, wie ich zu zeigen versuch.t habe, zu kaum auflõsbaren Schwierigkeiten. Nun giaube ich, daB sich diese Schwierigkeiten bereits in dem grammatischen Rekonstruktionsvorschiag seibst ankündigen; und zwar deshaib, weii Habermas ihn von vornherein ausschiieBlich auf moralische Geltungsansprüche bezieht. Die Pointe seines Rekonstruktionsvorschiags ist ja, wie eben bemerkt, daB durch ihn moraiische Forderungen ais einer von genau drei Typen un~versaier Geltungsansprüche erkiart werden sollen (Wahl;'heit, Wahrhaftigkeit, normative Richtigkeit), vón denen Habermas behauptet, daB si e in jeder sprachiichen AuBerung- direkt oder indirekt- prasent sind. LieBe sich das moraiische Sollen auf diese Weise erkiaren, so würde dies heiBen, daB es in universaien sprachiichen Strukturen so tief verankert ware, daB die Frage nach seinem mõglichen rationaien Sinn sich erledigen würde. Aus diesem Grunde hangt aber auch so viel daran, daB die Letztbegründung eines Moralprinzips geiingt, denn nur eine Letztbegründung kõnnte die Brücke schiagen von der allgemeinen Grammatik normativer. Geltungsansprüche zu den besonderen Forderungen einer universaiistischen Moral. Nun scheint es mir aber bereits problematisch, wenn·man den ali-
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gemeinen Begriff eines normativen Geltungsanspruchs von vornherein aufladt mh dem besonderen Sinn moralischer Geltungsansprüche. Der moralische Gebrauch von Wõrtern wie »sollen«, »müssen«, »dürfen<<, »Íst geboten«, »richtig<<, »gut<< usw. ist ja ein sehr spezieller Gebrauch. Da aber auch der allgemeine (nicht-moralische) Gebrauch dieser Worte mit Geltungsansprüchen verknüpft ist, hatte es nahegelegen, die grammatische Rekonstruktion des Sinns dieser normativen Grundworte nicht von vornherein àuf den speziellen Fali moralischer Geltungsansprüche zu beziehen. Mit anderen Worten: Auch hypothetische Imperative im Kantischen Sinn, grammatische Praskriptionen (>>hier muB man den Infinitiv benutzen<<) und sogar asthetische »muB<<Satze (»hier muB ein plõtzliches forte kommen<<) sind Geltungsansprüche normativer Art, auf die Habermas' Rekonstruktionsvorschlag, wenn er richtig ist, zutreffen müBte. In allen diesen Fallen handelt es sich um begründbare und kritisierbare Geltungsansprüche, ebenso wie im Fali moralischer Satze, und es handelt sich in einem allgemeinen Sinn des Wortes sicherlich um normative Geltungsansprüche (im Unterschied zu Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsansprüchen). Normative Geltungsansprüche im allgemeinen Sinne des Wortes unterscheiden sich nun aber von moralischen Geltungsansprüchen darin, daB sie lediglich prima facie Gründe liefern, etwas Bestimmtes zu tun, aber nicht -:- wie moralische Geltungsansprüche- eine unbedingte {kategorische) Verpflichtung zum Ausdruck bringen. Der Verpflichtungscharakter hangt ersichtlich mit der Art der Gründe zusammen, di e man für normative Geltungsansprüche eines Typs jeweils vorbringen kann. Das heiBt aber, daB der kategorische Sinn des moralischen Sollens erst im Zusammenhang mit den Gründen erlautert werden kann, di e man für moralische Geltungsansprüche anführen kann. Aus diesem Grunde taucht bei Kant das kategorische Sollen im Moralprinzip selbst auf. Da nun bei Habermas im Grundsatz (U) nur der Begriff einer »gültigen<< (gerechten) Norm auf-
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taucht, ware der Zusammenhang zwischen seiner grammatischen Rekonstruktion der Soll-Satze und seiner Formuiierung des Grundsatzes (U) so zu verstehen, daB erst im Zusammenhang mit dem Grundsatz (U) die Worte »richtig« oder >>geboten« den Sinn von »moraiisch richtig« oder »moraiisch geboten« annehmen. Aiso etwa: >Unter Umstanden S p zu tun ist moraiisch (unbedingt) geboten (richtig), wenn p einer gültigen Norm entspricht<. Hieran zeigt sich aber, daB das Probiem des moraiischen Sollens sich keineswegs durch die grammatische Rekonstruktion normativer Geltungsansprüche eriedigt hat, es bieibt vieimehr ein besonderes Probiem: Das Probiem besteht darin, daB in diesem besonderen Falle das Tun - nicht des Richtigen, sondem - des in einem bestimmten Sinne Richtigen unbedingt geboten ist, so daB aiso in diesem F alie die Mogiichkeit entfallt, das Tun des in einem Sinne Richtigen durch Berufung auf altetnative Kriterien der Richtigkeit mit guten Gründen zu verweigem. (Ich Iasse es dahingestellt, ob dies ein vollkommen angemessenes Biid des Vorrangs moraiischer vor anderen normativen Geltungsansprüchen ist; es ist jedenfalls das Bild, das Habermas mit Kant teilt.) Weil der Vorrang moraiischer Geltungsansprüche vor anderen normativen Geltungsansprüchen in Habermas' Rekonstruktion nicht einsichtigwird, denke ich, daB Habermas das Probiem des moraiischen Sollens in Wirkiichkeit nicht sprachpragmatisch neutraiisiert, sondem gieichsam nur in einer Grauzone zwischen seiner grammatischen Rekonstruktion normativer Geitungsansprüche und seiner Formuiierung des Grundsatzes (U) abgeiaden hat. Hiergegen IieBe sich allenfalls geltend machen, daB das moraiische Sollen so tief in der Geltungsorientierung des kommunikativen Handeins verankert ist, daB sogar noch der Wahrheitsanspruch assertorischer .AuBerungen in Kategorien eines morai-anaiogen Rechtsanspruchs eriautert werden kõnnte'. Wenn man »Wahrheit« ais »Warranted,assertibility« versteht, deutet man ja das Behaupten ais das Gei-
tendmachen eines Rechts'anspruchs und zugieich ais das Eingehen einer Verpflichtung: der Rechtsanspruch, der in der behauptenden AuBerung erhoben wird, ware argut?entativ einzuiõsen, und wenn ich etwas behaupte, verpfhchte ich mich einen solchen Rechtsanspruch gegebenenfalls ar-
' h . gumentativ einzuiõsen .. Man kõnn:~ daher vers.uc t sem, den für die phiiosophrsche Trad1t10n kennzetchnenden Vorrang der propositionaien Wahrheit vor anderen ?eitungsmodi umzukehren in einen Vorrang ~er normattven Richtigkeit. Wenn sich ein Primat der prakttsch.en Vemunft in diesem Sinne begründen IieBe, dann müBte srch das Probiem des moraiischen Sollens ais ein Ausdruck der »Iogozentrischen<< Voreingenommenheit des abendiandischen Denkens' in nichts auflõsen; die Anerkennung moraiischer oder morai-anaioger Verpflichtungen erwiese sich ais Bedingung der Mõgiichkeit für die Teiinahme an verstandigungsorientiertem Handein überhaupt und .. daher auch ais Bedingung der Mõgiichkeit assertorisc?er AuBerung~n. In der Tat ist schon die Konsenstheone der Wahrhett der Ausdruck einer solchen radikaien Umkehrung traditioneiIer Prioritaten. Habermas hat diese Umkehrung der Prioritaten in seiner Theorie des kommunikativen Handelns auch »geneaiogisch<< zu rechtfertigen versucht. ~m AnschiuB an Durkheim sieht er die Ursprünge der morahschen Soll-Geitung in einer vor-rationaien, symboiisch strukt~rierten Sphare des Sakraien - gieichsam ~Is der Sphare emes u~sprüngiichen, seiner seibst noch mcht bewuBten normattven Konsenses. 1 Hierdurch ist ein noch vor-rationaies Verstandnis von Normgeitung konstituiert, welches zum entscheidenden Vermitdungsgiied wird für eine grammatische Ausdifferenzierung der menschiichen Rede: Diese vollzieht
1 Vgl. Jürgen Habermas, Derphilosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985, S. 361. 2 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981, Bd. 2, S. 69ff., insbes. S. 84.
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sich in der Form einer »Versprachiichung des. Sakraien<<.' Di e Sphare des. Sakraien kann diese Vermittlungsfunktion deshaib übernehmen, weii sie unter den »drei Wurzeln des kommunikativen Handeins« 2 eine ausgezeichnete Position einnimmt. Die drei Wurzein des kommunikativen Handeins sind die vorsprachiichen Wurzein sprachiich artíkuIie~ter Kognitionen, Obiigationen und ExpressionenJ, die gietchsam ais eiementare Bausteine jeder grammatisch ausdifferenzierten sprachiichen ÃuBerung anzusehen sind: Die grammatisch ausdifferenzierte Rede ist nichts anderes ais die lntegration dieser Momente zu einem Ganzen aus propositionaien, illokutionaren und expressiven BestandteiIen.4 Nun Iassen sich aber nur die propositionaien und die expressiven Bestandteiie der sprachiichen Rede zurückführen auf ein nicht selbst schon symboiisch strukturiertes Vorsprachiiches; Wahrnehmungen, Vorstellungen und adaptives Verhalten sind das vorsprachiiche Korreiat des propositionaien Bestandteiis sprachiicher ÃuBerungen, Ieibgebundene Expressionen das vorsprachiiche Korreiat ihres expressiven Bestandteiis.s Dagegen verweisen die illokutionaren Be·Standteiie der Rede, durch welche assertorischen und expressiven Satzen erst di e Kraft zuwachst, »den Hõrer zur Annahme eines Sprechaktangebots zu motivieren6, auf eine vorsprachiiche Wurzei anderer Art: namiich auf jene Sphare des Sakraien, die, obwohi vorsprachiich, doch nicht natürlich, sondern bereits symboiisch strukturiert ist.
>>Das Irritierende an dicser Wurzel ist der Umstand, daB sie von Haus aus symbolischer Natur ist. Der kognitive Umgang mit wahrnehrnbaren und manipulierbaren Gegenstanden steht ebenso wie die Expression von Erlebnissen über unsere Sinnesreizungen bzw. unsere Bedürfnisse in Kontakt mit der auBeren bzw. inneren Natur; sie berühren sich mit einer nicht nur
r A.a.O., S. II 8 H. 2 Vgl. a.a.O., S. 97ff .
. 3 A.a.O., S .. 99· 4 Vgl. a.a.O., S. 97ff. 5 A.a.O., S. 99· 6 A.a.O., S. ro6.
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sprachtranszendenten, sondem auch von Symbolstrukturen freien Reafitãt. Die wie immer auch sprachlich gepragten Kognitionen und Expressionen des Menschen lassen sich zudem bis in die Naturgeschichte tierischer Intelligenzleistungen und Ausdrucksgesten zurückverfolgen. Demgegenüber hat das NormbewuBtsein keine gleicheimaBen triviale aufler$Jirachliche Referenz; und für Obligationen finden sich nicht, wie für Sinneseindrücke und Bedürfnisse, unzweideutige naturgeschichtliche Korrelate. Dennoch sichert das KollektivbewuBtsein, sichern jener palaosymbolisch gestützte normative Konsens und die von ihm getragene kollektive Identitat den Verpflichtungserlebnissen einen Kontakt mit einer, wenn nicht symbolfreien, so doch vorsprachlichen Realitat - sie sind »a!tet« ais die sprachlich vermittelte Interaktion.<<'
Die »Bindu~gseffekte« des illokutio?aren Bestandteiis sprachiicher AuBerungen verdanken stch dem Umstand, daB dessen vorsprachiiche Wurzel ein bereits symboiischbzw. »paHiosymbolisch«- strukturierter normativer Konsens ist. Ware dies freilich alies, so kõnnten, wie Habermas feststellt, »ko~stative und expressive Sprechhandiungen Bindungseffekte nicht aus eigener Kraft, sondern nur dank ihres normativen Kontextes erzieien. Der illokutionare Bestandteii einer soichen Sprechhandiung hatte dann keine motivierende Kraft, die Last der Handiungskoordinierung müBte vieimehr von dem vorgangigen Konsensus, derden normativen Kontext stützt, getragen werden.« 1 An dieser Stelle nun greift Habermas auf die von ihm behauptete Parallelitat von
(r) »Es ist geboten, daB h in S<<
und
(2) »Es ist der Fali (ist wahr); daB p<<
zurückJ und auBert foigende Vermutung: Es sei anzunehmen, daB das · Geltendmachen von Wahrheitsansprüchen mit Hilfe konstativer ÃuBerungen des Typs (2) erst mõglich wurde dadurch, daB ein bereits ver-
r A.a.O., S. 96f. 2 A.a.O., S. ro6f. 3 Vgl. a.a.O., S. ro7.
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fügbarer Begriff der Normgeltung gleichsam einwanderte in den illokutionaren Modus des Behauptens, und zwar so, daB ein Typus von Rechtsansprüchen sich konstituierte, bei dem, anders als im F alie der eigentliçhen Normgeltung, Einlõsung und Begründung von vornherein zusammenfallen muBten.
>>Einerseits kiinnte der Anspruch auf propositionale Wahrheit die Struktur eines Geltungsanspruchs, der berechtigterweise eingeliist werden kann, jener Art von Ansprüchen entlehnt haben, die sich auf gültige Normen stützen; andererseits muB er sogleich in einer radikalisierten, namlich auf Begründungen abzielenden Version auftreten. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, daB sich der Begriff eincs kritisierbaren Geltungsanspruchs einer Assimilation der Wahrheit von Aussagen an die (zunachst keineswegs kritisierbare) Geltung von Normen verdankt.« 1
Mit dem Begriff der Normgeltung, so erlautert Habermas wiederum im AnschluB an Durkheim, ist bereits die Unterstellung eines idealisierten Einverstandnisses aller Angehõrigen einer Gesellschaft verknüpft. Deshalb kann der ursprüngliche, symbolisch strukturierte normative Konsens zum Ansatzpunkt einer grammatischen Ausdifferenzierung der Rede, das heiBt zum Modell für alle Geltungsbegriffeinsbesondere des Begriffs der Wahrheitsgeltung - werden.
>>Der norma tive Konsens, der sich in der Semantik des Sakralen auslegt, ist den Angehiirigen in der Form eines idealisierten, raum-zeitliche Veranderungen transzendierenden Einverstandnisses gegenwartig. Dieses bietet das Modell für alie Geltungsbegriffe, vor aliem für die Idee der Wahrheit.« 2
Der als Sphare des Sakralen sich artikulierende normative Konsens ist das U rbild eines idealisierten Einverstandnisses, »einer auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft bezogenen IntersubjektivitatJ, und daher das Urbild mõglicher intersubjektiver Geltung. Durch die Versprachlichung des Sakralen wird dieses U rbild aller Geltung aus seiner palaosymbolischen Hülle befreit und als Grundlage mõglicher
1 A.a.O., S. 109.
2 A.a.O., s .. JIO.
3 A.a.O., S. III.
rationaler Geltung verfügbar; auf dem Umweg über die Ausdifferenzierung der Geltungsmodi wird schlieBlich auch der Begriff der Normgeltung selbst aus seiner ursprünglichen sakralen Immunisierung herausgelõst und -analog zur Wahrheitsgeltung - in die Form eines diskursiv einlõsbaren Geltungsanspruchs transformiert.' Auf diesem Wege wird am Ende >>die bindende Kraft eines s~kral begründeten moralischen Einverstandnisses ... durch ein moralisches Einverstandnis ersetzt ... , das in rationaler Form zum Ausdruck bringt, was im Symbolismus des Heiligen immer schon intendiert war: die Allgemeinheit des zugrundeliegenden Interesses.<<' Mit diesem faszinierenden Gedankengang scheint es Habermas nun doch gelungen zu sein, das moralische Sollen so tief in den allgemeinen Strukturen sprachlicher Ve:rstandigung zu verankern, daB die Frage nach seinem rationalen Sinn gegenstandslos wird. Wenn ein BewuBtsein moralischer Verpflichtung sich gleichsam als Kern aller mõglichen Rationalitat sprachlicher Verstandigung erwiese, dann hatte sich das Problem des moralischen Sollens in der Form, in der es schon Kant beunruhigte, endgültig als ein Scheinproblem erwiesen. Nun speist sich Habermas' »genealogische« Rekonstruktion eines· grammatisch ausdifferenziertén Geltungsbegriffs freilich von theoretischen Voraussetzungen, die auf dem Wege dieser Rekonstruktion erst untermauert werden sollten: Habermas gebraucht die Begriffe eines »idealisierten Einverstandnisses« oder einer »idealen Kommunikationsgemeinschaft« bereits im Sinne einer Konsenstheorie der Wahrheit. Nu r wenn sich die Rekonstruktion an ihren entscheidenden Punkten unabhangig von solchen Voraussetzungen einsichtig machen lieBe, kõnnte man aus ihr ein. unabhangiges Argument für di e theoretischen Pramissen der Diskursethik gewinnen. An ihren ents~heidenden Punkten scheint mir jedoch Habermas' Rekonsttuktion
1 A.a.O., S. 112.
2 A.a.O., S. 124.
keineswegs einsichtig. Wenn Habermas den Symbolismus des Sakralen als Ausdruck eines moralischen Einverstandnisses deutet, so ist dies im Sinne einer funktionalistischen Betrachtungsweise vielleicht gerechtfertigt; nicht gerechtfertigt erscheint es mir aber als These über den sprachpragmatischen Vorrang moralischer Geltung über die anderen Geltungsmodi. Es ware vielmehr naheliegend, den Begriff des Sakralen, so wie Habermas ihn verwendet, einer Denkweise zuzuordnen; für di e die spater ausdifferenzierten Geltungsmodi noch nicht klar voneinander sich geschieden haben, so daB also etwa moralische und Wahrheitsgeltung gleichsam noch ineinander verflieBen. Wahlt man eine solche Perspektive, so stellt sich das Differenzierungsproblem anders dar als in Habermas' Überlegungen im AnschluB an Durkheim. Und zwar stellt es sich eher so dar, wie Habermas selbst es im ersten Band der Theorie des kommunikativen Handelns.in dem Abschnitt über »Einige Merkmale des mythischen und des modemen Weltverstandnisses« erõrtert hat.' Habermas hat dort die >>Geschlossenheit« mythischer Denkformen in Verbindung gebracht mit dem Fehlen grundlegender Differenzierungen, wie sie für die »offenen« Denkformen der Modeme kennzeichnend sind. Und zwar geht es nicht nur um di e Differenzierung zwischen verschiedenen Geltungsmodi, sondem auch um di e Differenzierung · zwischen kausalen und symbolischen Zusammenhangen, zwischen Kultur und Natur, zwischen Sprache und Welt. Das Fehlen .entsprechender Differenzierungen macht es unmõglich,· die Sphare symbolischer Geltung ais eine Sphare kritisierbarer Geltungsansprücke überhaupt in den BliCk zu bekommen. Di e mythische Denkform ist gleichsam noch in
· sich selbst verkapselt, weil si e die sprachlichen Ressourcen noch nicht ausgebildet hat, die ihr eine reflexive Rückwendung auf sich selbst erlauben würden.
»Es gibt offenbar noch keinen prazisen Begriff für die nicht-empirische Geltung, die wir symbolischen AuBerungen zuschreiben. Geltung wird
r Theorie des kommunikativen Handelns, a.a.O., Bd. r, S. 72ff.
mit empirischer Wirksamkeit konfundiert. J?abei dürfen wir .nicht an s~ezielle Geltungsansprüche denken: im myth1schen ~enken s1~d ve~sch~edene Geltungsansprüche wie propos.itionale W~hrheJt, n?rmat1v~ Richugkeit und expressive Wahrhaftigkeit noch gar mc.ht ausdlf~erenz1ert. A?c;r selbst der diffuse Begriff von Geltung überh~upt JS~ noch m~~.t von empmschen Beimengungen befreit; Geltungsb~gnffe .w1e Mor.a~~tat und Wahrheit sind mit empirischen Ordnungsbegnffe~ w1e Kau~al~tat und Ge~undheit amalgamiert. Darum kann das spr~chhc·h· ~onstitUierte Weltbii~ so weitgehend mit der Weltordnung se.lbst J~enufJzJert werden, ~aB es mcht ais Weltdeutung, ais eine Interpretauon, d1e dem Irrtum .unterh~gt ~nd der Kritik zuganglich ist, durchschaut werden k~nn. In d1eser ~msJc~t. gewinnt die Konfusion von Natur und Kultur d1e Bedeutung emer Reiflka-
tion des Weltbildes.<< 1
Wenn man das Differenzierungsproblem so stellt, wird zunachst einmal verstandlich, weshalb in der Geschichte der Anthropologie die Sphare des Sakral~n nicht nur als eine Sphare ursprünglicher N ormgeltung (e me V?rform der M?.ral), sondem auch als eine Sphare ursprüngh~her·We~~erkl~rung (eine Vorform der Wissensch~ft), áls eme Sphare mlmetisch-expressiver Handlungen (eme Vorform der K~?st) oder sogar als eine Sphare noch unbeholfener ~elt?emachtigungsversuche (Magie als Vorform der Techmk) mterpre-· tiert worden ist. • In Wirklichkeit scheint es unmõglich, das lneinander von Symbolik und Ritus im Sakralen aufeine dieser Funktion.en festzulegen.l Habermas selbst weist auf den vo~ Durkhe~m betonten Zusammenhang zwischen der morahschen Bm-
r A.a.O., S. 8rf. 2 Für Belege vgl. etwa die in Bryan R. Wilson (Hg.), Rationality, Oxford
1974 gesammelten Aufsatze. . .
3 Vgl. Alasdair Maclntyre, »Rationality and the Explanauon of ActJOn«,
in: ders., Against the Self-Images of the Age, New York 1971, S. zp: ·~For when we approach the utterances and a~tivities ?f an alien cultur~ w1t~ a well-established classification of genres m our mmd and ask of a g1ven nte o r practice ,rs it a piece o f app!ied science? O r a p~ece o f symb~lic and dramatic activity? Ora piece of theology?< .we m~y m fact be askmg as set of questions to which any answer may b.e m1sleadmg ... For the utterances and practice in question may belong as 1t were, to ali and none of the genres
that we have in mind.« .
I I ..
dungsfunktion d~s Sakralen ~nd seiner Funktion als Spiegel und AuBenhalt emer kollekuven Identitat hin. Die kollektive Identitat der Gruppe ist das BewuBtsein eines » Wir« das sich selbst in sakralen Symbolen und Riten erfahrba; wird, in ihnen zugleich sich entladt und regeneriert. • U nter dem funktionalen Gesichtspunkt des Gruppenzusammenh~lts bedeutet dies, »daB der Motivhaushalt der assoziierten Emzelnen symbolisch erfaBt und über dieselben semantischen Gehalte strukturiert wird«. 2 Das Saknile kann diese no~U?-ativ~ Bindungsfunktion aber gerade deshalb erfüllen, wetl In semer s.emantik die kog?itiven, mimetisch-expressiv.en und morahschen Gehalte mcht voneinander geschieden smd. Selbst wenn man Habermas' These akzeptiert daB die affe~tiven Ambi.valenzen, von denen das Sakral~ umgeben 1st - das Inemander von Heil und Schrecken, von Respekt und Grauen, von Anziehung und Abscheu -, sich als Ursprungsgestalten der mit moralischen Verpflichtungen verbundenen Gefühlsambivalenzen verstehen lassen J so konnte man doch nicht. eigentlich von moralischen G;fühlen sprechen, denn zu dtesen gehort ein wie auch immer rudimentarer Begriff der moralischen Verpflichtung. Dieser scheint aber die A:usdifferenzierung der Geltungsspharen vorauszusetzen, dte Habermas mit seiner Hilfe erklaren mochte. Hiergegen lieBe sich freilich einwenden, daB ein in der Sphare des Sakralen bereits verfügbarer Begriff der Normgeltung (man denke etwa an rituelle und Tabu-Vorschriften) aus~eicht, u~.?as Habermassche Argument zu tragen. Wen.n d~e Autontat ~es Sakralen bedeutet, daB jede Vorschnft, ;ede Regei gletchsam mit der Aura eines unbedingten »muB« umgeben un.d mit entsprechenden Affekten besetzt ist, dann konnte man hieraus schlieBen, daB das dem Sakralen zugeordnete NormbewuBtsein seiner Struktur
r Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, a.a.O., S. 84f. 2 A.a.O., S. 88. 3 Vgl. a.a.O., S. 79·
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nach moralisch ist.' Dies würde bedeuten, daB ein NormbewuBtsein sich nur als moralisches konstituieren konnte, auch wenn seine wichtigsten Inhalte - Ritual und Tabu -vielleicht nicht in unserem Sinne moralische waren. Dieser Gedanke, so verführerisch er ist, scheint mir indessen psychologisch und begrifflich unplausibel. An den abgespaltenen Resten ritueller und tabugesteuerter Praktiken, die bis in unsere eigene Kultur hineinreichen, kann man namlich sehen, wie ich denke, daB das unbedingte Sollen, das mit rituellen und Tabu-Vorschriften verknüpft ist, nicht nur keinen moralischen Inhalt zu haben braucht, sondem auch Notigungen ganz anderer Art zum Ausdruck bringen kann als di e eines moralischen Sollens- Bedürfnisse ganz anderer Art als das nach Anerkennung oder Selbstachtung. Ich kann diesen Gedanken hier nicht anthropologisch oder psychologisch, sondem nur begrifflich zU untermauem versuchen. Wenn etwa ein Kind auf einer bestimmten Ordnung von Dingen oder Verrichtungen, auf einem bis in die Wortwahl fixierten Ritual des Vorlesens oder Erzahlens besteht, so ist hierin sicherlich ein unbedingtes »richtig« oder »falsch«, also ein unbedingtes »Sollen« impliziert, aber mit diesem >>Sollen«, mit diesem »richtig« oder >>falsch« verteidigt das kindliche Ich die Ordnung einer Welt, in deres zu Haus ist; die Verletzung dieser Ordnung ist eine Bedrohung des Ich. Das >>Du muBt« ist eigentlich ein >>So muB es seio«. Natürlich steckt hierin ein genuiner moralischer Anspruch an andere, aber den moralischen Anspruch kann nur erkennen, wer den nicht-moralischen Charakter des >>richtig« und »falsch« erkennt. Der moralische Anspruch ist der Anspruch auf Respektierung der Bedürfnisse eines Kindes; was das Kind aber fordert, ist, paradox gesagt, nicht die Respek-
r Dies entspricht auch Freuds Deutung des Tabu. Freud deutet das Tabuverbot ais ••das Resultat einer GefühlsambivalenZ<< (Sigmund Freud, Totem und Tabu, Gesammelte Werke, Bd. rx, Frankfurt 1968, S. 84) und das »Tabugewissen<< ais altestc Form des (moralischen) Gewissens (vgl. a.a.O., S. 85).
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tierung seines moralischen Anspruchs, sondem die Respektierung der richtigen Ordnung der Dinge. Diese richtige Ordnung der Dinge ist keine moralische Ordnung, es ist vielmehr eine Ordnung der Welt, ohne die nicht nur das Kind, sondem - in einem erweiterten Sinne verstanden -letztlich keiner bei sich selbst bleiben kann. Was ich hiermit zeigen will, ist die MogÜchkeit ~ines kategorischen »muB«, eines NormbewuBtseins also, das, obwohl affektiv hochbesetzt, nicht moralisch genannt werden kann, weil es auch seiner Funktion rtach nicht moralisch ist. Dies wird klar, wenn man, gleichsam nachtraglich, eine moralische Begründung zu geben versuchte. Es ist nicht so, daB sich dann herausstellte, daB die Forderung moralisch unbegründet war; was sich vielmehr herausstellt, ist, daB die For- . derung keine moralische war. Wenn dies aber richtig ist, dann konnte man die Existenz eines affektiv hochbesetzten NormbewuBtseins in archaischen Gesellschaften nicht ohne weiteres aufs Konto der Moral verbuchen. Es lage vielmehr nahe anzunehmen, daB dies NormbewuBtsein ·von »ge=mischter« Art ist. Wir konnen die moralischen von den nicht-moralischen Anteilen dieser Normen nur aussondem . , indem wir uns überlegen, nicht, ob die Normen gut begründet sind, sondem welche Art von Begründungen denkbar ware, nachdem einmal das »Begründungsspiel<< eingeführt 'o/urde. Was den Bereich des Tabu betrifft, so gibt es analoge Uberlegungen in der anthropologischen Literatut selbst. Robin Horton hat in Anknüpfung an Mary Douglas 1 das Tabu in Zusammenhang gebracht mit der »protektiven« Einstellung archaischer Gesellschaften gegenüber einem klassifikatorischen System, dessen Infragestellung als Bedrohung erfahren wird. • Auch hier würde, wenn di e anthro-
I Mary Douglas, Purity and Danger, London I966. Robin Horton, »African Traditional ThoJ.lght and Western Science<<, in: Bryan R. Wilson (Hg.), Rationality, a.a.O., S. IJI ff. 2 Horton, a.a.O., S. I64-I66. Ãhnlich auch Edmund Leach, Kultur und Kommunikation, Frankfurt I976, S. 45 ff.
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pologischen Beobachtungen richtig sind, die affektiv hochbesetzte Unterscheidung zwischen »tichtig« und >>falsch«, zwischen >>gut« und >>base« mit der Stabilisierung einer kollektiven Identitat zusammenhangen, ohne doch »moralisch« genannt werden zu konnen. SchlieBlich kõnnte man auch noch an den >>quasi-sakralen« Charakter erinnem, den Spielregeln und sogar Regeln der Etikette auch in unserer Gesellschaft in gewissen Kontexten - und nicht nur bei Kindem- annehmen konnen. Dies zeigt sich an der hochaffektiven Besetzung solcher Regeln. Nun ist natürlich der Anspruch auf Einhaltung der Spiel- oder Etikette-Regeln immer auch ein morallscher Anspruch. Aber die Regeln selbst sind nicht moralischer Art, auch wenn sie ein kategorisches >>muB« beinhalten. 1 Die Regeln sagen, daB man in bestimmten Situationen etwas Bestimmtes tun muB oder nicht tun darf oder daB man etwas in einer bestimmten .Weise zu tun hat oder nicht tun darf. Die~es »muB« oder >>darf« ist kein moralisches >>muB« oder >>darf«, es ist vielmehr das >>muB« oder >>darf« von Regeln, die konstitutiv sind für das Spielen e\nes Spiels oder doch konstitutiv für eine bestimmte Art, ein Spiel zu spielen. Zwar kõnnte man vermuten, daB unter Bedingungen geringer kognitiver und sozialer Differenzierung das kategorische >>muB« jeder Regei die Aura eines moralischen >>muB« erhalt; aber dies konnte nur bedeuten, daB erst mit wachsender Differenzierung die moralischen von den nicht-moralischen.Regeln unterscheidbar werden. Dabei geht es nicht nur·darum, daB an die Stelle ~onventioneller Moralnormen moralische Prinzipien treten, sondem auch darum, daB die konventionellen
I Philippa Foot hat darauf hingewiesen, daB nicht das kategorische Sollen ais solches, sonden1 allenfalls die Art der Begründung moralische Regeln von Klubregeln ·oder Regeln der Etikette unterscheiden kõnne: »It is obvious that the normative character of moral does not guarantee its reasongiving force .. Moral judgements .are normative, but so are judgements of manners, statements of club rules, and many others<< (»Morality as a System of Hypothetical Impetatives<<, in: Philippa Foot, Virtues and Vices, Berkeley und Los Angeles I978, S. I62).
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· Normen sich gleichsam aufspalten in moralische und nichtmoralische Regeln - grammatische, asthetische, juridische, konstitutive Regeln aller Art usw. Ich will sagen: es gibt sowohl empirische als auch begriffliche Gründe für di e Vermutung, da~ der normative Konsens archaischer Gesellschaften einem motalischen Konsens
. nichtgleichgesetzt werden kann. Ich glaube, daB dieser Umstand nur deshalb leicht aus dem Blick gerat, weil der in der Moralpsychologie im AnschluB an Kohlberg gangig gewordene Begriff des »konventionellen« MoralbewuBtseins die Suggestion mit sich führt, als waren alle »konventionellen« Normen Vorlaufer von moralischen oder moralisch begründbaren Normen, als ware also ihre Pointe (oder auch ihre Funktion) die von moralischen Normen. Selbst wenn man aber davon ausgeht, daB die gemeinsamen Normen einer archaischen Gesellschaft die »Allgemeinheit« eines »ZUgrundeliegenden InteresseS<< zum Ausdruck bringen, kann man hieraus nicht folgern, daB sie immer schon das Gel-' tendmachen eines gemeinsamen- im Gegensatz zum individuellen- Interesses, wie Habermas es formuliert,· intendieren. Mit anderen Wbrten: Auch wenn der in der Sphare desSakralen bereits verfügbare Begriff der Normgeltung sich durch ein affektiv hochbesetztes unbedingtes Sollen charakterisieren laBt, folgt hieraus nicht, daB dieser Begriff der Normgeltung mit einem ursprünglichen Begriff moralischer Geltung gleichgesetzt werden darf. Vielmehr ist zu erwarten, daB der Begriff moralischer Geltung in diesem ursprünglichen Begriff der Normgeltung noch ebenso verkapselt ist wie die wissenschaftliche Welterklarung in der mythischen Weltdeutung: namlich als einer unter mehreren Bedeutungsaspekten. Welchen moglichen rationalen Sinn dann das unbedingte Sollen >>konventioneller« Normen zum Ausdruck bringt, das hinge davon ab, welche Arten von Begründungeri denkbar werden, wenn das »konventionelle« Weltverstandnis sich reflexiv offnet. Wenn aber nicht
jedes (»konventionelle«) kategorische »muB« seinem Sinne nach ein moralisches »muB« ist, dann verlagert sich das Differenzierungsproblem in den von Habermas angenommenen ursprünglichen Begriff der Normgeltung selbst hinein. Dies würde heiBén, daB man zwar vielleicht die Soll-Geltung als einen universalen Geltungstypus interpretieren dürfte, si e aber gerade als solchen nicht mit moralischer Geltung gleichsetzen dürfte. Und dies entspricht genau meinen Überlegungen zu Habermas' grammatischer Rekonstruktion normativer Geltungsansprüche am Anfang dieses Abschnitts. Ich bin mir des tentativen Charakters der vorangehenden Überlegungen sehr wohl bewuBt. Ich hoffe aber, gezeigt zu haben, daB Habermas' suggestive und gedankenreiche Weiterführung von Durkheims Deutung des Sakralen kaum weniger begriffliche Probleme aufwirft, als sie losen soll. Ich kann daher in Habermas' Rekonstruktion zumindest kein zusatzliches Argument für die konsenstheoretischen Pramissen der Diskursethik sehen, die ich oben rein immanent kritisiert habe. Werin aber, wie ich es vermute, der Begriff der moralischen Verpflichtung das Resultat einer Ausdifferenzierung von Geltungsspharen (gerade auch normativer Ge~tungsspharen) ist, so sprache dies wiederum dafür, (allgemeine) Rationalitatsverpflichtungen von (speziellen) moralischen Verpflichtungen zu unterscheiden, so wie ich dies oben getan habe. Die eigentliche Pointe dieser Unterscheidung für eine Rationalitatstheorie sehe ich darin, daB, wie ich glaube, erst sie es erlaubt, einen »pluralen« und offenen Rationalitatsbegriff zu denken, der weder von letzten Begründungen abhangig noch auf letzte Versohnungen angewiesen ist. Mir scheint, daB die konsenstheoretischen Pramissen der Diskursethik, die mit der Deutung des moralischen Sollens ais einer sprachpragmatischen Universalie aufs engste verknüpft sind, der Entfaltung eines solchen pluralen und offenen - aber keineswegs relativistischen -Rationalitatsbegriffs im Wege stehen. Dieser Rationalitats-
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begriff, so meine ich, ist auch derjenige, den Habermas selbst überall dort vertritt, wo er di e metatheoretischen Pramissen der Universalpragmatik in eine Analyse des normativen Gehalts der Moderne »übersetzt<<, An solchen Stellen wird insbesondere deutlich, daB es der starken konsens· theoretischen Pramissen gar nicht bedarf, um die »Rationalisierung der Lebenswelt« - im Allgemeinen - und eine dialogische »Óffnung« der Ethik- im Besonderen- zu denken. In seinem letzten Buch (Der philosophische Diskurs der Moderne)' bezeichnet Habermas als »Fluchtpunkte« einer moglichen Rationalisierung der Lebenswelt: ,,für die Kultur (einen) Zustand der Dauerrevision verflüssigter, d. h. refle:xiv gewordener Traditionen; für di e Gesellschaft ( einen) Zustand der Abhangigkeit legitimer Ordnungen von formaleu, letztlich diskursiven Verfahren der Normsetzung und Normbegründung; für die Personlichkeit (einen) Zustand der riskanten Selbststeuerung einer hoch abstrakten IchIdentitat.« Durch di e Rationalisierung der Lebenswelt namlich >>entstehen strukturelle Zwange zur kritischen Auflosung von garantiertem Wissen, zur Setzung generalisierter Werte und Normen und zur selbstgesteuerten Individuierung (da die abstrakten Ich-Identitaten auf eine Selbstverwirklichung in autonomen Lebensentwürfen verweisen.«' Die >>Fluchtpunkte« einer Rationalisierung der Lebenswelt, von denen Habermas spricht, bezeichnen nicht die Strukturen einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, sondem die >>strukturellen Zwange« einer Lebenswelt, die durch eine Gemeihsamkeit universalistischer Werte und das BewuBtsein allgemeiner Rationalitatsverpflichtungen gepragt ist. Hierdurch ist kein gesellschaftlicher I dealzustand, sondem ein,rational nicht hintergehbarer Problem- und Moglichkeitsbestand modemer Gesellschaften bezeichnet; die >>Fluchtpunkte« der Rationalisierung der Lebenswelt sind
I Jürgen Haberm~s, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt I985. 2 A.a.O., 399f.
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eigentlich Fluchtpunkte eines Rationalitatsverstandnisses, binter das wir nur um den Preis von Regressionen, Unterdrückung oder Terror zurückgehen konnen. Erst auf dem Boden dieses Rationalitatsverstandnisses lassen sich die substantiellen Probleme der gesellschaftlichen Ordnung und des guten Lebens angemessen bearbeiten, konnen sich die >>Negationspotentiale sprachlicher Verstandigung« 1 so entfalten, daB die Moglichkeiten eines guten Lebens, die Moglichkeiten kritischer Revisionen und di e Moglichkeiten innovatorischer Veranderungen offengehalten werden.
.Rationalisierung der Lebenswelt bedeutet Differenzierung und Verdichtung zugleich- die Verdichtung der schwebenden Textur eines Gespinstes aus intersubjektiven Faden, welches die immer scharfer ausdifferenzierten Bestandteile der Kultur, der Gesellschaft und der Person gleichzeitig zusammenhalt. Der Reproduktionsmodus der Lebenswelt verandert sich freilich nicht linear in der durch die Stichworte Reflexivitat, abstrakter Universaiismus und Individuierung gekennzeichneten Richtung. Die rationalisierte Lebenswelt sichert vielmehr die Kontinuitat von Sinnzusamrnenhangen mit den diskontinuierenden Mitteln der Kritik; wahrt den sozialintegrativen Zusammenhang mit den riskanten Mitteln des individualistisch vereinzelten Universalismus; und sublimiert, mitMitteln einer extrem individuierenden Vergesellschaftung, die überwaltigende Macht des genealogischen Zusammenhangs zu einer fragilen, verletzbaren Allgerneinheit.<<1
Wenn aber dieses suggestive Bild einer rationalisierten Lebenswelt keinen moglichen Idealzustand bezeichnen kann, wenn es vielmehr eine Beschreibung struktureller Veranderungen enthalt, die sich gewissermaBen vor unseren eigenen Augen vollziehen, dann wird zugleich klar, daB der Begriff einer Rationalisierung der Lebenswelt zu unspezifisch ist, um die besonderen Probleme und Rationalitatsdefizite bestimmter Gesellschaften zu fassen. Die Rationalisierung der Lebenswelt ist ja kein ProzeB, an dessen Ende eine vollkommen rationale Lebenswelt auch nur gedacht werden konnte (dies ware vielmehr eine Vorstellung ohne klaren Sinn), sie ist vielmehr ein ProzeB, in dem das BewuBtsein dessen ge-
I A.a.O., S. 401. 2 A.a.O., S. 4oof.
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sdlschaftlich wirksam wird, daB es keine gesicherten Grondlagen mõglicher Geltung gibt und daB ein Netz tragender Gemeinsamkeiten nur mit den Mitteln einer kommunikativen und argumentativen Praxis gesichert und immer wieder neu befestigt werden kann. Gerichtet ist dieser ProzeB, weil die · »Entfaltung der Negationspotentiale sprachlicher Verstandigung« nur als Lem- und InnovationsprozeB gedacht werden kann; dessen Bezugspunkt aber ist nicht eine futurisch gedachte ideale Kommunikationsgemeinschaft, sondem die Gegenwart mit ihren je erfahrbaren Pathologien, Irrationalitaten, Blockierungen und U nmenschlichkei ten. Die beiden altemativen Differenzierungsmodelle, die ich oben unterschieden habe, implizieren, wie ich denke, zwei altemative Mõglichkeiten, die Einheit der Vemunft zugleich mit der Ausdifferenzierung ihrer Momente zu denken. Das erste, das »konsenstheoretische« Differenzierungsmodell, bleibt an eine Versõhnungsperspektive gebunden, die, je na:çh Akzentuierung, entweder überschwenglich o der rationalistj,séh' · ·aüs~or.muliert werden wird. Die Einheit der Vernunft wird hier von einem idealen Endpunkt der Verstandigung her gedacht, an dem di e entzweiten Vemunftmomente in eine Konstellation definitiver Versõhnung getreten waren. Das zweite Differenzierungsmodell ist demgegenüber vergleichsweise konventionell. Es knüpft namlich direkt a:n das in der modemen europaischen Philosophie vorherrschende Problembewu6tsein an, demzufolge unter den ausdifferenzietten Geltungsmodi nicht die Wahrheitsgeltung, sondem die moralische Soli-Geltung ais da:s Unverstandlichere erscheint. Sicherlich hangt dies auch mit tiefsitzenden »logo-zentrischen«, sprich: szientistischen Voreingenommenheiten der tnodemen Philosophie zusammen. Dies ist áber nicht alies. Die Ratselhaftigkeit des moralischen Sollens erweist sich vielmehrdarin, daB die Versprachlichung des Sakralen hier auf Widerstande stõ6t, für die es im Bereich der Wahrheitsgeltung kein Aqui-
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valent gibt. Zwar ist die Befürchtung, daB ohne Stützung durch die Autoritat des Sakralen das moralische BewuBtsein seinen Halt verlieren müsse, ein Topos der Gegenaufklarung, aber jene Befürchtung hat ein fundamentum in re darin, daB die Wirksamkeit moralischer Argumente an Voraussetzungen nícht nur kognitiver, sondem auch affektiver Art gebunden bleibt: Ein rationales Âquivalent für ein sakral oder religiõs gestütztes moralisches Einverstandnis kann es nur geben, sofem die - kognitive und affektive -Einübung in Verhaltnisse wechselseitiger Anerkennung gélingt. In dem Ma6e, in dem dies nicht der Fali ist, verlieren moralische Argumentationen ihren Angriffspunkt, ohne daB dies zugleich auch für empirisch-technische Argumentationen der Fali sein mü6te. Es gibt einen lack of moral sense; diesen kann man aber nur dann ais ein Defizit an Rationalitat deuten, wenn man bereits Bedingungen unterstelit, die gerade nicht erfülit sein kõnnen, wo dieser lack of moral sense auftritt. Im zwelten der oben genannten Differenzierungsmodelle wird einerseits mit der Eigenstandigkeit der ausdifferenzierten Geltungsmodi emst gemacht; daher la6t sich die Einheit der Vemunft nicht mehr vom Fluchtpunkt einer idealen Kommunikationsgemeinschaft her denken, an welchem die Partialitat der Vemunftmomente in der Einheit eines moralischen Ideais aufgehoben ware. A~dererseits erlaubt jenes zweite Differenzierungsmodeli, den intemen Zusammenhang der ausdifferenzierten Geltungsmodi scharfer zu kon~ turieren. Ich hatte oben zu zeigen versucht, daB der moralische Diskurs sich zu einem guten Teil ais Diskurs über » Tatsachen « - im weitesten Sinne- bzw. über di e Angemessenheit und Vollstandigkeit von Situationsbedeutungen verstehen laBt. Für di e Sphare der Moral ist daher der Übergang von »Sein« zum »Solien<< immer schon vorgebahnt, nicht durch letzte normative Pramissen, sondem durch den
»moral point of view« selbst.' In die lnterpretation der für moralische U rteile relevanten Tatsachen aber gehen immer schon iisthetische Erfahningen ein: Der moralische Diskurs ist auch zum iisthetischen Diskurs hin offen. Andererseits ist auch der Diskurs über Tatsachen nicht gegenüber moralischen oder iisthetischen Gesichtspunkten abgedichtet. Nicht nur ist die Sprache, in der wir über die menschliche Lebenswelt und Geschichte sprechen, mit Werturteilen impriigniert; vielmehr stellen sich die Tatsachen im Lichte alterna tiver lebensweltlicher Orientierungen- in denen immér.schon moralische Einstellungen und empirische Überzeugungen miteinander verknüpft sind - auch verschieden dar. Dies scheint auf einen Zirkel und daher letztlich doch auf Relativismus hinauszulaufen. Dieser Zirkel ist aber kein theoretisches, sondem ein praktisches Problem: Er bezeichnet immer wieder sichtbàr werdende faktische Grenzen des rationalen Diskurses. Wir kõnnen aus diesem Zirkel nu.r von innen herausgelangen, niimlich durch die Anstrengungen einer Vernunft, die keinen Geltungsanspruch der Kritik entzieht. Theoretisch handelt es sich deshalb nicht um einen Zirkel, weil das Ineinander von praktischen Orientierungen und empirischen Überzeugungen an keiner Stelle durch letzte Priimissen abgesichert ist, die nicht einer immanenten Kritik oder einer Kritik im Lichte von neuen Erfahrungen prinzipiell zugiinglich wiiren. Zumindest in der Lebenswelt sind also moralische, praktisch-technische, iisthetische und Wahrheits-Gesichtspunkte bzw. -Diskurse immer schon miteinander verknüpft. Rationalitiit zeigt.sich hier ebensowohl in der Fahigkeit, die verschiedenen Gesichtspunkte auseinanderzuhalten, ais auch in der Fiihigkeit, sie in der richtigen Weise miteinander zu verbinden. Âhnliches gilt aber in mehr oder minder starkem MaBe auch für die institutionell ausdifferenzierten
r Eine ahnliche Position vertritt, wie ich erst nachtraglich gesehen habe, auch William Frankena in >>Has Morality an Independent Bottom«, in: The Monist, Vol. 63; Nr. r, Januar 1980, S. 49ff.
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•Wertsphiiren« der Wissenschaft, der Kunst und des Rechts. lm Falle des Rechts scheint mir dies evident. Was die Kunst betrifft, so hat Martin Seel gezeigt', daB sich der Sinn iisthetischer Geltung geradezu erliiutern laBt durch die Verschrankung von empirischen, moralischen und expressiven Geltungsansprüchen im iisthetischen Diskurs. Was schlieBlich die Wissenschaft betrifft, so stellt sich das Problem verschieden je nach dem Typus der Wissenschaft. Die · Human- und Sozialwissenschaften partizipieren gleichsam von Haus aus an der lebensweltlichen Verschriinkung von Geltungssphiiren, selbst wenn sie auf Fragen empirischer und theoretischer Wahrheit spezialisiert sind. Vielleicht sind die mathematischen Naturwissenschaften das einzige Paradigma einer empirischen Wissenschaft, die nur noch an ihren »Riindern~< von normativen, geschweige denn.asthetischen Fragestellungen eingeholt wird: von moralischen Fragestellungen, wo es über die Ziele und die Anwendung der Forschung geht, von methodologischen und »grammatischen« Fragestellungen, wo es um die Grundlagen der Wissenschaft geht. Die mathematische Naturwissenschaft ist denn auch in der gesamten modernen Philosophie zum eigentlichen Paradigma für die Ausdifferenzierung der Geltungssphiiren geworden, namlich zum Paradigma reiner Wahrheitsgeltung. Dies ist auch noch bei Habermas und Apel so. Wenn man diesen Bezugspunkt wiihlt, tritt zwar die Frage nach dem Sinn und der Mõglichkeit moralischer Geltung in aller Scharfe hervor, ich habe aber Zweifel, ob sich von diesem Bezugspunkt her auch der interne Zusammenhang der Geltungssphiiren angemessen rekonstruieren laBt. Zwar spielt naturwissenschaftliches Wissen eine immer grõBere Rolle auch für motalische Kontroversen (der letzte
I Vgl. Martin Seel, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der asthetischen Rationalitat. Frankfurt 1985. Vgl. auch Albrecht Wellmer, »Wahrheit, Schein, Versõhnung«. Adornos asthetische Rettung der Modernitat<<, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt 1985, S. JOff.
nen 1Ypen von Geltungsansprüchen und zugeordneten Argumentationsformen zu unterscheiden. Im theoretischen Diskurs geht es um die Gültigkeit von Aussagen und Aussagezusammenhangen, im praktischen Diskurs um die Richtigkeit von Handlungen. Im theoretischen Diskurs kann es etwa um mathematische, physikalische, historiographische, literaturhermeneutische oder moralphilosophische · Wahrheitsansprüche (Behauptungen, Theorien, Erklarungen, Interpretationen, Rekonstruktionen) gehen, denen jeweils ganz unterschiedliche Argumentationsformen, Geltungskriterien und Überprüfungsverfahren zugeordnet sind: Die Wissenschaft ist ein Konglomerat von Einzelwissenschaften, deren Gemeinsames einzig in der hand}ungsentlasteten .Spezialisierung auf Wahrheitsfragen besteht. Solche Wahrheitsfragen müssen von Fragen moralischer oder asthetischer Geltung nicht unabhangig sein, ohne da6 hierdurch der theoretische zum praktischen oder kunstkritischen Diskurs werden mü6te. Im übrigen geht es hier nicht in erster Linie um die Wahrheit von Einzelaussagen, sondem um die Gültigkeit von Aussagezusammenhéingen (Theorien, Erklarungen, Rekonstruktionen, lnterpretationen usw.), die in sich auf komplexe Weise artikuliert sein kõnnen und deren Gültigkeit (di e ein »Mehr« oder » Weniger« zula6t) kategorial weder mi~ der Wahrheit von Einzelaussagen noch mit der Angemessenheit eines Sprachsystems gleichgesetzt werdendarf. » Propositionale Wahrheit« istdeshalb ein unzu
. reichender Titel dessen, worum es in theoretischen Diskur-sen geht: Es geht in ihnen vor aliem um die Gültigkeit von propositionalen Gebilden hõherstufiger Art ( die unter Umstanden selbst die Form von Argumentationszusammenhangen annehmen konnen) und in diesem Zusammenhang natürlich auch um die Wahrheit von Einzela.ussagen. - Im praktischen Diskurs geht es demgegenüber um die Begründung und Bewertung von H andlungen, das hei6t um Fragen des -politisch, juridisch, õkonomisch, technisch, asthetisch oder moralisch richtigen Handelns, wobei den verschiede-
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nen Gesichtspunkten der Richtigkeit wiederum ~nt~rschiedliche Argumentationsformen und ~eltungskr~tene? entsprechen. Wahrend im theoretischen D1skurs Rauonahtãtsma6stabe sich jeweils aus ·dem Sinn der verhandelten Geltungsansprüche bzw. aus dem internen Zusammenhang von Geltungsansprüchen und Voraussetzungen ergeben, ergibt sich im praktischen Diskurs das zusatzlic~e Problem, daB konkurrierende RationalitatsmaBstabe aufemander bezogen und gegeneinande; rela.tiviert werden m~sse.~: .Pra~tische Vernunft auBert SlCh mcht zuletzt als dle Fahlgkelt, die verschiedenen Rationalitatsdimensionen des Handelnswie technische, okonomische, moralische oder asthetische Rationalitat- in angemessener Weise aufeinander zu beziehen und gegeneinander zu relativieren; sie auBert. sich, wie Seel es ausgedrückt hat, als »interrationale U~~ells.kraft«'. Im Wort »Urteilskraft<< ist angedeutet, daB es fur d1e >>Yermittlung der Vernunftmomente<< 1 nur hier und i:tzt richtige, das heiBt immer auch: begrü~dbare, aber ~~m~ all~emeinen oder letzten Losungen g1bt. »Unvernunfugkelt<< ware in diesem Zusammenhang ZU verstehen ais eine partielle Unempfindlichkeit für ganze Erfahrun?sbe;eic~e und Geltungsdimensionen und daher als ~nfah1~ke1t, ?1e verschiedenen Erfahrungs- und Geltungsd1mens10nen m angemessener Weise aufeinander zu beziehen.l- Im dsthetischen Diskurs schlieBlich geht es weder um die Gültigkeit von Aussagen noch um die Richtigkeit von.~~ndlu?gen, sondern um den Sinn und die Gelungenhe1t asthet1sdier Objekte, das heiBt um deren (asth~tischen). »Geltu~gsanspruch<<. Wie im theoretischen und 1m prakuschen D1skurs
1 Martin Seel, »Die zwei Bedeutungen kommunikativer Rationalitat. ~emerkungen zu Habermas' Kritik der pluralen Vernunft,,, Manusknpt
(1985), S. 16. 2 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen·Handelns, Bd. 2,
a.a.O. S.585. 3 Ich folge hier einem Vorschlag von Seel. Vgl.~ auch z.um folgenden, Mar-tin Seel, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der asthettschen Rattona-
litat, a.a.O. S. 32off.
sind-Interpretationen, empirische Behauptungen und moralische Richtigkeitsansprüche im asthetischen biskurs miteinander verknüpft, aber si e sind nicht di e Themen, sondem - ebenso wie expressive Geltungsansprüche - die Argumente des asthetischen Diskurses. Was im asthetischen Diskurs begründet wird, sind asthetische Wertaussagen; diese weisen aber über sich hinaus auf den Geltungsanspruch der asthetischen Objekte, derien sie gelten, und dieser ist nur in asthetischer Erfahrung einzulosen. Theoretische, praktische und asthetische Diskurse sind vielfach miteinander verschrankt, aber es geht in ihnen jeweils um etwas anderes: Theoretische Diskurse zielen auf gültige Aussagen, Erklarungen und Interpretationen ab, praktische Diskurse auf richtige Handlungen, Einstellungen und Entscheidungen, asthetische Diskurse auf die angemessene Wahrnehmung asthetischer Objekte. Aber auch innerhalb der verschiedenen Diskurse sind die unterschiedlichen Ar~ gumentationsformen auf vielfache Weise immer schon- jedenfalls potentiell - miteinander vernetzt: Argumente beziehen ihren Sinn jeweils aus der Prasenz von GesichtsJ?.unkten und Voraussetzungen, die im Zweifelsfall den Ubergang zu einer anderen Argumentationsform notwendig m~chen konnen. Gerade die interne Verknüpfung der verschtedenen Argumentationsformen miteinander laBt sich jedoch mit Hilfe einer universalpragmatisch begründeten Typologie von Geltungsansprüchen (propositionale Wahrheit, moralische Richtigkeit, [expressive] Wahrhaftigkeit) nicht einsichtig machen; anders ausgedrückt: mit Hilfe von sprechakttheoretischen Unterscheidungen allein laBt ~ich weder die Differenz der »Geltungsspharen« noch ihr mterner Zusammenhang verstandlich machen. Die univer· salpragmatische und konsenstheoretische Rekonstruktion der Vernunfi:einheit setzt gleichzeitig zu tief und. zu hoch an; deshalb verfangt sie sich einerseits noch in fundamentalistischen und versohnungsphilosophischen Denkfiguren, und deshalb bleibt sie andererseits szientistischen Unter-
scheidungen in eigentümlicher Weise verhaftet. Aus der Perspektive solcher Unterscheidungen wird letzdich unverstandlich, was doch eigendich verstandlich gemacht werden soll: daB die Partialmomente der Vernunft, auch nachdem sie sich voneinander getrennt haben, doch miteinander kommunizieren. Die Einheit der Vernunft stellt sich jetzt dar als ein Netzwerk von Verbindungslinien und Übergangen zwischen theoretischen, technischen, moralischen und asthetischen Fragestellungen und Argumentationen. Wo diese Verbindungen und Übergange blockiert oder abgeschnitten sind, resultieren jeweils spezifische Pathologien und Vereinseitigungen'des Vernunftgebrauchs: »lrrational« konnen wir ein Verhalten nennen, das gegen elementare Konsistenzforderungen verstoBt oder das Konsistenz nur um den Preis einer Abwehr von Argumenten und Erfahrungen aufrechterhalten kann; demgegenüber konnen wir, wie Seel es vorgeschlagen hat1
, di e reduzierten Formen eines rationalen Verhaltens, hei denen eine Rationalitatsdimension auf Kosten der anderen verabsolutiert wird, »unvernünftig« nennen. Das Wort >>Vernünftig« nahme dann etwa jene Stelle ein, die bei Habermas das Wort >>kommunikative Kompetenz« bezeichnet, das ja auch eine lntegration der Vernunftmomente meint. Nur laBt sich, was >>v6rnünftig« heiBt, jetzt nicht mehr durch ein formal-prozedural charakterisierbares ideales Strukturmodell erlautern. Díe, wie Habermas es formuliert, >>beharrliche Verfo1gung jener verschlungenen Píade, aúf denen Wissenschaft, Moral und Kunst auch miteinander kommuriizieren«', verlangt Spürsinn, Phantasie und guten Willen; Elemente der >>Vernünftigkeit<<, für die es keinen Idealzustand zu realisieren, sondem Freiheitsspielraume und Lebensmoglichkeiten offenzuhalten und zu erweitern gilt. Die Einheit der' Vernunft verwirklicht sich im Zusam-
I A.a.O. 2 Jürgen Habermas, Theo.rie des kom'munikativen Handelns, Bd. 2,
a.a.O., S. 585.
menspiel partialer Vernunftmomente, für welches es weder letzte Fundamente noch letzte MaBstabe, noch letzte Versohnungen geben kann. Freilich hat die Vernunft eine Grundlage: ihre Grundlage ist eine existierende » Kultur der Vernunft«. 1 Wo eine solche Grundlage einmal vorhanden ist, muB das Postulat der Freiheit aller zu einem Postulat der (praktischen) Vernunft werden. Dies ist der unaufgebbare (praktische) Chiliasmus der Vernunft>, an dem Apel und Habernias in der Nachfolge Kants zu Recht festhalten. Jenes Postulat gewinnt seinen genauen Sinn aber jeweils nur auf dem Hintergrund vorhandener und erfahrbarer Unfreiheit. Es meint keine letzte Versohnung und keine ideale Verstandigung. Gabe es einmal keinen Grund mehr, für die Freiheit politisch zu kampfen, so müBte die Freiheit doch immer noch bewahrt, weitergegeben und neu angeeignet werden. Dies ist aber im Modus einer idealen Verstandigung nicht einmal denkbar. Jede neue Generation würde ja diese ideale Verstandigung durchkreuzen. Ohne solches Element des Neubeginns aber würde es auch keine Freiheit geben.J
r Vgl. Friedrich Karnbartel, >>Vernunft: Kriteriurn oder Kultur? Zur Definierbarkeit des Vernünftigen«, in: ders., Philosophie der humanen We[t, Frankfurt a. M. 1989, S. 27 ff. . 2 Eine Anspielung auf Kant, der von einern »philosophische(n) Chiliasm« spricht, »der auf den Zustand eines ewigen, auf einen Vi:ilkerbund ais Weltrepublik gegründeten Friedens hofft<<. Von diesern philosophischen Chiliasrnus unterscheidet Kant einen theologischen, »der auf des ganzen Menschengeschlechts vollendete moralische Besserung harret«. Natürlich verteidigt Kant auch diesen theologischen Chiliasmus im Sinne einer praktischen Idee. Vgl. Die Religion innrirhalb der Grenzen der bloflen Vernunft, a.a.O., S. 682f.
3 Diesen Gesichtspunkt hat vor aliem Hannah Arendt betont: hierauf bezieht sich auch ihr Begriff den>Natalitat«. Vgl. Vita Activa, StuÚgart 1960, S. I64ff.
ANHANG
Vorbemerkung
Die ~ folgenden abgedruckte Arbeit habe ich bereits 1979 cesdlneben, aber seinerzeit nicht verõffentlicht Ich f' · ais A h b · 'I 'ch I · uge s1e .. n. ang . e1, We1 .. 1 g aube, sie kõnnte etwas zum Ver-standms memer Knt1k der Diskursethik in diesem B d bzw zum V .. d . 'h . an e . . . . e~stan .ms 1 res Hmtergrundes beitragen. Obwohl 1ch m1ch m d1es;r Arbeit mit einer alteren Phase der Haber~asschen Theone auseinandersetze, halte ich die in ihr diskutt;rten. ~robleme nach wie vor für aktuell. überdies enthalt d1e ~nt1k. d~r Konsenstheorie der Wahrheit am SchluB der Arbe1t, W1~ 1ch. glau?e, einige zusatzliche Argumente, auch wen? ~s mtr semerzett nicht gelungen ist, die Kritik in eine b.efned1gende Fo~m zu bringen. Im übrigen stimme ich mit e~nzelnen Formulterungen und Argumenten der Arb 't h , mcht meh ''b · d' .1 e1 eute h .~ u eretn; 1es gt t vor aliem für einige an Tugend-
kat an~nupfend; überlegungen zur Logik normativer Disurse auf den Se1ten 203_ 205 •
Über Vernunft, Emanzipation und Utopie Zur kommunikationstheoretischen Begründung
einer kritischen Gesellschaftstheorie
I Modelle der Revolution bzw. des »Zusammenhangs« zwischen kapitalistischer und klassenloser Gesellschaft
1. Bekanntlich hat Marx die kommunistische Revolution ais Geburtshelferin einer neuen Gesellschaft verstanden, mit welcher die alte, die kapitalistische Gesellschaft bereits schwanger ging. In dieser Auffassung der Revolution liegt die Idee eines dialektischen Fortschritts der Geschichte beschlossen; eine Idee des geschichtlichen Fortschritts, derzufolge die »Logik« der Geschichte über den gegenwartigen Zustand der kapitalistischen Gesellschaft bis in eine Zukunft hineinreicht, die als Zustand der Emanzipation in den Konfigurationen und der Dynamik der Gegenwart sich abzeichnet. Wenn die- subjektiven und objektiven- Bedingungen der zukünftigen Gesellschaft sich bereits im SchoBe der gegenwartigen Gesellschaft entwickeln, dann macht das Wissen darum es mogl~ch, durch bewufites révolutionares Handeln die Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen. Dies durch die Theorie gelieferte Wissen ist aber zugleich ein Wissen um die mogliche Vorzeitigkeit von Revolutionen: Marx war der Auffassung, daB eine kommunistische Revolution, also der historische Übergang zur klassenlosen Gesellschaft, nur dort moglich sei, wo alle historischen Bedingungen dieser Revolution im SchoBe einer vollentwickelten kapitalistischen Gesellschaft zur Reife gekommen waren. Dem objektivistischen FehlschluB der marxistischen Dialektik liegt die Verkeonung der Tatsache zugrunde, daB von einer dialektischen Notwendigkeit oder einer »Logik<< des geschichtlichen Fortschreitens - wenn überhaupt ~ nur retrospektiv die Rede sein kann. Eine dialektische Ko~struktion der Geschichte kann nur bis zu dem Punkt des antizipierten Übergangs zum Reich der Freiheit, nicht bis zu diesem selbst reichen. Die Vorstellung, ein zukünftiges Reich der Freiheit sei im Sinne einer theoretisch faBbaren historischen Dialektik in den antagonistischen Lebenszusammenhang
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der kapitalistischen Gesellschaft eingezeichnet, stellt letztlich eine naturalistische Perversion der Hegelschen Dialektik dar. Diese -bei Marx mehr oder weniger deutlich hervortretende - Tendenz ztir Perversion der Dialektik erweist sich als zentrales Dilemma ei: · ner Theorie, die den Boden Hegelscher Einsichten und Problemstellungen nicht verlassen und doch zugleich wissenschaftlich- im modernen Sinne- und radikal gesellschaftskritisch sein móchte: (a) Wo Hegel ein geschichtliches Faktum konstatierte, sieht Marx eine historische Aufgabe; dies nótigt ihn zu einer >>Temporalisierung<< der Dialektik von Entzweiung und Versóhnung, die in Hegels Theorie der Modernitat strukturell gemeint war. »Temporalisierung<< der Dialektik, das bedeutet auch: Marx will die Aufhebung der entfremdeten Verhaltnisse nicht - vor-Hegelisch - einer schlechten Wirklichkeit als abstraktes und deshalb ohnmachtiges Sollen entgegensetzen, er will sie vielmehr als l;!ine durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst sowohl moglich als auch notwendig gemachte Losung eines Systemproblems begreifen, das innerhalb der Schranken der kapitalistischen Produktionsweise unlósbar bleiben mu6. Úm diesen Gedanken in einer nicht-sp~kulativen Weise einzulósen, bedarfes einer wissenschaftlichen Rekonstruktion der Struktur- und Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft. (b) Marx versucht dementsprechend nachzuweisen, einerseits, da~ die selbstdestruktiven Mechanismen des Systems einen Punkt des Zusammenbruchs approximieren, andererseits, da~ sich im Scho~e der kapitalistischen Gesellschaft die objektiven und subjektiven Voraussetzungen eines Übergangs zur klassenlosen Gesellschaft herausbilden. Er versucht, so kónnte man auch sagen, immer mehr geschichtliche Kontingenz wegzuarbeiten bis zu dem Punkt, an dem theoretisch sichergestellt ist, da~ die Geschichte nicht anders kann, als durchs Nadelohr der gro~en Krise zum Reich der Freiheit fortzuschreiten; die einzige Alternative ware der Rückfall in Barbarei. (c) Hiermit hat Marx unterderhand das Reich der Freiheit zum notwendigen Resultat eines im Ganzen naturwüchsig verlaufenden Geschichtsprozesses erklart; beinah zwangslaufig verfangt er sich in Ãquivokationen, entsprechend dem Umstand, da~ die dem Kapitalismus immanente geschichtliche Logik kaum weiter reicht als bis zu einem System geplanter oder halb-geplanter wohlfahrtsstaatlicher Okonomie. Ob dieses die Züge der von Marx antizipierten klassenlosen Gesellschaft oder aber vielmehr diejenigen einer neuen Form bürokratischer
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Herrschaft annehmen wird, darüber la~t sich mit den Mitteln der Marxschen Theorie in Wirklichkeit nichts mehr aussagen. 2. Der geschichtliche Fortschritt hat nach Marx eine andere, eher an Max Weber als an Marx anknüpfende Konzeption der historischen Dialektik plausibel gemacht, namlich die einer dem Fortschritt und der Aufklarung selbst immanenten Dialektik. Für die Vertreter der kritischen Theorie wird die Dialektik des Fortschritts zur Dialektik eines geschichtlichen Verblendungszusammenhangs, dessen immanentes Telos nicht Emanzipation, sondem technologische Barbarei ist. Gegenüber der in der marxistischen Tradition wirksamen, aber schon bei Marx angelegten naturalistischen Perversion der Dialektik betonen Horkheimer, Adorno und Benjamin' die Diskontinuitat zwischen der einer dialektischen Notwendigkeit gehorchenden Vorgeschichte der Emanzipation auf der einen Seite und dem Schritt ins Reich der Freiheit auf der anderen. Die dialekiische Notwendigkeit des geschichtlichen Fortschritts reicht allenfalls bis an die Schwelle des Reichs der Freiheit; der Übergang ins Reich der Freiheit bedeutet demgegenüber das Durchbrechen dieser geschichtlichen Notwendigkeit, den radikalen Bruch mit dem Kontinuum der menséhlichen Vorgeschichte. Will man diesen Bruch selbst noch einmal »dialektisch<< nennen, so handelt es sich dabei jedenfalls um eine andere Art von Dialektik ais jene des geschichtlichen Fortschritts, die ja mit einer über die Kópfe der Menschen hinweg sich durchsetzenden Notwendigkeit identisch ist. Diese Korrektur am marxistischen Verstandnis der Revolution hat aber tiefgreifende Konsequenzen hinsichtlich der Bedeutung, welche der Geschichte der Entfremdung und Verdinglichung ais einer Vorgeschichte der Emanzipation beigemessen werden kann: Erstens wird namlich der Geschichte eine Ambiguitat zurückgegeben, die sie bei Marx verloren hatte; zweitens wird nun der Gedanke fragwürdig, es konne so etwas wie das
I Vgl. insbes. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklarung, Amsterdam I944· Max Horkheimer, Autorit!rer Staat (Aufsiitze I9J9-I94I), Amsterdam I967. Walter Benjamin, >>Über den Begriff der Geschichte<<, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1.2 (Hrsg. R. Tiedemann und H. Schweppenhiiuser), Frankfurt I9l4· Die beiden Aufsatze »Autoritiirer Staat<< und » Über den Begriff der Geschichte« erschienen erstmals I 942 in einer Sonderausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung, di e unter dem Titel Walter Benjamin zum Gedachtnis vom Institut für Sozialforschung in Los Angeles herausgegeben wurde.
»Reifen« al~~r für die Revolution notwendigen Voraussetzungeri geben: der Ubergang ins Reich der Freiheit erscheint vielmehr ais eine in jedem geschichtlichen Augenbiick vorhandene Mõglichkeit; diese müBte nur von den Menschen ergriffen werden. Allenfalls lieBe sich sagen, daB mit dem Fortschreiten der Geschichte, also je mehr Fortschritt ais Verhangnis sich durchsetzt, sowohl di e Mõglichkeiten der Unfreiheit und Barbarei ais auch diejenigen der Freiheit anwachsen. Die Schwachen dieser Auffassung verhalten sich komplementar zu 4.enjenigen der Marxschen. Versucht Marx, die Kontingenzen im Ubergang zur befreiten .Gesellschaft und damit die Diskontinuitat zwischen kapitalistischer und klassenloser Gesellschaft wegzuarbeiten, so erscheint bei den Vertretern der kritischen Theorie die Emanzipation in der Perspektive purer Kontingenz; die Diskontinuitat zwischen der Freiheit und ihrer Vorgeschichte wird absolut. Unter einem solchen Blickwinkel erscheint das Reich der Freiheit am Ende ais ein Jenseits der Geschichte, die Geschichte aber ais hoffnungslos gottverlassen, ais ein Trümmerhaufen, der >>zum Himmel wachst«.' 3· Habermas' Theorie lieBe sich ais Versuch einer dialektischen Aufhebung des eben beschriebenen Gegensatzes verstehen. Habermas versucht namlich, den Gedanken einer in der Struktur kapitalistischer Cesellschaften beschlossenen Blockierung emanzipa· torischer lmpulse mit dem eines in diesen Gesellschaften angelegten emanzipatorischen Potentials systematisch zu verknüpfen. Habermas versteht den Entfremdungs- und Herrschaftszusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft ais einen Zusammenhang systematisch verzerrter Kommunikation. Die Theorie erhalt eine doppelte Funktion: Auf der einen Sei te soll sie Reflexionsprozesse in Gang setzen, welche eine emanzipatorische Praxis ermõglichen würden; eine Praxis also, durch welche eine gesellschaftliche Ordnung herbeigeführt würde, in der die »freie Übereinkunft<< (Horkheimer) der Menschen die gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse bestimmen würde. Auf der anderen Seite soll die Theorie Krisenmechanismen nachkonstruieren und durch diese Nachkonstruktion die Schwachstellen oder mutmamichen zukünftigen Schwachstellen des Systems - bei Habermas insbesondere: Legitimations- und Motivationsprobleme - identifi:úeren
1 Vgl. W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, a.a.O., S. 698.
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helfen. Anders ais bei Marx lassen sich diese beiden Aspekte einer kritischen Gesellschaftstheorie aber nicht mehr umstandslos miteinander zur Deckung bringen: Diejenigen,für welche Legitima• tions- und Motivationsprobleme entstehen, sind nicht notwendigerweise auch die natürlichen Subjekte einer transzendierenden Praxis. Ais die natürlichen Adressaten einer kritischen Theorie kõnnen sie namlich ebenso zum Ansatzpunkt regressiver oder technokratischer Entwicklungen der bestehenden Gesellschaft werden. Die Theorie kann, anders ais bei Marx, keine gesellschaftliche Gruppierung mehr benennen, für die sie eine prastabilierte Harmonie zwischen subjektiver Abwendung vom System einer· seits und einer Disposition zu einer im Sinne einer radikalen Alterna tive aufgeklarten Praxis andererscits behaupten kõnnte .. PaB Krisen zum Ansatzpunkt eines gesellschaftlichen Emanzipationsprozesses werden kõnnten, lieBe sich nur durch die Entstehung alternativer Organisationsformen »Ím SchoBe<< der bestehenden Gesellschaft sichern. Im Medium gesellschaftlicher Praxis muB sich entscheiden, ob die vo.n der Theorie gelieferte Perspektive- die ihr ais einer kritischen zugrundeliegt- eine real mõgliche geschichtliche Alterna tive zur bestehenden Klassengesellschaft bezeichnet. Dabei haben sich unterderhand die zentraien Annahmen über »objektive Voraussetzungen<< einer kommunistischen Gcsellschaft gegenüber den von Marx gehegten verandert: Für Marx war eine genügende Entfaltung der Produktivkrafte eine entscheidende Vorbcdingung der kommunistischen Revolution; diese Entfaltung der Produktivkrafte wurde ermõglicht-durch die Durchsetzung einer auf dem Tauschwert beruhenden Produktionsweise. Die Durch· sctzung dieser Produktionsweise bedeutet für Marx zugleich die Durchsetzung eines universellen Verkehrs und einer universellen Verbindung unter den Proletariern, die unbegrenzte Entwickiung von Fahigkeiten und Bedürfnissen, die Emanzipation von den naturwüchsigen Herrschaftsformen und den persõnlichen Abhangigkeitsverhaltnissen traditionaler Gesellschaften - und dies alies, zusammen. mit den Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals im Zeitalter der vollentwickelten Industrie, ist für Marx beinahe sçhon hinreichend für den historischen Übergang zur kiassenlosen Gesellschaft. Es ist somit die Logik der kapitalistischen Produktionsweise, welche die notwendigen und (fast) hinreichenden Voraussetzungen einer kommunistischen Revoiution schafft. Die bürgerlichen Formen des Rechtsuniversaiismus ers.cheinen dabei ais
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durchaus abhangige Momente: dieser Rechtsuniversalismus ist der juristisch-politische Ausdruck der kapitalistischen Eigentumsverhaltnisse, d. h. einer auf dem Tauschwert basierenden Produktionsweise. Für Habermas stellen sich hingegen der bürgerliche Rechtsuniversalismus und das mit ihm verbundene universalistische moralische BewuBtsein, zusammc:;n rhit der für die bürgerliche Gesellschaft charakteristischen lnstitutionalisierung von Diskursen in Wissenschaft, bürgerlicher Offentlichkeit und Parlamenten, ais zwar mit der Entwicklung der Produktivkrafte histo~ risch verbundene, aber von ihr kategorial zu unterscheidende und gleichsam eigenstandige historische Errungenschaften dar: In ihnen steckt, mehr noch ais in der Entfaltung der Produktivkrafte, das emanzipatorische Potential einer künftigen, demokratische Selbstbestimmung und Solidaritat verwirklichenden Gesellschaftsform. Das kapitalistische Privateigentum erscheint daher ais F esse!, nicht so sehr der Produktivkrafte ais der in der bestehenden Gesellschaft bereits institutionalisierten und im moralischen BewuBtsein anerkannten Formen demokratischer Legitimitat. Die bürgerliche Gesellschaft ist bereits auf ein universalistisches und demokratisches Organisationsprinzip der Gesellschaft verpflichtet; zugleich blockiert das kapitalistische Privateigentum die reale institutionelle Durchsetzung dieses Organisationsprinzips. DaB alie Elemente einer emanzipierten Gesellschaft bereits im SchoBe der bestehenden Gesellschaft vorhanden sein müssen - diese Denkfigur bekommt jetzt eine neue Bedeutung: sie wird bei Habermas erlautert durch eine Form des historischen Materialismus, die wesentlich ais eine Theorie der Herausarbeitung eines universalistischen Typus des Rechts und der Moral konzipiert ist. Unter dieser Perspektive laBt sich nun der Übergang zu einer emanzipierten (post-kapitalistischen) Gesellschaft nach zwei verschiedenen Modellen konstruieren; Habermas hat, wie sich zeigen wird, beide Modelle benut:it. Das erste Modell entsprache deram Beispiel der Psychoanalyse entwickelten Idee einer Emanzipation durch Selbstreflexion.' Das zweite Modell entsprache dem an die Theorie Piagets anknüpfenden Versuch von Habermas, den ProzeB der kulturellen Evolution ais eine einer immanenten >>Entwicklungslogik<< gehorchende Stufenfolge gesellschaftlicher »Ür-
I J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt I968 und I973·
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ganisationsprinzipien<< zu rekonstruieren.' lch mochte im folgenden zunachst deutlich machen, in welchem Sinne diese beiden Modelle auf zwei verschiedene Typen praktischer Lemprozesse verwersen. Beide Modelle bezeichnen, in Habermas' Terminologie, Prozesse praktischer Rationalisierung, ausgelost durch Lemprozesse in der Dimension des Verhaltnisses der Individuen zu sich selbst und zu anderen. Di e beiden Formen des Lemprozesses sind indes strukturell klar voneinander zu unterscheiden: Lemprozesse in dem von den genetischen Wissenschaften analysierten Sinne sind strukturell verschieden von Lemprozessen im Sinne einer Kritik und Auflosung falschen BewuBtseins, d. h. im Sinne einer Emanzipation durch Selbstreflexion. Erstere gelingen unter bestimmten Urnstanden, d. h. bei geeigneten Randbedingungen (wie im ProzeB der sozialen Evolution) oder »normalerweise<< (wie in der Ontogenese). Sie entsprechen gleichsam »natürlichen<< Reifungsstadien eines -individuellen oder sozialen - Organismus. Ihr Nicht-Gelingen bedeutet nicht, daB Formen blockierter oder verzerrter Kommunikation- im Sinne eines habituell gewordenen »falschen BewuBtseins<< - nicht aufgelost worden sind, auch wenn natürlich ein kausaler Zusammenhang zwischen den beiden Formen der Blokkierung bestehen mag. Entwicklungsstufen des moralischen BewuBtseins oder der gesellschaftlichen Organisation sind, wenn wir einmal von der Annahme ausgehen, di e Existenz solcher Entwicklungsstufen lieBe sich nachweisen, nicht Stufen verzerrter Kommunikation, sondem Stufen eingeschrankter Reflexivitat, Allgemeinheit und Individuierung. Auch wenn Weltbilder und Rituale primitiver Volker Züge aufweisen, die sie individuellen Neurosen analog zu machen scheinen, so würde doch gerade eine entwicklungslogische Betrachtungsweise eine solche Analogie weitgehend ausschlieBen: »Neurotisch<< oder »pathologisch<< kann nicht das genetisch Frühere ais solches sein, sondem allenfalls eine konflikttuose Beziehung verschiedener Entwicklungsstufen zueinander, also Organisationsformen - des Subjekts oder der Gesellschaft -, bei denen genetisch altere Denk- und Handlungsweisen in den ge-
. netisch spateren zwanghaft sich reproduzieren. Der zweite Typus von Lemprozessen, also das, was Habermas Emanzipation durch
I J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt I976.
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Selbstreflexion nennt, kann daher sinnvollerweise erst angenommen werden, wenn entsprechende Lemprozes'se im Sinne der genetischen Theorien bereits stattgefunden haben. Der Neurotiker ist nicht jemand, der etwa bestimmte kognitiv-moralische Kompetenzen noch nicht erworben hat, sondem jemand, der an der"Ausübung dieser Kompetenzen in bestimmter Hinsicht gehindert istdaher kann er auch um diese Blockierung wissen. MiBglückte oder blockierte Entwicklungsprozesse im Sinne der genetischen Psychologie waren in erster Linie nicht Ansatzpunkte einer kritisclien Wissenschaft, sondem Ansatzpunkte für die Entwicklung padagogischer Techniken oder einer geeigneten Stimulierung: Wo die normale Entwicklung auf einer bestimmten Stufe steckenbleibt, kann nur der Versuch untemommen werden, Bedingungen iu schaffen, unter denen sie weitergeführt oder beschleunigt werden kann. Für die Psychoanalyse ist dagegen die Blockierung des genetisch Spateren durch das genetisch Frühere das eigentliche Thema. · Soweit man also di e in den beiden Wisse·nschaften angenommenen Entwicklungsstufen überhaupt aufeinander beziehen kann, müBte man hier von einer Blockierung genetisch spaterer, formal bereits ausgebildeter Strukturen durch genetisch frühere Denk- und Interaktionsmuster r.eden. Die Psychoanalyse nimmt das erwachsene, genetisch vollentwickelte lch in Anspruch, um jene Zwange reflexiv aufzulosen, die dieses Ich - trotz formal vorhandener Kompetenzen - schwachen, paralysieren und in seinen synthetischen Funktionen einschranken. Ich behaupte keineswegs, daB das Verhaltnis psychoanalytischer zu genetisch-psychologischen Theorien h eu te auch nur annahemd geklart ist; auch behaupte ich nicht, · daB die beiden Typen von Lernprozessen, die ich hier analytisch unterschieden habe, nicht in komplizierter Weise miteinander verschrankt sein konnten. Ich ·môchte lediglich die beiden Theorietypen mit ihren verschiedenartigen Problemstellungen und Modellen, so wie sie von Habermas aufgenommen worden sind, gegeneinander abgrenzen. Aus einer solchen Abgrenzung ergibt si_ch die Notwendigkeit, zumindest analytisch zwischen zwei verschiedenen Begriffen praktischer Rationalisierung zu unterscheiden, die beide von Habermas in Anspruch genommen werden: der eine bezeichnet das Erreichen neuer Entwicklungsstufen und damit die Herausbildung neuer kognitiv-moralischer K.ompetenzen (bzw. neuer Organisationsprinzipien); hierbei lassen sich Entwicklungsstufen jeweils mit Hilfe
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formaler Strukturbeschreibungen charakterisieren. Der zweite Begriff praktischer Rationalisierung bezeichnet die Auflosung vo~ Kommunikationssperren und unbewuBten Zwangen auf dem Ntveau bereits (formal) erreichter Kompetenzen oder Organisationsprinzipien; für Lemprozesse dieser zweiten Art lassen sichdas wird jedenfalls meine These seio - keine >>Zielzustande« im Sinne formal charakterisierbarer Strukturen wie bei dem ersten Typus von Lemprozessen angeben. · Beide der soeben skizzierten Modelle praktischer Rationalisierung Iassen sich zur Konstruktion eines moglichen Übergangs von der kapitalistischen Klassengesellschaft zu einer. »klassenlosen<< Gesellschaft verwenden. Versteht man diesen Übergang nach dem Modell eines durch die reflexive Auflosung falschen BewuBtseins vermittelten Emanzipationsprozesses, so kann man vom Boden eines in der kapitalistischen Gesellschaft, d. h. der bürgerlichen Republik, bereits institutionalisierten Universalismus ausgehen. Man ware dann nicht genotigt, ein erst noch zu realisierendes neues Organisationsprinzip ( d. h. eine historisch noch nicht erreichte Stufe der sozialen Evolution im Sinne der Entwicklungslogik) ais moglich na:chzuweisén oder doch zumindest zu unterstellen. Eine entsprechende Theorie der Gesellschaft kann »kritisch« (negativ) verfahren, weil sie den Boden eines bereits institutionalisierten Universalismus voraussetzt und auf diesem Boden Aufklarungs.prozesse zu initiieren versucht, deren praktisch.e Folgen sie theoretisch nicht vorwegzunehmen braucht. Wenn s1e neue Formen der Freiheit antizipiert, so in dem Sinne, in dem auch der Neurotiker eine neue Form der Freiheit antizipiert: zugrunde liegen die erfahrbaren Blockierungen eines Lebens, das in seiner universalisti-schen Organisationsform nicht zur Disposition steht. · Geht man von dem zweiten Modell aus, namlich dem einer praktischen Rationalisierung durch Erreichen einer neuen Entwicklungsstufe ( eines neuen gesellschaftlichen Organisationsprinzips ), so ist das eigentliche Problem der Gesellschaftstheorie nicht die Analyse falschen BewuBtseins, sondem die. Erforschung derjenigen Systemstrukturen und T~ndenzen, die den entwi~klungslogisch bereits formulierbaren Ubergang entweder block1eren oder aber begünstigen. Der Theoretiker formuliert unter diesen Umstanden die angesichts der oestehenden Systemprobleme einzig »normal e«- d. h. praktisch angemessene- Losung dieser Systemprobleme, d. h. eine Lôsung, hei der die Defizienzen und Wider-
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sprüch~. des hesteheriden Organisationsprinzips der Gesellschaft durch Uhergang ZU dem entwicklungslogisch nachsthõheren Organisationsprinzip heseitigt werden. Im gegehenen Fali heiíh dies da~ er die Institutionalisierung einer Form des Universalismus an~ tizipiert, die von den Begrenzungen, Blockierungen und Widersprüchen der hürgerlichen Form des Universalismus hefreit ist. Der Theoretiker (un.d der Revolutionar) kann dahei an ein morali
. sches Bewu~tsein appellieren, das innerhalh der Grenzen des hürgerlichen Rechtsuniversalismus zumindest potentiell immer schon üher diese Form des Universalismus hinaus ist. Eine von den Fesseln des hürgerlichen Parlamentarismus hefreite Form der gesellschaftlichen Organisation, hei der das Prinzip demokratischrepuhl!kanischer Selhs.thes.timmung in alie Bereiche des gesellschafthchen Lehens emdrmgen würde, kann prinzipiell schon unte.~ Bedingungen einer hürgerlic~-parlamentarisch einges~hr~nkte.n ~orm der J?emokratie antizipiert werden (auch wenn s1e mch.t m 1hren Deta~ls vorweg konst.~uiert werden kann). ~s schemt nun, da~ he1de Modelle des Uhergangs- jedenfalls für s1ch genom~e~ - u?zureichend sind. lch mõchte zeigen, welche Prohleme s1ch Jewe1ls ergehen, wenn man von nur einem dieser h~iden Modelle ausgeht, um sodann die Frage zu diskutieren, oh d1e entst~he~den Prohl.eme sich durch die- natürlich naheliegende - Kombmatzon der he1den Modelle lõsen lassen. Ich mõ.chte den heidel). Modellen Namen gehen, in denen ihre theoretische Herkunft zum Ausdruck kommt; ich werde sie daher ais »Freud-Modell« und ais >>Piaget-Modell« hezeichnen. Zunachst zu~ Freud-M~del1: Da~ die Analogie zwischen einem psycho-analyusch vermmelten Emanzipationsproze~ und einem durch . theoretisch .ang.eleitete Aufklarung vermittelten gesellschafthche~ Emanz1pauonsproze~ nur in Grenzen Gültigkeit hah~n k~nn, hegt auf der Hand. ~ch.mõchte auf einige Unterschiede hmwe1sen: Im Freud-Modell (Jetzt wõrtlich genommen) hedeutet Selhsterkenntnis eines handelnden Suhjekts Assimilierung seiner Vergangenheit, Bewu~twerden der eigenen Wünsche und Motive u.nd zugleich dere~ U~strukturierung durch Neu-Interpretation; s1e hedeutet zugle!ch eme Erweiterung der synthetischen Kraft des Ich- d. h. auf der einen Sei te zwanglose Integration der zuvor entweder auseinanderlaufenden, einander hlockierenden und in .undurchsichtiger Weise miteinander sich vermengenden oder aher zwanghaft integrierten Triehimpulse, auf der anderen Sei te die Bil-
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dung eines Willens, deres dem Suhjekt erlauht, einer kontingenten Wirklichkeit mit einem zugleich konsistenten und nicht auf Selhsttauschung heruhenden Entwurf seiner selbst zu begegnen: also die Fahigkeit zur Selhstbestimmung sowohl ais auch die zur Selbstentau~erung. Dieser nicht blo~ kognitive Lernproze~ ist Emanzipation von undurchschauten, naturwüchsig wirksamen Zwangen. Der hestimmte Inhalt eines solcherma~en mit sich selbst ühereingekommenen Willens la~t sich nicht theoretisch vorweg bestimmen. Im Falle von Ideologien ist demgegenüber eine reflexiv erzeugte Einsicht mit Emanzipation nicht gleichhedeutend. Emanzipation ware vielmehr die gelingende Umstrukturierung des institutionellen Apparats, d. h. der sozialen Beziehung zwischen den Individuen. Man kann hier nicht, wie noch Lukács es tat, gleichsam ein gesellschaftliches » Üher-Suhjekt<< einsetzen, für welches Einsicht mit Emanzipation zusammenfide. Ideologien sind in gesellschaftliche Strukturen eingehettet und werden durch sie hindurch reproduziert: gesellschaftlich notwendiger Schein. Die kritische Auflõsung dieses Scheins ais eines blo~en Scheins ist mõglich im Medium individueller (philosophischer) Reflexion. Aher durch eine solche kritische Auflõsung von ideologischem Schein im Medium der Reflexion ist dieser Schein nicht auch ais gesellschaftlich wirksamer schon aufgelõst- ganz ahnlich so wie Selbsttauschungen im Sinne der Psychoanalyse nicht durch hlo~e Argumente sich auflõsen lassen. Im Falle von Ideologien steckt der >>Widerstand<< aber gleichsam in den gesellschaftlichen Strukturen selbst und den durch sie hindurch reproduzierten Einstellungen, Motivationen, Interpretationen und Verhaltensweisen. Wenngleich eine Anderung institutioneller Strukturen ohne die gleichzeitige Veranderung von Verhaltensweisen, Einstellungen und Motivationen, kurz, ohne die Anderung des Verhaltnisses der Individuen zu sich selbst und zu anderen, kaum denkbar sind, so handelt es sich doch um kategorial verschiedene Prozesse, je nachdem, ob die Gewalt verinnerlichter, aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragender sozialer Zwange durch eine praktisch gewordene Einsicht gebrochen, oder oh die Gewalt eines in gesellschaftlichen lnstitutionen verkõrperten, auf der Ebene der lntersubjektivitat gegenwartigen sozialen Zwanges durch eine einsichtig gewordene Praxis au~er Kraft gesetzt werden soll. lm ersten Fali, so kõnnte· man auch sagen, handelt es sich um die Aufhebung einer privatsprachli-
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chm Deformation auf dem Hintergrund einer funktionierenden (oder doch ais funktionierend unterstellten) offentlichen Sprache, im zweiten Fali um das In-Ordnung-Bringen der offentlichen Sprache selbst. Anders formuliert: Im Falle gesellschaftlicher Emanzipationsprozesse wird die durch Theorie vermittelte Aufklarung zum Kristallisationspunkt von Prozessen, in denen Selbsterkenntnis, eine Veranderung der Praxis und der Erfahrung zusammenschieBen sollen. Wenn ein entsprechender EmanzipationsprozeB in Gang kommt, werden sich rationalere, durchsichtigere Beziehungen zwischen den aufgeklarten lndividuen herausbilden, wird ihre Praxis auf eine Dur.chsetzung solcher Beziehungen in der Organisation der Gesamtgesellschaft abzielen und solche Beziehungen zugleich in ihren eige~en Organisationsformen vorwegnehmen. Das bedeutet aber, daB anders ais beim analytischen HeilungsprozeB ein durch theoretische Aufklarung erzeugtes besseres Selbstverstandnis handelnder Individuen zugleiçh ein Wissen um empirisch mogliche ~nd praktisch notwendige gesellschaftliche Strukturanderungen 1st - Strukturanderungen, die eintreten müssen, wenn das veranderte Selbstverstandnis sich in veranderten gesellschaftlichen Strukturen gleichsam niederschlagen und bewahren und damit erst eigentlich in Emanzipation einmünden sol!. Die Einsicht, die die Theorie vermittelt, ist also sowohl reflexives Wissen (um.meine Lage, die Zwange; unter denen ich stehe, meine Intentionen usw.) als auch gesellschaftstheoretisches Wissen über die Moglichkeiten und praktischen Notwendigkeiten einer Neustrukturierung gesellschaftlicher Beziehungen. Dem entspricht, daB die Differenz zwischen Theorie und auf den konkreten Fali ?ezogenen Interpretationen, wie sie beim Freud-Modell besteht, llll F alie der Gesellschaftstheorie nicht im gleichen Sinne existiert: die Theorie ist die Interpretation einer konkreten historischen Situation {Vehikel von Selbsterkenntnis) und zugleich ein objektives Wissen um Systemprobleme und die Richtung ihrer moglichen Losung. Beide Funktionen der Theorie lassen sich aber nicht voneinander trennen: die. Triftigkeit der Kritik ist nicht unabhangig von der Triftigkeit der im .theoretischen Sinne hypothetischeri Elemente. Unterstellt man, daB die Theorie wahr ist, so ist mit der durch die Theorie vermittelten Selbsterkenntnis handelnder Individuen zugleich eine defini tive politische Aufgabe und Zielsetzung ( ein bestimmter Inhalt des Willens) vorgezeichnet; ware di e Theo-
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rie falsch, so konnte sie auch zu einer wirklichen Selbsterkenntnis der Individuen nicht führen. Ob die Theorie wahr ist, kann sich daher eigentlich erst in der gelingenden Praxis, in der Emanzipation und Umwandlung der Gesellschaft zeigen. Es handelt sich um das merkwürdige Phanomen einer »hypothetischen<< Selbsterkenntnis: Die Triftigkeit der reflexiv gewonnenen Einsicht ist gebunden an die Triftigkeit von Antizipationen. Das ist aber eine Struktur von grundsatzlich anderer Art ais im Freudschen Modell: wahrend hier Einsicht mit Emanzipation zusammenfallt - und zwar genau deshalb, weil die Einsicht gleichbedeutend ist mit einer Umstrukturierung (einer praktischen Veranderung) -, besteht im Falle der Gesellschaftstheorie eine Differenz zwischen Einsicht und Emanzipation; das bedeutet aber, daB die Einsicht selbst hypothetisch ·in dem Grade bleibt, in dem di e Emanzipation noch nicht wirklich geworden ist, und das bedeutet weiterhin, daB hier Einsicht. etwas strukturell anderes bedeuten muB ais im FreudModell: Sie ist nicht im gleichen Sinn die reflexive Aneignung der »abgespaltenen<< Momente eines Lebenszusammenhangs und darin zugleich · eine praktische Veranderung von Subjekten. Im Freudschen Modell stellt sich die Frage nicht, ob ein antizipierter Zustand der Freiheit moglich, ob der zugrundegelegte Begriff von Autonomie angemessen ist: wo undurchschaute Zwange reflexiv gebrochen werden, darf dies ais Emanzi pation gelten; der Analysand antizipiert nicht eine künftige Struktur seines psychischen Apparats im Augenblick der Einsicht, ihm wird vielmehr etwas klar, und darin zugleich wird er Zwange los, andert sich die Reichweite seines Ich (ohne daB es hier ein >>Ideal<< geben müBte). Im Falle der Gesellschaftstheorie ist dagegen die Frage, ob es sich um wirkliche Einsicht handelt, von der Frage nach der Triftigkeit der Antizipationen einer künftigen gesellschaftlichen Organisationsform nicht zu trennen. Die Frage, ob bestimmte Zwange sich aufheben lassen, ist in beiden Fiillen nicht a priori enrscheidbar. Aber im F alie des Freud-'Modells bedeutet Einsicht dieAufhebung von Zwangen: Erkenntnis und Emanzipation sind eins. Im Falle der Gesellschaftstheorie entscheidet dagegen letztlich erst die Aufhebung der Zwange darüber, ob etwas eine Einsicht war: Die Einsicht greift hier gleichsam der Aufhebung des Zwanges voraus, sie ist, so konnte man auch sagen, immer auch Einsicht in die Aufhebbarkeit von Zwangen - daher haftet ihr ein hypothetisches Moment an.
Man versteht jetzt, warum eine kritische Gesellschaftstheorie in der Tradition der Marxschen zugleich ldeologiekritik und Theorie der gesellschaftlichen Systemprohleme und ihrer moglichen Losung sein mu6. Das Prohlem ist nicht, da6 die Theorie die potentiellen revolutionaren Suhjekte dirtgfest machen mu6, sondem da6 si e ein ohjektives Wissen üher gesellschaftliche Strukturen und deren mogliche Veranderungen erzeugen mu6: Das Eigentümliche ist somit die Verknüpfung von reflexiver Einsicht mit ohjektivem Wissen, wohei di e Triftigkeit beider letztlich erst durch gelingende Praxis sich erweisen kann. All dies spricht aher dafür, da6 das Freud-Modell nicht ausreicht, um lnha!t und Funktion einer kritischen Gesellschaftstheorie im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Emanzipationsprozessen. und damit auch den Charakter dieser Emanzipationsprozesse selhst zureichend zu hestimmen. . Andererseits ist das Piaget-Modell, für sich genommen, ehenfalls unzureichend. Es kann namlich den Widerstand gegen Aufklarung nicht erklaren, der in den gesellschaftlichen Strukturen und in der Eigenlogik des gesellschaftlichen Fortschritts verankert ist. In ihm kommt, verkürzt gesprochen, kein falsches, sondem nur >>unterentwicke!tes<< Bewu6tsein vor. Das spricht aher dafür, die heiden Modelle miteinander zu komhinieren - jedenfalls liegt dies nahe, solange man an Grundintentionen der Marxschen Theorie festhalten will: Das durch die gesellschaftlichen Strukturen reproduzierte falsche Bewu6tsein ware (u. a.) verantwortlich dafür, da6 ein entwicklungslogisch >>falliger<< und in suhjektiver wie ohjektiver Hinsicht moglicher Ühergang ZU einem post-kapitalistischen Organisationsprinzip der Gesellschaft hlockiert hleiht. Eine solche Auffassung würde es gestatten, Marx' evolutionistische und zugleich dialektische Konzeption eines Ühergangs von der kapitalistischen zur klassenlosen Gesellschaft zu retten, und sie würde zugleich den anti-ohjektivistischen Zug der a!teren kritischen Theorie in sich aufhehen und ihre Betonung einer Diskontinuitat zwischen entfremdeter und emanzipierter Gesellschaft hestatigen: Die Emanzipation wird zu einer Sache der Aufklarung und des Willens der lndividuen, den Verhlendungszusammenhang des gesellschaftlichen Fortschritts zu durchhrechen; dieser Schritt ist prinzipiell in jedem Momente moglich, aher niemand kann sagen, wann der Zeitpunkt wirklich gekommen sein wird. Zugleich würde die für die Marxsche Theorie charakteristische Verknüpfung von historischem Materialismus, ldeologiekritik und Theorie des kapita-
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listischen Systems in einer neuen Weise einsichtig: Alie diese Teile oder Momente der Theorie waren gleich wesentlich für eine theoretische Bestimmung des geschichtlichen Ortes der gegenwartigen Gesellschaft. · ·
n Die emanzipierte Gesellschaft
r. lch h in hisher von der für die marxistische Tradition zentralen praktischen Hypothese ausgegangen, da6 der Kapitalismus ii? Lichte einer erst noch historisch durchzusetzenden neuen Orgamsationsform der Gesellschaft verstanden und analysiert werden kann und da6 diese zukünftige Gesellschaft ais eine >>hefreite<<, >>klassenlose<<, eine >>vemünftig<< organisierte Gesellschaft charakterisiert werden kann. In dieser ldee sind sich im ührigen orthodoxe Marxisten, Anarchisten und kritische Theoretiker immer einig gewesen ·- was immer ihre Differenzen in Hinsicht auf das Verha!tnis von ge~enwartiger und zukünftiger Gesellschaft SC?wie das Prohlem des Úhergangs von der einen zur anderen gewesen sein mogen. Eine entsprechende ldee findet sich sogar noch hei einer konservativen Anarchistin wie Hannah Arendt: In ihrem Buch üher die neuzeitlichen Revolutionen' hat sie ais den einzig wahrhaften revolutionaren Kem aller modemen gesellschaftlichen Umwalzungen die immer wieder emeuerten und immer wieder gescheiterten Ansatze zu einer radikaldemokratischen Raterepuhlik herauszuarheiten versucht. Ãhnlich wie hei Benjamin freilich, der sich wohl am entschiedensten unter den im Umkreis des historischen Materialismus angesiede!ten Theoretikem von der Idee eines evolutionaren Kontinuums losgesagt hat, wie es noch hei Marx die Geschichte der Entfremdung und des Fortschritts mit dem Reich der Freiheit verhindet, so ist auch hei Hannah Arendt die Errichtung einer Raterepuhlik nicht ais eine theoretisch antizipierhare Auf!osung einer we!tgeschicht!ich einmaligen und historisch sich zuspitzenden Prohlemkonstellation konzipiert, sondem ais die .in jeder Epoche prinzipiell mogliche, im Gegenzug zum Verhangmszusammenhang des Fortschritts zu geschehende Tat der zum Miteinander-Handeln hefreiten lndividuen. Zwischen Hannah Arendt und dem Marxismus liegt eine We!t. Was heide gleichwohl
r H. Arendt, Über die Revolution, München 1963.
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miteinander verbindet, ist eine revolutionare Tradition, auf die ~ beide sich berufen: die eines immer wieder versuchten undimmer wieder gescheiterten radikaldemokratischen Ausbruchs aus den Herrschaftsstrukturen und Entfremdungszusammenhangen der neuzeitlichen ~uropaischen Massengesellschaften. Dementsprechend teilt Hannah Arendt auch die Kritik am Parlamentarismus mit den Marxisten und Anarchistep. Im Gegensatz zum Parlamentarismus moderner Industriegesellschaften bezeichnet die Raterepublik für sie die Idee einer im alltaglichen Leben der Menschen real gewordenen Form politischer Selbstbestimmung. Kehren wir zur marxistischen Tradition zurück: In Frage steht jetzt díe, meinen bisherigen Überlegungen zugrundeliegende, >>praktische Hypothese<<, daB eine rationaleNeu-Organisation der Gesellschaft moglich sei, die gegenüber der Organisationsform kapitalistischer Gesellschaften etwas · strukturell N eues bedeuten würde und durch welche Freiheit in einem substantiellen Sinne wirklich werden würde. Ais naheliegende Alternativen zu dieser praktischen Hypothese mochte ich zwei ebenfalls geschichtsphilosophisch untermauerte Positioneri nennen: einen revidierten Hegelianismus und eine systemtheoretische Gesellschaftskonstruktion. Hegelisch in einem revidierten Sinne ware eine Position, die davon ausgeht, daB die in der bürgerlichen Gesellschaft institutionalisierten Formen des Rechtsuniversalismus in gewissem Sinne »Unüberholbar<< sind und daB, wenn nicht die Grundzüge der H~gelschen Staatskonstruktion, so doch Hegels Losungsstrategie für das Problem einer Verwirklichung von Vernunft in der modernen Welt richtig war.' Demgegenüber lieBe eine systemtheoretische Konstruktion der modernen Gesellschaft sich dadurch auszeichnen, daB in ihr das Problem eines vernünftig gewordenen Lebenszusammenhangs der Menschen als obsolet aus der Theorie ausgeschieden wird: Sozialintegration wird durch Systemintegration endgültig überholt.' ' Ich mochte auf die systemtheoretische Positíon hier nicht naher eingehen, da ich Habermas' Einwande gegen diese Position über-
I Den überzeugendsten Versuch, Elemente der Hegelschen Rechts- und Geschichtsphilosophie gegenüber der marxistischen Tradition wieder zur Geltung zu bringen, sebe ich bei Ch. Taylor, Hegel and Modern Society, Cambridge 1979; sowie ders., Hegel, Frankfurt 1978. 2 Vgl. J. Habermas und N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1971.
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zeugend finde.' Dagegen mochte ich etwas zur Antithese von hegelianischen und marxistisch-anarchistischen Positionen sagen. Eine hegelianische Position lieBe sich durch die folgenden Grundüberzeugungen charakterisieren: ( 1) Unter Bedingungen komplexer moderner Gesellschaften laBt sich das Moment der »Entfremdung<< oder »Entzweiung<<, das durch die Ausdifferenzierung einer Sphare »negativer<< (oder »abstrakter<<) Freiheit zum Strukturmerkmal der bürgerlichen Gesellschaft geworden is.t, nur um den Preis des Totalitarismus oder der ko!lektiven Regression wieder rückgangig machen. Das bedeutet nicht Festlegung auf eine kapitalistische Wirtschaftsform; es bedeutet vermutlich aber. wohl, daB ein »Kommunikationsmedium<< wie das Geld und ein Steuerungsmechanismus wie der Markt sich nicht ohne eine empfindliche Einschrankung bürgerliche( Freiheitsrechte durch politische oder administrative Formen der Entscheidung und Steuerung ersetzen lieBe. Somit ware nicht nur- wie ja schon Marx annahm- die Form der Systemintegration und Systemsteuerung,wie sie durch.die kapitalistische Okonomie zuerst realisiert wurde, die »Basis<< des bürgerliçhen Rechtsuniversalismus, vielmehr ware anzunehmen, daB von einer »Aufhebung« des bürgerlichen Rechtsuniversalismus in einer hõheren, substantiellén Form gesellschaftlicher Freiheit jedenfalls nicht - und das ware das Hegelsche an diesem Gedanken- ohne di e gleichzeitige Annahme der Persisten:z, einer solchen Basis systemischer Selbststeuerung und entsprechend partiell »entsittlichter<< Sozialbeziehungen die Rede sein konnte. (2) Das würde bedeuten, daB die Ausdifferenzierung von Recht und Moral, von Politik und bkonomie, von Kunst, Wissenschaft und profaner Lebenspraxis nicht ais solche rückgangig gemacht werden konnte, ohne zugleich die universalistischen Strukturen des Rechts und des moralischen BewuBtseins selbst in Mitleidenschaft zu ziehen. Die Einheit der Vernunft ware unter Bedingungen der Modernitat wesentlich und notwendig eine Einheit in der Entzweiung - bàsierend auf einem unwiderruflichen Auseinandertteten von »Gemeinschaft<< und »Gesellschaft<<, von solidarischen und instrumentellen Beziehungen zwischen den Individuen und, nicht zuletzt, vermittelt durch ein System fortgeschrittener funktionaler Differenzierung. (3) Eine Hegelsche Konzeption würde schlieBlich damit rechnert, daB der Begriff einer vernünftig organisierten
A. a. O.
Gesellschaft jedenfalls nicht von dem einer (idealen) Vernünftigkeit der Einzelsubjekte her konstruiert werden kann. Auf der Eberte der einzelnen lndividuen und ihrer sozialen Beziehungen wiire ein Stück unaufléisbarer Kontingenz und Partikularitat anzunehmen, so wie auch die Unaufhebbarkeit von Leiden und Mangel ais Signaturen des Lebendigen. Hieraus folgt die Persistenz von Konflikten sowie die perennierende Méiglichkeit von lrrtum, Verbrechen, Geisteskrankheit, Selbstverfehlung und Unglück. Dies, so muB betont werden, nicht ais Zeichen einer noch unvollkommenen Sozialordnung bzw. eines noch nicht bis zu seiner zumindest denkbaren Grenze geführten praktischen Rationalisierungsprozesses, sondem ais Signatur eines Geistes, der ais subjektiver in lebendigen, situierten, vom Tode bedrohten Wesen verkéirpert ist. Von den beiden vorhin erlauterten Modellen der gesellschaftlichen Emanzipation- dem Freudschen und dem Piagetschen -lieBe sich am ehesten das Freudsche in den Rahmen einer solchen »Hegelschen« Konzeption von Modernitat integrieren: Emanzip;ttion ware die Entbindung des _vollen Potentials der in der modernen Gesellschaft bereits institutionalisierten Strukturen eines uni versa~ listischen Rechts und einer uriiversalistischen Moral. Die Marxsche Position, die - soweit es um die hier betrachteten Probleme geht- die anarchistische Position mitumfaBt, lieBe sich · demgegenüber durch folgende Grundannahmen kennzeichnen: (r) Der Übergang von der kapitalistischen zur klassenlosen Gesellschaft bedeutet den Übergang zu einem neuen »Ürganisationsprinzip<< der Gesellschaft. In der klassenlosen Gesellschaft bringen die vereinigten lndividuen ihren Stoffwechsel mit der Natur ebenso wie den gesellschaftlichen LebensprozeB unter ihre bewuBte und rationale Kontrolle. Damit sind Entfremdung und Naturwüchsigkeit aus der menschlichen Geschichte getilgt. (2) In der klassenlosen Gesellschaft sind die bürgerlichen Formen des Rechts, der Moral und der Politik funktionslos geworden. Diese Formen des Rechts, der Moral und der Politik drücken namlich in ihren Strukturen den antagonistischen Lebenszusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft aus: Di e bürgerliche Politik ist der Ort einer nur illusionaren Verséihnung von Einzelnem und Allgemeinem; das bürgerliche Recht ist einerseits Ausdruck einer auf Tauschbeziehungen gegründeten gesellschaftlichen Organisation, · andererseits Ausdruck einer unter der Decke der Freiheif und
Gleichheit fortbestehenden Klassenherrschaft. Die bürgerliche Moral ist die Form der Subjektivitat, die sich aus der Verinnerlichung des bürgerlichen Rechts und der kapitalistischen Leistungsethik herausgebildet hat: eine Form der Subjektivitat, durch welche zugleich die Vereinzelung der lndividuen bekraftigt und ihre antagonistische Beziehung zueinander verschleiert wird. (3) Will man die sozialen Beziehungen zwischen den lndividuen in der klassenlosen Gesellschaft sowie ihren moralischen Char;tkter kennzeichhen, so gibt es in der marxistischen Tradition, wenn ich recht sebe, zwei verschiedene Modelle, di e sich beide mit einem gewissen Recht auf Marxsche AuBerungen berufen kéinnen. (a) Das erste Modell ist von Engels und Lenin vertreten worden und entspricht der berühmten Passage über das Verhaltnis des Reichs der Freiheit ~um Reich der Notwendigkeit aus dem dritten Buch des >>Kapitak Danach ware das, was wir politische Probleme zunen·nen gewohnt sind, in der klassenlosen Gesellschaft auf ein administratives Problem reduziert: namlich das Problem einer méiglichst rationellen Regelung des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur. Es wird unterstellt, daB in diesem Problem kein Stoff für gesellschaftliche Konflikte mehr steckt; da die Produktion nach einem Gesamtplan frei vereinigter lndividuen organisiert wird, ist sichergestellt, daB alie lndividuen zu gleichen Teilen den unaufhebbaren Zwangen des fortbestehenden >>Reichs der Notwendigkeit« sich unterwerfen; ihre Freiheit in dieser Sphare besteht darin, daB sie dies - zum erstenmal in der Geschichte- aus Einsicht tun werden. Jenseit dieses Reichs der Notwendigkeit, im eigentlichen Reich der Freiheit, kéinnen sich die lndividuen frei und ungehindert entfalten. Marx spricht von einer >>Gemeinschaft«, in der >>die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« An anderer Stelle1 spricht er von einer >>Entwicklung der lndividuen zu totalen lndividuen«, von der >>Verwandlung der Arbeit in Selbstbetatigung« und der >> Verwandlung des bisherigen bedingten Verkehrs in den Verkehr der lndividuen ais solcher«. Unter Bedingungen, unter denen >>alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums« flieBen, gibt es kein Problem des Mangels und daher auch kein Problem der distributiven Gerech
. tigkeit mehr: >>Jedem nach seinen Bedürfnissen«. Entscheiden:d ist,
r K. Marx, Frühe Schriften, Bd. n (Hrsg. H. J. Lieber und P. Furth), S. 9of.
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daB, abgesehen von den administrativen Organen für die Regelung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, keine institutionelle >>Yergegenstandiichung<< und EntauBerung der menschiichen Soziaibeziehungen mehr ais notwendig gedacht wird: Die Versohnung von Einzeinem und Allgemeinem ist gieichsam unmittelbar geworden, unmittelbar verkorpert in einer Personiichkeitsstruktur der Individuen, aus der durch die Aufhebung der Kiassengegensatze und durch die Bedingungen materiellen Überflusses die Spuren egoistischer Partikuiaritat getilgt sind. Mit der Beseitigung von Ausbeutung, Kiassenherrschaft und Knappheit sind die Bedingungen verschwunden, unter denen eine EntauBerung menschiicher Beziehungen in gesellschaftliche Institutionen - mit den Merkmaien der » Verselbstandigung« und der Repressivitat __: notwe!ldig war. Auf dein Hintergrund solcher Annahmen hat Engels von der Überführung der Herrschaft über Personen in die Verwaitung von Sachen gesprochen, hat Lenin das Absterben des Staates vorausgesagt. (b) Das zweite Modell der Soziaibeziehungen in der kiasseniosen Gesellschaft ist bei Marx ebenfalls angedeutet, obwohi in einer sehr unentwickelten und zweideutigen Form. Es entspricht der. ratedemokratischen Tradition der modernen Revoiutionsgeschichte. Danach ware die kiasseniose Gesellschaft zu aharakterisieren durch eine radikaidemoi)ratische Form der Selbstbestimmung auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Marx hat in seiner Würdigung der Pariser Kommune1 einige Strukturmerkmaie dieser radikai-demokratischen Organisationsform hervorgehoben; namiich ein von unten (den iokaien Raten oder Kommunen) über evtl. mehrere Zwischenstufen nach oben (dem Zentrairat) veriaufendes Delegationsprinzip; jederzeitige Abwahibarkeit aller Delegierten durch das deiegierende Gremium; Aufhebung der Gewaltenteiiung von Exekutive, Legisiative und Rechtsprechung; so weit wie mogiich Veriagerung von Kompetenzen von der jeweiis hoheren auf die jeweils niedrigere Stufe der Selbstverwaltung; Zerschiagung der für den modernen bürgeriichen Nationaistaat charakteristischen Instanzen der (zentraiistischen) Integration, Kontrolle und Repression: d. h. der Bürokratie, der Poiizei und des stehenden Heeres. Im Gegensatz zum Engels-Leninschen Modell der kiasseniosen Gesellschaft handelt es sich beim râ'.tedemokratischen Modell um eine politische Konzeption der
r K. Marx, Politische Schriften, Bd. 11 (Hrsg. H.J. Lieber), S. 918ff.
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kiasseniosen Gesellschaft - jedenfalls wenn ,man den Begriff des Poiitischen aus der für Marx typischen Verkiammerung mit dem der Kiassenherrschaft herausiost und an ein alteres, etwa Aristoteiisches Verstandnis des Poiitischen anknüpft. Von den oben diskutierten Modellen des Übergangs- dem Freudschen Modell und dem Piaget-Modell- eignet si c h das Piaget-ModeU am eindeutigsten, um den von Marx erwarteten Übergang von der Kiassengesellschaft zur kiasseniosen Gesellschaft zu konzeptuaiisieren- freiiich nur dann; wenn man andas politische Organisationsmodell der kiasseniosen Gesellschaft und nicht an das "(harnionistische) Nicht-Organisations-Modell anknüpft. Wenn ichstark schematisierend- das Freud-Modell eher dem hegelianischen Modell einer rationaien Gesellschaftsorganisation, das Piaget-Modell eher dem marxistischen Modell zugeordnet habe, so drückt sich hierin die Vermutung aus, da6 in der nicht restlos gekiarten Beziehung dieser beiden Modelle zueinander bei Habermas Probieme sich verbergen, di e mit einer ungekiarten Rivaiitat zwischen einer eher hegelianisch-zurückgenommenen und einer eher emphatisch-marxistischen Kpnzeption einer emanzipierten Gesellschaft zusammenhangen. Freiiich verhaiten sich die beiden Modelle bei Habermas eigentlich genau umgekehrt zueinander, ais ich es nahegelegt habe: Das Freud-Modell entstammt einer Phase, in der Habermas di e poiitisch verstandene Konzeption einer kiasseniosen Gesellschaft noch gieichsam ungebrochen in Anspruch nahm; das Piaget-Modell hat er in einer Phase entwickelt, in der er mit der Rezeption systemtheoretischer Einwande zugieich ein Stück rationaiistischer Gesellschaftsutopie verabschiedet zu haben scheint. Andererseits spricht die Mogiichkeit einer Umkehrung der Zuordnungen dafür, daB die eben skizzierten beiden Konzeptionen einer >>vernünftigen« Gesellschaft viel zu unscharf sind, um eindeutige Zuordnungen und scharfe Abgrenzungen zu ermogiichen. Ich mochte sie daher auch nur zum Ausgangspunkt eines Versuchs nehmen, die systematische Frage, auf die die beiden Konzeptionen antworten- die Frage namiich, wie eine vernünftige Gesellschaft unter Bedingungen von Modernitat gedacht werden kann -, zumindest in einigen ihrer Aspekte zu prazisieren. 2. Ich mochte zunachst auf Probieme und Schwachen der beiden eben skizzierten Konzeptionen hinweisen. Eine hegelianische Konzeption insistiert auf der irreduzibien Kompiexitat moderner Gesellschaften, auf der irreduzibien Partikuiaritat und »Situiert-
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heit« der Individuen- sowohl in Hinsicht auf den gesellschaftlich- I geschichtlichen Lebenszusammenhang ais auch in ihrer Eigensch'aft ais Naturwesen und daher auf der Unmoglichkeit der Wiederherstellung einer >>unmittelbaren Einheit« von Individuum und Gesellschaft unter Bedingungen von Modernitat, sei es im Sinne archaischer oder antiker Vorbilder oder sei es im Sinne eines den Lebenszusammenhang der Gesellschaft unmittelbar und ubiquitar durchdringenden vernünftigen Allgemeinwillens. Die Frage stellt sich freilich, wie sich eine solche Position mit der Idee einer vernünftigen Organisation der Gesellschaft noch vereinbaren laBt, wenn man die Pramissen aufgibt, unter denen Hegel diese Idee noch bei gleichzeitiger Kritik an allen aufklarerisch->>subjektivistischen« Konzeptionen einer ratíonalen Gesellschaftsordnung festhalten konnte. Je nachdem, ob man die hier »hegelianisch<< genannte Konzeption systemtheoretisch ausdünnt, universalpragmatisch unterlauft oder durch eine Philosophie der »Situierten Freiheit<< neu interpretiert, wird sie ganz verschiedene Bedeutun-gen annehmen. Ihre Hauptschwache ist daher zunachst ihre fundamentale Unscharfe. Das Problem der marxistischen Konzeption besteht darin, daB sie Hegels Einwande gegen aufklarerisch-rationalistische Begriffe von Freiheit und vernünftiger - individueller wie gesellschaftlicher -Selbstbestimmung nicht ernst genug genommen hat. Marx' Bild der kommunistischen Gesellschaft tragt Züge einer absolut und gleichsam wlderstandslos gewordenen Freiheit oder vielmehr: einer Freiheit, die nur durch die Notwendigkeiten des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur begrenzt ist. Es sind Züge einer natu· ralistisch gewendeten transzendentalen BewuBtseins- und -Freiheitsphilosophie. Die befreite Menschheit ist namlich in gewissem Sinne ais ein » Über-Subjekt<< - d. h. im Singular - konzipiert, ais mit sich einig gewordenes Subjekt, dessen Freiheit nur andem Widerstand der auBeren Natur eine Schranke findet. Eine Schranke für die Freiheit stellt die auBere Natur dar, insoweit Freiheit hierim Kantischen Sinne- ais »Freiheit der Willkür<< verstanden wird; freilich unterstellt Marx für die klassenlose Gesellschaft einen Grad der Naturbeherrschung, der diese Schranke kaum noch spürbar erscheinen laBt. Was demgegenüber die Freiheit vernünftiger Selbstbestimmung betrifft, so rechnet Marx damit, daB das, was der Einigkeit des noumenalen Ich mit sich selbst in der geschichtlich-natürlichen Wirklichkeit einer Pluralitat von Individuen bis-
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her entgegengestanden hat, durch den Übergang zur klassenlosen Gesellschaft gleichsam weggearbeitet worden ist: Das Reich der Freiheit ist das Reich der Zwecke. Deshalb bedarf es, strenggenommen, der institutionellen Vermittlungen nicht mehr, welche ja immer ein Stück Differenz zwischen dem unmittelbaren Meinen und .Wollen der Individuen und dem, was als gemeinsame Interpretation und ais gemeinsamer Wille anerkannt werden kann, voraussetzen. Die politische Konzeption der klassenlosen Gesellschaft enthalt bereits eine Korrektur dieses naturalistisch gewendeten transzendentalen Monismus: für Marx freilich ist kennzeichnend, daB er die Kommunalverfassung eigentlich nur ais ein Durchgangsstadium zur kommunistischen Gesellschaft aufgefaBt hat: ais »die endlich entdeckte politische Form, unter der die Befreiung der Arbeit sich vollziehen« konne. Trotz dieser bei Marx vorhandenen Zweideutigkeit mochte ich im folgenden von der politischen Konzeption der klassenlosen Gesellschaft ausgehen. Auf sie laBt sich Habermas' universal-pragmatische Rekonstruktiori der normativen Grundlagen des historischen Materialismus beziehen: Eine herrschaftsfreie Gesellschaft ware diejenige, in der die kollektiven Willensbildungsprozesse die Form zwangloser, diskursiv herbeigeführter Einigungen angenommen hatten. Hier tritt die befreite Menschheit nicht mehr 'im Singular auf, vielmehr ist die Idee der Emanzipation aus · dem Bezugssystem einer mo~listisch verfahrenen BewuBtseinsphilosophie explizit herausgelost und die Hegelsebe Einsicht in die konstitutive Bedeutung intersubjektiver, symbolisch vermittelter Lebensverhaltnisse für die Subjektivitat der Subjekte in einen radikal aufklarerischen Begriff von Freiheit und Rationalitat eingetragen. Dieser Begriff, so konnte man sagen, versucht eine Synthese aus Kant und Hegel: Die Rationalitat der Subjekte wird zu einer Funktion rational gewordener intersubjektiver Lebenszusammenhange; da dieser Konzeption aber di e Basis einer »übersubjektiv<< konzipierten, vom Wollen und Meinen der Individuen unabhangigen Vernunft im Sinne Hegels fehlt, muB er das Verhaltnis zwischen subjektiver Rationalitat und der Rationalitat transsubjektiver Lebenszusammenhange ais einen wechselseitigen Bedingungszusammenhang konstruieren: die Gesellschaft wird so vernünftig sein, wie die durch sie v~reinigten Individuen es sein werden. Damit laBt sich die Problematik der Marxschen Konzeption neu formulieren: Konnen wir von der emanzipierten Gesellschaft so reden, daB wir si e gleichsam vom idealen Grenzwert einer
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von allen Trübungen gereinigten Vemünftigkeit der Individuen und ihrer sozialen Beziehungen her konstruieren? Wieweit der Zustand der Gesellschaft sich diesem Grenzwert wirklich annahem mag, das bliebe natürlich in jedem Fall eine empirische Frage: Wir konnen es nicht a priori wissen. Die Konstruktion enthalt aber die Unterstellung, daB wir den faktischen Zustand der Gesellschaft an einem solchen Grenzwert >>messen<< konnen. Ich mochte das Problem genauer bezeichnen, das ich in einer solchen Konstruktion sehe: Sie beruht auf eihem Begriff der Rationalitat, der- ais Grenzwert- eine bruchlose Identitat sowohl der lndividuen ais auch der Gesellschaft _mit sich selbst unterstellt. Das ist natürlich eine sehr grobschlachtige Vermutung; ich moc?te sie an einem Punkt verdeutlichen: Mir scheint, daB der Begnff der herrschaftsfreien Kommunikation, wie Habermas ihn konstruiert, die Unterstellung enthalt, daB praktische Probleme eine eindeutig bestimmte rationale Losung haben - auch wenn wir sie verfehlen mogen oder aufgrund intemer oder extemer Kommunikationssperren praktisch an einer rationale~ Lo~ung dieser Proble~e gehindert werden. Habermas rechtfertlgt d1ese U nterstellung, mdem
· er ais MaBstab der Richtigkeit praktischer Problemlosungen nicht mehr eine ontologisch festgeschriebene rationale Ordnung, sondem die zwanglose Einigung der Individuen selbst ansetzt. Ich glaube, daB dieser Gedanke einen Zirkel enthalt; ich mochte aber an dieser Stelle nicht auf die Konstruktion ais solche eingehen, sondem statt dessen das Problem erlautem, das ich in ihr vermute: Es ist das Problem einer ungeschichtlich verstandenen Ein~eit der Vemunft mit sich selbst. Aus der Perspektive eines solchen Vernunftbegriffs erscheinen (I) die Beziehungen der Individuen untereinander und zu sich selbst ais potentiell vollstahdig transparent gewordene Bezieh~ngen; es erscheinen ~2) di_e Selb~tinterpr~tationen von Individuen und Gesellschaften 1m L1chte emes zummdest kontrafaktisch antizipierten >>wahren<< Wissens, das gleich~am_keinen geschichtlichen Index mehr trüge - a~ch wen~ .w1~ d1eses wahre Wissen nie erreichen sollten; es erschemen (3) d1eJemgen natürlichen und geschichtlichen Bedingungen, die gleichsam jeder menschlichen Situation einen Partikularitatsindex verleihen, nur ais mogliche Begrenzungen rationaler Selbstbestimmung_ und rationaler Kommunikation, vielleicht noch ais deren genettsch notwendige Voraussetzungen, nicht aber ais die im Begriff der Vernunft mitzudenkenden Momente der Situiertheit und der begren-
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zenden Perspektive ais einer Ermoglichung von Wahrheit. Daher erscheint di e vemünftige Gesellschaft ais System, in dem gleichsam alle Faden an einem Punkte zusammenlaufen, auch wenn dieser Punkt in die kontrafaktische Wirklichkeit einer idealen Kommuni-kationsgemeinschaft verlegt wird. · Das Problem, das ich in der Marxschen Konzeption, auch in ihrer von Habermas rekonstruierten Form, sehe, liegt in den festgehaltenen Strukturen eines rationalistischen Vemunft" und Freiheitsbegriffs. Nicht, daB wir nicht wissen konnen, bis zu welchem Grad wir dem Zustand einer vemünftig gewordenen Gesellschaft uns empirisch annahem kotmen, ist das Probletn; das Problem sehe ich vielmehrim idealen MaBstab stl!bst- ein Problem, welches mir von einer ahnlichen Natur zu sein scheint wie dasjenige, das Wittgenstein im Auge hatte, wenn er von alltagssprachlichen Kontexten sagte, ein »Ideal der Genauigkeit<< sei hier nicht vorgesehen. Wir waren somit vor das folgende Dilemma gestellt: Auf dem Boden einer hegelianischen Position nach Hegel scheint sich der Begriff einer vemünftigen Gesellschaft ais solcher aufzulosen. Da~ gegen scheint der Versuch, die marxistische Position unter Aufnahme Hegelscher Einwande durch die Reformulierung eines radikal aufklarerischen Vemunftbegriffs neu zu begründen, zurück zu fragwürdigen rationalistischeri Positionen zu führen. .. Soweit das Dilemma, das sich ais Resultat der bisherigen Uberlegungen ergibt. Ich mochte nun der Frage nachgehen, wie wir uns eines von rationalistischen Identitatsforderurtgen freien Begriffs der Vemunft und der vemünftigen Organisation der Gesellschaft versichem konnen.
m Überlegungen zu einem post-rationalistischen
Begriff der Vernunft
I. Ich mochte zunachst wieder an eine Überlegung von Habermas anknüpfen. Habermas hat in mehreren Arbeiten Hypothesen über die sich abzeichnenden Strukturmerkmale post-modemer Gesellschaften geauBert. Seine Grundthese ist, daB nach der Erosion aller jener Traditionen, Lebensformen und Deutungssyste'!le, die gleichsam auf dem Wege einer naturwüchsig wirksamen Uberliefening in der bisherigen Geschichte eine an bestimmte Inhalte -
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Werte, Normen, lnterpretationen - gebundene Form kollektiver Identitat ermoglicht hatten, heute »kollektive Identitat nur noch in reflexiver Gestalt denkbar (ist), namlich so, daB sie im BewuBtsein allgemeiner und gJeicher Chancen der Teilnahme an solcheq Kommunikationsprozessen begründet ist, in denen Identitatsbildung als kontinuierlicher LernprozeB stattfindet.<<' In diesem Zusammenhang weist er auf zwei miteinander zusammenhangende Phanomene hin, die er als Anzeichen eines evolutionar neuen geschichtlichen Niveaus versteht: das Reflexivwerden von Motivbildungsprozessen und die Verknappung von Sinn als einer bisher
~- naturwüchsig reproduzierten Ressource.' Die >>Verknappung<< r) von Motivation und Sinn auBert sich auf der einen Seite in einer :.) >>kommunikativén Verflüssigung von Werten, Normen und Be
dürfnisinterpretationen, die z. B. in Tendenzen zur »Entdifferen-~...... ;
' zierung bisher autonomer Lebensbereiche<< sichtbar wird.3 Haber-;R: t mas weist insbesondere auf Tendenzen zur »Entkunst~ng<< der Cl t Kunst, der Entmoralisierung von Verbrechen, der Entpathologi.-!i , sierung von Geisteskrankheiten und der Entstaatlichung der PoliU.~ \ tik hin.4 Die kommunikative Verflüssigung von Werten, Normen U~- I und Bedürfnisinterpretationen laBt sich nicht angemessen durch -~ das Wort »Demokratisierung« bezeichnen, da es sich um Prozesse 0 handelt, die gleichsam komplementar zu den organisationsformig CO geordneten Prozessen politischer Willensbildung verlaufen. >>Sie
. (/) ?leiben h~ufig diffus, treten unter sehr verschiedenen Definitionen
.-~ m Erschemung und dringen, von der >Basis< ausstromend, in die Poren der organisationsformig geordneten Lebensbereiche ein. Sie haben einen subpolitischen Charakter, d. h., sie laufen untérhalb der Schwelle politischer Entscheidungsprozesse ab: sie nehmen aber indirekt EinfluB auf das politische System, weil sie den normativen Rahmen der politischen Entscheidungen verandern.<<s Auf der andern Seite fordert die Verknappung der Ressourcen Mo-
I J. Habermas, »Kiinnen komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identitat ausbilden?<<, in:J. Habermas und D. Henrich, Zwei Reden, Frankfurt 1974, S. 66. 2 J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, a.a.O., S. I82. 3 J. Habermas, >>Kiinnen komplexe Gesellschaften eine vernünftige Iden-titat ausbilden?<<, a.a.O., S. 67. · 4 A.a.O.. . 5 A.a.O., S. 66f.
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tivatiori und Sinn Tendenzen zur Entstehung neuer Typen der Sozialadministration, die mit der Erzeugung und Kontrolle von Motivationen und lnterpretationen befaBt waren. Habermas vermutet, daB mit dem Reflexivwerden der Motivbildungsprozesse und der Verknappung von Sinn ein neues Organisationsprinzip der· Gesellschaft sich abzeichnet, dem, wie man hinzufügen darf, die reflexiv gewordene Form einer kollektiven Identitat entsprechen würde. Worauf es mir nun ankommt, ist eine von Habermas formulierte Alterna tive, die mich zu meinem Ausgangsproblem zurückbringt. Auf der einen Sei te spricht er von der Moglichkeit eines sich in Zukunft einspielenden » Teufelskreises<< >>zwischen erweiterter Partizipation und anwachsender Sozialadministration, Z'o/ischen dem Reflexivwerden der Motivbildungsprozesse und der Zunahme an sozialer Kontrolle ( d. h. an Motivmanipulation).<<' Dies ist sozusagen die pessimisti'sche Variante seiner Konzeption einer post-modernen Gesellschaft. Würde diese Variante Wirklichkeit werden, so bliebe die von ihm ins Auge gefaBte neue Form kollektiver Identitat eine bloBe Projektion. 2 Die alternative, optimistische Variante ware demgegenüber verwirklicht in einer Gesellschaft, in der die reflexive Form kollektiver Identitat ihren Niederschlag in den realen Lebensprozessen der Gesellschaft gefunden hatte. » Wenn in komplexen Gesellschaften eine kollektive Identitat sich ausbilden würde, hatte sie die Gestalt einer inhaltlich kaum prajudizierten, von bestimmten Organisatiorien unabhangigen Identitat einer Gemeinschaft derer, 'di e ihr identitatsbezogenes Wissen über konkurrierende Identitatsprojektionen, also: in kritischer Erinnerung.der· Tradition oder angeregt durch Wissenschaft, Philosophie und Kunst diskursiv und experimentell ausbilden.<<J Mir scheint, daB in dieser .ÃuBerung wie auch in einigen der zuvor zitierten .ÃuBerungen ein gleichsam »dezentrierter<< Begriff der Vernunft und der vernünftigen Identitat sich abzeichnet, der über die oben erlauterte Alternative von »hegelianischen<< und »marxistischen<< Konzeptionen einer »rationalen Gesellschaft<< hinausführen konnte. Allerdings will hierzu, wie mir scheint, der letzte Satz der Habermasschen Hegel-Rede nicht recht passen: »Unterdessen würde es die
I Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, a.a.O., S. I8J. 2 »Kiinnen komplexe Gesellschaften eine vernüriftige Identitat ausbilden?<<, a.a.O., S. 71. 3 'A.a.O., S. 75·
zeidiche Struktur einer zukunftsorientierten Erinnerung erlauben, universalistische Ich-Strukturen über die Parteinahme für jeweils besondere Interpretationsrichtungen auszubilden: denn jede Position kann mit den übrigen Positionen, denen sie in der Gegen'1iJart gegenübersteht, gera.de in der Parteilichkeit für ein künftig zu realisierendes Allgemeines übereinkommen.<<' Ich meine, daB dieser Satz zu der oben ins Auge gefaBten Interpretation deshalb nicht paBt, weil er gleichsam di'ejenige aporetische Struktur in die Konzeption einer emanzipierten Gesellschaft wieder einführt, zu der in der marxistischen Tradition die Idee der klassenlosen Gesellschaft immer wieder geführt hat: Trotzkis Theorie der permanenten Revolution is't ein Beispiel; allgemeiner gesprochen kommt diese aporetische Struktur darin zum Ausdruck- Merleau-Ponty hat darauf hingewiesen -, daB die klassenlose ~esellschaft zu einem unerreichbaren Fixpunkt jenseits der Geschichte oder am Ende der Geschichte werden muB, obwohl sie zugleich ais das historisch eindeutig lokalisierte Nachfolgesystem des Kapitalismus konzipiert ist. Ich meine, daB es sich um eine Inkonsequenz handelt, wenn Habermas die in der emanzipierten Gesellschaft - die von ihm durch eine reflexiv gewordene Form kollektiver Identitat charakterisiert wird- fortbestehendén Gegensatze auf ein erst künftig zu realisierendes Allgemeines bezieht; mit anderen Worten: Wenn das zu realisierende vernünftige Allgemeine ais ein zu Realisierendes wirklich gedacht werden kann, dann ki:innen wir es nicht durch den Bezug auf ein erst künftig zu realisierendes Allgemeines charakterisieren. Mit Hegel ist man versucht, an dieser Stelle zu sagen: Hic Rhodos, hic salta. Ich mi:ichte im folgenden versuchen, den vorher zitierten .AuBerungen von Habermas eine etwas andere Pointe zu geben, indem ich den Begriff einer Gesellschaft zu konstruieren versuche, die >>Vernünftig<< genannt werden kann, ohne auf eine erst noch zu realisierende Vernunft bezogen werden zu müssen. 2. Ich gehe davon aus, daB in einer >>vernünftig<< organisierten Gesellschaft ein Prinzip >>diskursiver Rationalitat<< bei prinzipiell gleichen Diskurs- und Partizipationschancen aller ~ine institutionelle Verki:irperung finden würde. Unter einem Prinzip diskursiver Rationalitat verstehe ich ein Prinzip des Umgangs mit intersubjektiven Geltungsansprüchen: Es zeichnet ais. einzig rationales Verfah-
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ren einer Klarung strittiger intersubjektiver Geltungsansprücheneben den Verfahren der empirischen Überprüfung und der logischen Analyse- das Verfahren der Argumentation unter gleichberechtigten Diskussionspartnern aus. Hierbei kommt der intersubjektive Charakter von Geltungsansprüchen darin zum Ausdruck, daB >>gute<< oder >>gültige<< Argumente von jedem zureichend kompetenten ( einsichtigen, urteilsfahigen) Sprecher akzeptiert werden müBten. In jedem intersubjektiven Geltungsanspruch steckt Somit die Antizipation eines zwanglosen, auf Argumenten bzw. auf Einsicht beruhenden Konsenses ali derer, an die ein solcher Geltungsanspruch sich richtet. Meine These ist: Wenn wir der Idee einer Gesellschaft, in der >>diskursive Rationalitat<< als Organisationsprinzip anerkannt und durchgesetzt ist, einen zureichend bestimmten Sinn geben ki:innen, so b_edeutet das nicht, daB wir damit zugleich das Ideal einer vollkommen rational gewordenen Form des Lebens formuliert haben. Ein solches Ideal kann es nicht geben. Um diese These zu erlautern, mi:ichte ich zunachst, in Anknüpfung an Tugendhat, einige Argumente gegen einen universalpragma--tisch gefaBten Konsensbegriff der Wahrheit formulieren. · Der Wahrheitsanspruch empirischer Aussagen enthalt den Bezug dieser Aussagen auf eine- in einem gewissen Sinne- sprachunabhangige Realitat. Die Wahrheitsbedingungen solcher Aussagen sind durch die semantischen Regeln determiniert, welche die Bedeutung der in ihnen vorkommenden Ausdrücke bestimmen. Der Geltungsanspruch normativer Aussagen enthalt demgegenüber den Bezug auf einen MaBstab der Richtigkeit, der- mangels eines Bezugs dieser Aussagen zu einer von ihnen unabhangigen Realitat - nicht durch die semantischen Regeln für die Verwendung der in ihnen vorkommenden Ausdrücke bestimmt ist, sondern der durch die semantischen Reg~ln für die Verwendung von Worten wie >>gerecht<< definiert ist. Uber empirische Aussagen zu streiten heiBt, für oder gegen die Wahrheit dieser Aussagen zu argumentieren; empirische Aussagen begründet zu akzeptieren heiBt sie begründet für wahr nehmen. Über normative Aussagen zu streiten heiBt demgegenüber, dafür oder dagegen zu argumentieren, daB p gerecht (moralisch richtig) ist. Dem Bezug auf eine sprachunabhangige Realitat im einen F alie entspricht der Bezug auf einen vom Inhalt der Aussagen unabhangigen MaBstab der Richtigkeit dieser Aussagen. Die >>Unabhangigkeit<< des MaBstabs ist freilich in bei-
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den Fiillen eine nur relative: lm Falle empirischer Aussagen ist der Ma~stab (die sprachunabhangige Realitat) 'nur gegeben vermoge der semantischen Regeln· für die Verwendung von Ausdrücken, über deren Anwendung - in bestimmten Grertzen - vorgangiger Konsens bestehen mu~, d. h. ein praktisch funktionierendes Einverstandnis, das freilich dann auch mit Gründen kritisiert und mit Gründen korrigiert werden kann. Konsens über semantische Regeln la~t sich aber nicht insgesamt mit Gründen herbei.führen, et ist vielmehr das Resultat der Einübung in eine gemeinsame Lebenspraxis, .die die Voraussetzung jeden Argumentierens ist. Im F alie norma tiver Aussagen ist der Ma~stab der Richtigkeit gegeben vermoge der semantischen Regeln für die Verwendung von Ausdrücken wie >>gerecht« - und diese semantischen Regeln sind zunachst einmal kulturabhangig. Der semantische Kern- kulturinvariant- von Worten wie >>gerecht<< scheint mir in der Forderung begründet zu sein, Gleiches gleich zu behandeln. Was hei~t das? ' Von einer Handlung p zu behaupten, sie sei richtig, hei~t zunachst ohne Zweifel zu behaupten, jeder müsse sie ais richtig akzeptieren. Es hei~t aber zugleich zu behaupten, da~ jeder unter vergleichbaren Umstiinden so handeln solle oder dürfe. pais richtig zu beurteilen heiflt zunachst einmal zu behaupten, da~ jeder (mich eingeschlossen) unter vergleichbaren Umstanden so handeln solle (wie eine empirische Behauptung ais wahr anerkennen hei~t, anzuerkennen, da~ jeder diese Behauptung zu Recht erheben dürfe). Zugleich hei~t p ais richtig anzuerkennen oder zu behaupten aber auch, zu unterstellen oder den Anspruch zu erheben, daB jeder die Behauptung >p ist richtig< ais (normativ) wahr akzeptieren mü~te. Von einer Norm zu behaupten, sie sei gerecht, hei~t zu behaupten,
· da~ die Ansprüche aller »gleicherma~en« berücksichtigt werden (da~ »Gleiches gleich behandelt wird«). Zugleich hei~t es, den Anspruch zu erheben(nicht behaupten), da~ jedermann dieser Norm als einer gerechten müsse zustimmen konnen. In der Beurteilung einer Normais richtig oder gerecht ist also ein doppelter Bezug auf jedermann (oder jeden aus einer Gruppe) enthalten: einmal vermoge der Semantik des Wortes »gerecht«, zum anderen vermoge der Intersubjektivitat des Geltungsausspruchs. Nun hangt aber eine intersubjektiv verbindliche Verwendung des Wortes »gerecht« davon ab, daB Konsens besteht über das, was ais »gleich<< im relevanten Sinne- und ais »gleiche Behandlung oder Berücksichti-
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gung« zu gelten habe. Ob aber die Behauptung, eine Norm N sei gerecht, zu Recht erhoben wird (und daher zu Recht jedermann zugemutet werden kann), hangt davon ab, oh die Kriterien dessen, was im relevanten Sinne »gleich« hei~en solle, angemessen sind. Die Frage nach der Richtigkeit der Kriterien für Gleichheit und Ungleichheit ist aber nicht wieder eine Frage nach der »Gerechtigkeit« von.Normen, es ist vielmehr eine Frage der lnterpretation, Bewertung und Erkliirung von Ungleichheiten. Wir konnen daher zwischen einer »monologischen« und einer >>dialogischen« Ebene der Begründung von Normen unterscheiden. Solange eine Basis gemeinsamer lnterpretationen von Interessen, Bedürnissen und Situationen unterstellt werden kann, sind Diskurse nicht prinzipiell ( obwohl vielleicht aus pragmatischen Gründen) nofwendig, um Normen angemessen zu begründen. Sobald aber Situationsverstandnisse und Bedürfnisinterpretationen divergieren, bedarf es faktischer Diskurse, wenn die Moglichkeit eines begründeten Einverstandnisses über Normen wieder hergestellt werden soll. Hier kommen nun die Regeln der idealen Sprechsituation zu ihrem Recht. lch meine mit Tugendhat, da~ man sie ais moralische Regeln verstehen solle, die die Gleichheit der Diskurschancen und die Aufrichtigkeit der Diskursteilnehmer sichern. Wenn aber diese Regeln anerkannt sind, dann ist klar, da~ es keine privilegierte Position für di e Festlegung von Bedürfnisinterpretationen und Situationsverstandnissen geben kann: Zwanglose Einigung über Bedürfnisinterpretationen und Situationsverstandnisse ist die einzig mogliche Basis einer Begründung von Normen, von der erwartet werden kann, da~ sie intersubjektiv akzeptiert werden mü~te. Solange jenes Einverstandnis nicht besteht, fehlt es an einem in 'gemeinsamen lnterpretationen festgemachten Verhaltnis wechselseitiger Anerkennung. Soweit es aber um solche Bedürfnisinterpretationen und Situationsverstandnisse geht, ist die Moglichkeit von Einverstandnis ein Kriterium ihrer Wahrheit - und nicht nur, wie bei empirischen oder normativen Satzen, die auf der Basis gemeinsam anerkannter semantischer Regeln behauptet werden, eine Folge ihrer Wahrhl!it. Ob. sich nun ein· Verhiiltnis wechselseitiger Anerkennung über gememsame lnterpretationen herstellt, das ist eine im Einzelfall niemals a priori entscheidbare Frage. Es gibt keine Regeln oder Verfahren, mit deren Hilfe die Erzielung von Konsens in praktischen Fragen sichergestellt werden konnte. Deshalb sind die Symmetrie-
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forderungen der idealen Sprechsituation zugleich zu verstehen ais Forderungen, die für alie Beteiligten gleiche Chancen der Partizipation am Zustandekommen von Entscheidungen verlangen. Gerade wo eine Einigung nicht erzielt werden kann, müssen zurpindesf alie die gleichen Rechte haben, ihre Argumente zu Gehõr zu bringen und an den Entscheidungen teilzunehmen, wobei, was »gleiche Chancen<<, institutionell gesprochen, faktisch bedeutet, wiederum nicht durch formale Überlegungen a priori entschieden werden kann. »Rational<< organisiert nennen wir eine Gesellschaft, die durch eine bestimmte Form des (diskursiven) Umgangs mit Dissensen, der Herbeiführung von Entscheidungen und der KHirung von lnterpretationep gekennzeichnet ist. Solange wir aber nicht unterstellen dürfen, daB die Rationalitat der Verfahren die Richtigkeit der Resultate oder auch nur die Mõglichkeit von (inhaltlichen) Konsensen garantiert, solange wir also zwischen (formalen) Rationalitatsstrukturen und inhaltlichen Konsens~hancen bzw. der Chance einer auch in gemeins~men lnterpretationen und gelungenen Lebensformen festgemachten kollektiven Identitat unterscheiden müssen, solange kõnnen wir von einem idealen Grenzwert der rationalen Gesellschaftsorganisation nicht sprechen. Dás heiBt aber auch, wir müssen davon absc:;hen, Gesellschaften gleichsam auf einer Skala grõBerer oder geringerer Annaherung an einen idealen Grenzwert »herrschaftsfreier Kommunikation<< abzutragen. Statt dessen ware, wie ich meine, ein Bewertungsstandard anderer Art einzuführen, den man ebenfalls ais >>RationalitatsmaB<< bezeichnen kõnnte, ein RationalitatsmaB freilich, bei dem von vornherein klar ware, daB es kein formal charakterisierbares Optimum zulaBt. lch mõchte diesen Gedanken zunachst indirekt erlautern, indem ich eine Analogie auf der Ebene der Lebensform von Individuen konstruiere. Ich unterstelle, daB man Individuen einer bestimmten Entwicklungsstufe eine moralisch-kognitive BewuBtseinsstruktur zuschreiben kann, die man ais >>diskursiv rational<< bezeichnen kõnnte. Solche Strukturen bezeichnen Formen der Problemlõsung und des Umgangs mit Geltungsansprüchen und daher ;tuch nur formale Eigenschaften, nicht aber inhaltliche Qualitaten von Problemlõsungen. Ich mõchte den Punkt, auf den ich hinaus will, verdeutlichen am Problem der Neurose und ihrer Heilung. Ic\1 unterstelle, daB di e formalen Kompetenzen (moralischer und kognitiver
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Art) des Neurotikers hinter denen des sogenannten >>Gesunden<< nicht zurückstehen. Das neurotische >>Rationalitatsdefizit<<- wenn wir davon reden wollen -laBt sich daher nicht nach MaBgabe eines formalen Standards >>kommunikativer Kompetenz<< (oder >>Zwangloser lch-Identitat<<) beschreiben. Das Gegenstück der Neurose ist vielmehr ein Zustand (eine Verfassung des Subjekts), der sich etwa durch eine gesteigerte synthetische Kraft des Ich, eine zwanglose lntegration zuvor auseinanderlaufender Triebimpulse und im Zusammenhang damit natürlich auch durch eine erhõhte Selbsttransparenz und ein angemesseneres Selbstverstandnis des betroffenen Subjekts charakterisieren laBt. Die Veranderung der lnterpretationen (kognitive Ebene) geht mit einer Veranderung des lch, seiner Affektstruktur, seiner Motivationen und seiner synthetischen Fahigkeiten einher. Bei dieser Art der Veranderung von Subjekten, so behaupte ich, gibt es keine ideale Norm, es sei denn in dem Sinne, in dem man von der >>idealen Balance<< von Bildelementen oder der zwanglosen lntegration der Momente eines Kunstwerks zu einem Ganzen sprechen kann. Freilich sind Menschen keine Kunstwerke, und deshalb ist auch diese Analogie sicher in gewisser Hinsicht irreführend. Di e Differenz zwischenN eurose und dem Zustand der Heilung beschreiben wir somit ais eine Differenz zwischen zwei verschiedenen Arten des Gebrauchs der gleichen-formalen- Kompetenzen. Beim Nicht-N eurotiker wird di e ser Gebrauch besser sein, aber nicht notwendigerweise rationaler in irgendeinem formal charakterisierbaren Sinne. Es handelt sich um einen Zuwachs an Einsicht, an U rteilsund Handlungsfahigkeit und gewiB um einen Zuwachs an Autonomie. Aber eben soweit es sich hier um die Fahigkeit eines zwanglosen Umgangs mit sich selbst und die Fahigkeit einer Herstellung zwanglos-reziproker Beziehungen mit anderen handelt, um Urteils- und Handlungsfahigkeit, gibt es keine ideale Norm >>vollkommener<< Gesundheit. Ich glaube, daB selbst in Hinsicht auf das Problem der ,,seJbsttauschung<< (bzw. der Aufrichtigkeit) eine ideale Norm derSelbsttransparenz keinen Sinn macht; ich meine namlich, daB man den Begriff der Selbsttransparenz (im Gegensatz zu Selbsttauschung) falsch konstruiert, wenn man ihn nach dem Muster eines kognitiven Verhaltnisses auffaBt; es handelt sich eher um etwas wie Zuganglichkeit des Subjekts für sich selbst, gleichsam eine Fahig:keit, sich frei im eigenen H a use zu bewegen- und wenn man, utn bei diesem Bild zu bleiben, hier von »vollkommener<< Bewegungsfrei-
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heit spricht, so kann das immer nur einen relativen, auf einen bestimmten Kontext bezogenen Sinn haben. 3· Ich glaube nun, daB sich für Gesellschaften eine analoge Betrachtung anstellen lassen muB. Ich unterstelle, daB wir von diskursiver Rationalitat ais von einem Organisationsprinzip künftiger Gesell~ schaften sprechen kõnnen; diesem Organisationsprinzip entsprache eine reflexiv gewordene Form kollektiver Identitat. Innerhalb des Bereichs der auf diese Weise formal charakterisierten Gesellschaftsformationen kõnnte es immer noch viele mõgliche verschiedene Organisationsformen geben, wobei die Unterschiede zwischen diesen Organisationsformen nicht zu charakterisieren waren in terms eines unterschiedlichen lnstitutionalisierungsgrades diskursiver Rationalitat, sondem eher in Analogie zu den Unterschieden zwischen Neurotikern und Gesunden oder auch zwischen der Physiognomie und der Lebensform zweier verschiedener Iridividuen. Es gabe >>gelungene<< und weniget gelungene, mehr oder weniger mit der Fortdauer von Konflikten und Zwangen verbundene Lõsungen, aber es gabe keinen denkbaren Endpunkt einer >>Vollkommen<< emanzipierten Gesellschaft. Da die formalen Rationalitatsstrukturen weder di e Richtigkeit von Entscheidungen (betrach~ tet etwa im Lichte spaterer Erfahrungen) noch die argumentative Auflõsbarkeitvon Gegensatzen, nochein sinnvolles odergar.glückliches Leben der Individuen garantieren, waren für das, was wir ein >>gutes Leben<< nennen kõnnten, in den formalen Rationalitatsstrukturen nur notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen gegeben. Das Vernünftige im Sinne des guten Lebens aber würde sich von dem, was nu rim Sinne einer formalen Struktur ais vernünftig bezeichnet werden kõnnte, etwa so unterscheiden wie der Urteilsfahige vom Dummen, der Gesunde vom N eurotiker, der Blinde vom Sehenden oder der Glückliche vom Unglücklichen.
IV Rationalitat, Wahrheit und Konsens
Di~ kritischen Überlegungen des Teils m werden im folgenden fortgeführt ais Kritik an Habermas' Versuch, die Begriffe der >>Rationalitat<< und der »Wahrheit<< mit Hilfe der Idee der >>idealen Sprechsituation<< zu erlautern.'
I Vgl. insbes. ]. Habermas, >>Wahrheitstheorien<<, in: H. Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 6o. Geburtstag,
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1. Der Inhalt eines rationalen, eines begründeten Konsenses ist nicht notwendigerweise wahr, auBer in dem folgenden Sinne: Solange nicht jemand kommt, der den Konsens in Frage stellt, werden wir seinen Inhalt jedenfalls, mit Gründen, für wahr halten -sonst ware es kein Konsens, in den wir einstimmen. Aber zu sagen: Da es ein rationaler Konsens ist, ist er wahr- ist falsch. Wir haben vielmehr eine Behauptung ais gut begründet anerkannt ~das heiBt, wir halten sie mit Gründen für wahr. Aber man kann nicht sagen: Da wir sie alie mit Gründen für wahr halten, ist sie wahr. DaB wir sie mit guten Gründen für wahr halten, heifh, daB wir ihre Falschheit ausschlieBen: Aber es folgt daraus nicht, daB sie nicht falsch sein kõnnte. Wenn es gute Gründe für p gibt, folgt daraus, daB p. Aber daraus, daB ich mit - wie ich glaube - guten Gründen p für wahr halte, folgt nicht, daB p. Aber das macht nichts, da ich ja zureichende Gründe dafür angeben kann, daB p. Wenn wir alie p mit - wie wir alie glauben- guten Gründen für wahr halten, liefert di e Tatsache, daB wir alie der gleichen Meinung sind, keinen zusatzlichen Grund dafür, daB p wahr ist. Allerdings ist die Tatsache, daB niemand zweifelt, daB niemandem ein Gegenargument einfallt, ein guter Grund dafür, der eigenen Einsicht nicht zu miBtrauen. Nur wo ein Zweifel an einer gemeinsam anerkannten Behauptung aufgrund der Tatsache, dafl sie gemeinsam anerk.annt wird, sinnlos wird- Farbaussagen sind diesem Fali zumindest sehr nahe -, ist der Konsens ein Kriterium der Wahrheit: Es handelt sich um ein Einverstandnis hinsichtlich des >>MaBstabs<< - und solch ein Einverstandnis ist die Voraussetzung daftir,. daB es überhaupt·Meinungsverschiedenheiten geben kann. Weil ein solches Einverstandnis jedem Diskurs über Geltungsansprüche zugrundeliegen muB, kann man auch sagen, daB es in gewissem Sinne eine Frage des Blickwinkels ist, ob man einen Dissens ais Dissens über die Wahrheit einer Behauptung oder ais einen Dissens über di e Verwendung von Ausdrücken verstehen will, oh es sich also um einen Streit über die richtige Anwendung semantischer Regeln oder um einen Streit über >>sprachunabhangige<< Tatsachen handelt. Aber daB beide Blickwinkel gleichermaBen mõglich sind, bedeutet nicht, daB man Wahrheitsfragen nur aus einem dieser Blickwinkeherstehen kann:
Pfullingen I 973; ders., >> Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz«, in: J. Habermas und N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt I97I.
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Korrespondenz" und Konsenstheorie der Wahrheit erfassen jeweils nur einen Aspekt. (Koharenztheorien der Wahrheit erfassen sozusagen den Zusammenhang dieser beiden Aspekte, d. h. einen dritten Aspekt). Wenn ein allgemeiner und zwangloser Konsens über eine Behauptung p oder eine Theorie T wieder und wiederad infinitum- bestatigt würde, so würde das heiBen, daB sich niemand mehr Gründe für die Falschheit von p oder T vorstellen kõnnte - p oder T waren in die Nahe a priorischer oder analytischer Wahrheiten gerückt. Es kann aber niemals einen Zeiq)unkt geben, zu dem man sagen kõnnte: von jetzt an kann uns e r Konsens nicht mehr in Frage gestellt werden; vielmehr, daB er nicht mit guten Gründen in Frage gestellt werden kann, folgt daraus, daB er gut begründet ist. Dafl es sich aber um einen gut begründeten Konsens handelt, folgt daraus, daB die Gründe gut sind, auf denen er beruht - nicht daraus, daB alle diese guten Gründe akzeptiert haben. Mit anderen Worten: Was ein guter Grund ist, kann man sich nicht (hinreichend) dadurch klarmachen, daB man auf Konsense einer bestimmten Art verweist. Denn um Konsense dieser Art (>>rationale Konsense<<) kennzeichnen zu kõnnen, muB man schon wissen, was ein guter Grund ist. Nun ist es sicher richtig zu sagen, daB auch ein Einverstandnis über semantische Regeln mit Gründen kritisiert und korrigiert werden kann- ganz abgesehen davon, daB ein solches Einverstandnis aufgrund der Eigentümlichkeit semantischer Regeln niemals ein für allemal >>Stabil<< sein kann ( es ist ein Einverstandnis, das sich immer wieder praktisch bewahren muB; dabei bilden sich die Regeln fort im Zuge ihrer Applikation). Die Frage nach der richtigen Verwendung von Ausdrücken ist ebenso wie die Frage der Festlegung der semantischen Regeln selbst eine normative Frage (auch wenn es nicht um Gerechtigkeit, sondem um die Mõglichkeit wahrerAussagen geht). Hier kann man wieder sehen, weshalb ein Konsensbegriff der Wahrheit einen Aspekt des Wahrheitsbegriffs richtig trifft: Man kõnnte namlich sagen, daB in normativen Fragen tatsachlich ein Konsens das Kriterium dei: Wahrheit ist (soweit es sich nicht um Universalisierungsoperationen handelt) - d. h., man konnte das sagen, wenn sich norma tive von empirischen Fragen in letzter lnstanz eindeutig trennen lieBen. Es steht zu vermuten, daB eine weitere Komplikation dadurch eintritt, daB semantische Regeln, die Fragen unseres Selbstverstandnisses und der Interpretation unserer wechselseitigen Beziehungen
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betreffen, daran gemessen werden kõnnen, wie weit auf ihrer Grundlage ein nicht-widersprüchlicher Zusammenhang zwischen verbalen und nicht-verbalen AuBerungen und Handlungen mõglich ist, also daran, oh ihre Geltung mit der Notwendigkeit einer Verschleierung von Widersprüchen verbunden ist oder nicht. Ihr Kriterium ist also die Mõglichkeit einer durch sie vermittelten wahrhaftigen Beziehung zwischen Individuen. Man kõnnte sagen, da~ ein Kriterium für die Angemessenheit semantischer Regeln oder vielmehr: eines semantischen Regelsystems, das Kriterium der Koharenz des durch dieses Regelsystem bestimmten Zusammenhangs von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen ist. Bei normativen Geltungsfragen (im Sinne der Gerechtigkeit und der moralischen Richtigkeit) verhalten sich die Aspekte des Konsenses und der - pragmatischen - Koharenz, wie es scheint, etwa ebenso wie hei empirischen Geltungsfragen die Aspekte der Korrespondenz und des Konsenses. Aber auch normativer und theoretischer Diskurs sind voneinander nicht unabhangig. DaB ein Konsensbegriff der Wahrheit nicht ausreicht, liegt also letztlich daran, daB er den »Korrespondenzaspekt<< der Wahrheit nicht mit umfaBt. (Universalisierungs· und Induktionsprinzip scheinen spezielle Fassungen des Satzes vom Widerspruch zu sein.) Rational begründete und wahre Aussagen sind nicht koextensiv. Es gibt namlich nichtnur eine interne Verschrankung der verschiedenen Diskurstypen miteinander, sondem auch eine interne Verschrankung der verschiedenen, in der Tradition jeweils einseitig betonten Aspekte des Wahrheitsbegriffs miteinander: Korrespondenz, Koharenz und Konsens. Dies zu betonen, bedeutet nicht, Objektivitats- und Wahrheitsfragen miteinander zu konfundieren. Aber natürlich kõnnen (und müssen) wir nicht weiter kommen als bis zu rational begründeten Aussagen: mit guten Gründen halten wir si e für wahr. In den infiniten Konsens kõnnen wir nicht mehr einstimmen. Aber die Gründe, auf denen er beruht, müssen zugleich Gründe dafür sein, daB es mõglich sein müBte, auch uns noch zu überzeugen, wenn wir am Diskurs noch teilnehmen kõnnten. Nur laBt sich die Probe aufs Exempel nicht mehr machen. Daher ist dem infiniten Konsens ein Stück jener Bestatigungprinzipiell verschlossen, die er benõtigte, wenn er als Wahrheitskriterium verstanden werden sollte. Aber da er auf guten Gründen beruht, wird trotzdem niemand an seiner Wahrheit zweifeln.
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2. Die Festlegung der MaBstabe- auch dessen, was ein gutes Argument ist- geschieht durch Verstandigung überRegeln des Sprachgebrauchs. Von einer solchen Verstandiguhg kann nicht die Rede sein, wenn es nicht bis zu einem gewissen Grad eine »Gemeinsamkeit der Urteile« gibt(Wittgenstein). Wenn nun ein faktischer und begründeter Konsens über die Berechtigung eines Geltungsan" spruchs erzieltwürde- also ein Konsens darüber, daB nach den zugrundegelegten grammatischen Regeln dieser Geltungsanspruch zu Recht besteht -, ware immer noch denkbar, daB dieser Konsens spater einmal in Frage gestellt werden konnte, etwa mit dem Argument, daB die Konsentierenden nicht wirklich den gemeinsam anerkannten Regeln gefolgt seien. Sofern hierüber Einverstandnis erzielt würde, ware dies auch ein Einverstandnis darüber, daB der vorangegangene Konsens nicht (zureichend) begründet war. Wenn nun der neue Konsens nicht wieder in Frage gestellt wird, folgt daraus, ·daB er zureichend begründet, also ein >>wahrer« Konsens ist? Nein, was folgt, ist, daB niemand mehr an den Gründen zweifelt, auf denen er beruht. Wenn nun die Bedingungen einer idealen Sprechsituation realisiert sind, folgt daraus, daB der Konsens ein wahrer Konsens ist? Nein, das folgt aus den Gründen, auf denen er beruht. Aber müBte man nicht sagen, daB, gabe es noch mogliche Gegengründe, diese unter Bedingungen. einer idealen Sprechsituation auch vorgebracht und anerkannt werden würden, und daB, da dies nicht geschieht, der Konsens wahr sein mufi? Das konnte man nur dann tun, wenn man die ideale Sprechsjtuation dadurch definierte, daB in ihr keine moglichen Argumente übersehen und alie gültigén Argumente akzeptiert werden. Ein Konsens, der unter diesen Bedingungen zustande kame, ware eo ipso ein wahrer Konsens. lmmer wenn wir einen begründeten Konsens erreichen, unterstellen wir in gewissem Sinne solche Bedingungen. Und wir konnen uns in dieser U nterstellung tauschen- das zeigt sich, wenn neue Argumente auftauchen. Natürlich ist ein Zustand, in dem alie moglichen Argumente überprüft und alie gültigen Argumente akzeptiert worden sind, in gewissem Sinne »ideal«: Es ist das Ideal des begründeten Wissens. Wenn wir aber die ideale Sprechsituation in diesem Sinne verstehen, dann ist die Frage, oh sie vorliegt, nicht gleichbedeutend mit der Frage, oh eine bestimmte Kommunikationsstruktur vor!iegt, sondern gleichbedeutend mit der Frage, oh unsere (gemeinsam anerkannten) Gründe wirklich gute Gründe sind. (Wenn wir in Zukunft eine Überraschung erleben
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würden, dann betrafe sie nicht die Struktur der vergangenen Sprechsituation, sondern die Überzeugung jedes einzelnen, alie Argumente seien bereits zureichend geprüft.) Versteht man dagegen die ideale Sprechsituation im Sinne einer Struktur von Ko'?munikationssituationen (Gleichverteilung der Chancen, verschtedene Arten von Sprechakten auszuführen usw.), so konnte man nur dann sagen, ein unter Bedingungen der idealen Sprechsituation erzielter Konsens sei eo ipso ein wahrer Konsens, wenn die ideale Struktur der Kommunikationssituation rnit Notwendigkeit zur Folge hat, daB alie moglichen Argumente vorgebracht und alie gültigen Argumente akzeptiert werden. Das kann aber nich~ der Fall sein, da sonst die Moglichkeit von Dissensen (unter Bedmgungen der idealen Sprechsituation) ausgeschlossen werden müBte. Das macht aber darum keinen Sinn, weil dann ja die ideale Sprechsituation nicht eine ideale Bedingung diskursiver Verstandigung bezeichn~te, sondern vielmehr - wie zunachst oben angenommen -das ideale Resultat diskursiver Verstandigungsprozesse: den wahren Konsens. Also ware die ideale Sprechsituation genau jene Situation, in welcher Verstandigung und Diskurs überflüssig geworden waren, weil ein wahrer Konsens bereits besteht. Wenn wir die beiden eben erlauterten » Unterstellungen<<- di e Unterstellung, daB eine ideale Kommunikationsstruktur realisiert sei, eirierseits, und die Unterstellung, daB alie moglichen Gründe vorgebracht und alie gültig.en Argumente akz~ptiert worden seien, a~dererseits - klar vonemander unterschtuden, so folgt: DaB em Konsens dann und nur dann »wahr<< ist, wenn die in ihm enthaltene Unterstellung der zweiten Art zu Recht besteht, ist trivialer.weise richtig. DaB eine ebensolche Unterstellung auch zu einem Konsens gehort, der unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation (im Sinne einer Kommunikationsstruktur) erzielt wurde, ist ebenfalls richtig. DaB aber diese Unterstellung zu Recht bestehedaB also der Konsens »wahr<< sei-, das ergibt sich nicht ais logische Folgerung daraus, daB die Unterstellung, eine (strukturell) ideale Sprechsituation sei realisiert, zu Recht besteht. Daraus ergibt sich aber, daB die These, ein unter Bedingungen einer idealen Sprechsituatiori erzielter Konsens sei eo ipso ein wahrer Konsens, entweder trivialerweise (namlich analytisch) wahr oder aber falsch ist. Falsch, das heiBt: nich~ vereinbar mit der Annahme, daB in einer (struktureil) idealen Sprechsituation Verstandigungen ~nd Diskurse noch notwendig sein konnten. LaBt man aber dtese An-
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nahme fallen, so lautet die These nur noch: Ein wahrer (rational begründeter) Konsens ist ein wahrer (tational begründeter) Konsens. Und das kann nicht ihr Sinn gewesen sein. Wenn aber nicht einmal die unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation faktisch erzielten Konsense >>wahr<< sein müssen, dann gilt um so mehr, da6 diese Bedingungen weder Wahrheit noth Konsens garantieren. Was Wahrheit sei, das kann man nicht durch Rekurs auf die formale Struktur einer idealen Verstandigungs- und Diskurssituation und di e unter solchen Bedingungen erzielten Konsense zureichend erlautern. 3· Eine Lebensform durch das Merkmal diskursiver Rationalitat zu charakterisieren, kann somit weder mit der Annahme gleichbedeutend sein, da6 die Wahrheit vor aller Augen liegt, noch mit der Annahme, da6 allgemeiner Konsens herrscht. Es hei6t vielmehr, Bedingungen zu unterstellen, unter denen ein Streit über Geltungsansprüche, wo man sich auf ihn einla6t, mit Argumenten ausgetragen wird, und dafl man sich auf ihn einla6t, wenn es geboten ist. Hierzu gehort, wie wir gesehen haben, ein gewisses Ma6 an Obereinstimmung in Urteilen; eine Übereinstimmung in Urteilen gehort zur Gemeinsamkeit einer Lebensform. Ebenso gehort aber dazu die Moglichkeit von Dissensen, bei denen keinem der Dissentierenden ein Mangel an Rationalitat vorgeworfen werden kann -es sei denn, man versteht unter der »Rationalitat<< der Individuen nicht eine Einstellung, eine Form des Verhaltens und der Problemlosung, ein Bemühen und eine formale Fahigkeit, sondem so etwas wie »Einsicht<< oder »Urteilskraft<<. Wenn man aber die »Rationalitat<< der Individuen in letzterem Sinne verstehen wollte, so konnte man erstens- entsprechend dem oben entwickelten Argument- ihre Rationalitat nicht mit Hilfe einer durch formaleStrukturen beschreibbaren »kommunikativen KompetenZ<< erlautern, und zweitens konnte man die Rationalitat der Lebensform nicht allein durch .formale Strukturen charakterisieren, man mü6te sie vielmehr durch einen hohen Grad von Konsens und von Konsenschancen und durch etwas wie eine »gelungene<< kollektive Identitat charakterisieren. Versteht man unter »diskursiver Rationalitat<< eine mit Hilfe formaler Merkmale beschreibbare Eigenschaft von Individuen und Systemen, so kann man von dieser Eigenschaft sagen, da6 sie vorliegt, ohne noch etwas Wesentliches, sei es über die Urteilsfahigkeit oder Einsicht der Individuen, sei es über den für die Gesellschaft
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charakteristischen Grad zwanglosen Einverstandnisses gesagt zu haben. Allerdings hei6t das nicht, da6 man in dieser Hinsicht nichts gesagt hatte: Es mu6 eine gemeinsame Lebenspraxis geben, und dazu gehort eine von allen mehr oder weniger geteilte Fahigkeit, den der gemeinsamen Lebenspraxis zugrundeliegenden Re- . geln zu folgen. Gabe es nicht diese wechselseitige Bestatigung der Urteilsfahigkeit und Einsicht, so hatte diskursive Rationalitat keinen »Angriffspunkt<< mehr. Will man nun aber darüber hinaus von »R~tionalitat<<, von einer vernünftigen Identitat von Individuen oder Gesellschaften insgesamt anders als im Sinne eines in Einstellungen und Fahigkeiten bzw. in Institutionen verkorperten formalen Prinzips reden, will man also Rationalitats- und Wahrheitsbegriff so miteinander verknüpfen, wie es etwa in den Begriffen der Urteilskraft oder einer »Zwanglosen<< oder »gelungenen<< Identitat· geschieht, dann denkt man an eine gelingende Verknüpfung oder Versohnung von Einzelnem und Allgemeinem- ob nun im Sinne einer Fahigkeit der Individuen (Urteilskraft) oder im Sinne der Struktur eines intersubjektiven Lebenszusammenhanges (das gute Leben) -, und dieser Gedanke la6t sich nicht zureichend formulieren oder prazisieren durch Angabe eines Rationalitatsprinzips oder durch die Angabe von Symmetriebedingungen einer)dealen Sprechsituation. Vielleicht konnte man die Differenz auch so ver-
. deutlichen: Die Unterstellung, da6 die Chancen, verschiedene Klassen. von Sprechakten zu verwenden, in einer aktuellen Diskurssituation symmetrisch verteilt sind, ist keine zureichende formale Explikation der weitergehenden Unterstellung, da6 wir uns hier und jetzt rational verstandigen (und daher einen wahren Konsens erzielen) konnen. Wenn wir, auf der anderen Seite, ·.einen Konsens erzielen, halten wir ihn nicht deshalb für wahr, weil die Symmetriebedingungen einer idealen Sprechsituation vorlagen; vielmehr halten wir ihn für rational, weil wir unterstellen, da6 er auf der Einsicht aller und auf der Qualitat der Gründe beruht, die vorgebracht wurden; und wir halten ihn für wahr, weil wir die Gründe für zureichend halten und damit den in Frage stehenden Geltungsanspruchals einen, den man als begründet einsehen kann. Die Beurteilung der Rationalitat des Konsenses ist zu unterscheiden von der Beurteilung der Triftigkeit der Gründe ( diese konnen wir ja anerkennen, auch ohne da6 ein Konsens zustande kame)und diese Unterscheidung wird wiederum nur dort hinfallig, wo die Triftigkeit der Gründe daraus folgt, da6 wir uns einig sind;
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letzteres kann aber, wie schon· wiederholt betont, nicht an allen Punkten des Diskursuniversums zugleich der Fall sein. Deshalb mufl ein unauflõsbarer Dissens nicht auf einen Mangel an Rationalitat (im Sinne der idealen Sprechsituation) hindeuten, und das Zusammenbrechen eines für rational gehaltenen Konsenses mufl nicht bedeuten, daB die >>Rationalitatsunterstellung« (im Sinne der idealen Sprechsituation) irrig war. 4· Was bedeutet es, zu sagen (der von Habermas ins Auge gefaBte Fall), ein Konsens, den wir für rational gehalten haben, kõnne sich nachtraglich als »tauschend<< erweisen? lch mõchte zwei Falle unterscheiden; in beiden Fallen gehe ich davon. aus, daB in Situationen des - auch scheinbaren - Einverstandnisses ein Stück Antizipation steckt: namlich die Unterstellung, daB dies Einverstandnis auch in zukünftig denkbaren neuen Konstellationen sich als Einverstandnis bewahren wird. (Wir kõnnen niemals jetzt für alle Zeiten sicher sein, daB wir uns- jetzt- verstanden haben. In gewissem Sinne muB es sich immer noch erst zeigen.) Die beiden Falle lieBen sich folgendermaBen beschreiben: Entweder passiert, was beijedem Einverstandnis mõglich ist: es »lauft« gleichsam an einem bestimmten Punkte >>auseinander« - das ist, im weitesten Sinne, das Problem der unabschlieBbaren Fortentwicklung semantischer Regeln im ProzeB ihrer Applikation. Wir haben uns nicht eigentlich getauscht, aber es gelingt uns nicht, das Einverstandnis im gleichen MaBe fortzuentwickeln, in dem jeder von uns neue Erfahrungen macht und die gemeinsamen Bedeutungen fortentwickelt. Wenn man hier von einem »tauschenden« Einverstandnis reden wollte, so betrifft die Tauschung doch nicht die »Rationalitat« des Konsenses, sondem seine »Tragfahigkeit«. Oder wir entdecken, daB ein innerer Zwang am Werke war, wo wir ein zwangloses Einverstandnis unterstellt hatten. Das ist die Erfahrung eines Auseinanderbrechens von Lebensformen, in denen - den Beteiligten nicht bewuBt- ein Stück Zwang, Unterdrückung oder Abhangigkeit die Kommunikation blockierte,. Dies ist der von Habermas ins Auge gefaBte Fali. Entscheidend ist nun die Frage, ob wir diesen Fall interpretieren kõnnen als einen Fall, in dem wir nachtraglich entdekken, daB- entgegen unserer Unterstellung-c die Bedingungen einer idealen Sprechsituation nicht realisiert waren. Die Antwort hangt davon ab, welche Bedeutung wir dem Begriff der idealen Sprechsituat.ion geben: eine gleichsam »emphatische« oder eine »formale«. Die. Problematik des Begriffs bei Habermas scheint mir genau
darin zu liegen, daB eigentlich die emphatische Bedeutung gemeint ist, daB aber an bestimmten Stellen der Argumentation zwangslaufig die formale Bedeutung in den Vordergrund tritt. Wenn wir den Begriff der idealen Sprechsituation in einem formalen Sinne verstehen, also im Sinne einer Gleichverteilung von Redechancen und von Freizügigkeit im Wechsel der Diskursebenen, so wie diese Bedingungen etwa realisiert waren in einer Beratungsoder Diskussionssituation, bei der alle, die Klugen und die Dummen, die Neurotiker und die Gesunden, gleiche Rederechte haben, ohne daB damit über die Qualitat der Redebeitrage oder die Wahrhaftigkeit der AuBerungen schon etwas ausgemachtware, dann sind damit verzerrte, unproduktive oder auch in falschen Konsensen resultierende Kommunikationsstrukturen offenbar keineswegs ausgeschlossen. We~n wir dagegenunter einer Gleichverteilung von Chancen, verschiedene Arten von Sprechakten zu verwenden, verstehen wollen, daB alle nicht nur gleichermaBen willens, sondem auch imstande sind, wahrhaftige AuBerungen zu tun, wahre Behaupu,mgen aufzustellen, richtige Handlungen auszuführen und di e Triftigkeit von Gründen einzusehen und sich von ihnen zur Annahme oder Ablehnung von Geltungsansprüchen motivieren zu lassen- dann entsprache di e oben angenommene Situation ersicht· lich nicht den Bedingungen einer idealen Sprechsituation. Aber dann kõnnte man sich eine ideale Sprechsituation eigentlich nur dort realisiert.denken, wo keine Diskurse mehr nõtig sind, weil die Wahrheit gleichermaBen offen vor aller Augen liegt. Oder vielleicht ware es besser, zu sagen, daB in einer idealen Sprechsituation keine Dissense mehr stattfinden (und daher keineDiskussionen), sondem alle Sprecher gleichermaBen durch ihre Redehandlungen bisher Verborgenes offenbarmachen. Einen Geltungsanspruch zu bestreiten heiBt namlich, di e besseren Gründe und di e grõBere Einsicht für sich in Anspruch zu nehmen; vom anderen wird angenommen, daB er bereit und imstande ist, meinen Argumenten zu folgen und von ihnen sich überzeugen zu lassen (so wie ich bereit bin, die Argumente des anderen unparteiisch zu prüfen und gegebenenfalls von ihnen mich überzeugen zulassen). Zu Diskurssituationen gehõren somit strukturelle Asymmetrien, solange wir unterstellen, daB zu ihnen das BewuBtsein gehõrt, daB nicht alle gleichermaBen zu Beginn das Richtige treffen. In gewissem Sinne kann daher die Symmetrie erst das Resultat eines Diskurses sein - im Sinne einer gemeinsam gewonnenen Einsicht.
~un ~cheint es, da~ Hahermas mit dem Begriff der ideaien SprechSituatwn etwas metnt (und meinen mu~), was zwischen den hier eriauterten Extremen iiegt: namiich Kommunikationssituationen in denen diskursive Lernprozesse notwendig und sinnvoll sein k6nn~n, i.? ~ene~ aher nehe~ den formaien Bedingungen auch noc~.(a) d1e Fah1gkett und ~ere1tschaft der Sprecher zu wahrhaftigen Au~erungen und (h) 1hre Fahigkeit, einander zu verstehen ihre Bereitschaft, aufeinander zu horen, und ihre Bereitschaf/ von den triftigen Argumenten des anderen sich üherzeugen zu ia;sen- unterstellt wird. (Daher sind therapeutische Diskurse nicht einmai unter Bedingungen einer ideaien Sprechsituation denkbar.) Eine ideaie Sprechsituation in diesem Sinne ware mit Asymmetrien der ohen heschriehenen Art vertragiich hei voller »Rationaiitat« aller Beteiligten. E.rsichtli~h ware.ein »faischer<< Konsens im ohen angenommenen Stnne Ze1chen emer Ahweichung von den Bedingun· gen einer ideaien Sprechsituation. Versteht man die ideaie Sprechsituation in dem zuietzt erlauterten Sinne, so scheint das entscheidende Prohiem jetzt in dem unter (h) genannten Merkmai der >>Fahigkeit zu verstehen<< zu iiegen. Ich gehe davon aus, da~ die ideaie Sprechsituation eine in Diskurssituationen notwendige Unterstellung sein soll; in weichem Sinne gilt dies. für die Fahigkeit, einander zu verstehen? Wenn ich selhst der Sprecher hin und einen für mich seihst kiaren und einieuchtenden Gedanken, ein Argument oder e.ine Frage formuiiere, unterstelle ich die Fahigkeit des anderen, mich zu verstehen. Nehmen wir an, der andere antwortet mit einem Einwand, einem Gegenargument, einer Frage, die mir zeigen, da~ er mich nicht verstanden hat oder nicht ganz verstanden hat. Ich werde das Mi~verstandnis aufzukiaren versuchen- auf der Grundiage dessen, was ich von der Rede des anderen verstanden hahe; daraufhin wird vielleicht der andere versuchen, mcin Mi~verstandnis aufzukiaren usw. Ein Teil unserer Bemühung, und oft der wichtigste Teii, wird aiso darin iiegen, eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Verstandnis der Prohieme zu entwickein, und vielleicht- ein zuweiien eintretender, ofter nicht eintretender Fali- werden wir zu einem Konsens oder doch zu einem partiellen Konsens kommen .. Kann man nun sagen, da~ das zum Verlauf dieses Diskurses gehorende.Faktum par~iellen Mi~- ~der Nichtverstehens eine Ahweichung von d~? Bed1~g~ng~n d~r 1deaien Sprechs.ituation anzeigt? Wenn ja, so waren w1r hmsichthch des Verstandmsses der ideaien Sprechsitua-
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tion wieder sehr nahe hei dem ohen zurückgewiesenen Falf einer »emphatischen<< lnterpretation dieses Begriffs. Werín nein, so mü~ten wir die Unterstellung, die jeder mit einem kiaren und (ihm selhst) einieuchtenden Argument antretende Sprecher im Augenhiick der Rede macht, die Unterstellung namiich, da~ seine kiare Rede auch für den anderen kiar sei, anders interpretieren ais in der hisher angenommenen Weise. Es ware namiich die Unterstellung nicht so sehr eines ideaien Charakters der Sprechsituation- es genügte vielmehr die freiiich ebenfalls »ideaiisierende<< Unterstellung einer hereits gemeinsamen Sprache, eine Unterstellung, von der wir uns sofort - in reflexiver Einstellung - üherzeugen konnen; da~ sie ais die Unterstellung eines Faktums zugieich einen gieichsam ontoiogischen Schein enthalt - und dazu die Üherzeugung von der Kiarheit und Triftigkeit der eigenen Argumentation, d. h. aiso eine Unterstellung, die gar nicht die Struktur derSprechsituation, sondem den Wahrheitsgehalt und die Kiarheit meiner eigenen Rede hetrifft. Beide Maie aher wird ais realisiert unterstellt, was in der Regei erst Resultat einer rationaien Verstandigungshemühung sein kann. Das hie~e aher, da~ mit der Unterstellung der ideaien Sprechsituation ein diaiektischer Schein verhunden ist, der daraus resuitiert, da~ wir immer schon von Einsichten ausgehen und auf eine gemeinsame Sprache uns veriassen ~üssen, ohwohi gerade der rationaie Diskurs die entsprechende Unterstellung immer wieder in Frage stellt hzw. korrigiert: gerade darin hewahrt er sich ais rationaier.
·wenn diese Üherlegungen richtig sind, dann enthalt der Begriff der ideaien Sprechsituation einén unaufgelosten diaiektischen
· Schein, der darin zum Vorschein kommt, da~ in diesem Begriff Ausgangspunkt und Resultat einer rationaien Verstandigungsbemühung ais identisch und verschieden zugieich erscheinen. Und hieraus resuitiert di e Zweideutigkeit des Begriffs, wenn man ihn ais normative~ Bezugspunkt der Idee einer vernünftig gewordenen Lehensform versteht: Er hezeichnet ehensowohi eine formaie Struktur, gieichsam Bedingungen der Mogiichkeit rationaier Verstandigungshemühungen, ais auch das Resuitat solcher Bemühungen im Sinne eines vernünftigen Einverstandnisses. Der ohen angedeutete Gedanke ia~t sich et:Weitern: Auch die Unterstellung, da~ der andere versteht, was er selhst sagt, und sagt, was er meint, ist eine Ideaiisierung, die wir- in reflexiver Einsteiiung - ·ais mit einem faischen ontoiogischen Schein hehaftet,
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durchschauen konnen: rationale Verstandigung findet gerade dort statt, wo jeder den anderen besser versteht, ais er sich selbst versteht, wo also über das produktive Verstehen des anderen ich meine eigenen Argumente besser verstehen lerne. Die eben erwahnte Idealisierung ist notwendig und zugleich Ursache eines dialektischen Scheins: Wenn ich si e wortlich nehme und aus ihr di e Idee einer vollstandig transparent gewordenen Kommunikation oder auch einer vollstandigen Selbst-Transparenz der Individuen ableite, hypostasiere ich eine unvermeidliche >>idealisierende« Unterstellung zu einer der Moglichkeit nach an-sich-seienden Struk-
. tur einer Kommunikationssituation. , 5· Das Resultat der bisherigen Überlegungen ist: Wir konnen den Begriff einer in einem >>vollkommenen<< oder >>idealen<< Sinne vernünftigen Forro des Lebens, die zugleich eine Forro endlicher, menschlicher lntersubjektivitat ware, nicht bilden, und zwar ebensowenig, wie wir den Begriff einer vollkommenen oder idealen Gesundheit ais Gegenbegriff des Neurotischen bilden konnen. Aus diesem Grunde konnen wir nur bestimmte formale Bedingungen eines vernünftigen Lebens angeben - wie universalistisches moralisches BewuBtsein, universalistisches Recht, eine reflexiv gewordene kollektiveldentitat usw. Soweit es aber um die Moglichkeit eines in einem substantiellen Sinne vernünftigen Lebens, einer vernünftigen Identitat geht, gibt es keinen in terms formaler Strukturen beschreibbaren idealen Grenzwert; es gibt vielmehr nur das Gelingen oder MiBlingen der Bemühung um eine Forro· des Lebens, bei der zwanglose Identitat der Individuen mit zwangloser Reziprozitat zwischen den Individuen zu einer erfahrbaren Rea" litat wird. Deshalb konnen wir nur negatorisch verfahren: Wir konnen nicht die Vollendung des Sinns intendieren, sondem nur die Eliminierung des Unsinns, wir konnen den Gedanken einer vollkommen zwanglosen Beziehung zwischen den Individuen odet den einer vollkommenen Rationalitat nicht denken, aber wir konnen tatsachlich erfahrene Zwange und Blockierungen zu beheben und Irrationalitaten zu beseitigen versuchen. Dabei leitet uns die Idee des guten- ais eines zugleich vernünftigen und gelungenen - Lebens; aber diese Idee bedeutet nicht einen idealen Grenzwert, dem wir uns unendlich annahern konnten, etwa in dem Sinne, in dem wir uns bei der Verfertigung von Zeichnungen oder materiellen Gegenstanden der Idee einer Gerade oder eines Kreises unendlich annahern konnen. Vielmehr gewinnt die Idee des guten Le-
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bens immer in dem MaBe den Sinn eines kritischen MaBstabs, in dem uns vermeidbare Irrationalitaten, vermeidbare Blockierungen und vermeidbare Leiden im Lebenszusammenhang von Individuen und Gesellschaften bewuBt werden.
SBD I FFLCH I USP Seção: BC Tombo: 276545 Aquisição: Doação I FAPLIVROS V
PROC. 05103931·91 C&N LOGISTICS ·--
N.F. FILOUP I Preço 13,13 Data 24/1/2007
N amenregister
Adorno 89, 93, 94, 95, 96, 177 Alexy ro6 Anscombe 31 Apel8, 9· IO, 12, 13, 42, 44> 50, 5 I,
6r,76;77,8I,82,83,84,85,86, 87,88,89,90,91,92,93·95·96, 97, 98, 99> IOO, !OI, !02, 103, I05, 107, ro8, 112, II 3, II4, 123, r66, 167, I72
Arendt 137, 172, 189, 190 Aristoteles r6, 36, 37, 195 Aul21
Benjamin 93, 177, 178, 189 Bernstein 1 oo Bohler 51, 82
Douglas 156 Durkheim 147, I 50, I p, I 53, I 59
Ebbinghaus 21 Engels 193, 194
Fahrenbach 208 Foot 81, I 57 Frankena 22, 164 Fr~ud 184, r86, I87, r88; 192, 195
Gadamer 87 Gerlach 22 Gert 20, p, 41, 120
Habermas 8, 9, ro, 12, 13, 14, 17, 42,44> 50, 51, 52, 53· 54· 55· 56, 57, 59, 61, 62, 66, 67, 68, 69,70, 72, 73• 74, 76, 77, 78, 81, 82, 83, 84, 88, 91, 97, !OI, !02, 103, 104, 105, ro6, 107, ro8, u4, !22, 123, 128, 134, 135· I36, 137· 138, 143· 144· 145> 146, I47• 149, 150, 151, rp, 153,
I 54, I 59, r6o, r66, 167, 169, 171, 172, 178, r8o, r8r, 182, 190, 195· 197· !98, 199· 200, 201, 202, 208, 209, 2!6, 2!8
Hare 14, 17, 32, 33, 34, 35, 36, 37> 40, 64, 66
Hart II9 Hegel II, 54, 123, 135, 140, I43•
I76, I90, I9I, I92, I95· I96, I97· I99· 20I, 202
Heinrich I43 Henrich 200 Hobbes I22 Horkheimer I77, I78 Horton I56
Kadelbach 51, 82 Kambartel 42, I72 Kani~schneider 5 I Kant 8, 9, IO, II, I2, I7, I8, 20, 21,
22,23,25,26,27,28,30,31,32, 34>36>37·38,39·40,41,42,43> 44> 45> 46, 47· 48, 49· 50, 53· 54> 59, 6o, 61, 62, 63, 65, 66, 67, 68, 85, 86, 90, 95, 96, !OI, 106, I 13, II4, u8, 121, 122, .123, 124, 127, 129, 133· 135· 137· !38, 139, qo, 141, 142, 143, 145, 146, 151, 172, !96, 197
Kohlberg 15 8 Kuhlmann 51, 108, 109 Kuhn 75
Leach I 56 Lenin 193, 194 Lorenzen 42 Luhmann 190, 209 Lukács 185
Maclntyre 31,141, 153 Marx 175, 176, 177, 178, 179, r88,
223
189, 191, 192, 193· 194· 195> 196, 197· 199
McCarthy 59, 6o, 62 Merleau-Ponty 202
Peirce 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 94, 96
Piaget 18o, 184, 188, 192, 195
Rawls 41 Royce 87
Schopenhauer Jl> 141 Schwemmer 42 Seel 165, 169 Sellars 84, 166, I 67, Silber 44, 45, 46, 47, 48, 49,
50
Singer 14, 15, 17, 18, 21, 41 Sloterdijk 7
Taylor 190 Trotzki 202 Tugendhat u8, 139, 203, 205
von Weizsacker 84 von Wright 20, 41 VoBkamp 51
Weber 177 Wellmer 95, 165 Werner p, 83 Wilson 153, 156 Winch 75 Wíttgenstein 74, 199, 212 Wolf 31, u8
I I I