A K T U E L L Verband
Das sind die Neuen Gleich fünf neue Mitglieder wurden in den Zentralvorstand des VCS Schweiz gewählt. Wir stellen sie vor.
Oben, v.l.n.r.: Patrizia Bernasconi, Stéphanie Penher, Stefan Grass, Gabi Petri, Beat von Scarpatetti, Bruno Storni. Unten: Ruedi Blumer, Anne Mahrer, VCSPräsidentin Evi Allemann, Köbi Knüsel. Roger Nordmann fehlt auf dem Bild.
Von Stefanie Stäuble
VCS-Zentralpräsidentin Evi Allemann (Sektion Bern)
und Vizepräsident Roger Nordmann (Waadt) wurden an der Delegiertenversammlung 2014 ebenso in ihren Ämtern bestätigt wie die bisherigen Mitglieder des Zentralvorstands Patrizia Bernasconi (Sektion beider Basel), Stefan Grass (Graubünden), Gabi Petri (Zürich) und Bruno Storni (Tessin).
Mit Uli Doepper, Erica Hennequin, Sibylle Lehmann und Paul Stopper traten vier Vorstandsmitglieder aus beruflichen Gründen oder wegen der statutarischen Amtszeitbeschränkung zurück. Da nach der letztjährigen Wahl Evi Allemanns zur Präsidentin zudem ein Sitz vakant war, wurden fünf neue Mitglieder gewählt. Wir gratulieren ihnen zu ihrer Wahl in den VCS-Zentralvorstand und stellen sie kurz vor.
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er Grossrat und von 2008 bis 2010
als Präsidentin der Genfer Grünen. «Ich möchte den motorisierten Individualverkehr in der Stadt beschränken, denn Feinpartikel, die die Grenzwerte regelmässig übersteigen, sind eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung», sagt sie.
Stéphanie Penher Sektion Bern
Seit 2007 ist Stéphanie Penher Mitglied des Berner Stadtparlaments und der Planungs- und Verkehrskommission. Als Geschäftsleiterin der VCS-Sektion Bern bringt sie viel Erfahrung mit. Sie begann vor zwölf Jahren mit einem Praktikum beim VCS. «Mit der VCS-Regionalgruppe Bern habe ich ‹autofreies Wohnen› lanciert, und als Stadträtin konnte ich Mehrheiten finden, um autofreie und autoarme Wohnbauprojekte umzusetzen. Auch für Themen wie Veloverleihsysteme oder die ökologische Motorfahrzeugsteuer stehe ich ein.»
Beat von Scarpatetti Sektion beider Basel
Im Mai 2014 wurde der Club der Autofreien (CAS) in den VCS integriert; mit der Wahl des langjährigen CAS-Präsidenten stellten die Delegierten sicher, dass die autofreien VCS-Mitglieder im Vorstand vertreten sind. Der emeritierte Forschungsleiter der Universität Basel möchte autofreie Mitbürgerinnen und -bürger mit einem Ökobonus belohnen, weil sie die Städte und Agglomerationen weniger belasten. «Es braucht endlich die Kostenwahrheit im Verkehr. Ohne Auto zu leben, muss ökonomisch attraktiver werden.»
Ruedi Blumer, Sektion St. GallenAppenzell
Seit mehr als zehn Jahren engagiert sich Ruedi Blumer aktiv im Vorstand seiner VCS-Sektion, seit sieben Jahren als Co-Präsident. Neben seiner Arbeit als Schulleiter in Wil ist er Kantonsrat, Präsident der SP Gossau und Präsident des Mieterinnen- und Mieterverbands Ostschweiz. Die Motivation für sein Engagement: «Unsere Verkehrssysteme und deren Weiterentwicklung – insbesondere jene des Fuss- und Veloverkehrs und des öffentlichen Verkehrs – sowie die Raumentwicklung liegen mir sehr am Herzen.»
Köbi Knüsel Sektion Aargau
Vier Jahre war Köbi Knüsel Präsident des VCS Aargau, heute ist er Vizepräsident. Mit dem Wirt
schaftsinformatiker ist die viertgrösste VCS-Sektion erstmals im Gesamtschweizer Vorstand vertreten. Schwerpunkte seines Engagements sind die ÖV-Förderung, gute Bedingungen für den Velo- und Fussverkehr und der Energiebereich. «Mein spezielles ‹Steckenpferd› ist die Geschwindigkeit: Viele negative Auswirkungen unserer motorisierten Mobilität lassen sich durch eine geringere Geschwindigkeit reduzieren.»
Anne Mahrer Sektion Genf
Die Nationalrätin ist Mitglied der nationalrätlichen Verkehrskommission und ergänzt den VCS-Vorstand mit einer wichtigen Stimme aus der Romandie. Seit 1987 ist sie politisch engagiert: Während 15 Jahren als Gemeinderätin, ab 2001 im Genfer
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Text und Fotos: Stefanie Stäuble
«Ich würde am liebsten morgen einziehen», ruft eine
Frau neben mir begeistert aus. Die Verkehrsplanerin gehört zu einer Gruppe von rund 80 Fachleuten, die die autofreie Siedlung Kalkbreite im Herzen Zürichs besichtigen. Während Thomas Sacchi, Projektleiter und Genossenschafter der Kalkbreite, uns von der Vision hinter dem Gebäudekomplex erzählt, in den Ende Sommer 240 Menschen einziehen, sirrt eine Baufräse, sodass wir die Ohren spitzen müssen. Mit der Siedlung entsteht ein lebendiges Zentrum im Quartier, das die umliegenden, heute
Lebst du schon? «Wohnst du noch oder lebst du schon?» In der neuen autofreien Siedlung Kalkbreite in Zürich ist die Antwort klar: Hier steht das Zusammenleben im Vordergrund.
durch Bahngraben und Strassen getrennten Stadtteile miteinander verbindet. Das imposante Gebäude überdeckt die bestehende Tramabstellanlage auf dem Areal. Dadurch wurde Platz für einen 2500 m2 grossen Hof über den Geleisen frei, der für alle offen steht.
Die Wohnformen sind altbekannt – und gleichzeitig neu. Apartments für Familien liegen neben Gemeinschaftswohnungen mit bis zu 9½ Zimmern. Es gibt einen Grosshaushalt, in dem sich 50 Leute einen Essraum mit Koch teilen, und Einpersonenwohnungen, die zu sogenannten
Clustern gruppiert sind. Daneben beherbergt die Kalkbreite Gewerbe- und Kulturräume mit zirka 200 Arbeitsplätzen. Darunter ein Kino mit fünf Sälen, eine Pension mit elf Zimmern und eine Cafeteria. «Das Kalkbreiteprojekt wird wohl über Zürich hinaus wahrgenommen werden», begeisterte sich der Vorsteher des Hochbaudepartements André Odermatt (SP) schon vor Baubeginn. Die Freude dauert an.
Vorzeigemodell Kalkbreite Die Kalkbreite ist eines der «best practice»-Beispiele auf der Website der vom VCS initiierten «Platt
form autofrei / autoarm Wohnen». Das Projekt stellt Daten und die verschiedenen rechtlichen Grundlagen der Kantone zur Verfügung und fördert den Austausch zwischen Expertinnen und Experten. So auch am Fachseminar in Zürich, an dem Samuel Kissling von der Schweizerischen Vereinigung für Landesplanung den historischen Hintergrund erklärte, weshalb autofreie Siedlungen so lange für ihre Berechtigung kämpfen mussten. «In den Siebzigerjahren sollte die Parkplatzerstellungspflicht den Verkehrsfluss fördern und wildes Parkieren verhindern.»
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A K T U E L L Gotthard
Von Stefanie Stäuble und Gerhard Tubandt
Bundesrätin Doris Leuthard beschrieb die Situation im
Januar 2012 in einer Sitzung der Verkehrskommission des Nationalrats* treffend: «Insofern kann man verfassungskonform nur eine zweite Röhre bauen, wenn man die alte Röhre behält und beide einspurig betreibt, und das ist ein bisschen Seldwyla. Wir bauen ja kaum zwei Tunnel und lassen je eine Spur leer. Das ist meines Erachtens scheinheilig.»
Zur Erklärung: «Die Leute von Seldwyla», eine mehrteilige Novelle von Gottfried Keller, beschreibt eine fiktive Schweizer Stadt, wo die Leute zwar stets gut gelaunt sind und gerne im Wirtshaus sitzen, doch sie leben
«Seldwyla» am Gotthard Das Parlament treibt den Bau einer zweiten Gotthardstrassenröhre weiter voran, obwohl eine solche die Verlagerungspolitik langfristig aushebeln würde. Der VCS bereitet das Referendum vor.
auf Pump. Was ihnen fehlt, sind die typisch helvetischen Eigenschaften Sparsamkeit, Fleiss und Zielstrebigkeit.
Meinungsumschwung Seit ihrem Seldwyla-Bonmot vor gut zweieinhalb Jahren hat Verkehrsministerin Leuthard ihre Meinung geändert und treibt gemeinsam mit dem Gesamtbundesrat und dem Parlament den Bau der zweiten Strassenröhre aktiv voran. Doch diese ist eine Mogelpackung. Daran, dass am Gotthard per Gesetz nie mehr als zwei Spuren gleichzeitig geöffnet werden dürfen und die anderen beiden Spuren als Pannen-streifen dienen, glaubt niemand:
«Wer sagt, dass man für mehrere Milliarden Franken eine zweite, zweispurige Röhre baut, um sie dann nur einspurig zu befahren, streut den Leuten Sand in die Augen. Der Druck wird enorm sein, die neuen Spuren auch wirklich zu nutzen», sagt VCS-Präsidentin Evi Allemann. So werde der Alpenschutz untergraben und die erfolgreiche Verlagerungspolitik torpediert. Zudem erstaunt, dass der Bundesrat am Gotthard das Geld mit vollen Händen ausgibt – und gleichzeitig spart: Ende Juni hat er quer durch alle Departemente Sparmassnahmen in der Höhe von 700 Millionen Franken beschlossen.
Die zweite Röhre wäre rund
Das Parlament steuert auf eine zweite Strassenröhre am Gotthard zu – jedoch ohne Tunnelgebühr.
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drei Milliarden Franken teurer als die Einrichtung eines Bahnverlads. Dies für 17 000 Autos am Tag. Im Agglomerationsverkehr werden weitaus grössere Verkehrsströme verzeichnet.
Studien des Bundes zeigen, dass der alte Strassentunnel auch anders saniert werden kann. Die Eisenbahn ist nach Eröffnung des Gotthard-Basistunnels ohne weiteres in der Lage, den gesamten Strassenverkehr zu übernehmen, wenn die Bauarbeiten beziehungsweise Sperrzeiten auf die Zeit zwischen Herbstferien und Ostern beschränkt werden. Dies bestreitet auch der Bundesrat nicht.
Keine Tunnelgebühr Nach dem Ständerat hatte sich die nationalrätliche Verkehrskommission im Grundsatz im März für den Bau einer zweiten Strassenröhre ausgesprochen. Anfang Juli klärte die Kommission letzte Fragen. So war noch offen, ob für die Finanzierung einer zweiten Gotthardstrassenröhre eine Tunnelgebühr eingeführt werden soll. Die Kommission sprach sich im Sinne des VCS gegen diese Idee aus. Eine solche würde Umwegverkehr über andere Pässe erzeugen.
Auch ohne Tunnelgebühr: Die zweite Gotthard-Strassenröhre darf nicht gebaut werden. Der Nationalrat entscheidet abschliessend in der Herbstsession. Stimmt er dem Bau der zweiten Röhre zu, wird der VCS mit seinen Partnerorganisationen das Referendum ergreifen.
* Leuthards «scheinheilige» zweite Röhre 6.7.2012, www.tageswoche.ch/+ayude
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Willkommen im MobilityLand D OS SIER AU TOT E ILEN
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D O S S I E RAutoteilen
Text und Fotos: Jérôme Faivre
«Die Schweiz – Heimat des Carsharings», «Schweizer sind CarsharingFans». Glaubt man der ausländischen Presse, ist unser Land Vorreiterin auf diesem Gebiet. Wir wollen wissen, wie es tatsächlich aussieht.
Wir waren schon immer bekannt für unsere Vorliebe für Schokolade, unsere grosse Reiselust
und waren sogar Recycling-Weltmeister. Doch bedingungslose Carsharing-Fans? Die Aussage überrascht umso mehr, wenn man bedenkt, dass jeder zweite Schweizer, jede zweite Schweizerin ein Auto besitzt. Woher kommt also dieses Image? Des Rätsels Lösung ist unschwer zu finden – sie trägt einen englisch klingenden Namen und fährt seit 1997 auf unseren Strassen: Mobility.
Modellcharakter Mobility ist beim Carsharing, was Migros und Coop für den Einzelhandel sind – oder besser: waren. Die Luzerner Genossenschaft besetzt den Carsharingmarkt in der Schweiz ganz allein. Folglich ist sie auch dessen Galionsfigur. Viviana Buchmann, Mobility-Geschäftsführerin, wird dies nicht bestreiten. Nach der Verleihung des GfM-Marketingpreises 2013 – der einem Unternehmen verliehen wurde, «das es wie kein zweites versteht, nachhaltigen Erfolg, Innovationsgeist und herausragende Marketingleistungen miteinander zu verbinden» – erklärte sie*: «Mobility ist es gelungen, von einem Nischenmarkt aus zu wachsen. Das Unternehmen hat sich einen Namen gemacht und ist als Marke anerkannt. Wer heute an Mobilität denkt, denkt zugleich auch an Mobility.» Die Zahlen sprechen für sich. Eine erwachsene Person von 60 ist Mobility-Kundin oder -Kunde. Die Fahrzeugflotte im Land beläuft sich auf 2650 Fahrzeuge, die sich vor allem auf die Städte und Agglomerationen verteilen. In Zürich beispielsweise steht alle 250 Meter ein Fahrzeug zur Verfügung. Ausserdem hat jeder Ort mit mindestens 5000 Einwohnern einen Mobility-Stellplatz.
Allein im Königreich Dank einer langjährigen Zusammenarbeit mit der SBB und der Strategie der kombinierten Mobilität ist es Mobility gelungen, sich in die Riege derje-
Fortsetzung auf Seite 18
* Matthias Ackeret, «Mobility auf der Überholspur», persönlich, 11. November 2013
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D O S S I E RAutoteilen
Ein Auto, mehrere Leute: Die Nutzung von Mobility setzt voraus, dass man sich primär mit dem öffentlichen Verkehr, zu Fuss oder per Velo fortbewegt.
Fortsetzung von Seite 15
nigen hochzuarbeiten, die im Schweizer Verkehrswesen «von Bedeutung sind». Darüber hinaus konnte sich das Unternehmen in den letzten fünf Jahren über einen Zuwachs von 28000 Kundinnen und Kunden freuen. Laut Aussage der Geschäftsführerin profitiert Mobility von den neuen Gesellschaftstrends: «Für immer mehr Menschen ist es wichtig, eine ununterbrochene Mobilitätskette nutzen zu können und problemlos von A nach B zu kommen, indem sie Zug, Bus, Velo und sogar ein Mobility-Auto kombinieren. Die zahlreichen Verbindungen der öffentlichen Verkehrsmittel und die gut getakteten Fahrzeiten ermöglichen eine kombinierte Mobilität, die den Besitz eines eigenen Autos überflüssig macht.»
Die ideale Voraussetzung für Carsharing, die allerdings eine Frage aufwirft: Worauf wartet die Konkurrenz? Verhindert Mobility die Präsenz vergleichbarer Anbieter auf dem Markt? Erstickt Mobility den Markt? Zwar hat Mobility derzeit 112000 Privatnutzer und mehr als 52000
Genossenschafterinnen. Doch bevor Mobility tatsächlich das Potenzial erreicht, das einige dem Unternehmen zusprechen – eine halbe Million Kundinnen und Kunden –, hat es noch einen weiten Weg vor sich.
Das «spontane» Auto Basel, 23. Juni 2014. Medienschaffende aus dem ganzen Land und eine Handvoll Schaulustige kommen zur Einführung von «Catch a Car», dem ersten stationsungebundenen Angebot in der Schweiz, das heisst mit Fahrzeugen, die in einem bestimmten Bereich verteilt sind. Damit ist Mobility ein neuer Coup gelungen. Das Unternehmen hat sich für den Anlass solide Partner gesucht: ein Versicherer und ein grosses Schweizer Automobilunternehmen sowie Energie Schweiz und die SBB sind mit von der Partie.
«Catch a Car» ist ein auf zwei Jahre angelegtes Pilotprojekt, das über diesen Zeitraum von der ETH Zürich begleitet wird und auf weitere Städte ausgeweitet werden soll – vorausgesetzt, es ist in Basel erfolgreich. Vom Mobility-System
unterscheidet es sich dadurch, dass die Fahrzeuge dem Bedürfnis nach Einwegnutzung entsprechend verfügbar sind. Konkret bedeutet das, dass die Fahrzeuge in Echtzeit per Smartphone oder Website geortet, ohne Reservierung genutzt und anschliessend auf einem der öffentlichen Parkplätze in der Innenstadt wieder abgestellt werden. Für diese Lösung zahlt «Catch a Car» der Stadt Basel einen Pauschalbetrag.
Während Mobility auf mehr oder weniger lange Strecken ausgerichtet ist, konzentriert sich «Catch a Car» auf kurze Distanzen von wenigen Kilometern im Zentrum der Städte und Agglomerationen. Die beiden Systeme konkurrieren sich gegenseitig nicht, vielmehr ergänzen sie einander. Rund die Hälfte der Schweizer Stadtbevölkerung nutzt ihr Privatauto heutzutage für Strecken unter fünf Kilometern. Unter diesem Gesichtspunkt erfüllt «Catch a Car» eine vorhandene Nachfrage und versetzt dem Bedürfnis nach einem eigenen Auto einen weiteren Schlag.
Da das Konzept Städte im Fokus hat, wo bereits etwa die Hälfte der Haushalte ohne eigenes Auto leben, bleibt zu beobachten, ob es nicht andere, weniger umweltschädliche Mobilitätsformen beeinträchtigt. Denn der städtische Raum ist für den öffentlichen Nahverkehr und die Fortbewegung zu Fuss oder per Velo geeignet. Dadurch, dass «Catch a Car» auf Fahrzeuge mit geringem Schadstoffausstoss setzt, die relativ gut für den Stadtverkehr geeignet sind (Kleinwagen VW Up), erfüllt es zwar auch ökologische Anforderungen. Doch es wäre bedauerlich, wenn das jüngste Angebot aus der Reihe der Carsharing-Konzepte dazu führt, dass Bus, Tram und dem Langsamverkehr ein Teil ihrer Klientel abhanden kommt.
Nischenprodukte In unseren Nachbarländern schiessen Carsharing-Anbieter wie Pilze aus dem Boden. Führend auf dem Gebiet sind Verkehrsunternehmen, aber auch Autohersteller. In Deutschland beispielsweise heissen die drei grossen Carsharing-Anbieter Flinkster, Drivenow und Car2go. Flinkster ist ein Ableger der Deutschen
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werk 2em. Es stellt den Kontakt zwischen Fahrzeugeigentümern und Leuten, die ein Auto mieten wollen, her. Nach Meinung des Gründers Youness Felouati richtet sich der Service heute an eine Zielgruppe, die für Gemeinschaftsprojekte sensibilisiert und offen für Lösungen des alternativen Konsums ist. Felouati, der keine Zahlen über die Anzahl seiner regelmässigen Nutzerinnen und Nutzer vorlegt, spricht von 10 Prozent auf der Angebots- und 90 Prozent auf der Nachfrageseite.
Zurzeit ist ein Hindernis für das Wachstum des privaten Carsharings die Versicherungsfrage. Denn der Halter, die Halterin eines Fahrzeugs sitzt nicht immer auch am Steuer und trägt trotzdem die vollständige Haftung. Youness Felouati, der aktiv nach einer Lösung für dieses Problem sucht, ist optimistisch: «Aufgrund der vielen neuen Initiativen der ‹Share Economy› wird der Gesetzgeber sicherlich Massnahmen ergreifen, um einen besseren Rahmen für die bestehenden Lösungen zu schaffen.»
Mehr Kaufkraft 2012 lancierte das Unternehmen Mobilidée die Plattform Cartribe. Im Gegensatz zu 2em bringt Cartribe nicht Ange
bot und Nachfrage zusammen, sondern erleichtert die Planung und das Teilen eines Fahrzeugs, beispielsweise innerhalb einer Familie oder im Freundeskreis. Auf diese Weise vereinfacht dieses kostenlose Tool das, was sonst Kopfzerbrechen verursachen kann: die Verwaltung der verfügbaren Zeiten, die Reservierung des Autos, die Angabe des Ortes, an dem es abgestellt ist und wo man die Schlüssel findet.
Derzeit hat Cartribe etwas mehr als 1000 regelmässige Nutzerinnen und Nutzer. Der Geschäftsleiter von Mobilidée, Giorgio Giovannini, meint, dass die Kaufkraft die Entwicklung des Carsharings bremst, «denn die grosse Mehrheit der Leute hat das Geld für ein eigenes Auto». Seiner Meinung nach ist viel Kommunikationsarbeit nötig, um die potenziellen Vorteile des Carsharings für einen Haushalt aufzuzeigen: «Man muss die Tatsache hervorheben, dass das gesparte Geld für andere Zwecke ausgegeben werden kann, beispielsweise für Bildung, Wohnung und Kultur.»
Einstieg des «Grossen» Mit der Lancierung der Plattform Sharoo Anfang Mai könnte die Sensibilisierung für Carsharing den nötigen Schwung erhal-
Bei wem ist der Schlüssel? Wo soll er hinterlegt werden? Wann ist das Auto verfügbar? Dank neuer Tools bereitet das Autoteilen kein Kopfzerbrechen mehr.
ten. Hinter dem Slogan «Mein Auto ist dein Auto» verbirgt sich ein Netz von grossen Partnern – darunter Mobility und eine Versicherung –, angeführt von der Migros und deren Tochter für Elektromobilität M-way. Ebenso wie 2em bringt Sharoo die Fahrzeugbesitzer mit Menschen zusammen, die gerne ein Auto ausleihen möchten. Die Originalität des Carsharing-Systems besteht darin, dass dieses ohne Schlüsselübergabe funktioniert. Mit einem «Access-Kit», das auf einer Smartphone-App basiert, lässt sich das Auto reservieren, lokalisieren und sogar öffnen. Zudem ist es Sharoo gelungen, das Versicherungsproblem zu lösen, indem es mit seinem Versicherungspartner einen Vollkaskoschutz anbietet.
Um eine schrittweise Entwicklung zu gewährleisten, geht Sharoo-Geschäftsführerin Eva Lüthi nach Regionen vor: «Seit Mai haben wir um die 3000 Anmeldungen erhalten.» Begonnen haben sie mit den Städten Zürich, Bern und Luzern. Im Juli kamen Basel, Winterthur und St. Gallen dazu. Momentan ist man daran, die Regionen Chur, Olten–Aarau–Baden und Biel–Solothurn–Langenthal anzugehen. «In diesen Regionen rekrutieren wir derzeit Pioniere, die das Access-Kit von Sharoo gratis (statt für 399 Franken) erhalten.»
Nach Meinung von Eva Lüthi hat das Carsharing in der Schweiz viel Potenzial: «Wir sind davon überzeugt, dass unser Service nicht mit Mobility konkurriert, sondern dass sich beide ergänzen. Es gibt Platz genug für beide Modelle. Die Schweizerinnen und Schweizer sind momentan noch etwas vorsichtig, wenn es darum geht, ihr Auto zu verleihen. Damit sie ihr Auto sorgenfrei auf der Plattform anbieten können, haben wir viel Zeit investiert, niedrige Eintrittshürden zu schaffen, und legen viel Wert auf Vertrauen auf der Plattform. Die Kontrolle über das eigene Auto soll immer beim Autobesitzer liegen: Er bestimmt, wann, wie und mit wem er sein Auto teilen möchte.»
Nützliche Links www.2em.ch www.cartribe.ch www.sharoo.com
* Veronica DeVore, «Zimmer, Auto, Parkplatz: alles wird übers Internet geteilt», swissinfo.ch, 12. Februar 2014.
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D O S S I E RAutoteilen
Bahn frei für Mitfahrgelegenheit 2.0Als andere Form der gemeinsamen Mobilität haben Mitfahrgelegenheiten in der Schweiz einen marginalen Anteil. Doch dank neuer mobiler TechnologieTools könnte eine 180GradWende bevorstehen.
tooxme.com Diese Smartphone-App bringt in Echtzeit Passagiere und Automobilisten zusammen, die eine Strecke gemeinsam fahren wollen. Tooxme ist ein Angebot für den sofortigen, nicht im Voraus geplanten Bedarf über kurze Strecken (durchschnittlich 7 km). Die Fahrkosten belaufen sich auf 1 Franken pro Kilometer. Zwischen 50 und 70 Prozent des Betrags gehen an die Automobilisten, der Rest an Tooxme. In der Westschweiz, hauptsächlich in Lausanne und Genf, zählt Tooxme 21 000 Nutzerinnen und Nutzer. Mittelfristiges Ziel: die Ausweitung auf die gesamte Schweiz.
taxito.com Taxito bindet vor allem ländliche Regionen, wo das Bahn- und Postautoangebot ausgedünnt oder inexistent ist, ans ÖV-Netz an. Anders als bei reinen Online-Mitfahrzentralen stellen sich die Fahrgäste an einen «Taxito Point», von wo sie ein SMS mit der gewünschten Destination senden. Die Leuchttafel zeigt daraufhin die Wunschdestination an. Jeder vorbeifahrende Automobilist kann den Fahrgast nun mitnehmen. «Dieser schickt die Autonummer per SMS an Taxito. Da Fahrer und Mitfahrende bekannt sind, bietet Taxito Sicherheit», so Geschäftsinhaber Martin Beutler. Der
Fahrpreis ist als Unkos-Während man beim Autoteilen ein Fahrzeug leiht oder verleiht, macht man tenbeitrag gedacht und beim Mitfahrmodell die Fahrt gemeinsam, was noch ökologischer ist. schliesst gewerbsmässi
ges Fahren aus. Vor allem für ländli
che Gemeinden, wo der ÖV schwach ausgelastet ist, ist es interessant, bei Taxito Leuchttafeln zu mieten und so den Service public sicherzustellen. Im nächsten Frühjahr startet Taxito in der Innerschweiz.
ecarsharing.ch Die kostenlose Mitfahrplattform aus der Westschweiz richtet sich an Personen, die regelmässige Fahrten suchen oder anbieten, wie Pendelnde. Auch bei Veranstaltungen, beispielsweise grossen Festivals, wird sie wegen ihres automatisierten Verteilsystems auf die Fahrzeuge
geschätzt. Gründer Jean-François Wahlen spricht von 19000 Mitgliedern in der Schweiz, 3000 davon sind regelmässige Nutzerinnen und Nutzer.
mitfahrgelegenheit.ch Das grösste Carpooling-Portal in Europa mit Sitz in München bietet nach eigenen Angaben 900000 Fahrten an. Bei uns wird es hauptsächlich in der Deutschschweiz genutzt. Pressesprecher Simon Baumann schätzt, dass Mitfahrzentralen in unserem Land bald ein starkes Wachstum erleben werden: «Die meisten Schweizerinnen und Schweizer haben ein Smartphone – ich bin überzeugt, dass sie auch bereit sind, die Türen ihres Autos zu öffnen und ein Stück des Weges gemeinsam zu fahren.»
karzoo.ch Karzoo ist eine Plattform für kostenloses Mitfahren, die in Luxemburg entwickelt wurde und ganz Europa abdeckt. Zielgruppen sind Privatpersonen für ihre Fahrten zwischen Arbeit, Zuhause und Freizeit sowie Unternehmen, die Mitfahrgelegenheiten in ihren Mobilitätsplan einbinden wollen. Der stellvertretende Geschäftsleiter Baptiste Hugon ist davon überzeugt, dass das Klima in der Schweiz dafür günstig ist. «Genauso wie Luxemburg ist die Schweiz ein Land, das zahlreiche Grenzgänger anzieht. Deshalb sind auch die Mobilitätsprobleme vergleichbar, wie etwa die Staus auf den Verkehrsachsen. Umso wichtiger ist es, Automobilisten eine Lösung zu bieten, damit sie von einer sparsameren und ökologischeren Transportform profitieren können, die sie auch noch mit anderen in Kontakt bringt.» Laut eigenen Angaben hat Karzoo europaweit 50000 Nutzerinnen und Nutzer. ©
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22 VCS MAGAZIN / SEPTEMBER 2014
Bauke auf seiner AaltjeFrieda, benannt nach seinen beiden Grossmüttern. Eine von vielen Maschinen, die Nieko selbst zusammengebaut hat.
Zweiter Frühling für alte Wracks Text und Fotos: Nina Regli
«Was wir hier machen, ist eigentlich nicht luk
rativ», meint Nettie. Die grossgewachsene, grauhaarige Frau sitzt mitten in einer Runde von Männern und Frauen in rostfleckigen Arbeitskleidern beim allwöchentlichen Freitagabendbier. Die gesellige Gruppe hat sich zwischen die aufgebockten, bejahrten Schiffe gesetzt. Alle Maschinen sind abgestellt, Metallgeruch liegt in der Luft, Vögel zwitschern, der sommerliche Himmel in Nordholland ist immer noch hell. Man diskutiert über Schiffsmotoren, Farbkonsistenten und Segelkonstruktionen. Nur ein älterer Mann hat noch nicht Feierabend. Er steht auf der Leiter und macht bei seinem Boot einen weiteren Anstrich fertig.
Im ostfriesischen Franeker in den Niederlanden werden auf einer kleinen Werft Boote vor dem Schrottplatz gerettet und wieder auf Vordermann gebracht. Eine Bastion gegen die schnelllebige Wegwerfgesellschaft.
Ein Leben mit Booten Warum nicht lukrativ? Nettie, die Ehefrau von Nieko, und mit ihm zusammen die treibende Kraft hinter der «Scheepswerf Nieko», erklärt: «Wenn wir nur an die Finanzen denken würden, müssten wir die Werft anders betreiben. In jeder normalen Werft werden die Arbeiten ausschliesslich von Angestellten ausgeführt. Werktags werden die Tore um 17 Uhr geschlossen, am Wochenende ist sowieso zu. Für die Arbeiten gibt es einen exakten Zeitplan.» Nicht so bei ihnen. Auf der kleinen Schiffswerft in Franeker, einem Dorf in der von Wasserstrassen durchzogenen niederländischen Provinz Friesland, wird jede Mitarbeit der Bootsbesitzer gerne gesehen. Die ver
rosteten Boote, die hier anlegen, zeigen Spuren eines langen Lebens. Die stolzen Besitzerinnen und Besitzer haben für die Auffrischung nur ein kleines Budget zur Verfügung und arbeiten zum Teil jahrelang an ihren Schiffen.
Beständige Werte Auch Nettie und Nieko haben vor vierzig Jahren ihr erstes eigenes Schiff selber restauriert. Das war in jenen Zeiten beinahe überall möglich. Sie waren unter den Ersten, die zu Beginn der Siebzigerjahre auf ihrem umgebauten Tjalk, einem historischen holländischen Segelschiff, auf dem Wattenmeer Ferientrips anboten. Nach ein paar Jahren wechselten die beiden auf ein grösseres Schiff, mit dem sie Güter transportierten. Ein erstes Kind wur
de geboren, ein paar Jahre später das zweite. Fortan lebte Nettie an Land, Nieko arbeitete als Techniker auf einem Schiff für verhaltensauffällige Jugendliche. Und dann entdeckten sie zehn Jahre später durch Zufall die kleine Werft, die zum Verkauf ausgeschrieben war. Nieko, graue wilde Haare, Karohemd, die Füsse in selbstgestrickten Wollsocken und holländischen Holzschuhen, ist inmitten dieser alten Boote in seinem Element. Immer wieder kommt er ins Schwärmen, wenn er von seinen Geschichten auf See erzählt. Nicht nur die Boote auf der Werft haben viele Jahre auf dem Buckel. Auch die Maschinen und Werkzeuge in seiner Werft sind alt. «Wenn ich einen Computer kaufe, dann ist der veraltet, sobald ich den Laden ver-
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A K T U E L L Hier & dort
lasse. Einen Hammer hingegen kann man Hunderte von Jahren brauchen», meint er dazu. Einige Maschinen in der Werft sind von ihm selbst entwickelte Unikate. Mit den meisten werden Stahlteile gebogen, damit sie in den alten Schiffsrumpf passen. Niekos Augen glänzen vor Freude, wenn er erklärt, wie diese kleinen Kunstwerke funktionieren. Und es macht ihm sichtlich Spass, wenn er auf Leute trifft, die seine Leidenschaft teilen. Wie zum Beispiel Bauke. Nieko: «Weisst du, wir brauchen mehr Baukes auf dieser Welt – ein junger Mann mit viel Engagement und einer grossen Motivation, aus einem alten Schiff wieder ein fahrtüchtiges Gefährt zu machen.»
109 Jahre auf dem Buckel Bauke ist seit anfangs Jahr auf der Werft. Der gelernte Elektroingenieur bezahlte für sein Lotsenboot nur noch den Schrott-preis. Jetzt arbeitet er in jeder freien Minute an seinem Boot. Er hat am Rumpf alle alten, verrosteten Stahlplatten ersetzt. Aktuelles Projekt ist der Motor. Am Abend nach der Jungfernfahrt wirft Bauke für alle den Grill an, aus dem alten Plattenspieler singt Johnny Cash, und man wähnt sich in einem alten Abenteuerfilm am Mississippi. Bauke hat sein Boot ins Herz geschlossen. Benannt hat er es nach seinen beiden Grossmüttern: Aaltje-Frieda. Für das Laienauge sieht es immer noch erbärmlich aus. Die ehemalige Besitzerin hatte gesundheitliche Probleme, jahrelang rostete das Boot vor sich hin. Bauke schaut auf die alte Kabine und meint: «Das Boot ist jetzt 109 Jahre alt. Ich wünsche mir manchmal, es könnte mir alle Geschichten erzählen, die es erlebt hat.» Hätte Bauke es nicht per Zufall vor ein paar Monaten gesehen, wäre Aaltje-Frieda jetzt wohl auch auf dem Schrottplatz. Es liegt viel Arbeit vor Bauke, doch «Zeit spielt für mich keine Rolle», meint er. «Ich habe
sie und liebe die Arbeit mit den Händen.» Nieko lächelt.
In keinem anderen europäischen Land ist die Binnenschifffahrt so bedeutend wie in den Niederlanden. Rund 9000 Schiffe zählt die Frachtschiffflotte, dazu kommen knapp tausend Passagierschiffe. Eines davon ist Josefien. Die über 100-jährige Dame wurde als Frachtschiff gebaut. Vor sechs Jahren kauften Esther und Jaap das vierzig Meter lange Boot. Nach mehreren Jahren mit einem Segelschiff auf dem Wattenmeer packte sie die Lust auf etwas Neues. Jaap fuhr mit dem Boot zu Nieko, und gemeinsam bauten sie auf den Rumpf ein schickes Hotelschiff, mit Platz für 22 Gäste und 22 Fahrräder. Jaap meint: «Niekos Werft ist einzigartig in Holland. Auch für mich als professionellen Segler ist es immer praktisch, Nieko in der Nähe zu haben. Er kennt meist eine gute Lösung für die Probleme. Niekos Wissen über Boote ist unbezahlbar. Und die Atmosphäre auf der Werft ist sehr harmonisch.»
Geduld gefragt Auch Marjin träumt von einem Leben auf dem Boot. Er hat seine Lehre auf der Werft gemacht. Vor vier Jahren entschied er sich, sein eigenes Hausboot zu bauen – wie es sie in den Niederlanden zu Tausenden gibt. Bezahlt hat er für die alte Schüssel nichts. Und im Gegensatz zu allen anderen Booten, die heutzutage restauriert werden, entschied er sich, die neuen Stahlplatten nicht zu schweissen, sondern durch Nieten miteinander zu verbinden, so wie es bis anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts noch üblich war. Das ist körper
liche Schwerstarbeit. Der junge Mann zuckt mit den Schultern, als er nach dem Grund gefragt wird. «Schweissen kann ich, nieten nicht. Ich wollte eine Herausforderung. Sonst wäre ich ja in zwei Jahren mit dem Boot fertig», schmunzelt er. Sein Ziel ist es, im Boot zu leben. Sein letzter Coup: Er hat den abgeschnittenen Rumpf eines anderen Bootes als Wand für seine neue Kabine aufs Boot gesetzt. Nieko nennt das Projekt von Marijn Kunst. «Wenn ich es nicht mehr verstehe, ist es eben Kunst; Kunst muss man nicht rational verstehen», sagt er mit einem Lächeln.
Und so arbeiten die Leute auf der Werft gegen die Zeit, den Rost und den Verfall. Nieko kennt auch einige Geschichten von Leuten, die an der immensen Aufgabe scheiterten, sich überschätzten und mit der endlos scheinenden Arbeit nicht klar kamen. Freud und Leid sind nah beieinander. Die Werft wirkt wie ein Antagonismus in der heutigen Zeit: Leute, die jahrelang jede freie Minute, jedes ersparte
Unten: Das umgebaute Hotelschiff Josefien verlässt die Werft. / Rechts: Nettie und Nieko bei der Kaffeepause.
Geld in diese alten verrosteten Kähne stecken, nur damit sie irgendwann ihren Traum vom Leben auf dem Wasser verwirklichen können.
Nina Regli verbringt seit vier Jahren ebenfalls jede freie Minute auf der Werft. Ihr Lebenspartner hat ein 90jähriges Schlepperschiff in den Niederlanden gekauft und ist durch Zufall und viel Glück auf diese kleine Werft gestossen.
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Der schönste Fleck der SchweizVon Rob Neuhaus
Wer den Weg von Bergün nach Spinas unter die Füsse
nimmt, kann sich ganz von den Schönheiten der Natur verführen lassen. Man kann aber auch, sozusagen auf Augenhöhe, die Entwicklung der Eisenbahntechnik und deren Auswirkungen auf die Talschaft beobachten. 1898 bis 1904 wurde die Albulabahn von Thusis nach Tirano erbaut; schon damals galt sie als technisches Meisterwerk. 2008 wurde sie in die Liste des Unesco-Welterbes aufgenommen. Vom Bahnhof Bergün – im ehemaligen Zeughaus gleich nebenan befindet sich das Bahnmuseum Albula – geht es durch das Dorf mit stattlichen Häusern im Engadinerstil. Auffällig ist auch das Kurhaus; mit der Eröffnung der Bahnlinie kamen Touristen mit gehobenen Ansprüchen ins Tal.
Die Wanderung von Bergün im Albulatal nach Spinas im Oberengadin bietet eine kurze, eine lange und eine kompakte Variante. Alle drei sind eng mit der Albulabahn verbunden und führen zum Palpuognasee, der in einer Umfrage zum «schönsten Flecken der Schweiz» gekürt wurde.
Das Jugendstilhaus wurde vor ein paar Jahren sorgfältig restauriert, trug 2012 den Titel «Historisches Hotel des Jahres» und bietet eine Mischung aus Ferienwohnungen und Hotelzimmern. Ausserhalb des Dorfes führt der Weg der Albula entlang, deren Rauschen uns noch eine Zeitlang begleiten wird. Nach einer Weile begegnen wir wieder der Bahnlinie und erreichen schon bald den Punt Ota. Dank zwei übereinanderliegenden Kehrtunneln gewinnt die Bahn auf kürzester Distanz gut hundert Meter Höhe. Fast pausenlos sehen und hören wir einen Zug irgendwo über eine der Schleifen ziehen – ein wahres Spektakel, nicht nur für Bahnfans. An markanten Punkten stehen Schautafeln. Sie erläutern uns den Bau- und Strecken-verlauf, Fahrpläne orientieren
über die Vorbeifahrt der nächsten Züge.
Auch das Dorf Preda ist vom Bahnbau geprägt – erst für den Bau des Tunnels entstand hier anstelle eines Maiensässes eine ganzjährig bewohnte Siedlung. Auch jetzt befindet sich hier wieder eine grosse Baustelle: Die Rhätische Bahn (RhB), die dieses Jahr ihr 125-jähriges Bestehen feiert, baut einen neuen Tunnel. Der bestehende, 1903 in Betrieb genommen, hat grossen Sanierungsbedarf, und ein Neubau geht praktisch ohne fahrplanrelevante Einschränkungen über die Bühne.
Wir verlassen vorübergehend die Bahnlinie, unser nächster Fixpunkt ist der Lai da Palpuogna. Der ursprünglich natürliche See wurde zur Energiegewin
nung für den Bahnbau damals mit einem Mäuerchen um zirka 30 Zentimeter aufgestaut, ist also seither ein Stausee. Nach wie vor ist er von betörender Schönheit und wurde 2007 bei einer Publikumsumfrage des Schweizer Fernsehens zum «schönsten Flecken der Schweiz» gekürt. Auffallend sind am Grund des klaren Sees die vielen Krater, aus denen natürliche Gase austreten. Als weitere Besonderheit hat der See eine unterirdische Seenkammer, also eine Art doppelten Boden. Deshalb gilt hier Badeverbot. Als nächstes sticht uns Crap Alv ins Auge: Hier betreibt die ETH Zürich seit über 40 Jahren eine landwirtschaftliche Forschungsstation. Wir aber wollen höher hinaus – es gibt eine flachere und eine steile Variante, um zu den Seen Crap Alv Laiets zu gelan
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Einer der tausend Teiche der Dombes. Die Tümpel für Karpfen und Hechte brachten auch Sumpfkrankheiten übers Land.
Vom guten Radeln und EssenText und Fotos: Peter Krebs
Im Spätherbst beabsichtige ich, von Genf mit dem Zug nach
Bourg-en-Bresse und dann mit dem Fahrrad durch die Teichlandschaft der Dombes nach Lyon zu fahren. Dort isst man gut, heisst es, und das ist ein würdiges Reisemotiv. Doch die Anzeigeta-
Lyon ist eine Veloreise wert, und sei es nur wegen des Essens. Die Kalorien kann man vorher auf einer Route verbrennen, die durch unbekannte Jurastädte und über kleine Pässe nach BourgenBresse führt und dann durch die Dombes mit den tausend Fischteichen.
fel in Genf Cornavin verkündet in roter Schrift: «TER 10h29 supprimé». Der Zug falle wegen eines kurzfristig angekündigten Streiks der französischen Bahnarbeiter aus, und heute bringe mich auch kein anderer ans Ziel, bedauert der Schalterbeamte der SBB.
Was tun? Mein Velo streikt nicht. Der Rhone entlang nach Lyon also. Die fliesst durch die Zweistromstadt. Ich mache mich auf die Suche nach Informationen über die Veloroute, die es doch geben muss, denn über Hauptstrassen mag ich nicht
fahren. In Genf wissen sie jedoch nichts von einer solchen Annehmlichkeit. Weder in der Buchhandlung Payot, noch im Veloladen. Als mir das Office du Tourisme empfiehlt, in der Kantonsbibliothek Recherchen anzustellen, verlasse ich die Stadt von
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R E I S E N Velotour
In Lyon flaniert und isst man gut. / In der hügeligen Region werden Velos andersweitig eingesetzt.
Calvin und Rousseau im ersten Zug nach Nyon, wo ich nach La Cure umsteige. Wenn ich schon durch den Jura nach Bourg-en-Bresse strampeln muss, will ich wenigstens möglichst hoch oben anfangen, auf fast 1200 Meter, wo ein kühler Wind die erwarteten Niederschläge heranbläst und mir nur ein kleiner Karten-ausschnitt fehlt. Ich fotografiere die Lücke im Touristenbüro von Les Rousses, das um 14 Uhr öffnet, genau als ich eintreffe. Glück muss man haben.
Der Höhenbonus ist bereits nach der rasanten Abfahrt nach Morez zur Hälfte aufgebraucht. Auch die Bahn fuhr bis 1958 über die Grenze bei La Cure hinaus in
diese Kleinstadt. Dafür steht das M am Ende der Abkürzung der NStCM-Bahn. In der ehemaligen Uhrenstadt, in der heute Brillen hergestellt werden, hatten die Reisenden in besseren Bahnzeiten Anschluss nach Paris. Ich folge jetzt der Linie aufwärts durch die Kalkschlucht Gorges de la Bienne nach St. Claude, denn auf der Karte in meiner Kamera ist ein vielversprechendes Strässchen eingetragen. Und wirklich: Verlassen und schmal schlängelt es sich durch den Wald und gewährt Ausblicke auf die Abhänge der Monts de Bienne mit der Schlucht zu ihren Füssen.
St. Claude ist eine weitere unbekannte Kleinstadt im Haut-Jura. Eher roh als schön und dennoch von einem gewissen herben Reiz. Zum gemütlichen Besuch des Pfeifenmuseums fehlt allerdings die Zeit. Ich will noch einige Kilometer zurücklegen. Im Café erklärt mir der Kellner bereitwillig den Weg ins Tacon-Tal. Der Col de la Serra, der es abschliesst, liegt auf immerhin 1049 Meter. Ich fahre um 16 Uhr in St. Claude los und habe keine Ahnung, wo ich übernachten werde. Die Tage sind kurz, und es ist nicht ratsam, im Dunkeln zu radeln. Also zweige ich nach Les Bouchoux ab, wo, auf der andern Talseite, laut dem Schild die Au-berge la Chaumière stehen muss.
Les Bouchoux ist ein sehr anmutiger und sehr kleiner Ort. Die Strasse endet auf dem weiten Platz vor der gedrungenen Kirche, die sich gegen Westen mit Isolierplatten aus Blech vor Wind und Wetter schützt. Genau gleich wie die Mairie mit der wehenden Trikolore, in der das Schulhaus einquartiert ist. Die fleissigen Lehrer und Gemeindebeamten haben schon die Lampen angezündet. Nur in der Auberge brennt kein Licht. Ich hatte es fast vermutet, ärgere mich über die verlorene kostbare halbe Stunde und schwinge mich in den Sattel, als ein schwarzes Auto vorfährt. «Was wollen Sie hier?», fragt der Mann, der ihm entsteigt und der der Gastwirt ist. «Passer la nuit», sage ich. Eigentlich habe er Ferien, aber er habe sowieso Arbeiter einquartiert, und, ja, essen könne ich auch. Um 19.30 Uhr.
Das Zimmer riecht nach Zigaretten, hat drei Betten und kostet 42 Euro, egal ob man zu dritt ist oder solo. Beim Nachtessen erzähle ich dem Wirt von meinem Tag. Er schimpft über die Eisenbahner, die zu den privilegiertesten Berufsgruppen gehörten, mit gutem Lohn, unkündbaren Stellen und früher Pension. «Sie wollen den Rahm und die Butter.» Das sei typisch französisch. Der Staat soll für alles aufkommen. «Trop de social tue le social»,
glaubt er, zu viel Soziales mache den Sozialstaat kaputt. Er selber sei 69, aber er müsse immer noch arbeiten, weil er für die Pflege-kosten seiner behinderten Tochter monatlich 530 Euro bezahle.
Am nächsten Tag regnet es. Nebel, die aus einer Küche im Talgrund hervorzudampfen scheinen, nehmen die Sicht. Ich schalte das Licht ein, damit die Automobilisten mich sehen. Trotz der Regenkleider bin ich nach drei Stunden nass bis auf die Haut. Zum Glück gibt es auf dieser Strecke ein paar kleine Pässe zu überwinden, die geben warm. In der Bar eines Dörfchens im Nirgendwo bestelle ich einen Kaffee. Einige Männer spielen eine Art Instantlotto. Sie kreuzen gelangweilt Glückszahlen an, geben sie in ein Lesegerät ein, bezahlen und sehen kurz darauf auf dem Bildschirm, ob sie gewonnen haben. Im Département du Rhône habe kürzlich ein Glückspilz 77033 Euro einkassiert, behauptet der Bildschirm.
Eigentlich wollte ich heute mein Picknick verzehren. Aber wer kann bei solch garstigen Umständen dem Restaurant Tissot widerstehen, das einem um die Mittagszeit plötzlich vor die Nase gesetzt wird, wenn man mit knurrendem Magen an einer Kreuzung stoppt, um die Karte
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A N S I C H T E N Leserbriefe / Durchatmen
VCSMagazin 3/2014
Der Zug ist teurer. Wirklich? Ich bin seit Jahren Mitglied des VCS und schätze Ihr Engagement für Bahnreisen. Ich reise in Europa am liebsten mit der Bahn, habe aber bemerkt, dass weite Bahnreisen leider immer schwieriger werden. Für Bahnreisen über 1000 Kilometer ist man generell auf Nachtzüge für einen Streckenteil angewiesen, dies, damit man unterwegs nicht in einem Hotel übernachten muss. Leider werden aber die internationalen Nachtzüge einer nach dem anderen gestrichen. Als nächstes soll der Nachtzug nach Kopenhagen dran sein, was Reisen nach Skandinavien erheblich erschweren und verteuern wird. Die Ursache zur Streichung sei nicht etwa schlechte Belegung, denn der Zug ist sehr beliebt, sondern dass die Kosten zu hoch seien. Leute, die lieber mit dem Zug reisen, werden so immer mehr gezwungen, stattdessen das Flugzeug zu nehmen. Ich stelle mich voll hinter die drei VCS-Forderungen, welche der Bahn gegenüber dem Flugzeug echte Konkurrenzchancen einräumen wollen. Birger Tiberg, per EMail
VCSMagazin 3/2014
Welcher Reisetyp sind Sie? Auf Seite 13 wird die Reise von Genf nach Barcelona mit «Umsteigen in Valencia» beschrieben. Wie soll das gehen? Ursula Frei, Dietikon
Anmerkung der Redaktion: Ein Übersetzungsfehler, für den wir uns entschuldigen. Im ursprünglich französischen Text heisst es: «chan
gement de train à Valence». Und Valence heisst übersetzt Valence – oder eben auch Valencia. Hier ist aber eindeutig das französische Valence gemeint!
VCSMagazin 3/2014
Zweifelhafte Ehre für Lugano Sind Sie ganz sicher, dass Lugano Europameister beim Motorisierungsgrad ist? Per 2013 hatten wir in Vaduz 891 Personenwagen pro 1000 Einwohnende. Da schlagen wir Lugano mit 608 bei Weitem!
Georg Sele, Präsident VCL VerkehrsClub Liechtenstein
VCSMagazin 3/2014
Grafik «Wie fährt die Schweiz zur Arbeit?» Ihr Artikel zur Grafik scheint mir etwas unfair zu sein, zumindest den höhenunterschiedsmässig extrem herausgeforderten Lausannerinnen und Lausannern gegenüber. Für mich ist das Resultat von «nicht einmal der Hälfte» des Langsamverkehrsanteils der flachbegünstigten Baslerinnen und Basler völlig verständlich und Ihres besserwisserischen Mahnfingers unwürdig.
Jürg Peter Hunziker, Rüttenen
VCSMagazin 3/2014
Porträt Beat von Scarpatetti Vielen Dank, lieber Beat von Scarpatetti, für Ihren zehnjährigen Einsatz im CAS (Club der Autofreien)! Gieri Battaglia, Rorschach
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Schön war der Sommer – wenigstens im Süden. In Frankreich werden die Autos etwas länger gefahren als bei uns: Im Bild ein Renault 4CV, das Modell wurde von 1946 bis 1961 produziert.
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© Stefanie Stäuble
A N S I C H T E N Porträt
Erna Schuler Gastfreundschaft auf 2328 m ü.M.Die Hüttenwartin der SACHütte Bächlital im Grimselgebiet ist manchmal mit 80 Gästen zusammen. Und manchmal ganz allein.
«Ich bin eine Bauerntoch- Erna Schuler tischt ihren Gästen keine ter. Als Kind war ich im Fertigmenüs auf – nur Selbstgemachtes
kommt auf den Hüttentisch. Sommer oft mit meiner kleinen Schwester allein auf der Alp. Deshalb macht mir die Einsam- warm. Es gibt Heisswasser, eikeit hier oben nichts aus.
Die Bächlitalhütte hat 80 Schlafplätze. Mitte März bis Mai öffne ich für Skitourengänger. Danach bin ich einen Monat zuhause, bevor im Juni die Sommersaison beginnt. Mein Mann kommt am Wochenende und in den Ferien. Manchmal muss er Lebensmittel zu Fuss hochschleppen, damit ich einen Helikopter-Transportflug spare, der Ärmste. Bei Lawinengefahr schaue ich ihm nach, bis er aus meinem Sichtfeld verschwindet. Danach dauert es eine Viertelstunde, bis er ins Handyempfangsgebiet kommt. Wenn er sich eine halbe Stunde nicht melden würde, wüsste ich, es ist ihm etwas passiert. Auch nach meinen Gästen halte ich Ausschau, wenn die Schneelage brenzlig ist. Ich fühle mich verantwortlich für die Leute, die hier übernachten. Viele sagen oft kurzfristig ab, wenn Gewitter oder Lawinengefahr drohen. Mir macht das keine Angst. Wenn der Sturm ums Haus pfeift, finde ich es drinnen besonders heimelig. Und bei Schnee wirkt alles so edel und still. Im Winter oder bei Schlechtwetter kommt zuweilen tagelang kein Gast. Dann bin ich allein mit den Schneehühnern und Bergdohlen, schaufle Schnee, erledige Bürokram oder koche vor. Oder ich schlafe
VCS MAGAZIN / SEPTEMBER 2014
nach. Das habe ich manchmal nötig, denn bei Hochbetrieb kann es sein, dass ich bis 23 Uhr auf den Beinen bin und um 3 Uhr wieder aufstehen muss. Wenn der Wecker läutet, muss ich sofort aus dem Bett steigen, sonst bin ich verloren. Ich mache keine Zimmerstunde. Wann immer Gäste kommen, sind sie willkommen.
Ich bin die vierte Saison auf der Bächlitalhütte. Anfangs musste ich viel lernen, denn, wenn hier etwas aussteigt, muss ich mir selbst zu helfen wissen. Vorher war ich 37 Jahre lang Lehrerin und Familien-frau. Als die Hütte in der Zeitschrift des SAC ausgeschrieben
war, glaubte ich nicht daran, dass sie mich nehmen. Ich hatte Jahre zuvor zum Plausch die Ausbildung zur Hüttenwartin gemacht. Die Hütte ist energiemässig völlig selbstversorgend. Sie hat ein eigenes kleines Wasserkraftwerk, was ein Riesenluxus ist. Wir haben sogar überschüssige Energie, deshalb sind die Radiatoren immer
nen Tiefkühler und eine Waschmaschine. Hierher kommen vor allem Kletterer. Die Wanderer hingegen sind manchmal etwas enttäuscht, denn es gibt keinen Rundweg von der Hütte aus. Der Weg vom Räterichsboden zu uns ist sehr schön, doch ab hier wird es hochalpin. In
der kurzen Zeit meiner Anwesenheit ist der Bächligletscher sicher 20, 30 Meter zurückgegangen. Im ersten Jahr lappte er noch über den Felsen dort hinten – heute klafft da eine grosse Lücke. Im Winter ist der Gletscherschwund nicht so spürbar, weil wir im hochalpinen Gebiet sind. Doch im Sommer wird der Berg zum ‹Geschirrladen›: Durch den Rückgang des Permafrostes kommt viel Geröll herunter, und man muss aufpassen, dass man nicht vom Steinschlag getroffen wird.
Hier oben gibt es keinen Handyempfang und kein Fernsehen, und man kommt sofort zur Ruhe. Auch die Luft ist anders; ich falle in den Schlaf wie in eine tiefe Bewusstlosigkeit. Manchmal bin ich im Winter sechs Wochen nicht im Tal. Wenn im Frühling der Grimsel öffnet und die ganzen Motorräder über die
Passstrasse dröhnen, ist das nach der Ruhe wie ein Schlag ins Gesicht.»
Stefanie Stäuble
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A N S I C H T E NInterview
David Asséo, Verkehrsbeauftragter des Kantons Jura, erklärt, wie sich ein attraktives öffentliches Verkehrssystem auch in einer Region aufbauen lässt, die auf den ersten Blick nicht sonderlich geeignet dazu erscheint.
David Asséo «Die Ausnahme bestimmt die Regel»
VCSMagazin: David Asséo, welchen Herausforderungen muss sich die Planung des öffentlichen Verkehrs (ÖV) im Kanton Jura stellen?
David Asséo: Zu den Besonderheiten des Kantons gehört, dass wir in hohem Mass von der ausserkantonalen Planungspolitik abhängig sind. Unser Verkehrssystem richtet sich stark nach den Knotenpunkten des SBB-Netzes. Ich denke da insbesondere an Delsberg, das auf der Bahnachse Basel–Genf liegt. Zudem befinden sich die grossen städtischen Zentren ausserhalb des Kantons. Unsere Linien führen zum grössten Teil nach aussen, wie etwa die S-Bahnen nach Basel, Biel oder La Chaux-de-Fonds. Wenn sich an der ÖV-Planung in diesen Nachbargebieten etwas ändert, hat das einen direkten Einfluss auf uns.
Ist es nicht das Los jeder Region, im Einklang mit ihren Nachbarn zusammenzuarbeiten?
Im Gegensatz zu vielen anderen Kantonen besitzt der Jura kein städtisches Ballungsgebiet, auf das sich die Unternehmen fokussieren. Aufgrund seiner Eigendynamik spielt zwar das inzwischen als Agglomeration anerkannte Delsberg vermehrt eine solche Rolle, da dort die Bevölkerung und die Geschäftstätigkeit stetig wachsen. Doch das Einzugsgebiet von Delsberg und der Einfluss seiner 25000 Einwohner lässt sich kaum mit Nachbarstädten wie Basel, Biel oder Belfort (F) vergleichen.
Der Jura ist auch keine städtische Region, sondern ein Kanton mit viel Industrie.
Ja, mit einer relativ geringen Bevölkerungsdichte sowie kleinen oder mittelgrossen Städten, in denen man mühelos zu Fuss und mit dem Auto vorwärtskommt. Verkehrsengpäs
se, wenn sie denn auftauchen, sind weniger abschreckend als anderswo. Das jurassische Strassennetz ist nicht überlastet, Parkplätze sind in den Städten ziemlich leicht zu finden. Doch selbst diese für den ÖV eher ungünstigen Voraussetzungen hielten uns nicht davon ab, auch im Inneren des Kantons ein Transportangebot aufzubauen und die Weiterentwicklung des ÖV mit verschiedenen Mitteln energisch voranzutreiben.
Wie genau? Das fängt bereits bei der Bahn 2000 an, und zwar mit dem Aufbau eines regionalen Verbundnetzes. Anders ausgedrückt haben wir dafür gesorgt, dass die Verbindungen zwischen den uns umgebenden städtischen Ballungszentren durch den Jura führen. So setzten wir uns zum Beispiel zum Ziel, eine Verbindung zur Basler S-Bahn einzurichten. Heute geht der Anschluss über Pruntrut nach Basel. Zusätzlich haben wir unsere Ar-
braucht, es Durch ein attraktives Abend und Nacht scheinlich, dass er dafür eines kauft. Sobald das angebot signalisieren wir klar: Der ÖV bietet Fahrzeug bei ihm vor dem
für alle Bedürfnisse eine zuverlässige Haus steht, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass Alternative zum Individualverkehr.
beit nach dem Angebotsprinzip ausgerichtet. Wir sind davon überzeugt, dass es ein attraktives ÖV-Angebot für die Bevölkerung braucht, um eine Änderung des Nutzerverhaltens auszulösen.
Wie gingen Sie dabei vor? Wir arbeiteten zum einen darauf hin, die Wahrnehmung der öffentlichen Verkehrsmittel zu verändern und sie attraktiver zu machen, indem wir uns vom Image eines
qualitativ ungenügenden und hauptsächlich für Schülerinnen und Schüler bestimmten ÖV befreiten. Zu diesem Zweck wählten wir ein hochmodernes und komfortables Rollmaterial. Der Jura war der erste Kanton in der Westschweiz, der bereits ab 2006 das Zugmodell «Flirt» (innovative, bewegliche und leichte Triebwagen für den Regionalverkehr) verwendete. Zum anderen setzten wir uns für erweiterte Betriebszeiten ein. Eine erste, ganz wichtige Massnahme war die Einführung eines Nachtnetzes auf kantonaler Ebene. Der «Noctambus» betreibt 13 Buslinien, die nachts im Taktfahrplan verkehren und die Anschlüsse untereinander sicherstellen.
Kann eine Nachtbusverbindung die Nutzung des ÖV generell beeinflussen?
Man vergisst leicht, dass oft die Ausnahme die Regel bestimmt. Wenn ein Jugendlicher beispielsweise das Auto einmal pro Woche
abends für den Ausgang ist wahr
er es für alle übrigen Strecken einsetzt, auch tags
über – obschon er eigentlich problemlos mit dem Bus oder Zug fahren könnte. Durch ein attraktives Abend- und Nachtangebot signalisieren wir klar: Der ÖV bietet für alle Bedürfnisse eine zuverlässige Alternative zum Individualverkehr. Unsere Noctambus-Linien befördern 40000 Reisende im Jahr – ein Erfolg.
Haben Sie die Fahrpläne auch tagsüber verdichtet?
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S E R V I C E Cartoon/Rätsel
«Alle wollen zurück zur Natur. Aber keiner zu Fuss.»
Werner Mitsch © Monika Berdan
Schwedenrätsel
Sudoku
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Auflösungen Seite 54
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via verde reisen ein Produkt der Arcatour SA
Der Reisepartner des VCS – Ihr Spezialist für Bahnreisen
Hôtel Les Flots Bleus*** Frankreich/Côte d’Azur/Le Lavandou
Der schönste Ferienort der Côte d’Azur empfängt Sie mit dem Charme der kleinen Buchten, des goldgelben Sandes, mit den Düften des Meeres und seinem azurblauen Wasser. Abseits der Touristenströme entdecken Sie das Hochland und wandern durch Korkeichen- und Kastanienwälder. Das Hotel liegt direkt am Strand von Saint-Claire. Alle 40 Zimmer sind zweckmässig eingerichtet und verfügen über Bad oder Dusche/WC, TV, Minibar, Föhn, Klimaanlage und gratis WiFi. Nichtraucherzimmer.
Preis pro Person ab CHF 850
8 Tage/7 Nächte ab/bis Le Lavandou
Anreise täglich vom 1.3. bis 15.11.2014
Infos: www.via-verde-reisen.ch/badeferien
Individuelle Wandertour Provence Frankreich
Das Maurenmassiv ist ein grosser, duftender Garten. Der Nationalpark der Insel Port-Cros bewahrt eine seltene Flora und Meeresfauna und die Insel Porquerolles bietet ihre zarte Stille an. Gelangen Sie über die Küstenpfade der Halbinsel Giens zu kleinen authentischen Fischer Häfen. Wandern Sie auf den wunderschönen unterschiedlichen Etappen durch Wälder, über die Küstenpfade und Terrassen.
Preis pro Person ab CHF 1040
7 Tage/6 Nächte ab Le Lavandou bis Hyères
Anreise täglich, ganzjährig (ausser Juli/August)
Infos: www.via-verde-reisen.ch/aktivferien
Beratung und Anmeldung: Tel. 0848 823 823 – www.via-verde-reisen.ch/anmeldung
Zusätzliche Angebote und Informationen finden Sie unter www.via-verde-reisen.ch Nutzen Sie die Bestellkarte am Umschlag zur Anmeldung
Gruppenreise Sizilien Streifzug durch die Perle Süditaliens
Sizilien ist voller Sinnlichkeit und feurigem Temperament. Der Vulkan Ätna, wildromantische Landschaften, Orangen-plantagen, Weingüter, Prachtbauten und kulinarische Lecker-bissen – die Insel garantiert unvergessliche Momente. Be-sondere Höhepunkte bilden die Besuche in den Privatgärten. Natürlich kommt auch der Genuss auf der Reise nicht zu kurz: Ein privater Kochkurs, ein Brunch auf einer Orangenplantage, uvm. – die kulinarischen Höhenflüge lassen uns die «Italianitá» spüren und versetzen uns in Ferienstimmung.
Preis pro Person ab CHF 3150 inkl. An-/Rückreise
8 Tage/7 Nächte ab/bis Catania
1. Reise vom 11. bis 18.10.2014/2. Reise vom 18. bis 25.10.2014
Infos: www.arcatour.ch/kultur-und-garten-reisen
Gruppenreise La Gomera Wal- und Delfin-Beobachtungen
La Gomera ist die zweitkleinste der sieben Kanarischen Inseln im Atlantischen Ozean, vulkanischen Ursprungs und über-raschend vielgestaltig. Inmitten der Insel erhebt sich das zentrale Bergmassiv des Garajonay (1487 m), dessen Hänge und Schluchten mit dem grössten noch zusammenhängenden Lorbeerwald bedeckt sind und als Nationalpark sowie UNESCO-Weltnaturerbe unter Schutz stehen. Die Insel hat aber vor allem auch das Meer zu bieten und die einzigartige Möglichkeit frei lebende Delfine und Wale in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten.
Preis pro Person ab CHF 3290 inkl. An-/Rückreise
8 Tage/7 Nächte ab/bis La Gomera
Reise vom 11. bis 18.10.2014
Infos: www.arcatour.ch/naturerlebnis-reisen
WeitWandern Geführte Wanderungen und Schneeschuhtouren
Wanderungen 19.09. – 21.09.14 Gletscherzungen am Grimsel- und Furkapass 03.10. – 05.10.14 Süd-Vogesen: Dollertal und Ballon d’Alsace 04.10. – 11.10.14 Massif Central: Montagne Noire – Canal du Midi 09.10. – 12.10.14 Herbsttage im Schweizer Nationalpark 11.10. – 18.10.14 Camogli: Wandern an der Ligurischen Riviera 24.10. – 26.10.14 Heilige Wasser im Oberwallis
Wanderungen Marokko (mit Bahnreise nach Marrakech) 19.12.14 – 05.01.15 Roter Sand und Vulkangestein im Jebel Zereg 06.02. – 23.02.15 Mandelblüten im Jebel Sarhro
Schneeschuhtouren 24.12. – 26.12.14 Weihnachten im Glarner Kleintal 26.12. – 28.12.14 Schneeschuhtage im Entlebuch 27.12. – 30.12.14 Altjahreswoche im Hochtal Avers 01.01. – 04.01.15 Neujahrswoche in Wergenstein 02.01. – 04.01.15 Col des Mosses: entre Pays d’Enhaut et Léman
Preise online verfügbar
Infos: www.via-verde-reisen.ch/weitwandern
Preisangaben (nicht gültig für Arcatour/WeitWandern): Basis Doppel- Partner Mitglied
zimmer, inkl. Bahnreise mit Halbtaxabo teilw. exkl. Reservationen.
Bei Aktivferien beinhaltet der Preis auch das Mietvelo, Gepäcktrans- ARCATOUR port und Routenbeschrieb. Die detaillierten Informationen zu den sinnvoll reisen Preisen und Leistungen finden Sie online.