GAZETTE DAS POLITISCHE K U L T U R M A G A Z I N N U M M E R 38 / S O M M E R 2013
THEMA: ALTERNATIVEN
Ein neuer Gesellschaftsvertrag WIE WIR LEBEN WOLLEN
Michael Hirsch Futurzwei
GESCHICHTEN DES GELINGENS Interview mit Harald Welzer
Verstehen Sie das? VIERZIG FRAGEN Hans Magnus Enzensberger
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Flucht in die DDR WO IST LIEUTENANT ADKINS?
Peter Köpf
Nach Hugo Chävez MAUSOLEEN
Carlos Widmann
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FRANK SCHIRRMACHER
operative Variante gibt (S. 89). Man kann zudem z.B. das Gefangenendilemma so deuten, dass, wenn Menschen nur ihre Interessen vertreten, ein für beide Akteure ineffizientes Nash-Ergebnis herauskommt und wir daher demokratischer Entscheidungsfindung zur Überwindung solchen Marktversagens bedürfen.
Der Grundplot der vielen Seiten besteht in der ständigen Wiederholung der Tatsache, dass im kalten Krieg zwischen Militär, Ökonomen, Mathematikern und anderen (Spiel-)Theorien entwickelt wurden, die heute die Zivilgesellschaft unterwandern, und aggressive Investmentbanker nur ein Symptom davon sind. Das Böse kam demnach als synthetisches Produkt in den 1950erjahren in die Welt. FS erzählt hierin Superkurzfassungen,was bei Ph. Mirowski zusammenhängend nachzulesen ist, dies gilt auch für die eingestreuten dogmenhistorischen Teile. FS verallgemeinert hier nur. Allerdings gab es gierige Banker und Fonds schon lange vor der Nachkriegsentwicklung, erinnert
sei an die turbulenten Vorgänge in der Weltwirtschaftskrise, und schon Thukydides und Machiavelli wuss-ten über Lug und Trug ohne Computer und Spieltheorie zu berichten. Bei FS findet man leider keine klaren Aussagen und Belege dazu, was was verursacht hat. In gewissem Sinne bestätigt er die Größenphantasien der Ökonomen: Sie sind in der Lage, die Welt zu formen. Teil zwei mit fast 100 Seiten wird hier nicht nur aus Platzgründen ausgespart, er liest sich noch zerfahrener und bringt nichts Neues.
Das Buch ist in gewissem Sinne tragisch. Die oft auf dem Homo oeconomicus, unrealistischen Modellen usw. aufbauenden Wirt schaftswissenschaften bedürfen tatsächlich grundlegender Veränderungen, die von der Profession in Lehre und Forschung verweigert werden. FS ist ein an sich intelligenter und aufgeschlossener Mensch, der das Feuilleton der FAZ für kritische Renegaten öffnet. In Talkshows und in der Öffentlichkeit wäre ein ernsthafter Dialog über ein
Leben ohne Finanzkrisen und Schuldenkollektivierung, über Rettungsschirme und die EZB dringend nötig. Das leicht durchblätterbare Buch ist aber leider Ausdruck einer ebenso folgen- wie orientierungslosen wertkonservativen Haltung, der es doch stark außengelenkt auf Beachtung anzukommen scheint und das fast als kulturindustrieller Trash zu bezeichnen ist. Anstatt deutend aufzuklären und Veränderungsvorschläge vorzustellen, wirkt es wahrscheinlich leider populistisch-reaktionär: Man liest sich gruselnd durch, alles ist recht schlecht, es bieten sich keine konkreten Ansatzpunkte für Verbesserungen, die zum Handeln nötigen könnten. Wie schön, dass es „Intellektuelle" wie FS gibt, die sich für uns kümmern, ohne das (halb) gebildete Bürgertum allzu sehr anzustrengen und mit Details zu belasten.
Helge Peukert
Frank Schirrmacher, Ego. Das Spiel des Lebens,
Blessing, München 2013,352 Seiten.
Träumen darf man ja Habermas und die Verfassung Europas
Es wäre einfach, das aktuelle Europa-Buch von Jürgen Habermas utopisch zu nennen: Europa, so Habermas, befinde sich auf dem Weg zu einer historisch einmaligen Verfassungsordnung. A m Horizont dieses Umbruchs sieht er jedoch nicht die vielbeschworenen „Vereinigten Staaten von Europa" aufziehen. Schon gar nicht erwägt der Autor das Comeback des Nationalstaats. Das Europa Haber
mas' kann beides, die althergebrachten Mitgliedstaaten erhalten und das postnationale Gemeinwesen konstituieren. Die „Völker Europas" säßen damit an einem Tisch mit den „Bürgern Europas". Und zwar als gleichberechtigte Partner. Der Clou an der Sache ist nun, dass diese „Demokratie ohne Staatlichkeit" in der weltgeschichtlichen Gesamtschau selbst nur ein kleiner Schritt ist. A m Ende steht,
DIE GAZETTE 38, Sommer 2013
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und spätestens hier wird der eher Jahr 2011, der das intergouverne-realistisch gestimmte Leser dann mentale EU-Verfahren und den abwinken, die vereinigte Weltge- Partikularismus der Euro-Retter meinschaft. anprangert.
So viel also vorweg: Wer sich von ZurVerfassungEuropas eine tagespolitische Programmschrift erwartet, wird mit diesem Buch nicht glücklich werden. Jedenfalls nicht mit den ersten beiden der hier versammelten Texte. Bei dem Auftaktessay {Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte) handelt es sich um eine rechtstheoretische Abhandlung, die den Zusammenhang der Fundamentalbegriffe „Menschenwürde" und „Menschenrecht" erörtert. Dass dieser Text zuerst in einer philosophischen Fachzeitschrift veröffentlicht wurde, merkt man ihm deutlich an - was gut für das reflexive Niveau ist, der polit ischen Orientierungskraft aber im Wege steht. Vor allem der Bezug zu dem Europa-Thema wird keineswegs auf den ersten Blick klar. Erst der zweite Text (Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konsti-tutionalisierung des Völkerrechts), der gleichzeitig der Hauptessay des Bandes ist, erfüllt diese Erwartung. Diejenigen, die sich handliche Empfehlungen für aktuelle Problemlagen wünschen, werden aber auch diesen Beitrag mit einigem Stirnrunzeln lesen. Allen Utopieskeptikern und Theoriemuffeln sei daher empfohlen, die Lektüre mit den kürzeren Texten im Anhang zu beginnen. Dor t finden sich: Ein Z«V-Interview von 2008, in dem Habermas über den Zusammenhang von Neoliberalismus und Finanzkrise spricht; eine knappe Anti-Merkel-Polemik, die er 2010 ebenfalls in der ZEIT veröffentlichte: und ein SZ-Artikel aus dem
Die Stoßrichtung dieser drei „Interventionen" ist klar: Die politischen Akteure sollen sich an die historische Errungenschaften der Union erinnern, ihre nationalen Egoismen aufgeben und die aktuelle Krise gemeinsam überwinden. Gemeinsam, das heißt unter Umständen auch, dass die wohlhabenderen den ins Straucheln geratenen Volkswirtschaften solidarisch unter die Arme greifen. Andererseits weist Habermas das liberal-konservative Mantra der Haushaltskonsolidierung nicht einfach von der Hand. Durchaus sinnvoll sei etwa die Forderung nach einer europäischen „Wirtschaftsregierung" - nur müsse diese demokratisch legitimiert sein. Und genau das wäre sie nach den technokratischen Vorstellungen ihrer Fürsprecher eben nicht. Solle der „Konstruktionsfehler" einer politisch kopflosen Währungsunion behoben werden, müs-sten daher einerseits effektive Institutionen auf EU-Ebene geschaffen werden, andererseits müsste man das Eliteprojekt Europa in ein Europa der Bürger transformieren. Ein Schritt in diese Richtung wäre natürlich die Stärkung des Europäischen Parlaments. Gleichzeitig müsse aber Sorge getragen werden, dass bei europäischen Wahlen auch wirklich über europäische Themen abgestimmt wird. Das ließe sich etwa durch die Transnationalisierung des Parteiensystems erreichen. Und, mindestens ebenso wichtig, durch eine veränderte Praxis der Medien. Letztere stellt sich Habermas als „gegenseitige Off-
Jürgen Habermas Zur Verfassung Europas
Ein Essay
edition suhrkamp
nung der nationalen Öffentlichkeiten füreinander" vor. Mehr Interesse für die Nachbarn also und weniger Selbstbezüglichkeit. Das Credo des „politischen" Habermas, der auf den letzten 30 Seiten seines Europa-Buches spricht, liegt damit in einem doppelten Appell: Ja zur europäischen Integration - und Nein zur Politik der nächtlichen Regierungsabsprachen. Und, so kann man drittens hinzufügen: Nein zum Europa der ungezügelten Märkte. Denn obwohl Habermas hinsichtlich der sozialen K r i sendimensionen seltsam einsilbig bleibt, kann man ihm doch keine verteilungspolitische Blindheit vorwerfen. Eher scheint es, als sei ihm das Versagen des Marktradikalismus einfach zu offenkundig, um es ausführlicher zu thematisieren. Jedenfalls kann man den Zielkonflikt zwischen Kapitalismus und Demokratie durchaus als den Hintergrund ansehen, vor dem Habermas seine Überlegungen zur europäischen Verfassung anstellt.
Aber dabei bleibt es nicht. Hinzu kommt das sehr viel sperrigere
DIE GAZETTE 38, Sommer 2013 101
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Moment einer kosmopolitischen Verfassungsgeschichte, das er im Hauptessay seines Europa-Bändchens entwickelt. Hier spricht nicht mehr der „public intellectual" Habermas, sondern der politische Theoretiker. Und als solcher verfolgt er das geschichtsphilosophi-sche Projekt eines neuen „Narra-tivs", das den höheren Sinn der europäischen Einigung sichtbar machen soll. Wenn man jedoch, wie vorgeschlagen, das Buch von hinten nach vorne liest, kann man dieses Reflexionsniveau auch als philosophisch Unbeleckter relativ leicht betreten; und vor allem: mit Gewinn für das politische Gespür. Auch „Realisten" müssen sich schließlich die normative Frage stellen, aus welchen Gründen man eine engere politische Union überhaupt anstreben sollte. Diese Frage beantwortet Habermas in der Tradition Kants, nämlich mit dem Verweis auf die „zivilisierende Kraft" demokratischer Verrechtli-chung. Aus dieser Perspektive steht die Bändigung des „autoritären Kerns" staatlicher Innenpolitik in einem direkten Zusammenhang mit der „Pazifizierung" der Außenpolitik. Man kann sich das etwa so vorstellen, dass in der historischen Entwicklung erst der „Naturzustand" zwischen den Bürgern aufgehoben wird, dann der zwischen den Bürgern und ihrem Staat und schließlich auch noch der Naturzustand zwischen den Staaten. Das Prinzip Macht wird damit nach und nach durch das Prinzip Recht ersetzt. Und da es sich um demokratische Verrechtlichung handelt, müssen die der Gesetzgebung Unterworfenen gleichzeitig als Urheber dieser Gesetzgebung verstanden werden. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, ergibt sich
das Bild einer globalen Verfassungsordnung, die auf Mitbestimmung und allgemeiner Rechtsgleichheit basiert.
Zugegeben, das ist starker Tobak. Zumindest wird dadurch aber klar, wieso Habermas europapolitische und Menschenrechtsfragen gemeinsam in einem Buch abhandelt. Das Ziel einer demokratischen EU erhält bei Habermas seinen Sinn nämlich durch das höhere Ziel einer demokratischen „Weltinnenpolitik". Und die vornehmste Aufgabe dieser Weltinnenpolitik sei eben der Schutz der Menschenrechte. Zwar müssten, im Gegensatz zur europäischen Politik, Themen der „Selbstabgrenzung" und „Selbstbehauptung" auf globaler Ebene außen vor bleiben, aber das verfassungsrechtliche Design wäre dasselbe: Die zu schaffende Weltorganisation wäre eine rechtsetzende Instanz ohne eigene Sanktionsgewalt, und sie brächte die Verfassungssubjekte Bürger und Staat an einen Tisch. Genau diese beiden „Innovationen" sieht Habermas in der gegenwärtigen EU bereits angelegt - wenn auch, was die Stellung der europäischen Bürger angeht, noch in schwacher Form. Globale Demokratie würde dann die Etablierung eines „Weltparlaments" nach Ar t des Europäischen Parlaments einschließen, wobei die alten Nationalstaaten als „Garanten von Recht und Freiheit" erhalten blieben. Zumindest die demokratischen unter ihnen.
Habermas' Vorschlag ist damit eine Ar t Kosmopolitismus light, der die Einteilung der Welt in nationale Entitäten nicht antastet. Auch die Beschränkung der Weltinnenpolitik auf Fragen der Frie
denssicherung und der Menschenrechte zielt in diese Richtung. Ganz so utopisch ist das Narrativ der globalen Konstitutionalisierung also vielleicht doch nicht. Und allem Defätismus zum Trotz: Was Europa betrifft, ist die Demokratie ohne Staatlichkeit ja wirklich ein denkbares Szenario. Hier liegt das Problem ja keineswegs in der fehlenden Homogenität , sondern in der Übermacht der Regierungschefs und der Missrepräsentation europäischer Anliegen in der Öffentlichkeit. Und in der allzu lange betriebenen Politik der Marktentgrenzung, wie man mit Blick auf die haarsträubende sozioökonomische Lage sagen muss. Die Vision einer transnationalen Demokratie, die auch den real existierenden Kapitalismus in seine Schranken weisen könnte, kommt da zur richtigen Zeit. Schade nur, dass Habermas diesem Aspekt des Themas nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet hat.
Markus Dressel
Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, edition suhrkamp, Berlin 2011,140 Seiten
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