Strahlenbelastung nach Reaktorstörfällen:
Tatsachen und Meinungen
Hansruedi VölkleProf. Dr. rer. nat.
Physikdepartement der Universität Freiburg -
Schweiz(früher KUER & BAG, Abt. Strahlenschutz)
FME, Aarau, Aarauerhof7. Juni 2012
UN I V ER S I T É DE FR I BOU RG / FACULT É DES SC IENCESUNIVERSITÄT FREIBURG / MATHEMATISCH-NATURWISSENSCHAFTLICHE FAKULTÄT
Inhalt:
-
Radioaktivitätsüberwachung in der Schweiz- Freisetzung bei einem Unfall- Ausbreitung der Radioaktivität-
Ermittlung der Strahlendosen
-
Radiologische Auswirkungen-
Vergleich Tschernobyl –
Fukushima
-
vorläufige Bewertung -
Wie weiter ?- (persönliche) Schlussfolgerungen
Fachtagung
2012 des Nuklearforum Schweiz31. Januar 2012, Congress Hotel Olten, Olten
UN I V ER S I T É DE FR I BOU RG / FACULT É DES SC IENCESUNIVERSITÄT FREIBURG / MATHEMATISCH-NATURWISSENSCHAFTLICHE FAKULTÄT
USA: tot=1030, a=215, u=815USSR: tot= 715, a=219, u=496UK: tot= 45, a= 21, u= 24France: tot= 210, a= 50, u=160China: tot= 45, a= 23, u= 22
Seit 1956 wird in der Schweiz die Radioaktivität überwacht
137Cs [Bq/m2]FalloutKernwaffenversuche 1945-1996
Grund:
Auswirkungen der Kernwaffenversuche der 60er-
und 70er-Jahre
1956:
Ernennung der KUER durch den Bundesrat
Auftrag:
kontinuierliche Überwachung und jährliche Berichterstattung
Überwachung:
Strahlung und Dosen, Luft, Niederschläge, Erdboden, Gras, Lebensmittel, Gewässer, Radioaktivität im menschlichen Körper, Luft in 8-15 km Höhe mit der Luftwaffe, natürliche Radioaktivität (Radon),
< 500 Bq/m2
500–1000 Bq/m2
1000–2000 Bq/m2
2000–3000 Bq/m2
3000–
4000 Bq/m2
4000–5000 Bq/m2
> 5000 Bq/m245 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95
später KKW, Industrie, Medizin, Forschung,…
Sammelgeräte für Aerosole (Boden und Luft) und Niederschläge
Sammlung von Proben in 10-15 kmmit Tiger F-5E/F der Schweizer ArmeeRegensammler
Aerosolsammler
Hochvolumen-Aerosolsammler
(ca. 600 m3/h)
Aerosolsammler
Filteraggregat
Bilder: BAG
In-situ
–
Gamma-Spektrometrie
Bild: BAG
Germanium-Detektormit Bleiabschirmung
Bild: BAG
Gamma-Spektrometrie
im Labor
Freisetzungsraten beim Unfall Tschernobyl:Edelgase (Kr, Xe):
100 %, Jod:
2/3, Caesium:
1/3, Strontium:
3%,
übrige Spaltprodukte: Ce, Ba, Ru, Mo, … : einige %, Transurane:
2 -
3%
Windgeschwindigkeit
Inversionshöhe
Submersion Immersion
Windgeschwindigkeit
ExterneBestrahlung
externeBestrahlung
Regen
Atmosphärische Turbulenz(Wetterlage)
KKW
Resuspension
trockeneAblagerung
Freisetzungs-höhe
thermischeErhöhung
In-halation
radioaktive Wolke (radioaktiver
Zerfall)
Freisetzung bei einem KKW-Unfall
Schutzwirkung HausQuelle: KomABCN
Expositionspfade Luft (links) und Wasser (rechts)
Quelle: Internet
Aufnahme:- Inhalation
[Bq/m3]
via
Atemluft [m3/Tag] Bq/Tag
- Ingestion
[Bq/kg]
via Trink-wasser
und Nahrung [kg/Tag]
Bq/Tag
Dosisfaktoren in StSV:einh
und eing
[Sv/Bq]
Welche Elemente und welcher Anteil geht in welches Organ
?
Wie schnell erfolgt die Aus-scheidung
? phys. (Tphys
) undbiologische Halbwertszeit (Tbiol
) effektive Halbwertszeit Teff
:
physbiol
physbioleff TT
TTT
Zur internen Strahlenexposition
(und Zähne)
Quelle: Internet
Strahlenrisiko-Faktoren der ICRP-103 von 2007 (und ICRP-60 von 1990)
(Quelle: ENSI)
137Cs-Kontamination in der Umgebung von Tschernobyl
1.E+02
1.E+03
1.E+04
1.E+05
1.E+06
< 1
1 -
2
2 -
3
3 -
4
4 -
5
5 -
10
10
- 20
20
- 30
30
- 40
40
- 50
50 -
100
00 -
200
> 2
00
0
100000
200000
300000
400000
500000
< 1
1 -
2
2 -
3
3 -
4
4 -
5
5 -
10
10
- 20
20
- 30
30
- 40
40
- 50
50
- 100
100
- 20
0
> 2
00
Belarus Russische Föderation Ukraine
Dosen und Kollektivdosender verschiedenen betroffenenPersonengruppen durch denReaktorunfall Tschernobyl(Quelle: UNSCEAR-Berichte
88-2008)
lineare Skala [mSv]
logarithmischeSkala [mSv]
(Mittlere
Dosis
ca. 30 mSv)
Geschätze
Radiologische Auswirkungen von Tschernobyl auf Europa (Quelle: IARC-Lyon: Briefing Document
April 2006)
Ablagerungen von 137Cs in kBq/m2
in der Schweiz nach dem
Reaktorunfall Tschernobyl
Quelle: BAG
Kontamination der Milch aus dem Kanton Tessin in Bq 137Cs pro Liter (aufgetragen sind Mittelwerte pro Intervall)
Jahr
Aufnahme von Caesium durch die Wurzeln
Fütterung im Winter mit kontaminiertem Heu,das im Mai 1986 geerntet wurde
Das Gras wurde direkt durch AblagerungAus der Luft mit Caesium kontaminiert
Bq/l Quelle: BAG
mSv
Mittlere zusätzliche Dosen der Schweizer Bevölkerung in mSv als Folgedes Reaktorunfalles
Tschernobyl für die Jahre 1986 und folgende
Jahr und folgende
intern extern
andere NuklideIod
Caesium
Quelle: BAG
mittleres Dosisintegral 1986 –
2000 u. folgende Jahrefür die Schweiz 0.5 mSv
(zum Vergleich: Bombenfallout 1.2 mSv)
Intere
Dosisexterne Dosis
1.E+08
1.E+09
1.E+10
1.E+11
1.E+12
1.E+13
1.E+14
1.E+15
1.E+16
1.E+17
1.E+18
1.E+19
1.E-
03
1.E-
02
1.E-
01
1.E+
00
1.E+
01
1.E+
02
1.E+
03
1.E+
04
1.E+
05
1.E+
06
1.E+
07
1.E+
08
Freisetzung in die Luft [Bq] aus Tschernobyl (rot) und aus Fukushima-Dai-ichi (blau)
Bq
1 Tag - 1 Woche - 1 Jahr
134Cs 137Cs
132Te
133I131I
133Xe
85Kr
HWZ [d]
129I
Freisetzung in die Luft [Bq] aus Tschernobyl(rot) und aus Fukushima-Dai-ichi
(blau)
ca. 10 Mal
Freisetzungsanteil bei Tschernobyl:Edelgase
100 %; Jod
2/3; Cs, Te
1/3; and. Spaltprodukte (Sr)
einige %; Aktiniden
≤
3%
Quellen: IRSN (F),GRS (D), Kurchatov
(RF)
Neue Zahlen Mai 2012:131I: 5x1017; 137Cs:1.4x1016
Quelle: ENSI
Kumulierte Ablagerung von 134Cs und 137Cs und daraus abgeleitete Strahlendosen (5 mSv, 10 mSv, 20 mSv) (Quelle: MEXT –
Japan)
Dosisleistung
[Sv/h] durch
Kontamination
der Umgebung
vonTschernobyl
(links) und
Fukushima (rechts) jeweils
etwa
einen
Monat
nach
dem
Unfall
(Quelle der Grafik: ENSI)
Vergleich: braune + rote + blaue + violette Flächen (Dosisleistung ≥
20 mSv/h):Tschernobyl: ca. 420 km2; Fukushima: ca. 43 km2
d.h. ca. 10%
Quelle: ENSI
Abschätzung der Verteilungder Ablagerungen von 137Cs aus der Luft auf
das Meer am 23. März 2011,In [Bq/m2] basierend auf
atmosphärischen Ausbreitungsrechungen
durch das IRSN (F)
Cäsium-137[ Bq/m2
]
Quelle: IRSN (F)
(Quelle: WHO/UNSCEARMai 2012)
(Quelle: WHO/UNSCEARMai 2012)
Messungen in der Luft ausserhalb Japans
Quelle: BAG & ENSI
2 G.O.
Maximale 137Cs-Werte inder Luft in der Schweiz
[Bq/m3](Quelle: KUER/BAG-Berichte)
Partikelgebundenes 131I in der Luft
1.E+01
1.E+02
1.E+03
1.E+04
1.E+05
1.E+06
1.E+07
Fallout, M
ai 19
76
Tsche
rnobyl, M
ai 19
86
Algecira
s, Ju
ni 199
8
Fukush
ima,
Mai 20
11 (B
odenluft)
Fukushim
a, Mai
2011
(auf 7
900m)
Zusammenfassung -
wie weiter ?
Eine Abschliessende Beurteilung
ist jetzt
noch nicht möglich
UNSCEAR
will auf Mai 2012/3
Bericht vorlegen: Quellterm & Zusammen-setzung, Ausbreitung (Luft & Wasser, Hotspots),
Expositionspfade und
Dosen (Worker
& Public), Auswirkungen auf Mensch & Umwelt (inkl. Food)
Vorläufige (sehr vorsichtige)
Beurteilung:
Quellterm:
1/10 von Tschernobyl;
stark kontaminierte Flächen:
1/10 von Tschernobyl;
ein beträchtlicher Teil der Freisetzung Richtung Meer;
Nuklide
etwa gleiche Tschernobyl: vor allem I und Cs (Sr, Pu nur wenig);
Kollektivdosen [Personen-Sievert]:Bevölkerung: TMI : Fukushima
: Tschernobyl
20 :
2‘000 :
200‘000
Mitarbeiter: Fukushima
: Tschernobyl
170 :
60‘000
rasch getroffenen
Massnahmen sehr wirksam: ( interne Dosen klein):
Evakuierung, Stay
Indoor, Food Restrictions, Schilddrüsendosis <50 mSv
Offene Fragen:
Psychische Auswirkungen
(PTSD, Evakuierung, Umsie-delung, Stress, ...), Evakuierte Gebiete
(Dekontaminieren, Rückkehr der
Bewohner), Anlagen
(Zustand, Dekontamination, Rückbau, Entsorgung, Sarkophag, in etwa 30 –
40 Jahren), Kosten, Entschädigungen, Lehren,
wie Glaubwürdigkeit
der Kernenergie wieder hergestellen, …
Eindrücke der Tagungs
des Fachverband für Strahlenschutz vom 8.-9.3.2012 in Mainz: «Ein Jahr nach Fukushima»
- Verhältnis zw. Wissenschaftlern und Journalisten zu dem Themen Strahlung,Radioaktivität sowie Gefahren und Nutzen der Kernenergie ist erheblich gestört;
- Journalist will kurze Aussage in max. 15 Sekunden;
- Wissenschaftler macht differenzierte Aussage: «…
aufgrund
der
heutigen
Kennt-nisse
kann
man sagen, dass
….. Man muss aber
berücksichtigen, dass
…
zu
die-
sem
und jendem
Punkt
können
wir
z.Z. noch
keine
Aussage
machen
….»;
- Begriffe
«Wahrscheinlichkeit»
und «Risiko»
werden
anders
interpretiert;,
- Grenzwerte
werden
falsch
verstanden: wenn
GW=100; 99 ungefährlich, 101 tödlich;
- Journalisten
suchen
sich
jene
«Experten»
aus, die ihnen
das
erzählen, was siehören
wollen, d.h. sie
in ihrer
vorgefassten
Meinung
bestätigen;
- Wissenschaftler
als
Vertreter
einer
Amststelle
oder
Organisation
darf
nicht
seine Meinung
sagen, sondern
die «offizielle»
Meinung
seiner
vorgesetzten
Stelle;
- Wenn
man z.B. sagt: «…
die verrosteten
Fässer
in Brunsbüttel
sind
zwar
eineSchweinerei
aber
für
die Bevölkerung
absolut
ungefährlich
…»
erhält
man als
Antwort: «…
eine
Schweinerei
ist
nicht
ungefährlich!»;
-
Häufig
steht
Sensationsmache
im
Vordergrund
und nicht
sachliche
Information.
Tschernobyl und Fukushima
wären mit vertretbarem Aufwand ver-
meidbar
gewesen (nur 2 m Unterschied zwischen Dai-ichi
und Daini
!)
gewaltiger weltweiter Imageschaden für die Kernenergie !
Kernenergie kann und soll aber weiterhin eine Rolle spielen
bei der
Energie-Versorgung (nicht überall, aber doch in vielen Ländern !)(s. «European Energy
Roadmap
2050»; BRICS-Staaten
und andere)
Forschung neue Reaktortypen nötig (inhärente Sicherheit, Th ?);
Ausbildung sicherstellen;
stellt
höchste Anforderungen im Bezug auf
Sicherheit & Sicherung:
Betrifft: Planung / Bau, Bewilligung / Aufsicht, Betrieb, Notfallschutz, Entsorgung / Rückbau
wer dies nicht erfüllen kann oder will, soll die Finger davon lassen
es braucht eine internationale Behörde (IAEA) nicht nur Agentur;
soll Sicherheitsstandards
vorgeben & Umsetzung
durchsetzen und
überprüfen können (Beispiel: Luftfahrt: ICAO vom 7.12.1944, Chicago);
soll als «Rating
Agentur»
schwarze
Liste erstellen.
Meine (persönlichen) Schlussfolgerungen
Anlagen
überprüfen (OSART), Empfehlungen umsetzen, Fristen;
Behörden
überprüfen (IRRS), Empfehlungen umsetzen, Fristen;
Umgebungsüberwachung
nach internationalen Standards durch
unabhängige und akkreditierte Messstellen, Berichte veröffentlichen,nationale Krebsregister für epidemiologische Untersuchungen;
Notfallschutz
nach internationalen Standards Notfallübungen,
Bewertung Expertenteams, Lehre daraus ziehen, CODIR-PA (F);
INES-Meldungen
von Ereignissen, auch wenn keine Auswirkungen auf
Mensch, Umwelt und Anlage (wie z.B. bei der Zivilluftfahrt);
Radiologische Auswirkungen
durch internat. Fachorganiganisationenbewerten lassen (IARC, UNSCEAR, RERF, IRPA, …).
INES: International Nuclear
Event ScaleOSART: Operational Safety Review Team (bisher
kein
OSART bei
Fukushima Dai-ichi); IRRS: Integrated Regulatory Review Service (bisher nur NISA; Empfehlungen nicht umgesetzt)(Dies sind alles Dienstleistungen der IAEA)
Länder, welche Kernenergie weiterhin nutzen wollen, sollten sich verpflichten
«Code of Conduct»
Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit !
UN I V ER S I T É DE FR I BOU RG / FACULT É DES SC IENCESUNIVERSITÄT FREIBURG / MATHEMATISCH-NATURWISSENSCHAFTLICHE FAKULTÄT
«Gas geben und Sparen»
(NZZ)