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SÜSSE TÜCHTIGKEIT Das Leben des Zuckerbäckers Otto Hürsch
erforscht und erzählt von seiner Urenkelin
JESSICA WILKER
Otto Hürsch hatte keinen einfachen Start ins Leben. Die Lebensumstände seiner
Eltern waren im Niedergang begriffen, als er am 21. Mai 1860 zur Welt kam. 1
Der Vater, Jakob Heinrich Hürsch2, von Beruf Kupferschmied
3, hatte als junger
Mann die Schmiede seines Vaters in Zofingen übernommen. Die Schmiede besass
einen weithin guten Ruf, und Jakob erhielt einen grossen Auftrag: die Fabrikation
sämtlicher Dampfkessel der neuen Bodenseeflotte. Um die Installationen zu
kontrollieren, quartierte sich Jakob in einem Hotel in Arbon ein. Die Tochter des
Hotelbesitzers gefiel ihm, er warb um sie, und 1841 fand die Hochzeit statt.4 Bald kam
das erste Kind, und die Familie vergrösserte sich stetig. Das Einkommen jedoch wuchs
nicht mit, und es wurde immer schwieriger die Kinderschar zu versorgen. Die
Schmiede verlor Kundschaft und Aufträge, teils durch die wirtschaftliche Lage bedingt,
teils durch Jakobs Trunksucht. Tragischerweise musste er die Schmiede verkaufen und
anderweitig Arbeit suchen. Seine Frau stemmte sich der Verarmung entgegen, doch
reichte das Geld, das sie als Marktfahrerin verdiente, nicht weit. Als Otto, das drittletzte
der 14 Kinder5, zur Welt kam, war sie genötigt, den Säugling wegzugeben.
Otto war erst drei Wochen alt, als er der Mutterbrust entrissen wurde. Nie herzte und
tröstete ihn seine eigene Mama, er verbrachte seine gesamte Kindheit bei fremden
Leuten.
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Allerdings hatte er Glück im Unglück: Das gängige Schicksal der Kinder, für deren
Unterhalt die Eltern nicht mehr aufkommen konnten, blieb ihm erspart. Er wurde
nicht als Verdingkind auf dem Verdingkindermarkt „verkauft“6 ; er musste weder für
seinen Lebensunterhalt arbeiten, noch wurde er ausgebeutet oder misshandelt. Ganz
im Gegenteil behandelten ihn seine Kostgeber verständnisvoll.
Otto verbrachte seine ersten fünf Lebensjahre bei einer Freundin der Mutter in Burg
bei Reinach (Kt. Aargau). Er mochte seine „Pflegemutter“ gut, noch als Erwachsener
würde er sie seine „Grossmama Merz“ nennen. Als Sechsjähriger kam Otto zu einem
Lehrerehepaar Weber in Menziken, einem benachbarten Dorf. Hier absolvierte er die
Primarschule.
Anschliessend wurde es ihm ermöglicht, die Sekundarschule zu besuchen. Otto war
ein besonders aufgeweckter Knabe, dessen Intelligenz und Lernwillen es zu fördern
lohnte. Es war zur damaligen Zeit nicht üblich, mittellosen Kindern eine höhere
Ausbildung zukommen zu lassen.
Die Finanzierung von Ottos Pflege und Schulung erfolgte teils durch seine
Heimatgemeinde Zofingen, - wahrscheinlich mit Beiträgen der Armenfürsorge- , teils
stammte sie aus einer anderen Quelle: Ein Onkel hatte Otto und seinen Geschwistern
sein Vermögen vermacht.
Onkel Robert, ein Bruder des Vaters, verstarb jung und unverheiratet. Er hatte in
Vevey sein eigenes Geschäft betrieben und war zu Wohlstand gekommen. Ich vermute,
er hat sich für die Kinder, deren Zukunftschancen sein Bruder aufs Spiel setzte,
verantwortlich gefühlt und sie darum zu seinen Erben ernannt.
Die Erbschaft erleichterte Ottos Los, und dank ihr verbrachte er seine Kindheit nicht
in tiefster Not. Trotzdem kam es ihn bitter an, bei fremden Leuten aufzuwachsen. Nie
würde er vergessen, wie es sich anfühlt arm zu sein, nie die schlimmen Folgen der
Trunksucht. Otto würde sich für die totale Alkohol-Abstinenz entscheiden und sich
für die Unterprivilegierten engagieren.
Die bitteren Erfahrungen seiner Kindheit prägten Otto, vermochten jedoch nicht, ihn
zu brechen oder zu entmutigen. Ganz im Gegenteil, sie spornten ihn dazu an,
erfolgreich zu werden.
Doch bis seine Anstrengungen Früchte trügen, hatte der junge Otto noch einiges
durchzustehen. Nach Beendung der Sekundarschule kehrte er, nun 15- oder 16-jährig,
in seine Familie zurück. Endlich! Doch welch ein Heimkommen. Seine Mutter lebte
nicht mehr; sie war mit erst 53 Jahren aus ihrem harten Leben verschieden. Sechs der
Geschwister waren ebenfalls verstorben; es war ihnen nicht vergönnt gewesen, mehr als
ein paar Jahre zu leben. Der Zustand des Vaters hatte sich nicht gebessert, und
entsprechend prekär war die finanzielle Lage der Familie.
Von Otto wurde verlangt, dass er eine Lehre als Telegrafist7 absolvierte – eine
Ausbildung, die nicht seinem Wunsch entsprach. Sachzwänge bestimmten diese Wahl -
eine Anstellung bei der Post garantierte ein sicheres Einkommen.
Das Postwesen in der Schweiz war soeben verstaatlicht worden und die
Telekommunikation entwickelte sich rasant. 1852 waren 2900 Telegramme übermittelt
worden, 1875 waren es drei Millionen. Die Nachfrage für Telegrafisten war
dementsprechend gross, und problemlos würde Otto nach seinem Lehrabschluss eine
Stelle finden.
Gehorsam machte Otto mit; er lernte Telegrafen zu bedienen und das
Morsealphabet auswendig, auch wenn ihn das Depeschenwesen langweilte. In der
3
Nähe seiner Geschwister zu sein entschädigte ihn, und er genoss die häufigen Besuche
bei seinem 19 Jahre älteren Bruder Heinrich und dessen Familie.
Nach Lehrabschluss nahm Otto sein Schicksal in die Hand und wendete es: Statt eine
Stelle im erlernten Beruf anzutreten, machte er sich auf die Suche nach einer neuen
Lehrstelle - als Zuckerbäcker. Endlich würde sein lang gehegter Berufswunsch in
Erfüllung gehen.
Dieser Schritt zeugt von Ottos Ambitionen: Es genügte ihm nicht, als kleiner
Angestellter sein Brot zu verdienen; es drängte ihn zu einem kreativen Beruf und
einem ehrbaren Gewerbe – und einem eigenen Geschäft!
Otto fand eine Lehrstelle in Chur bei Konditor Rieder. Ohne zu zögern verliess er
seinen Heimatkanton und zog in die Berglandschaft Graubündens. Drei Jahre lang
lernte er Torten backen und garnieren, übte er sich in der Herstellung von Pralinen,
Konfekt und Patisserie sowie in der Fabrikation von Speiseeis und Marzipan.
Natürlich widmete sich Otto nicht ausschliesslich süssen Kreationen - als Lehrling
musste er den Backofen einheizen, Backstube und Geräte sauber halten und dem
Meister stets zu Diensten stehen. Seine Arbeitsstunden waren lang und hart - die
Lehrverhältnisse waren kaum geregelt und fielen meist zu Ungunsten der Lehrlinge
aus. Doch Otto bewies Durchhaltevermögen und bestand nach absolvierter Lehrzeit
die Gesellenprüfung. Als junger Geselle begab er sich auf „Wanderschaft“8, wie es zu
jener Zeit Brauch war.
Auf der „Wanderschaft“ lernte ein Geselle neue Arbeitspraktiken und erweiterte
seine beruflichen Kenntnisse. Zudem gehörte sie zu den Voraussetzungen für die
Meisterprüfung. Und zweifellos wollte der junge Zuckerbäcker Otto ein Meister
werden!
Otto verpflichtete sich drei Jahre und einen Tag zu wandern, und in dieser Zeit einen
Bannkreis von fünfzig Kilometern um den Heimatort nicht zu betreten. Er zog in die
Westschweiz, nach Lausanne und Neuenburg, denn er wollte Französisch lernen. Dort
traf er fast ausschliesslich auf deutschsprachige Berufskollegen und wagte darum den
Schritt über die Grenze nach Frankreich. Otto wanderte nach Lyon, Moulins, Bourges
und kam schliesslich nach Paris. Hier, als einer unter hundert
Zuckerbäckerwandergesellen, fand er keine Arbeit, und so wandte er sich wieder der
Heimat zu. Zurück in der Schweiz führte Otto drei Jahre lang eine Konditorei, deren
Besitzer verstorben war. In dieser Zeit stellte er das Gesuch für die Zulassung zur
Meisterprüfung.
Voraussetzungen für eine Zulassung waren ein untadeliger Lebenswandel und der
Besitz eines Backofens. Für die Prüfung fertigte der Anwärter das sogenannte
Meisterstück an, das er den Zunftmeistern zur Beurteilung unterbreitete. Otto, nehme
ich an, bestand die Prüfung mit Bravour, war er doch ehrgeizig und besass eine
zuckerbäckerische Begabung.
Endlich ein Meister, wollte der aufstrebende Otto sein eigenes Geschäft gründen.
Aber das nötige Kapital dazu fehlte ihm, und er beschloss nach Amerika
auszuwandern, um es sich dort zu beschaffen.
Auszuwandern9 war damals für Schweizer üblich. Hunderte von Auswanderungs-
Agenturen bearbeiteten den Markt und boten in Zeitungsannoncen und auf
Flugblättern Transportleistungen zu minimalsten Tarifen an. Otto hätte sein Vorhaben
ohne Weiteres umsetzen können, seine Schwestern waren jedoch mit dem Plan des
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Bruders nicht einverstanden. Um ihn davon abzuhalten, offerierte ihm die älteste,
Emilie10, das nötige Startkapital zur Geschäftsgründung.
Dass Emilie ihr ganzes Erspartes opferte, ist nicht erstaunlich: Sie war die „gute Seele“
der Familie, die an die Stelle der zu jung verstorbenen Mutter getreten war, sich ihr
Leben lang um die Geschwister sorgte und den alten, blind gewordenen Vater bis zu
seinem Tod – 13 Jahre nach dem Ableben seiner Frau – betreute.
Otto nahm Emilies Angebot an und von nun an ging es nur noch aufwärts: 1887
gründete er seine eigene Firma mit Domizil an der Reichsgasse in Chur. Ein Jahr später
kaufte er den Betrieb seines ehemaligen Lehrmeisters Rieder am Casinoplatz. Das Ziel
war erreicht: Mit 28 Jahren besass Otto seine Confiserie!
Otto hätte sein Ziel aber nicht erreichen können, wäre er nicht verheiratet gewesen.
Sein Sohn Oskar erläutert dazu: „Zu diesem Zweck (Geschäfts-Kauf) musste er heiraten und er war froh, eine Freundin seiner Schwester Agnes zu finden und so
heiratete er 1887 Ida Müller“.11
Die Erklärung für den Zwang zur Heirat findet sich in den Vorschriften des Churer
Zunftwesen12
, die das Führen eines eigenen Betriebes ausschließlich verheirateten
Meistern gestatteten, mit der Begründung, ein Lehrmeister könne die erzieherischen
Pflichten gegenüber seinen Lehrlingen nur mithilfe seiner Gemahlin erfüllen.
Ging Otto eine reine Zweckehe ein? Wählte er seine Frau einzig um des Geschäftes
willen? Wieso hatte er bisher kein passendes Mädchen kennengelernt? Hatte er
während all seines tüchtigen Strebens dafür keine Zeit gehabt? Oder war er als
Wanderbursche etwa ein Schürzenjäger gewesen?
Nein - gemäss der Familienlegende hatte auf der Wanderschaft nicht Otto den
Mädchen nachgestellt, sondern sie ihm. Am hartnäckigsten umwarb ihn die Tochter
eines Arbeitgebers. Mit ihm als Gatten hätte sie den Betrieb des Vaters weiterführen
können. Auch dem Vater gefiel der tüchtige und zuverlässige Schweizer und er suchte,
ihn für die Heirat zu begeistern. Doch Otto widerstand – er wollte sich nicht in
Frankreich niederlassen, er wollte sein eigener Herr und Meister sein, und niemandem
verpflichtet.
Zurück in der Schweiz, das Wanderjahr hinter sich und das Leben eines
Geschäftsinhabers vor sich, war Otto bereit dazu, um eine Braut zu werben – um eine
von ihm auserwählte, das verstand sich von selbst. Seine Schwester Agnes, die in einer
psychiatrischen Institution arbeitete, machte ihn mit ihrer Arbeitskollegin, einer
Weissnäherin13
, bekannt.
Ida Müller, eine zierliche und ernsthafte Bauerntochter, war zu diesem Zeitpunkt 25–
jährig, aufgewachsen war sie in Wiliberg, einem Dorf in der Nähe von Zofingen14. Sie
gefiel Otto gut, und er zögerte nicht lange mit dem Heiratsantrag. 1887, im Jahr der
Firmengründung, fand die Hochzeit statt.
Ottos und Idas Ehe – mochte sie ursprünglich dem Zweck der Geschäftsgründung
gedient haben – wurzelte in gemeinsamer Zuneigung und war „eine glückliche Ehe“ 15
,
wie der Sohn Oskar bestätigt.
Die Eheleute ergänzten sich. Beide waren tüchtige und tätige Menschen, die an Fleiss
und Arbeitsamkeit glaubten, und die sich von Hindernissen nicht abschrecken liessen.
Die harmonische Natur ihrer Ehe spiegelte sich in den Früchten, die sie zusammen
ernteten: Ihr Geschäft wuchs und blühte; ihr Einkommen vermehrte sich. Ihre sechs
Kinder16 wuchsen in einem gesicherten Umfeld auf.
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Ida und Otto im mittleren Alter
Natürlich fielen die Früchte Otto und Ida nicht sogleich in den Schoss. Das frisch
vermählte Paar arbeitete hart und widmete sich voll und ganz dem Aufbau des
Geschäftes. Die Startmittel waren gering, oft konnten die Rohstoffe nur in geringen
Mengen eingekauft, und meist zu wenig Hilfskräfte angestellt werden. Die beiden
Eheleute legten Tag für Tag, von morgens bis abends, werktags wie Sonntags, Hand ans
Werk.
Mochte sie die Confiserie noch so sehr in Anspruch nehmen, ihre Elternpflichten
vernachlässigten sie deswegen nie. Otto und Ida boten ihren Kindern ein geordnetes
und förderndes Zuhause.
Otto und Ida mit ihren Söhnen
Von links nach rechts: Otto senior, Ida, Ernst, Max, Robert, Otto junior, Oskar,
6
Ida war eine gute Mutter, wenn auch von eher zurückhaltender Natur. Sie zeigte ihre
Liebe nicht überschwänglich, dennoch spürten die Kinder ihre Zuneigung. Ihr Sohn
Max, zum Beispiel, nannte sie „mein Mütterlein“ und schrieb in einem Brief an seine
Verlobte: „Weißt du, ihr Herz ist gross, wenn’s schon nur ein kleines Mütterlein ist“17
(Ida blieb ihr Leben lang von zierlicher Gestalt).
Otto war ein ausgesprochener Familienmensch. Was er von seinen Eltern nicht
bekommen hatte, kompensierte er bei seinen Kindern. Er nahm sie in Schutz und
erachtete es als seine Pflicht, sie nicht nur aufzuziehen, sondern auch zu fördern. Otto
ermunterte seine Söhne, etwas zu erreichen. Er ermöglichte ihre Ausbildung und
unterstützte sie finanziell bei der beruflichen Etablierung.
Der Vater Otto war grosszügig, doch seine Erziehung war autoritär und streng. Er verlangte von seinen Kindern Disziplin und absoluten Gehorsam. Sie hatten sich
jederzeit anständig zu benehmen, sich nützlich zu machen und seinen Prinzipien zu
folgen. Seinem Vorbild gemäss sollten sie Nächstenliebe üben und die Alkoholabstinenz einhalten.
Eine autoritäre Erziehung war Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Norm –
genauso wie Ottos Status als unumstrittenes Familienoberhaupt. Erst bei den folgenden
Generationen stiess sein patriarchalisches Verhalten auf Erstaunen – und Entrüstung!
Wie oft hat meine Mutter, voller Empörung, die „Spargelgeschichte“ erzählt! Otto und
seine Familie sassen um den Esstisch. Ein Sohn sprach das Tischgebet. Die Köchin stellte eine Schüssel voll dampfend heisser Spargeln auf den Tisch – ein kostbarer
Leckerbissen. Ida hob den Deckel, und Otto schnitt mit seinem Messer den Spargeln
die Spitzen ab, dort, wo das zarte Fleisch begann. Er legte die Spitzen auf seinen Teller und verteilte die harten, zähen Spargelenden auf die Teller der andern.
Für Ottos Familie war dies kein Grund zur Aufregung und selbstverständlich, dass
dem Papa das Beste ziemte.
Der Patriarch Otto war eine Respektsperson und eine imposante Erscheinung, wie
die folgenden Bilder bezeugen.
Otto vor seinem Ferienhäuschen, dem „Heimeli“
“
Otto im hohen Alter, mit silbernem Pfirsichstein an Uhrkette
7
Otto im hohen Alter, mit silbernen Pfirsichstein an der Uhrkette.
Otto regierte nicht nur über seine Familie, sondern auch über seine Gesellen. Doch
herrschte er wohlwollend. Er beutete niemanden aus und missbrauchte seine Macht
nicht. Seine Autorität war väterlicher Art, gütig und fair. Er war um das Wohlergehen
seiner Angestellten besorgt und behandelte sie achtungsvoll.
Ottos soziales Gewissen war ausgeprägt. Öffentlich setzte er sich für die Verbesserung
der Lage bedürftiger Lehrlinge ein. Beim „bündnerischen Hilfsverein für
Handwerkerlehrlinge“ engagierte er sich dafür, dass unbemittelte Jugendliche eine
solide berufliche Ausbildung erhielten, um damit später ihre eigene Existenz aufbauen
zu können. 40 Jahre lang war er im Hilfsverein aktiv18 ; beinahe ebenso lang wie im
Vorstand des „evangelischen Waisenhilfsverein“, den er mitbegründet hatte.
Otto half auch im privaten Bereich. Nach dem frühen Tod seiner Schwester Agnes
nahm er sich deren Tochter an, und das Mädchen wuchs wie ein eigenes Kind in der
Familie auf. 19
Otto war ein gutherziger Patriarch, kein tyrannischer – weder als Patron, noch als
Vater oder Ehemann. Seiner Frau zeugte er grossen Respekt20
und betrachtete sie als
gleichberechtigte Mitarbeiterin. Sie war die Autorität im Verkaufsladen. Hier, in ihrem
Reich, herrschte sie, hier war sie die Patronin.
Ida unterstanden die Ladentöchter, die sie mit der gleichen strengen Hand führte wie
ihr Ehemann seine Gesellen. Sie kümmerte sich darum, dass die Töchter höflich
behandelt wurden, und sich ihrerseits anständig benahmen. Keine Techtelmechtel
zwischen ihnen und den Lehrlingen in der Backstube wurden geduldet!
Ida war auch zuständig für die Bereiche des Einkaufs und des „Marketings“. Sie stand
an der Front und wusste, welche Produkte bei den Kunden Erfolg hatten. Sie
bestimmte, was und in welcher Menge produziert wurde, und gemeinsam mit Ehemann
Otto legte sie die Preise für die Produkte fest.
8
So hatten beide Eheleute ihren Verantwortungsbereich - Otto die Produktion, Ida
den Verkauf. Der gemeinsame Einsatz war notwendig, um mit Erfolg Backstube,
Confiserie, Verkaufsladen und „Tee-Raum“ zu führen. Freie Tage kannten sie nicht.
Am Wochenende kamen die meisten Kunden, und an den Feiertagen war die
Nachfrage für Gebäck besonders gross. Das Ehepaar war Tag für Tag im Betrieb tätig –
einzige Ausnahme war der Bettag, oder für Ida die letzten Tage der Schwangerschaft.
Auch die Kinder halfen in den arbeitsintensiven Zeiten mit, wie etwa an Weihnachten
oder Ostern. Sohn Max, zum Beispiel, hielt die Angestellten bei Laune, indem er
ihnen während der Arbeit aus den „guten Schriften“ vorlas.
Familie und Angestellte am Herstellen der Pfirsichsteine, Max liest vor
Es war typisch für Otto mit seiner philanthropischen Ader, aus diesen Schriften
vorlesen zu lassen. Die Bücher der 1898 in Basel gegründeten Organisation „Gute
Schriften“21 hatten den erschwinglichen Erwerb guter Literatur und die Bekämpfung
billiger Schundliteratur zum Ziel. Otto unterstützte diese Idee, er hielt seine Kinder
zum Lesen an und stellte eine Auswahl der Schriften in seinem Tee-Raum zur freien
Verfügung.
Mit der Verbreitung guter Literatur verwirklichte Otto eines seiner Ideale – einem
anderen musste er abschwören. Wollte er, zum Beispiel, seiner Kundschaft eine
klassische Kirschtorte anbieten, konnte er das nicht ohne die von ihm verpönten
Spirituosen. Zudem wurde in den Tee-Räumen – anders als heute – Wein
ausgeschenkt. Um konkurrenzfähig zu bleiben, sah sich der überzeugte Anhänger der
Abstinenzbewegung gezwungen, in seinem Betrieb Alkohol zu verkaufen.
Ganz widerstandslos gab Otto allerdings nicht nach. Eine lustige Anekdote22
illustriert
seine trotzige Haltung: Ein Kunde des Tee-Raumes beklagte sich lauthals, dass der
Wein nicht gut schmecke. Otto entschuldigte sich und brachte ihm den gleichen Wein
wieder, nur verlangte er jetzt mehr dafür. ‚Hier bitte’, sagte er, ‚unser bester Tropfen. Entsprechend teuer’. Der Kunde, geschmeichelt, lobte das Bouquet.....
Trotz solcher Vorkommnisse florierte das Geschäft und die Confiserie Hürsch
etablierte sich als eine der exklusiven Confiserien in Chur. Wahrscheinlich hatten
verschiedene Faktoren dazu beigetragen. Ihr Standort war bestimmt einer davon. Die
Stadt Chur zählte zur Zeit von Ottos Geschäftsgründung keine 10'000 Einwohner. Auf
9
der Transitachse zwischen Norditalien und Süddeutschland gelegen, profitierte sie von
dem stetig zunehmenden Durchgangsverkehr. Die Fremden auf der Durchfahrt liessen
sich gerne in Chur bewirten, und der Tourismus entwickelte sich zu einem neuen
Industriezweig.
Ohne Zweifel aber beruhte der Erfolg der Confiserie auch im Einfallsreichtum und
Talent ihres Inhabers. Bereits 1887 hatte Otto die „Bündner Pfirsichsteine“ kreiert, die
ihn weithin bekannt machten und zu einer der ältesten Bündner Spezialitäten würden.
Die „Pfirsichsteine“ waren (und sind) ein pikantes Marzipangebäck, das in der Form
eines Pfirsichsteins, in Handarbeit, hergestellt wurde. Es bestand aus Zucker, Mandeln
und Gewürzen. Welche Gewürze verwendet wurden, war geheim. Das Rezept wurde
von Otto streng gehütet. Wenn er die Mischung herstellte, mussten alle Angestellten
aus der Backstube verschwinden. Nur seinen Nachfolger weihte er in das Geheimnis
ein.
Otto war stolz auf seine Erfindung, für die er eine Schutzmarke eintragen liess.
Schutzmarke der Pfirsichsteine,
So stolz, dass er stets einen silbernen Pfirsichstein an seiner Uhrkette trug. Das
Schmuckstück baumelte, deutlich sichtbar, an seinem Bauch.
Otto liess es nicht bei dieser einen Erfindung bleiben. 1899 kreierte er den „Churer
Kuchen.“ Diese Torte bestand aus einem Haselnussbiscuit mit einer
Haselnussbuttercreme-Füllung unter einem Japonaisedeckel. „Auch sie erfreute sich wachsender Beliebtheit und machte den Namen der ‚Confiserie Hürsch’ im ganzen
Kanton und weit in der Schweiz herum und selbst im Ausland bestens bekannt“.23,
berichtete sein Sohn voller Stolz.
Im Verhältnis zu ihrem Bekanntheitsgrad expandierte die Confiserie. Nach einigen
Jahren im ersten Geschäft zogen Otto und Ida an die Untere Gasse. 1899 ging Ottos
sehnlicher Wunsch nach einem bleibenden Standort in Erfüllung. Er erwarb das Haus
„zum schwarzen Bären“ an der Unteren Gasse und baute es für seine Confiserie um.
Hier residierten von nun an der Hauptbetrieb und die Backstube.
Das „Haus zum Schwarzen Bären“ war ein stattliches, vierstöckiges Eckhaus in der
Churer Altstadt. Es war geräumig, und Otto brachte nicht nur die Backstube, den Tee-
Raum und den Verkaufsladen dort unter, sondern auch seine Familie. Sie bewohnte
die oberen Stockwerke, während die Lehrlinge und Lehrtöchter in den Dachkammern
hausten.
10
Das Haus zum Schwarzen Bären um 1900
Der Familienalltag im neuen Zuhause war angenehm – die folgende Fotografie belegt
dies. Über dem Tisch, an dem die Familie Hürsch versammelt ist, baumelt eine
Lampe. Sie beweist, dass Otto eine elektrische Beleuchtung installiert hatte. Ein Luxus!
Elektrizität gab es in Chur zwar schon seit 1892, sie diente aber hauptsächlich der
Strassenbeleuchtung. Die private Stromversorgung blieb lange ein Privileg
wohlhabender Bürger.
11
Das wohlhabende Ehepaar auf dem Bild konnte stolz sein auf ihre Söhne: Der junge
Mann mit Bart, der sich seinem Vater zuwendet, ist Robert, der zweitälteste Sohn,
wurde Gymnasiallehrer. Zwischen den Eltern steht Ernst, der Jüngste. Er wurde
Gärtnermeister. Max, der Zweitjüngste, steht unten am Tisch. Er absolvierte eine
Banklehre und wurde Zollbeamter. Der älteste Sohn, Otto, trägt die
Konditorenuniform – er ist in die Fussstapfen seines Vaters getreten und hat später den
Betrieb übernommen. Der fünfte Sohn, Oskar, der Theologie studierte und Redaktor
des „Landboten“ wurde, fehlt auf dem Bild. 24
Im „Haus zum Schwarzen Bären“ lebte die Familie im Alltag, zur Erholung zog sie
aufs Land- auf die Rüti bei Churwalden.25
Otto hatte hier etwas Land erstanden und
den Ziegenstall, der sich dort befand, in ein Chalet umbauen lassen.
In diesem Ferienhaus, dem „Heimeli“, verbrachten Otto, Ida und die Buben,
gemeinsam mit den Angestellten, jeweils den Bettag, den einzig geschäftsfreien Tag im
Jahr. „Jeder konnte noch einen lieben Freund mitnehmen“, beschrieb Sohn Max diese
Tage, „und man war gemütlich und fröhlich, spielte und sang.“26
In späteren Jahren konnten sich Otto und Ida mehr Zeit auf der Rüti gönnen, und
schliesslich wurde das „Heimeli“ zum Familientreffpunkt. Die Söhne kamen mit ihren
Familien in die Ferien und Neni und Nane, wie die beiden Grosseltern genannt
wurden, genossen manche freie Tage inmitten ihrer zahlreichen Enkelschar.
Otto und Ida vor dem „Heimeli“
Wer sich wie Otto ein grosses Stadthaus und ein Ferienhäuschen leisten konnte, war
gut situiert und geschäftlich auf Erfolgskurs. Trotzdem ruhte sich Otto nicht auf seinen
Lorbeeren aus. Er suchte einen neuen Absatzmarkt für seine Spezialitäten und
eröffnete in den aufblühenden Kurorten Bad Ragaz und Arosa je eine Filiale. Er führte
sie einige Jahre, gab sie dann aber „der allzu hohen Spesen und zu strenger
persönlicher Belastung wegen wieder auf und widmete sich umso intensiver dem ursprünglichen Betrieb.“ 27
In Chur expandierte Otto ebenfalls. 1912 eröffnete er eine
Filiale an der Postgasse, im Gebäude der neuen Kantonalbank. Damit hielt er Schritt
12
mit der Entwicklung der Stadt, in der sich die gute Geschäftslage aus der Enge der
Altstadt in die breiteren Strassen verlagerte.
Ich bin mir sicher, dass Ottos unermüdlicher Einsatz nichts mit krankhafter
Betriebsamkeit oder Geld- und Machtgier zu tun hatte. Er war von Natur aus ein tätiger
Mensch, ein Macher, ein „Anpacker“, ein aktiver Gestalter seiner Welt: Sah er etwas,
das es zu verbessern gab, packte er es an. Deutlich zeigt sich dies in seinem
Engagement für die Interessen der Zuckerbäcker. Sein Einsatz wird in seinem Nachruf 28 beschrieben: „Früh schon erkannte Otto Hürsch die Notwendigkeit und Bedeutung
einer starken gewerblichen Organisation im Graubünden, die Ende des 19.
Jahrhunderts noch in ihren Anfängen steckte. Er fand es oft bemühend, wie wenig Anerkennung dem Gewerbe entgegengebracht wurde und wie zurückhaltend Kredite
an Handwerker gewährt wurden. So hatte er an der Gründung des „bündnerischen
Gewerbeverbandes“ 1900/01 massgebenden Anteil. Nicht zuletzt war es seiner Beharrlichkeit und Energie zu verdanken, dass der kantonale Gewerbeverband
anfängliche Kinderkrankheiten überwand und sich zu einer stattlichen Organisation
entwickelte. Der Name Otto Hürsch bleibt aber insbesondere verbunden mit der Schaffung eines “ständigen Gewerbesekretariats“ in Chur im Jahre 1908, dessen
eigentlicher Urheber er war. Als unermüdlichem Förderer und Vorkämpfer
gewerblicher Interessen verliehen der Bündnerische und der Schweizerische Gewerbeverband ihm die Ehrenmitgliedschaft.
Zum Ehrenmitglied wurde er zudem vom zwei weiteren Verbänden ernannt: Otto
Hürsch hatte 1901 mit Gleichgesinnten die „Sektion Rätia“ des „Schweizerischen Konditor – Confiseurmeister Verbandes“
29 gegründet, die er während den ersten 20
Jahren präsidierte.
Als Verfechter gerechter Ansprüche und Forderungen des Gewerbes wurde Herr Hürsch auch in den Grossen Stadtrat gewählt, um dort die Interessen eben dieses
Standes zu verteidigen.“
Ganz der geschäftstüchtige Philanthrop setzte sich Otto für das Gewerbe, wie auch für
seinen eigenen Betrieb ein. Er zeigte Initiative und hatte die Fähigkeit, sich den
herrschenden Marktbedingungen anzupassen. Gerade in harten Zeiten war dies
überlebenswichtig.
Im Ersten Weltkrieg, als der Touristenstrom, der sich Sommer wie Winter durch
Chur ergossen hatte, versickerte, als keine wohlhabenden Ausländer mehr die
exklusiven Spezialitäten des Meisters Hürsch goutierten, vermochte Otto die Treue der
einheimischen Kundschaft zu halten. Nach mehr als 25 Jahren hatte er eine
beträchtliche Stammkundschaft, doch sie zu befriedigen war schwierig: Es mangelte an
Material für seine süssen Kreationen – Butter, Rahm, Eier, Zucker. Solche
Rohmaterialien waren knapp, rationiert oder teilweise gar nicht erhältlich. Ebenfalls
knapp waren die Arbeitskräfte in der Backstube: Die Gesellen im dienstfähigen Alter
wurden zum Aktivdienst eingezogen und die Zurückgebliebenen mussten wochenlang
die doppelte Arbeit leisten. Mit zäher Ausdauer, Flexibilität und Kreativität steuerte
Otto sein Geschäft durch die schwierige Zeit des Krieges.
Auch allen weiteren widrigen Umständen zum Trotz hielt Otto den Betrieb aufrecht,
und so konnte er nach drei Jahrzehnten seinem ältesten Sohn – der Zuckerbäcker war
und Otto hiess wie er – ein gut gehendes Geschäft übergeben.
Es geschah dies im Jahre 1922. Otto war 62 Jahre alt und hatte keine finanziellen
Sorgen. Seine Söhne hatten das Elternhaus verlassen, und er hätte sich zur Ruhe setzen
13
können. Doch dafür war er nicht geschaffen. Er, der Macher, blieb weiterhin im
Betrieb tätig. Er führte die Postgassen-Filiale nach wie vor selbst, dem Sohn überliess er
den Hauptbetrieb im „Schwarzen Bären“.
Otto arbeitete noch fünfzehn Jahre in seinem Beruf. 1937 war Jubiläumsjahr: 50
Jahre Confiserie Hürsch! 50 Jahre Ehe mit Ida! Mit einem grossen Fest wurden das
Geschäftsjubiläum und die goldene Hochzeit gefeiert.
Otto und Ida am Jubiläumsfest 1937
Von links nach rechts: Söhne Ernst, Max, Oskar, Otto, Robert
Otto war 77 jährig und hatte 50 Jahre seines Lebens der Confiserie gewidmet. Hatte
er nun genug? Würde er fortan lieber hinter dem Ofen sitzen und Pfeife schmauchen?
Ich kann mir meinen tüchtigen Ahnen kaum so vorstellen, bestimmt hat er seine Finger
bis zuletzt im Teig behalten!
Ottos Nachfahren bestätigen dies und beschreiben, wie es weiterging: „1940 übergab
der Gründer der Firma im hohen Alter von 80 Jahren das Geschäft an der Postgasse
seinem Sohn, blieb aber nach Möglichkeit immer noch im Betrieb tätig, bis er im Alter von 87 Jahren im Dezember 1947 ... zur ewigen Ruhe eingehen durfte.“ 30
Ich nehme an, Otto hat sich als zufriedener Mann in die ewige Ruhe begeben,
vermochte er doch eine stolze Bilanz zu ziehen: Er hatte die Not in der Welt ein wenig
gelindert, keine Feinde hinterlassen oder Schandtaten begangen. Lebenslang war ihm
eine loyale Frau zur Seite gestanden, und von seinen zehn Enkelkindern hatten fünf
studiert und die Doktorwürde erlangt. Zudem hinterliess er ein Lebenswerk und es war
ihm gegeben, dessen Fortgang mitzuerleben. Zu seinen Lebzeiten wuchs die dritte
14
Generation Zuckerbäcker heran, und Otto wusste, dass sein Enkel, Otto Nummer drei,
in seine Fussstapfen treten würde.
Nicht gewusst hingegen hat er, dass die Bündner Pfirsichsteine, fast 130 Jahre
nachdem ihm seine zuckerbäckerische Kreation gelang, sich immer noch verkaufen,
nach wie vor in Chur und in seinem Namen.31 Das hätte ihn bestimmt gefreut!
Drei Generationen der süssen Zunft: Otto 1, Otto 2 und Otto 3
Konnte Otto sein Leben auch in Ehren und Freuden beenden, blieb er am Schluss
doch nicht ganz von Leiden verschont. In seinen letzten Lebensjahren musste er den
Verlust seiner Gefährtin und Mitstreiterin Ida erdulden. Sie starb32 sechs Jahre vor ihm.
Ihr Tod hinterliess bei Otto eine grosse Lücke. In einem Brief33 klagte er: „Immer
wieder kommt mir zum Bewusstsein, wie viel ich verloren habe! Die liebe Gute fehlt
mir überall. Es ist einsam und kalt in meiner Stube, die Sonne ist untergegangen. Ich
15
gehe oft zum Friedhof, ans Grab, wo mein Liebstes ruht. Dann erfasst mich von
Neuem der Trennungsschmerz.“ Ich kann mir gut vorzustellen, dass Otto, der so viele Jahre Seite an Seite mit seiner
Frau gelebt und gearbeitet hat, am Schluss, als er krank daniederlag, nichts dagegen
einwendete, sich bald mit seiner Ida zu vereinen und an ihrer Seite endgültig zur Ruhe
zu kommen.
Anmerkungen 1 Für die Lebensgeschichte von Otto Hürsch stützte ich mich hauptsächlich auf die
folgenden Quellen:
- Chronik der Confiserie Hürsch, verfasst von Ottos Nachfolgern.
- Chronik der Familie Hürsch seit 1530, Kapitel: „Die Nachfahren von Jakob Heinrich
Hürsch“, verfasst von Ottos Sohn Oskar.
- Nachrufe in diversen Churer Zeitungen von 1947
- Interviews mit meinem Onkel Luzius Hürsch, der seinen Grossvater persönlich
erlebte. 2
Johann Heinrich Hürsch 1811-1885
3 Der Beruf des Kupferschmiedes: Herstellen von kupfernen Gefässen wie Kessel,
Pfannen, Töpfe für den Küchengebrauch oder für Fabriken. 4 Braut: Dorothea Studer: 1819-1872 5 Ottos Geschwister:
1. Johann Heinrich 1841-1916
2. Konrad Rudolf 1843 - stirbt 1845, 2-jährig.
3. Konrad Robert 1845 – stirbt 1865, 20-jährig.
4. Emilie 1846-1929
5. Emma Georgine 1847-1916
6. Lisette Katharine 1849- stirbt 1851, 2-jährig
7. Elise Katherina 1851-1920
8. Samuel Friedrich 1853-1923
9. Maria Agnes 1855 - stirbt 1895, 40-jährig
10. Otto 1856 – stirbt 1859, 3-jährig
11. Karl Emil 1858 –stirbt 1867, 9-jährig
12. Otto 1860-1947
13. Albert 1961 – stirbt im gleichen Jahr.
14. Anna Hermine 1863 - stirbt 1887, mit 24. Auch sie wird weggegeben und muss
die ersten Jahre bei fremden Leuten aufwachsen. 6
Verdingkinder in der Schweiz:
Von 1900 bis weit in das 20. Jahrhundert wurden in der Schweiz 100'000e Kinder
fremdplatziert, viele davon verdingt. Sie wurden von der Waisen- oder Armenbehörde
den Eltern weggenommen und gegen eine Entschädigung («Kostgeld») bei einer
Familie in Pflege gegeben. Meist waren dies Bauernfamilien, deren Motiv zur
Aufnahme der Kinder dem Bedarf an billigen Arbeitskräften entsprach.
Die Verdingkinder wurden Interessierten öffentlich feilgeboten. Bis zum Anfang
des 20. Jahrhunderts wurden sie auf einem Verdingmarkt versteigert und derjenigen Familie zugesprochen, die am wenigsten Kostgeld verlangte. Auf den Bauernhöfen
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war der Aufenthalt der Verdingkinder meist von Gewalt geprägt. Sie arbeiteten ohne
Lohn und Taschengeld, wurden misshandelt und erniedrigt. Heute kämpfen ehemalige
Opfer für eine Wiedergutmachung: http://www.wiedergutmachung.ch http://www.verdingkinder.ch/
7 Die Einführung des Telegrafen in der Schweiz:
Info zitiert aus Artikel von Guido Dietrich zu: Enrico Giacometti Die Einführung des Telegraphen in der Schweiz Mit besonderer Berücksichtigung von Graubünden,
Desertina-Verlag, Chur
„Was heute alltäglich und selbstverständlich ist, die Telekommunikation, hat mit der
drahtgebundenen Telegrafie vor gut 150 Jahren begonnen. 1852 wurde in der Schweiz
das erste - vom Staat erstellte und betriebene - Telegrafennetz eröffnet. Drei Jahre
zuvor war die Post eidgenössisch geworden und zwei Jahre zuvor der Franken
eingeführt. Bis zur Einführung des Telegrafen wurden Eilbotschaften auf kurze
Distanzen durch Boten übermittelt, auf lange durch Stafetten oder - falls vorhanden -
mit der Postkutsche. Vor allem die Wirtschaft drängte auf eine rasche Einführung der
Telegrafie in der Schweiz, da sie im umliegenden Ausland zum Teil bereits Realität war
und die Kaufmänner befürchteten, ins Hintertreffen zu geraten. Das Gesetz über die
Errichtung elektromagnetischer Telegrafen wurde 1851 innerhalb von 14 Tagen von
Ständerat und Nationalrat behandelt und verabschiedet, inklusive Diskussion über die
Verteilung der Kosten und Auseinandersetzung über die Frage, ob der Betrieb staatlich
oder privat geführt werden solle. Der Aufbau ging ebenso zügig voran, zeigte aber
einige Schwachstellen. So waren die Masten anfänglich zu dünn und zu kurz, um der
Schneelast in den Bergen Stand zu halten. Die Isolatoren aus Glas wurden von
Jugendlichen gerne mit Steinen beworfen und mussten regelmässig ersetzt werden.
Probleme gab es auch mit der Kompatibilität im grenzüberschreitenden Verkehr, da
nicht alle Länder dasselbe System einsetzten. Lösung war eine zeitgemässe Schnittstelle:
Das Telegramm wurde in einem System empfangen, decodiert und niedergeschrieben
und im anderen System vom Telegrafisten wieder eingegeben. Die
Telekommunikation erlebte eine stürmische Entwicklung. Während 1852 noch 2900
Telegramme übermittelt wurden, waren es 1875 bereits drei Millionen. Um den
Mehrverkehr bewältigen zu können, erlaubte die Telegrafendirektion 1869, auch
Frauen anzustellen. Seit 1858 war dank des Transatlantikkabels auch eine
Kommunikation mit den USA möglich. 1867 kostete jedes Wort aus der Schweiz nach
New York 13 Franken, 1886 noch Fr. 2.30. Im Inland ging der Verkehr seit 1890 mit
der Einführung des Telefons wieder zurück, wurde aber teilweise durch den
grenzüberschreitenden Verkehr kompensiert. Die Schweiz war wichtiges
Durchgangsland auch in der Telekommunikation.“ 8 Wanderschaft:
Info aus Wikipedia: Die Wanderjahre, auch als Walz, Tippelei oder
Gesellenwanderung bezeichnet, beziehen sich auf die Wanderschaft zünftiger Gesellen.
Sie umfassen die Zeit des Wanderns nach dem Abschluss der Lehrzeit. Die
Wanderschaft war seit dem Spätmittelalter bis zur beginnenden Industrialisierung eine
der Voraussetzungen für den Gesellen, die Prüfung zum Meister zu beginnen. Die
Gesellen sollten dabei vor allem neue Arbeitspraktiken und fremde Länder kennen
lernen, und Lebenserfahrung gewinnen.
Ein Handwerker, der sich auf dieser traditionellen Wanderschaft befand, wurde als
Fremdgeschriebener oder Fremder bezeichnet. Er musste einige Bedingungen erfüllen:
So durfte er in seiner Reisezeit einen Bannkreis von meist 50 km um seinen Heimatort
nicht betreten, auch nicht im Winter oder zu Feiertagen. Da Fremde oftmals auf die
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Unterstützung der Bevölkerung angewiesen waren (zum Beispiel bei der Suche nach
Arbeit oder einem Schlafplatz), hatten sie sich ehrbar zu verhalten, so dass ihre
Nachfolger ebenfalls gern gesehen wurden. Weiterhin mussten sie in der Öffentlichkeit
immer ihre Kluft tragen.
Kluft nennt man die Zunftkleidung oder Tracht des fremden Gesellen. Sie besteht
aus dem schwarzen Schlapphut, Zylinder oder Koks; der Staude, einem kragenlosen weißen Hemd; der Samt- oder Manchesterweste; den schwarzen Schuhen oder
Stiefeln. All sein Hab und Gut verstaute der wandernde Geselle aus der Schweiz im
„Felleisen“, dem Tornister der Armee. Die von den Wandergesellen traditionell getragenen Ohrringe dienten notfalls dazu, finanzielle Engpässe zu überbrücken. Das
silberne Gehänge an der Weste dagegen reichte aus, dem Gesellen im Todesfall ein
würdiges Begräbnis zu bezahlen. Hatte sich ein Geselle unehrenhaft verhalten, wurde er zum Schlitzohr gemacht: Der Ohrring wurde ihm ausgerissen. 9 Auswanderungen:
Von 1817 bis 1900 wanderten insgesamt eine Viertel Million Schweizer aus. Viele
Auswanderer kamen aus strukturschwachen Gebieten wie dem Tessin, Graubünden,
Oberwallis und aus dem Berner Oberland.
Ziele waren die USA (83 %), Argentinien (11 %), Kanada (4 %), Brasilien (2 %). 1817
dauerte die Überfahrt nach Amerika mit Segelschiffen 30 - 60 Tage, Krankheiten wie
Skorbut, Typhus, Blattern und Pocken forderten zahlreiche Opfer. In den Jahren
1882/83 erreichte die Auswanderung aus der Schweiz mit rund 13'500 Personen einen
Höhepunkt. Die Überfahrt mit Dampfschiffen dauerte nun nur noch 8 Tage. Meist
wohnten die Schweizer in Siedlungen mit Namen wie "New Glarus" und pflegten in
Schweizervereinen ihre Lebensart.
Die Auswanderungsfreudigkeit hatte zu Folge, das in den 1850er Jahren die ersten
Auswanderungsagenturen gegründet wurden. Bis zum Ende des Jahrhunderts
entwickelten sich diese zu einem umsatzstarken Wirtschaftszweig. Einzelne Reisebüros
und Speditionsfirmen unserer Zeit haben ihre Wurzeln im ehemaligen
Auswanderungswesen.
Die Auswanderungsagenturen ermunterten Auswanderungswillige, weitere
Lockungen gingen von bereits emigrierten Schweizern aus. Nicht zuletzt wirkten auch
die Verbesserungen der Transportmöglichkeiten stimulierend.
Aufforderungen zur Auswanderung stiessen jedoch bloss dann auf offene Ohren, wenn
die persönlichen wie sozio-ökonomischen Voraussetzungen gegeben waren.
Auswanderungsursachen lagen in Konflikten familiärer, politischer und konfessioneller
Natur. Gewisse Auswanderer kehrten der Schweiz für immer den Rücken, doch gab es
auch das Phänomen der Rückwanderung, wobei Misserfolg oder Erfolg zur Heimkehr
führen konnten. Oft kehrten reichgewordene Emigranten ins Heimattal zurück und
belebten mit ihrem Reichtum die karge Region.
Ottos ältester Bruder war 1880 den Lockrufen gefolgt. Er hatte seine Familie
zurückgelassen und war nach Kalifornien ausgewandert, wo er 10 Jahre als Disponent
bei den „South Pacific Railways“ arbeitete, bis er wieder zu seiner Frau und den Kindern zurückehrte. 10 Emilie arbeitete als Krankenschwester und heiratete nie. Otto hielt grosse Stücke auf
seine tüchtige, energievolle und intelligente Schwester. Die beiden mochten sich gut. 11 Aus: Oskar Hürsch, „Die Nachfahren von Jakob Heinrich Hürsch“ 12 S.20 in: „Begründung des Churer Zunftregimentes“. Dr. Mathis Berger, Hrsg. Stadt
Chur, 1979
18
13 Der Beruf der Weißnäherin:
Weißnäherinnen stellten sämtliche „Weißwäsche“ her, wozu die Tisch-, Bett- und
Leibwäsche gehört. Angestellt waren sie in Betrieben und Wäschefabriken, oder sie
nähten selbstständig für private Kundinnen. Gegen Kost und Logis, sowie einen
geringen Lohn, besserten sie Kleidung aus, bestickten Wäsche, nähten neue Wäsche
oder die gesamte Aussteuer für die Töchter. Eine Brautausstattung um 1900 konnte
rund einen Viertel des Jahreseinkommens eines mittleren Hofes ausmachen und hatte
eine grosse Bedeutung. Die Weissnäherin half Bettwäsche, Tischdecken, Handtücher,
Topflappen, Kleinkinderwäsche und Leibwäsche der Braut zu nähen. 14
Mehr als dass Ida zwei Brüder hatte, die beide Volksmusik spielten, ist leider über
ihre Herkunft und Jugend nicht bekannt. 15 Aus: Oskar Hürsch, „Die Nachfahren von Jakob Heinrich Hürsch“ 16 Die Kinder von Ida und Otto:
Otto 1888 - 1974 Zuckerbäcker, Nachfolger
Emilie 1889 –1894 Stirbt 5- jährig an Diphtherie.
Robert 1890 – 1986 Studiert Germanistik, wird Gymnasiallehrer.
Oskar 1892 – 1979 Studiert Theologie, wird Redaktor des „Winterthurer
Landboten.“
Max 1893 – 1967 Banklehre, wird Zollbeamter und mein Grossvater.
Ernst 1899 – ca. 1984 Gärtnerlehre, wird Gärtner. Pflegekind: Agnes Probst. (Ottos Nichte, Tochter der Schwester Agnes)
Heiratet Sohn Ernst 17 Aus Brief von Max Hürsch an Julie Kupli, 2.10.1918 18 Otto war von 1901- 1941 im „Bündnerischen Hilfsverein für Handwerkslehrlinge“
tätig und präsidierte ihn von 1917 – 1921 19 Zur Aufnahme von Agnes kam es folgendermassen: Agnes, eine Schwester von
Otto und die Freundin von Ida, hatte 1886 einen Kollegen geheiratet, den Krankenpfleger Gottfried Probst. Drei Kinder entsprangen dieser Ehe. Doch als Agnes 1896 an Tuberkulose starb, konnte der Vater, ein grober Mensch, die Kinder
nicht alleine aufziehen. Otto und Ida nahmen sie bei sich auf. Als sich Gottfried Probst erneut verheiratete, nahm er seine zwei Buben wieder zu sich, das Mädchen
Agnes jedoch blieb in Chur und wuchs wie eine eigene Tochter im Schoss der Familie Hürsch auf. 20 Ein Zeichen seines Respekts – so vermute ich – ist die Tatsache, dass Otto Idas
Mädchennamen trug: Er nannte sich Hürsch Müller. 21 Gute Schriften: „Gute Schriften“ war eine Heftreihe des Vereins, die als Gegenstück zu den billigen
„Schund- Heften“ diente. Zweck war die Förderung und Verbreitung guter Literatur in
preisgünstigen Ausgaben. Neben Klassikern wie Gottfried Keller oder Conrad
Ferdinand Meyer erschienen Kurzgeschichten von deutschen, englischen und
russischen Schriftstellern, sowie die Werke der Schweizer Jugendschriftstellerin
Johanna Spyri. 22 Erzählt von Luzius Hürsch. 23 Aus: „Chronik der Confiserie Hürsch“
24 Die Tatsache, dass Otto in seinen privaten Gemächern elektrisches Licht installiert
hat, lässt spekulieren, dass er sich in der Backstube ebenfalls neue elektrische Geräte
geleistet hatte. Das auf dem Foto abgelichtete Mädchen links am Tisch, und der vor
Max sitzende Knabe sind wahrscheinlich Angestellte. Auf dem Bild fehlt die einzige
Tochter des Paares, Emilie, die, zum grossen Kummer Idas, mit fünf Jahren verstarb.
19
25 Die Rüti liegt etwas außerhalb des Dorfes Churwalden. Dieses befindet sich auf
1229m, 10km von Chur entfernt. 26 Aus: Brief von Max Hürsch an Julie Kupli, 14.09.1918 27 Aus: „Chronik der Confiserie Hürsch“ 28 Aus: Nachruf in Churer Zeitung, 1947. 29 Unterlagen zum „Schweizerischen Konditor -Confiseurmeisterverband, Sektion
Rätia“ von 1891-2003, finden sich im Staatsarchiv Graubünden (ASpIII/14t) Neben
Gründungsurkunde, Mitgliederverzeichnissen und Nachrufen wird hier auch
Fotomaterial, wie zum Beispiel die älteste Foto des Verbandes mit Initiant der
Gründung Otto Hürsch (ASpIII/14t 03-001) aufbewahrt. 30 Aus: „Chronik der Confiserie Hürsch“ 31 Arthur Bühler, Inhaber der Churer „Zuckerbäckerei Bühler“ am Obertor in Chur,
erwarb das Originalrezept von den Erben und bietet die Pfirsichsteine nach wie vor
zum Verkauf an. Siehe
http://www.churermagazin.ch/pages/archive/201212/pfirsichsteine.pdf 32 1941 stirbt Ida 79jährig am Versagen ihrer Nieren. 33 Brief an Sohn Max vom 24.4.1941