8/2/2019 Siewerth Die Freiheit Und Das Gute
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GUSTAV SIEWERTHwww.gustav-siewerth.de
DIE FREIHEIT UND DASGUTE
TRIALOGO VerlagD-78421 Konstanz
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I. EINFÜHRENDE ERWÄGUNGEN
a) Das transzendentale Wesen des Guten und seine Geschichtlichkeit
1.
Nicolai Hartmann sagt in seiner „Ethik“: „Wir wissen noch nicht, was das Gute ist; weder die positive
Moral weiß es, noch die philosophische Ethik. Man muß erst danach suchen; ja man muß für dieses
Suchen erst noch einen Weg finden.“
Wenn das der Fall ist, dann stünde die Abhandlung dieses Buches in einem sehr hohen Anspruch und
einer nicht minderen Gefahr.
Der Anspruch ist schlicht der, daß hier das Gute in seinem Wesen und seinem Wesen gemäß zur
Aussage kommt, und zwar durchaus im Wissen um seine Verborgenheit in der Geschichte des
Denkens.
Dieser Verborgenheit entspricht die Helle seines unmittelbaren und vermittelten Anwesens in allem,
was im menschlichen Dasein und in aller Wirklichkeit für uns lichtet. Es kann keinen unverdorbenen
Menschen geben, der nicht irgendwie weiß, was das Gute ist; in dem es nicht von seinem Wesen her
waltet und seine Zielwahl, seine Entscheidungen, seine Handlungen auflichtete. In diesem Lichten
zeigt es sich im Gewissensgrunde selber an, so daß mit dem Wort „das Gute“ von jedem Menschenetwas verstanden wird, das alles Gute gutmacht, das alles Streben und Handeln, ja das menschliche
Existieren wesenhaft bestimmt und erhellt. Und immer ist mit seinem „Sinn“ auch sein göttliches
Geheimnis, ein Höchstes und Letztes, ein Unübersteigbares und Allgemeines, ein Unumgängliches
und Bindendes jedem Herzen offenbar und nahe.
Dieser Offenbarkeit und Nähe gemäß trat das Gute von Anbeginn ins menschliche Wort wie ins
Denken. Hier aber teilt es mit dem Sein und dem Wahren nicht nur das Bedrängende einer ersten und
ursprünglichen Frage, nicht nur die transzendentale Allgemeinheit, auf Grund der es alles Wirkliche
durchwaltet, die unübersteigbare Helle eines Unmittelbaren und Selbstverständlichen, sondernzugleich eine beirrende Unfaßlichkeit, eine bewegte Vielseitigkeit und abgründige Verborgenheit.
Seine Offenbarkeit selbst ist es, die das Denken an die jeweilige Besonderung, an der es hell
aufstrahlt, verweist; sein Gewicht und sein Ernst drängen die Sorge um das Gute auf die Strenge
seines Geheißes oder das Bedrohliche seiner Gefährdung; das Umstrittene seiner Verwirklichung, ja
das Unheil seines drohenden Verlustes, die tödliche Schmach, das Unwiderrufliche seiner Verfehlung,
bannen den Blick auf das Vermögen zum Guten, auf die Tugend und Tüchtigkeit zu wirksamer und
guter Handlung; seine geheimnisreiche Tiefe und durchwaltende Allgemeinheit verleiten, seine Nähe
und Anwesenheit zu überspringen und im Fernen transzendenter Gesetze, Ideale oder des göttlichen
Grundes das „Gute an sich selbst“ zu suchen.
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2.
Vergleichen wir das Gute mit dem Sein des Seienden und dem Wahren, so teilt es mit dem letzten die
Eigentümlichkeit, durch eine „Beziehung auf ein Subjekt“ und deshalb durch verschiedene, wenn
nicht entgegengesetzte Wesenheiten und ihren Einklang bestimmt zu sein. Da diese Wesenheiten (das
selbstbewußte Denken als „res cogitans“ oder als das freie, spontane geistige Streben einerseits und
die Dinge oder Güter der Welt anderseits) aber von Grund aus verschieden scheinen, so drängt das
Denken dahin, die unvereinbare Differenz zugunsten einer Seite aufzuheben. Wie daher das Wahrsein
entweder von den Erscheinungen der Dinge oder von den apriorischen Bewußtseinsnormen des
denkenden Subjektes her gedeutet und begründet wurde, so wurde auch das Gute bald im Nutzen und
der Brauchbarkeit der Dingwelt, die dem Menschen Genuß und Leben schenken (Utilitarismus), bald
und entschiedener im Streben und der Tätigkeit des Menschen verwurzelt und von dorther in seinem
Wesen verstanden. Das Gute erschien solchermaßen als das „Tugendliche“ der menschlichen
Wirksamkeit und seines Trägers, als das Maß und die innere Ordnung seiner Vermögen und
Handlungen, als die Disposition und Sammlung seiner Kräfte, als „die höchste, durch sich selbst
erfüllte und in sich befriedete Tätigkeit des Geistes“, als der unbedürftige, enthaltsame,
unerschütterbare und unzerstörbare Selbstbesitz oder als die „Selbstgenügsamkeit“ des Menschen (die
apatheia und autarkeia der Stoiker), als das „Naturgemäße“, in welchem die ursprünglichen
Lebenskräfte in der ihr gemäßen Ordnung zu freier und gelöster Entfaltung kommen. So aber ist das
Gute die innere Selbstvollendung und Selbstbefriedung zugleich, das Glück und die Heiterkeit des in
sich gesicherten und aus seinen Naturgründen zu sich selbst heraufgehenden Geistes. Sofern aber
Glück und Vollendung des einzelnen nicht sein können ohne die der Mitmenschen, so enthält diese
Vollendung des guten Menschen auch den Hinblick auf das Gute aller anderen. So aber ist das Gute
nicht zu trennen von der „Erkenntnis“ oder der „Wahrheit“, vom „Ausgleich“ und der „Gerechtigkeit“;
ja es besteht letztlich in der Mitbegründung der Wohlfahrt aller Menschen, in der Erfüllung der
Gesetze des Kosmos und in der Harmonie aller Teile der Welt.Damit aber verschiebt sich der Akzent vom „Subjekt“ und seiner Tugend auf das „allgemeine Gesetz“,
das den einzelnen in sein Geheiß und seine Bindung nimmt. Dieses Geheiß erzwingt die Frage, aus
welchem Grunde her dieses Allgemeine und Verpflichtende waltet und seinen Anspruch über die
Geister und Herzen an sich trägt. Ist das Gute die Wesensordnung der Wirklichkeit selbst, also der
Ausdruck der sich aus seinen Gründen her entfaltenden Wirklichkeit, oder ist es mehr als diese, da es
ja offenbar alle wirklichen Wesen aus ihrem verfallenen und ungeordneten Trachten erst in ein
Wesenhaftes und Gutes ruft? Ist es dem jeweils Besonderen und Einzelnen nicht sogar völlig
transzendent, da es ja alles Vereinzelte in den Dienst und das Opfer um des Ganzen und Göttlichenwillen stellt?
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3.
Vergleicht man nun dieses Gute mit dem Sein des Seienden, so hat es zwar mit diesem die
Allgemeinheit, das Gründende, das Durchwaltende und Einige gemeinsam, es erscheint aber zugleich
in einem geheimnisvoll gegensätzlichen Wesen. Es scheint irgendwie transzendentaler als das Sein des
Seienden, sofern es „epekeina tes ousias“, d. h. im Verhältnis zum Anwesen und Wirklichen des Seins
„jenseitig“ waltet; zugleich aber umfaßt es das Streben, das in seiner Bedürftigkeit und Unerfülltheit
als noch unwirklich und unverwirklicht sich darbietet. Also scheint das Gute dasjenige zu sein, auf das
alles Seiende erst hin ist, das es strebend sich gegenüber und außer sich hat. Indem das Gute das
„Jenseitige“ und das „Nichtseiende“ einschließt, ist es das Transzendentale schlichthin. Sofern es aber
alles Seiende erst zu sich selbst bringt und auf sich hin formiert und eröffnet zugleich, ist es notwendig
seiender als das Seiende und so das „seinshafte Sein“ oder das eigentliche „Sein des Seienden“.
Wird es aber als Sein gedacht, so ist es kraft dessen unübersteigbarer Wirklichkeit und seiner eigenen
nicht tilgbaren Vollkommenheit die waltende, in sich selbst vollendete Gottheit, der Licht- und
Lebensgrund alles Wirklichen, an dem alles teilhat und auf den hin alles begeistet und bewegt ist. Als
dieses göttliche Wesen aber ist es notwendig das Anteilgebende; es ist das „diffusivum sui“, der
unerschöpfliche, unbedürftige Quellgrund, dessen schenkende Huld das Gute nicht nur gewährt,
sondern als Gewähren ihm das Wesen gibt.
Aber dieses Gewähren wie die vollendete Einfalt des Guten in einer seligen Gottheit entzieht sich
zugleich ins Unfaßliche und Unerschwingliche der Transzendenz. Es verblaßt für den heidnischen
Menschen im Ungenügen der Mitteilung göttlichen Lebens. So aber verlagert sich wiederum der
Akzent auf das Streben des Menschen und in die vermittelnde Erscheinung des Guten im intelligiblen
Vernehmen im Raum der endlichen Teilhabe. Das Gute erscheint im hochgemuten Streben des Eros,
der, vom Schönen angemutet und erweckt, zum einigen Grunde des Seins wie „in das offene Meer des
Schönen“ sich strebend bewegt. So aber ist es mögende Liebe, die nur ins Einige aufsteigt, sofern sie
liebend einigt, und in der Empfängnis vermögend wird zu „zeugender“ Erweckung und Begeistung(Platon).
Solchermaßen ist das Gute zugleich das Geschick einer kundig-unkundigen Aus- und Auffahrt, dessen
letzte Erfüllung nicht in der Macht des Strebenden steht und ihn zugleich ins Einsame und Unsagbare
entzieht. Was im allgemeinen Menschenraum lichtet und waltet, ist ein Geheiß und nur ein
Widerschein, dessen Sicht jenseits aller Wirklichkeit sich eröffnet und in eins verschattet. So aber
erscheint es als transzendente intelligible idea, von der her alles Gute ins Gutsein aufgelichtet und
aufgeweckt ist, aber ohne daß es als göttliche Energeia unmittelbar in die Lebensakte des Menschen
vollendet und vollendend einströmte. Es ist ein transzendentes, wesendes Ziel, „das Erstrebbare“schlichthin, das sich als Gutes dadurch ausweist, daß „alle es erstreben“ oder erstreben sollten. So aber
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ist es Gesetz und Geheiß, erweckendes, einforderndes Walten, dessen zwingende Lebens- und
Wirklichkeitstiefe sich im Unfaßbaren verschweigt und das sich aus ihm formierende Streben in
Geschick, Versuchung und Schuld einer göttlichen Ferne und Verweigerung verstrickt.
Aus dieser Erhellung ergibt sich, daß das Gute als das Einige und Vollendete der strebenden und
austeilenden Liebe im Geschick der Endlichkeit und im Heillosen des Daseins sich in seiner
Offenbarkeit zugleich verbirgt. Je mehr es als Idee, als Ziel, als das Einige und Göttliche lichtet, je
unerbittlicher es fordert, je tiefer es begeistet, je allgemeiner es waltet, um so mehr bringt es zugleich
seine Unerschwinglichkeit in einem sein Wesen verhüllenden, ja verstörenden Sinn zutage, weil es die
letzte Heillosigkeit und Verschuldung als unumgänglich und unaufhebbar aufbrechen läßt.
Wollte man daher das Gute in seinem Wesen sagen, so müßte der Denkende und Sagende entweder
sich mit einem Vordergründigen und Allgemeinen, mit den Gestalten des Menschenmöglichen oder
des Unumgänglichen und Notwendigen Genüge sein lassen (womit er sich in die Gefahr der
Verstellung und Verkürzung begibt), oder aber er müßte im Geschick einer göttlichen Heilsmitteilung
das Gute als das Heile und Heilige enthüllen. So aber wird deutlich, daß wir vom Guten in seinem
eigentlichen Wesen nur „theologisch“ sprechen können, d. h. aus der denkenden Durchdringung
dessen, was sich von Gott her als Einigung der Liebe geschichtlich ereignete und als währendes
Ereignis waltet. Nur wenn das Gute in seiner Vollendung offenbar ist, wenn die „Kugel des Seins des
Seienden“ sich im Innig-Einigen der strebenden und gewährenden Liebe wie in einem göttlichen
Herzraum zentrierte und alles in ihm versammelte, lassen sich alle genannten Weisen des Guten aus
der einigen Energeia des Seins selbst her verstehen; nur so kann ihr Gewicht, ihr Anteil und ihr Bezug
streng und wesenhaft aufgelichtet und der Reichtum aller Gestalten ohne Beirrung und Verfälschung
im Wesensreich des Guten geordnet versammelt werden.
b) Wesen und Form der Abhandlung
Damit ist das Kennzeichnende dieser Erörterung zureichend verdeutlicht. Sie nimmt alle
Grundgestalten des Guten auf, die philosophisch erlichtet wurden, und übersteigt sie sinnerfüllend,
begrenzend und einfügend ins Mysterium der gottmenschlichen Liebe. Darin versucht sie zugleich ein
Anliegen zu erfüllen, das im Verlust der wahrhaft spekulativen und transzendentalen Denk- und
Sageweise zugunsten eines abstrakten Begriffsrationalismus seit Jahrhunderten unerfüllt blieb. Sie
denkt als metaphysischer Vollzug im seinsdurchlichteten Wort der thomistischen Metaphysik und
Theologie, dessen summarische und rationale Mannigfaltigkeit sie auf jene spekulative Einigung hin
verdichtet, aus welcher der Aquinate mit der Hellsicht des Genius spricht, die er in ihren
metaphysischen Grundzügen umschrieb, ohne sie freilich ins Licht und Feuer der höchsten möglichen
spekulativen Reflexion und Durchdringung zu bringen.
Im Versuch solcher durchdringenden Einigung des Mannigfaltigen und Unterschiedenen, das bei
Thomas in rationaler Fügung durchklärt, geordnet und durchmessen, dessen geschichtliches
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Auseinandertreten in seinem Denken spekulativ aufgehoben ist, nähert sich das Denken und Sagen
dem Gesammelten und Eingehüllt-Innigen des Ursprungs. Dieser Ursprung liege notwendig, soll nicht
das Unheil älter sein als das Heil, behütet im heimatlichen Grunde des Seins, in der „schönkugeligen
Wahrheit nicht erzitternden Herzens“ (Parmenides), in der mögend-vermögenden an sich haltenden
Liebe, aus welcher das Dasein noch nicht durch scheidende, aufspaltende Entschiedenheit ins Ein- und
Abseitige des Seienden und des Teilhaften infolge unvermögender, angstverstörter Abkehr entwich.
Aus diesem Ursprung aber waltet das nur vom Transzendentalen des Seins und der Wahrheit
aufhellbare Geheimnis der Sprache und des Wortes, deren „spiegelnd schwingende“1,
allversammelnde, ins Einige weisende Tiefe, deren „bildendentbildendes, einschmelzendes Feuer“2,
deren vermögende Mächtigkeit und haltgebendes, einweisendes Geleit ein Vermächtnis des Ursprungs
und der Erfahrung aus der unverschatteten Helle des Seins bedeuten. Sind daher aus Gottes
Lebensmitteilung und Geistausgießung im Guten alle Gestalten des Daseins aus ihrer wesenswidrigen
Besonderung, aus der Verstiegenheit und Verlorenheit des Abstrakten und Abgelösten, d. h. aus ihrer
geist- und seinswidrigen Absolutheit, erlöst und ins Einige der gewährend-empfangenden Liebe
gelöst, so verliert auch das spekulative Wort das Spröde und Sperrende der rationalen, definitorischen
Abgrenzung; es verläßt die Trockenheit und Kälte der terminologisch abstrakten Begriffsverhärtung
und Begriffsverkümmerung, die jeder Lehrbetrieb aus dem Zwang der rationalen Mitteilung und der
„logischen“ Ordnung der aufgereihten Aussagen notwendig erzeugt. Im Unbegrifflichen und
Undefinierbaren des Seins, des Wahren und des Guten bewegt sich nur die Demut des Geistes, der die
Helle und Übermacht des Seins erträgt und die „Gewißheit“ und „Absolutheit“ handlicher,
festgeprägter Begriffsmünzen, die Versiertheit und technische Sicherheit rationalen Scheidens und
Verknüpfens dem langsamen Gang einer einigenden spekulativen Bewegung, einem ehrfürchtigen,
weitgeöffneten Vernehmen auch des Unsagbaren, einem liebenden Einvernehmen mit der
schwingenden Vermählungs- und Verdichtungskraft des ursprungseinigen Wortes zum Opfer gebracht
hat. Ist das Gute im Wesen gewährende Huld und empfangender Eros, ist es vermählende, an sich
haltende, freigebende, zeugende und schaffende Liebe, so ist auch das ihm wesenhafte Wort aus der
Liebe gefreit und aus dem Herzgrund ihrer Wahrheit in ihre zarte und hoheitsvolle Strenge gerufen.
Dann gilt, was Goethe sagt, daß die Sprache selbst „hochzeitlich“ werde: „Sei das Wort die Brautgenannt – Bräutigam der Geist!“
Also ist die urwortliche Einfalt, die dichterische Verdichtung, die ausschwingende Weite und die
herzbewegte Begeistung ein erbauliches Pathos, keine irrationale Aufladung mit Gefühl und Schwarm.
Sie spricht vielmehr in einer der Sache selbst entsprechenden Strenge und Genauheit, die freilich dem
Abgrenzenden der Begriffsbehelfe und den phänomenologisch-aufgewiesenen, nur ideellen oder
essentiellen Strukturen keine seinswidrige Absolutheit, keine verfälschende Vordringlichkeit oder gar
den Anspruch eines absoluten „Ansichseins“ verstattet. Wem die „logische“ Richtigkeit begrifflichen
Verknüpfens mehr gilt als die Strenge der Wahrheits- und Seinsenthüllung, hat sich dem Wesen des
1 Vgl. Gustav Siewerth, Wort und Bild (1952), S. 47.2 Ebd. S. 46.
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Guten schon durch seine „wissenschaftliche Bildung“ verschlossen. Solche „Wissenschaft“ gehört
zum Geschick des Unheils unserer kraftlosen, epochalen Beschränktheit und Beirrung.
c) Neuzeitliche Lehren vom „Guten“
1.
Im Geschick des Begriffsrationalismus wurde das Sein zum univoken Begriff, zum Medium der
logischen Prädikation; die Wahrheit zur Richtigkeit gegenständlicher Begriffs-verknüpfung, das Gute
aber zur allgemeinen Regel oder zum Gesetz einer apriorisch formalen, absoluten oder reinen
Vernunft. In Einheit mit einer nominalistischen Vereinzelung des Seienden und einer häretischen
Entwürdigung und Depravierung der „Natur“ wurde so das „Moralische“ von den Seins- und
Naturgründen, von den Gütern und Wesenheiten, von der Liebe des Geistes und Herzens, wie von der
gott-menschlichen Lebenseinheit, von der geschichtlichen Wirklichkeit der Gottesfreundschaft gelöst.
Der Pflicht- und Gesetzesdienst erhielt eine ausschließende Absolutheit in Haltung und Würde. Der
allgemein-formale Imperativ wurde die transzendente, alle Natur negierende Regel einer autonomen
Vernunft; deren „Güte“ nur noch durch die Übereinstimmung mit „einer allgemeinen Gesetzgebung“
mit der Wohlfahrt der Menschheit, d. h. mit dem wirklichen Dasein, in Beziehung stand. Da aber das
„Gesetz“ in seinem metaphysischen Wesen nicht mehr bedacht wurde, da es weder als „Anruf zum
Guten“ aus dem Walten des Seins und Gottes noch als die „verwehrende Grenze“ des Unheils im
Dasein gesehen wurde, da infolgedessen auch seine wesenhafte Unbestimmtheit und Unerfülltheit wie
auch das vermittelnde und Mittlere in seinem Wesen verkannt wurden, so erhielt es einen
gefährdenden Vorrang. Diese Gefährdung bestand darin, daß es wegen seiner Unbestimmtheit und
mangelnden Wirklichkeitsbeziehung einerseits eine subjektive „Gesinnungsmoral“ zur Folge hatte,
anderseits seinen Anspruch als Gewissensregel an die Verpflichtung des positiven Staatsgesetzes
verlieren mußte. Der autonome Formalismus der Ethik ist sowohl in seiner naturfernen Transzendenz
wie in seiner gattunghaften Unbestimmtheit in seiner geschichtlichen Verwirklichung notwendig reine
Heteronomie.
2.
Angesichts dieses Vorrangs des geschichtlich Positiven in Staatsgesetz, Gesellschaftsethos, in
überlieferten Gehalten erstorbenen Glaubens wie infolge der naturwidrigen Transzendenz der
autonomen Vernunft und eines denkend nicht mehr erweis- und ansprechbaren Gottes wird dietriebhafte „Natur“, das aus seinem Grunde heraufgehende „Leben“, das geistbegabte „Lebewesen
Mensch“ notwendig die eigentliche Wirklichkeit.
11
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Alles „Transzendente“ wird eine Ausgeburt dieser Natur, die aus ihrem Lebensdrang, aus ihrem
„Willen zum Leben“ oder „zur Macht“ die eigene unbegrenzte Lebenstiefe sich selbst „entgegenwirft“
und den „Gott“, das „Ideal“ und „Gesetz“ ihres Lebens, erzeugt. Dieser „erzeugte Gott“ oder diese
„gemachten“ Ideale gewinnen, sofern sie als absolute Gründe oder Regeln hervortreten, notwendig
den Charakter des „Verkehrten“ im eigentlichen Sinn wie des „Truges“, dessen Entschleierung im
Aufweis einer verborgenen List des Lebenstriebes eine philosophische Aufgabe wird. Denn dieser
Trieb befriedigt als unterjochter die Sehnsüchte seines Elends oder seine Rache im Spiel seiner
transzendenten Entwürfe, während er als herrschender in ihnen seine Macht rechtfertigt und
verabsolutiert. Ist dieser Trug jedoch einmal entlarvt, so ist das „Gute“ fortan die selbsterzeugte,
unverfälschte Wertung des „Lebens“, deren Vollendung jene „schaffende Freiheit“ ist, die, aller
Götzen und Götter ledig, das Leben in sich selbst versammelt, um sich selbst in den „Tafeln seiner
Werte“ das selbsteigene, unverstörte und unbesetzte Feld des Daseins zu eröffnen. Was bei Friedrich
Nietzsche der zu sich selbst gekommene „Übermensch“ ist, das ist bei Karl Marx die zu sich selbst
befreite Gattung der produzierenden Menschheit oder bei Freud die enthemmte und ins Über- und
Gattungsich sublimierte Triebnatur.
3.
Gegen diese Aufhebung des Guten in den Lebensgrund wie gegen den leeren Formalismus der
autonomen Vernunft wurde in der phänomenologischen Schule das ideale Ansichsein geltender,
allgemeiner und allverbindlicher Wesensstrukturen mit ihren qualitativen, unableitbaren
Unterschieden artikuliert.
Diese materiale Wertphilosophie betont den ursprünglichen Reichtum der Wesensgestalten, ihre dem
Dasein und Seienden unrückführbar gegenüberstehende Transzendenz, ihr „ideales Ansichsein“ wie
ihren „relationalen“ Bezug auf das fühlend-vernehmende, handelnde Subjekt. Kraft dieses Bezugs tritt
der „Wert“ als das Seinsollende und Exemplarische, als das Ziel- und Geleitgebende und als das
Formierende zugleich hervor.Diese platonisierende Ethik hat das christliche Denken der Gegenwart tief beeinflußt. Es scheint in der
Tat gegenüber dem Naturalismus ethischen Denkens dem fordernden, unumgänglichen Geheiß, des
Guten Rechnung zu tragen, während es gegenüber der formalen Ethik Kants die ursprünglichen
Erscheinungsweisen des Guten wie die gestufte Rangordnung der Güter betont. Es geht in dieser Ethik
um die exemplarische „Überwirklichkeit“, die zeitentbundene Geltung und Allverbindlichkeit der
Werte und um ihre Zuordnung zur freien und spontanen Tätigkeit des sittlichen Subjektes. Des
weiteren tritt ihre Beziehung zur „strebenden Liebe“ zutage, sofern schon das Vernehmen der Werte
sich nur in einem fühlenden, vorziehenden Wertungsakt vollzieht. Es kommt schließlich bei Scheler im ganzheitlichen, transzendierenden personalen Liebesakt zur Vollendung, dem aus seinem Sinn und
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Ziel her die transzendente liebende Person Gottes in unmittelbarer Weise offenbar wird.
d) Nicolai Hartmanns Wertethik
1.
Nicolai Hartmann hat in seiner „Ethik“ versucht, die Phänomenologie der Werte in einer der
eidetischen Schau möglichen Systematik darzustellen, das Baugefüge sittlichen Handelns sowie das
Wesen des Guten zu enthüllen. Durch seine entschiedene Abwehr gegen einen philosophisch
begründeten Überstieg in die Wirklichkeit Gottes gewinnen jedoch die idealen Strukturen als die
Transzendenz begründenden und den ganzen sittlichen Daseinsraum ermöglichenden und
formierenden Prinzipien ein gefährdendes Gewicht. Ihre durchgängige, methodisch „reine“ Ausfaltung
läßt das Fragwürdige und Unzureichende dieser Wertphilosophie für den Denkenden deutlich
erscheinen. Es tritt hervor, daß das fortwaltende Geschick der „Seinsvergessenheit“ nicht nur die
Phänomene als solche verabsolutiert, sondern in einem unerträglichen Maße auf das wertende und
handelnde Subjekt hin relativiert; sie „haften (als sittliche Werte) einfachhin der Person bzw. einem
Akt der Person als Wertqualität an“3. Aber sie haben dennoch kein „reales“4 , sondern nur ein „ideales
An-sich-Sein“, wenn sie auch in mannigfaltiger Abstufung „selbst realisiert sein mögen“5. Ihre
eigentliche Seinsweise „schließt sich der logischen und mathematischen Seinssphäre sowie derjenigen
der reinen Wesenheiten überhaupt organisch (!) an“6. Solchermaßen sind sie durch die
„Unverschiebbarkeit“ und das Regelnde des Denkens phänomenale „Objekte“, deren Seinscharakter
freilich nicht mehr bedacht werden kann.
Das „Sein“, von dem hier die Rede ist, ist kein anderes als das der „möglichen Essenzen“ der
spätmittelalterlichen und barocken Scholastik, die der Denkende nicht ertrug, ohne sie in der Idealität
(im Denken und der Macht) Gottes oder in einer transzendentalen Subjektivität zu fundieren. Sie im
„An-sich-Sein des Phänomenalen“ stehenzulassen, nimmt ihnen Sinn und Anspruch. Was besagt noch
„ideales An-sich-Sein“, wenn es jenseits der Wirklichkeit west, aber doch zugleich „keine Indifferenz
gegen Wirklichkeit und Unwirklichkeit“ bedeutet? Was ist die „Wirklichkeit“ außerhalb dieses
Idealen, wenn sie nicht immer schon und wesenhaft ideal formiert ist? Was kann diesem „Wirklichen“
das Ideale noch verpflichtend machen, wenn es nicht der Akt und die Wirklichkeit des Wirklichen
selber ist? Ist es nicht unerträglich, von „Wahrhaftigkeit oder der Liebe“ zu sprechen, bei der „es
keinen Unterschied ausmacht, ob es Personen gibt, in deren wirklichem Verhalten sie realisiert sind
oder nicht“7. Als wenn die Wahrhaftigkeit oder Liebe nicht von Grund aus und
wesensphänomenologisch dieser Abstraktheit widerstreitet und sie als eine leere, substanzlose
3 Nicolai Hartmann, Ethik, S. 142.4 Ebd. S. 151.5 Ebd.6 Ebd.
13
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Spielerei erscheinen läßt. Wer „sieht“ noch „Liebe“, die nicht „verwirklicht“ ist, wer kann sie erfahren
und ihren Ruf vernehmen in der Hölle liebloser Indifferenz oder im Ansichsein des wertfreien
Seienden? Wie soll sie „an“ den „Akten“ erscheinen, wenn sie nicht in ihnen selber als wirkliches
liebendes Leben immer schon anwesend und verwirklicht wäre? Wäre sie aber „Liebe“ als Aktualität,
welche Strukturen sollten diese Akte außerdem noch aufweisen, da ja nach Hartmann die Liebe an den
(indifferenten) Akten als „Qualität“ erscheinen soll. Ist liebendes Leben nicht wesenhaft auch eine
alles Streben durchwaltende Wirklichkeit?
Wer hier das „Qualitative“ der Aktualität ins „ideale Ansichsein“ erhebt, hypostasiert doch nur eine
Abstraktion; ein Tun, dessen Unfruchtbarkeit und Fragwürdigkeit darin erscheine, daß es faktisch
nichts gibt am Akt, das man nicht in ein solches eidetisches Ansichsein verwandeln könnte. Wenn dies
aber mit dem Dasein, mit dem Leben, wie der Besonderung und Individualität ebenso geschehen kann,
so ergibt sich eine völlige Identität des Wirklichen und Ideellen, so daß das erste wie eine
Komposition aus ideellen Momenten und das letzte als eine Erhebung des Wirklichen ins Abstrakte
von teilhaften Sichten erscheint.
Deshalb hat „alles für den Menschen seine axiologische Färbung, sei es positiv oder negativ“8, sagt
Hartmann folgerichtig, so daß sich ergibt, daß faktisch alle Wirklichkeit durch sich selbst auch wertig
ist und deshalb das Gute und Wertvolle im Sein selbst gesucht werden muß.
2.
Hartmann bewegt sich auch faktisch bald in einem Nebeneinander der wesenhaften Andersheit der
Sphären, bald in einer spannunghaften Ineinanderfügung, bald in der reinen Identität. Einerseits ist
„das Sein nicht abhängig vom Sollen, so daß dieselbe reale Welt dasein kann, auch wenn es kein
Seinsollen und keine in sie eingreifende Tendenz gibt“9. Dieser völlig sinnlose Satz enthält die
Behauptung, daß die Welt als dieselbe dasein kann, wenn es kein Seinsollen und keine in sie
eingreifende Tendenz gibt, wie wenn die weltverändernde formierende Tätigkeit, ihre technische,
moralische, kulturelle Ordnung, ja das „schöpferische Erzeugen“ von Wesen als eine „generatio exnihilo“10 nichts in ihr bewirkte. Ihre Verwandlung, Ordnung und schöpferische Erweiterung, ja die
„wirkliche“ Existenz des werterfahrenden und wertverwirklichenden Menschen bedeuten also
zugleich nichts in der Realität.
Diese geist- und sinnlose Entgegensetzung wird dann auch wieder radikal aufgehoben durch die
„Aktualität des Verhältnisses“, sofern sich die „ideale Tendenz in reale Tendenz, d. h. in Gestaltung
des Wirklichen verwandelt“11. Also gibt es ein „Spannungs- und Tendenzverhältnis“, bei welchem das
7 Ebd.8 Ebd. S. 3699 Ebd. S. 173.10 Ebd. S. 165.11 Ebd. S. 161.
14
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wahrhaft Erstaunliche auftritt, daß es zweiseitig ist. Das Ansichsein der Werte hat, wiewohl es
unabhängig von der „Verwirklichung“ besteht12 und „in seinem materialen Gehalt“ „als ein jenseitiger,
bloß idealer sich vom realen abhebt“13, wiewohl „die Wertschau ihn immer und unter allen Umständen
als etwas von Realität und Verwirklichung Unabhängiges erschaut“14, dennoch eine „ideale Tendenz“,
in reale Gestaltung überzugehen, so daß die Werte „auch Prinzipien der ethisch aktualen Sphäre sein
müssen“15 . Sie sind unabhängig wie Gott und doch zugleich tendenzhaft bezogen auf Akte, deren
indifferente Realität zugleich von den seinslosen Wesenheiten schöpferisch bestimmt und verwandelt
werden. Auch damit gewinnen sie göttliche Eigenschaften, im Abgrund des Unwertigen und
Indifferenten „aus dem Nichts zu schaffen“. So aber tragen die Werte den zwielichtigen und
antinomischen Charakter, „absolut an sich selbst“ und doch zugleich „relational“, „irreal“ und
zugleich „tendierend“ und schöpferisch waltend zu sein.
Angesichts der Kluft der Verschiedenheit aber bedarf es eines Mittleren, das Idealität und Realität
zueinander vermittelt; dies aber ist die praktische aktuale Sphäre des wertfühlenden, vernehmenden
Subjektes, dessen Seinscharakter bald als reines Vernehmen an der Idealität partizipiert, bald in der
Indifferenz der Wirklichkeit unmittelbar da ist, bald als formierter Träger und gestaltender
Verwirklicher fungiert, ohne daß es zu einer klärenden Entscheidung über die Einheit dieser höchst
problematischen Gegensätzlichkeit und Mannigfaltigkeit käme.
3.
Wir sagten: Trotz ihres Ansichseins sind die Werte Prinzipien, die „für etwas“ und „für jemanden“16
gelten. Dies aber ist ihr Bezug auf das „wertfühlende Subjekt“17. Dieses „Für“ aber „haftet nicht ihrem
idealen Gelten an, wohl aber ihrem aktualen“18. Auch dieser Satz ist für den Denkenden schwer
erträglich. Das „Gelten“ ist demnach erst bindend, wenn es vom Subjekt ergriffen und in eine
verwirklichende Tendenz übergegangen ist. Da dieses Ergreifen aber geschah, weil der an sich seiende
Wert „für“ das Subjekt wertvoll war, so ist diese Unterscheidung unbegründet und entspringt der
antinomischen Wirrnis dieser sich im Kreise drehenden Seinszerspaltung. Was hat es auch überhauptnoch für einen Sinn, „ideales“ und „aktuales“ „Gelten“ zu unterscheiden?
Hartmann sieht nicht, daß ein Spannungs- und Tendenzverhältnis in der absoluten Sphärendifferenz
einen geistlosen Widerspruch enthält. Denn wie kann eine Tendenz walten, ohne daß der Akt bereits
vom Wert oder vom Guten affiziert und bewegt ist; wie aber kann es eine Affizierung geben, ohne daß
dem aktualen Subjekt der Wert am „Wirklichen“ selbst aufleuchtet? Wie kann er aber am Wirklichen
12 Ebd. S. 151.13 Ebd. S. 163.14 Ebd.15 Ebd.16 Ebd. S. 179.17 Ebd.18 Ebd.
15
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aufleuchten, ohne daß das Wirkliche selbst bereits formiert und durchwaltet ist? Wie kann schließlich
eine Tendenz in Freiheit sich spannen, wenn nicht das sich erstreckende Leben aus dem Eigenen an
erfahrener Güte aufbricht, um sich aus ihr und in ihr zu vollenden oder das schon Verkostete
vollkommener zu empfangen? Ist aber solchermaßen das Gute und der Wert wirkliches Dasein und
anfänglich erfüllte Neigung, so kann die wirkliche Güte sich auch nur der wirklichen zuneigen, nicht
aber einer „idealen Geltung“, die doch nur wie ein Schemen dem Wirklichen transzendent ist und es
nur noch angeht, sofern es der immer schon vollendeten Wirklichkeit adäquat ist. Welcher Liebende
bräche denn in Spannung zu einem transrealen idealen Ansichsein von Liebe auf, ohne sich vor sich
selbst lächerlich zu machen? Was bedeutet dem Liebenden dieses platonische Ideal gegenüber einem
liebenden Menschen, der seiner wirklichen Liebe die seine entgegenbringt, die doch bei aller
Menschlichkeit nicht sein kann ohne das Kostbare wirklichen und schenkenden Gewährens und
wirklicher Empfängnisbereitschaft, in der jeder Mensch das Geheimnis seines Herzens wirklich und
aktuell zu eigen hat. Immer und notwendig aber waltet die Liebe aus ihrer aktualen
Wesensvollendung, die maßgebend und fordernd ihr Handeln und Empfangen bestimmt.
4.
Die abstrakte Zerspaltung und phänomenale, seinslose Vereinseitigung macht nahezu jeden
fundierenden Satz dieser Ethik problematisch. „Aktuelles Seinsollen“, sagt Hartmann, „setzt das
Nichtsein des Seinsollenden in einer gegebenen Wirklichkeit voraus“19 , als wenn ein wirkliches Gute
darum weniger „sein soll“, weil es wirklich ist. Hat es nicht das Sollen des Währens, der Entfaltung,
der Bewahrung und Mitteilung noch tiefer und strenger in sich selbst, als ein nichtverwirklichtes
Ansichsein, dessen Sollen immer das Problematische einer möglichen Unmöglichkeit der
Verwirklichung an sich trägt Steht aber das Sollen streng im Nichtsein des Gesollten, erstirbt es dann
nicht faktisch schon an dieser metaphysischen Gegensätzlichkeit, die im Wirklichen nicht die Spur
einer Bürgschaft für die „creatio ex nihilo“ aus dem Mutterschoß der Idealität an sich trägt?
Wenn Hartmann nun gar sagt, „das Anderssein und der Widerstand erst machen das Seinsollendenichtseiend , und damit das Seinsollen selbst aktuell “, „ist doch selbst Tendenz erst möglich, wo etwas
ist, das ihr widersteht“20 , so wird ihm die Seinszerspaltenheit in ihrer je größeren Steigerung zum
Prinzip seiner sittlichen Einigung und Verwirklichung. Das Sophistische dieses Satzes ist leicht
einsehbar, wenn man aus den gleichen Prämissen das Gegenteilige mit größerem Recht folgert: „Das
Anderssein und der Widerstand machen das Seinsollen nichtig und damit das Seinsollen zu einem
Nur-Ideellen, ist doch eine Tendenz nicht mehr möglich, wo der Widerstand sie verhindert oder
erstickt.“
Diese letzte Folgerung ist sogar dem radikalen Zwiespalt von Wirklichkeit und Idealität von Grund
19 Ebd. S. 173.
16
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aus angemessen, wenn man ihn vom Sein und vom Guten her denkt; denn wenn schon das formierte
Streben kraft seiner inneren Erfüllheit kein Nur-Ideelles mehr erzielen kann, so kann die bloße Potenz
der Wertträgerschaft“21 auf Grund ihrer Potentialität und der Wertindifferenz des Seienden gar nicht
zum Guten kommen, wenn sie nicht durch seine Wirklichkeit aktualisiert und ins Vermögen gebracht
wird.
5.
Der Satz Hartmanns wird daher nur sinnvoll, wenn das Gute aus dem Sein her und seiner primordialen
Wirklichkeit her verstanden wird. Sowenig der Mensch aus dem Nichtwahren oder gar vom
Gegensätzlichen einer indifferenten „Potenz“ und einer wahrheitslosen, verworrenen und absolut
vereinzelten Wirklichkeit jemals in die Wahrheit kommen könnte, sowenig kommt er aus dem
„Nichtsein des Seinsollenden“, dem „Anderssein“ des Ideellen und dem „Widerstand“ des Wirklichen
ins Gute. Wir kommen vielmehr nur aus der immer schon vollendeten Wahrheit, in der Helle, am Maß
und in der versicherten Mächtigkeit des Anfänglichen in die Entfaltung der Wahrheit , so daß, wie
Thomas sagt, „die Wahrheit die Ursache der Erkenntnis ist“ und nicht umgekehrt. Alles Fügen und
Versammeln des Logos wäre ein blindes und eitles Geschäft, geschähe es nicht im Geleit, im Licht
und in der Sicherheit der ursprünglichen Wahrheit, deren Gewißheit und Allgemeinheit jedem
Heraufgehenden gegenüber die Auflichtung verbürgt und deshalb am Widerstand des Scheins und der
Verborgenheit nur zu achtsamerer Unterscheidung, zu angestrengterem Festhalten und Versammeln
und zu sorgfältigerem Sagen angereizt wird.
Nur in Analogie zum transzendentalen Wahrheitswesen läßt sich das Gute wesenhaft enthüllen. Es
gibt kein „Ansichsein“ von „Wahrhaftigkeit“ und „Liebe“, von „Treue“ und „Vertrauen“, wenn sie
nicht als Genien der menschlichen Wirklichkeit walten, wenn der Mensch nicht selbst sein wirkliches
Leben als Liebe, Wahrhaftigkeit, Treue und Vertrauen zu eigen hat und lebt. Wenn aber Hartmann
schreibt, daß „Bewußtsein, Aktion, Leiden, Kraft und Freiheit“ Wertcharakter haben und daß die
Person „auch bei voller Realisation dieser Werte durchaus diesseits von Gut und Böse besteht“22
undnoch „vor der eigentlichen Krisis steht“23 , so zeigt sich deutlich, daß die unmetaphysische, seinslose
„Diskontinuität“24 der Wertphänomene, ihre qualitative Besonderung und Absolutheit die ethische
Existenz geradezu vernichtet oder unmöglich macht. Sie muß sich durch „Krisis“ immer erst aus dem
Andersartigen des unmittelbaren Daseins hervorbringen und wuchert ohne solche „Entscheidung“
„minder-wertig“ oder „un-wertig“ im eigentlichen Sinne dahin. Wie die Werte, so ist dann der Mensch
selbst aufgespalten, und zwar in Akte, die sich immer erst durch Wahl, Entscheidung und Intention
20 Ebd.21 Ebd. S. 189.22 Ebd. S. 376.23 Ebd.24 Ebd. S. 336.
17
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„qualifizieren“ müssen, um Gutes zu realisieren, das aber offenbar nach dem Vollzug der Akte wieder
dahinschwindet und deshalb niemals „wirklich“ werden kann im eigentlichen Sinne. Im Grunde denkt
dieser Wertphänomenalismus daher immer auch zugleich „naturalistisch“ und (sofern er weder die
Einheit der Werte, noch die Realität des Guten denken kann) „ formalistisch“; ist ihm doch das „Gute“
jeweils nur die „Teleologie des höheren Wertes“25. Es bedeutet also nicht „den höchsten, umfassenden
Wert“, sondern das „formale Prinzip des Vorzugs“. Im Maße sich aber die Werte in „axiologischer
Autonomie“ der einzelnen Materie26 vordrängen, verliert diese Ethik notwendig Ernst, Strenge und
Würde der praktischen Vernunft Kants, bei dem ja alles „Materiale“ nichtig wird vor dem formellen
Imperativ.
6.
Die Radikalisierung des Andersseins, des Widerstandes und das Nichtsein des „Gesollten“ gibt dieser
Ethik den Schein der Anstrengung und des heldenhaften Einsatzes, der aber die Gefahr der
Verkrampfung, der Subjektivierung, der ethischen Skepsis und Verzweiflung in der antinomischen
Differenz in nächster Nähe hat. Denkt man hingegen das Gute aus dem Sein und als waltende
Wirklichkeit, so gibt es Liebe, Treue und Wahrhaftigkeit nur als wirkliche Wesensfügung des
menschlichen oder göttlichen Seins. Es ist doch evident falsch, Daß das „Seinsollen“ sich auf das
„Nichtsein“ gründet und daß erst der „Widerstand“ das Seinsollen „aktual“27 macht. Eine waltende
Liebe und Treue vernimmt das „Soll“ verpflichtender aus ihrer wirklichen Vollendung und verspürt es
beglückt als Sinnerfüllung und Daseinsfülle, wenn sich Liebe und Treue selbstverständlich und ohne
Anstrengung ereignen. Träte solches sittliche Leben aber in einen Raum ein ohne Treue und Liebe,
spürte es das Unzureichende schwächender Begierden, erführe es die Versuchung, Liebe und Treue
preiszugeben, würde es gar ins Opfer des Lebens oder der Mühsal gerufen, eröffnete sich ihm die
Möglichkeit tieferen Wachstums, so hätte es alle seine Kraft in jener herzverwurzelten,
neigungstiefen, eingeübten Vollendung und Gewilltheit, in der es seine Treue und Liebe je schon
wesenhaft zu eigen ist. Das Soll der Wahrhaftigkeit hat seine Macht im Walten der Wahrheit und deshaltgebenden Vertrauens im Daseinsraum des Menschen; es hat sein Gewicht an der das Leben
tragenden und auf das höchste eröffnenden Wirklichkeit; es hat seinen Anspruch in der Gewißheit
seiner Möglichkeit, d. h. im wirkbereiten und wirkmächtigen Vermögen; es hat seinen Ernst in der
wirklichen Gefährdung des bestehenden und erfahrenen Kostbaren im Dasein; seine Strenge in der
gefühlten und im Gewissen offenbaren Berufung und in der Mitgift göttlichen Lebens, die nach
Ausfaltung und tieferer Empfängnis drängt und zu ihr verpflichtet.
Seine „Idealität“ und „Jenseitigkeit“ ist seine immer schon waltende Wesensvollendung , seine
25 Ebd. S. 386.26 Ebd. S. 373.27 Ebd. S. 173.
18
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wesenhafte Verwirklichung, die alles Zukünftige und Zugeschickte auf dieses Ursprüngliche hin
auflichtet, um es strebend in gleicher Weise innezuhaben. Das Sein und die Wirklichkeit ist durch und
durch „ideal“, wesensdurchfügt und wahrheitsdurchlichtet. Deshalb gibt es die „Spannung“ des
Höheren, des Jenseitigen und Transzendenten um so mehr, als das Wirkliche sich aus der Erfahrung
der Wirklichkeit her auf jenes göttliche Wirkliche hin spannt, das es durch seine Fülle und
Umfänglichkeit, seine gesammeltere Einheit ins Werden und Reifen stellt und beide zugleich verbürgt.
Wenn die Wahrheit das Sein und das Sein und Seiende in seinem Wesensgrunde wahr ist, wird die
Scheidung von Idealität und Realität wesenslos. Dann aber ist auch das Gute eine Weise der Wahrheit
und des Seins zugleich, so daß alle drei Transzendentalien sich erst ins Wesen schicken. Dann
erscheint das Sein in allen Gestalten als Heraufgang in die Helle seines Erscheinens, d. h. als Sein für
den Geist und als Sein des Geistes, wie zugleich als mögend-vermögende Liebe, die alle Herzen und
Geister zu sich selbst ins Wesenhafte schenkender, zeugender, schaffender und handelnder Liebe
schickt.
Dann bekommen auch die Worte Hartmanns ihren tiefen Sinn, weil die Liebe aus ihrer je größeren
Vollendung auch das größere Geheiß ist, das „Nichtsein“ des zu Zeugenden, des noch Unreifen und
Werdenden, des je größeren Gewährens und Empfangens in ihre behütende Strenge zu nehmen.
7.
Dann ist auch die freiheitliche Verwirklichung des Guten nicht notwendig „ein Wandeln dicht am
Abgrund hin“28, was Hartmann behauptet, weil er folgerichtig in der untilgbaren Differenz von
idealem Ansichsein und indifferenter Aktpotenz die währende „Entscheidung“ zwischen Gut und
Böse, zwischen Verwirklichung und Verfehlung zum Wesensmerkmal der Freiheit wie des sittlichen
Handelns machen muß. Er zieht mit Feinsinn und Kühnheit zugleich die Folgerung, indem er sagt:
„Jede Entfernung vom Abgrunde (des möglichen Bösen) ist Preisgabe des moralischen Wesens, also,
genaugenommen, ein zweiter Abgrund. Ein schmaler Grat zwischen beiden bleibt dem Sittlich-Guten
als Weg.“29
Damit wäre eine versiegelte Treue oder eine nicht mehr versuchbare Liebe eine unsittliche bzw. nicht
mehr sittliche Daseinsform. Hier zeigt sich deutlich das Antinomische dieses seinszerspaltenen
Denkens, für das sich Freiheit wesenhaft in der absoluten „Krisis“ ereignet, weil ja in der Tat die
Krisis oder die Scheidung von Idealität und Realität das Sein absolut und unaufhebbar durchwaltet.
Hartmann sieht nicht, daß es noch lange „keinen Zwang zum Guten“30 (der in der Tat die Freiheit wie
das Gute selbst zerstörte) bedeuten muß, wenn die Gewilltheit des Menschen sich in Treue und
Wahrhaftigkeit habituell versiegelt, weil die Freiheit als spontane Selbstermöglichung sich im
28 Ebd. S. 381.29 Ebd.
19
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schöpferischen wie notwendigen Gewähren und Gestalten der Liebe im sittlich erfüllten Daseinsraum
dauernd vor ihr eigenes Wesen bringt und es anderen sichtbar macht. Deshalb steigert sich in der
Vollendung Achtung und Ehrfurcht vor ihrem freien Gewähren: Ein Kind, das die Vollendung der
mütterlichen Liebe in ihrer immer ungeschuldeten Freiheit erfährt, sieht hellsichtig den Abgrund
möglicher Opferbereitschaft und den tödlichen Ernst möglicher Fürsorge in jeder möglichen
Gefährdung.
Hartmann hat freilich darin recht, daß es zum Wesen des geschichtlichen menschlichen Daseins
gehört, niemals völlig der Anfechtung und der Entscheidung zwischen Gut und Böse ledig zu werden;
aber es ist irrig, das Sittliche allein auf „dem schmalen Pfad“ einer solchen Indifferenz anzusiedeln.
Denn eine solche Verschmälerung schließt das Wachstum und Reifen auf Vollendung hin wie die
Freiheit Gottes aus und reißt eine unschließbare, wesenswidrige Kluft auf zwischen dem Sittlichen und
dem Heiligen. Je reifer und entschiedener der Mensch wird, um so weniger steht er in der Not des
Bösen, wohl aber im wunderbaren Ruf der je größeren Liebe, deren geringeres Maß jedoch niemals
den Makel des Unsittlichen an sich trägt.
Wenn das der Fall wäre und das Gute wesenhaft „im Vorzug des höheren Wertes“ bestünde, dann
befände sich in der Tat das sittlich steigende Leben auch in der immer mitsteigenden, immer größeren
Gefährdung durch Unsittlichkeit; dann wäre Gutes immer auch schlecht und böse, weil das Bessere
nicht erwählt wurde. Wo und wann aber weiß sich der Mensch in einer Lage, da er nichts Besseres tun
könnte?! Gehört es nicht zur sittlichen „Freiheit“, daß sie als solche letztlich nicht durch das „Beste“
und „Bessere“ determiniert ist, sondern im Reichtum des Guten handelt und entscheidet, einzig weil
sie es so grundlos will. Erst im Schöpferischen, im wesenhaft „Unnennbaren“ von Freiheit und Liebe,
in ihrem im Reichtum und im Positiven des Seins gründenden Recht kommt das sittliche Dasein zur
Vollendung. Im Kostbaren dieser Liebe und ihrer Entschiedenheit aber waltet immer inbegrifflich die
Freiheit des Wagens, der sich immer neu bindenden Treue, der Behütung und des Opfers mit aller
Strenge notwendiger Achtsamkeit und Sammlung.
8.
Bei der Entfaltung der „dem Subjekt anhaftenden Fundamentalwerte“31 , dem „Wert des Lebens“, „des
Bewußtseins“, der „Tätigkeit“, der „Kraft“, der „Freiheit und Zwecktätigkeit“ zeigt sich neben den
genannten Verhältnissen der Verschiedenheit und der Spannung von idealem und realem Ansichsein
deutlich das der Identität . Dies gilt auch von den „Güterwerten“, den „Grundwerten des Daseins 32 , zu
denen auch so etwas wie der „Wert der Situation“33 gerechnet wird. Denn wie soll sich das Ideale des
Lebenswertes für einen Menschen noch von seinem wirklichen je eigenen und besonderten Leben
30 Ebd.31 Ebd. S. 340.32 Ebd. S. 362.33 Ebd. S. 363.
20
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unterscheiden, dessen Entfaltung und Pflege ihm aufgegeben ist? Ist das ideale Ansichsein hier nicht
ganz offenbar einfachhin die „Hypostasierung einer Abstraktion“? Gibt aber dieser Verhalt nicht die
Frage auf, ob es sich nicht überhaupt mit allen Werten so verhält? Wird nicht deutlich bei der
Betrachtung dieser Wertreihen, erstens daß sie ununterscheidbar mit der Wirklichkeit und deren
aktualer Möglichkeitsbreite zusammenfallen; zweitens daß ihre „axiologische Autonomie“ und ihr
eidetisches Ansichsein sich dadurch aufhebt, daß sie in ihrer Isolierung wertwidrig und sinnlos
erscheinen? Denn was kann noch im „Leiden“ als Leiden wertvoll sein oder in der „Tätigkeit als
solcher“ oder „der Kraft“, wenn man sie vom Guten ablöst. Was heißt hier noch „Selbstwert ohne
Unterschied des jeweiligen Gegenstandes“34, sofern die Aktivität „sich selbst wieder potenziert
hervorbringt“35. Tritt hier etwas anderes zutage als die aus der Güte des Seins herausfließende Güte
alles dessen, was wirklich ist und wirkt? Hat es einen Sinn, diese Wirklichkeiten und Wesen als
allgemeine und besondere „Werte“ nochmals zu benennen und damit den Schein zu erzeugen, eine
Sphäre idealen Ansichseins zu erschließen, während es sich schlicht um die innere Stufung des
analogen und vielfältigen Seins, seiner Grundarten und Wesensmerkmale handelt? Zeigt sich nicht
drittens, daß diese Werte keinerlei Ordnung und Stufung darstellen, weil sie sich alle implizieren? Ihre
Überschneidungen sind in der Tat einem Denkenden unerträglich, besonders unter dem Gesichtspunkt
der phänomenologischen „Autonomie der Wertmaterien“. Denn wie sollte es Leben geben ohne Kraft
und Tätigkeit und Freiheit ohne Bewußtsein? Wie aber kann man von „Werten“ sprechen, wenn das
„Gute selbst“ „unbekannt“36 und es unentschieden ist, ob „Tätigkeit“ nicht eine Bewegung zum
Verderben ist?
Wie soll es ferner eine Wertstufung und den sicheren Ausweis des je höheren Wertes geben, wenn der
„Einheitswert“ „wahrscheinlich irrational“37 ist und „jenseits der Grenze unserer Wertschau“38 liegt?
Ist nicht der „höhere Wert“ nur dann aufweisbar, wenn er sich dem „niederen gegenüber“ durch das
alles durchwaltende Wesensgesetz der Stufung ausweist? Darf aber dann „Diskontinuität“,
unrückführbare „Autonomie“ bestehen? Muß nicht irgendwie das Niedere im Höheren aufgehoben
sein, weil sonst im Vorzug des Höheren notwendig eine Wesensverletzung und damit ein Ungutes
auftritt? Sind aber die Elementarwerte die „wirklichen Werte“, sind sie dann nicht den nur „geltenden“
seinsmäßig so überlegen, daß sie das größere Gewicht beanspruchen? Wenn das Höhere wie die Gütenach Hartmann weniger notwendig ist als zum Beispiel die elementare Gerechtigkeit, wie sollte es
dann einen sittlichen „Vorzugsanspruch“ aufweisen können? Woher aber nehme ich überhaupt das
Maß für das Höhere, wenn das Höchste selbst nicht anwest und die Stufung selbst in ihrer
Notwendigkeit enthüllt? Ist die Sittlichkeit nicht, „wenn das System der Vorzugsgesetze verborgen“
ist39, im tiefsten Grunde ohne echte Verantwortung?
Liegt es nicht an der unverbundenen Autonomie der Wertmaterien, daß angeblich „die Gerechtigkeit
34 Ebd. S. 346.35 Ebd.36 Ebd. S. 373.37 Ebd.38 Ebd.39 Ebd. S. 389.
21
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sehr lieblos sein kann und die Nächstenliebe sehr ungerecht“?40 Was ist das für eine Gerechtigkeit, die
nicht aus Liebe für die Liebe geschieht und sich darin rechtfertigt, und was ist das für eine
Nächstenliebe, die die Gerechtigkeit verletzt? Liegt in diesem wesen- und seinslosen Nebeneinander
der Phänomene, in ihrer Unaufhebbarkeit im Guten selbst, nicht eine wesenhafte „Unsittlichkeit“
beschlossen, die alles Handeln fragwürdig macht, da sie es der notwendigen Wertzerstörung und
Verschuldung preisgibt?
9.
Mit diesen Fragen wird deutlich, daß die eidetische, phänomenologische Ethik Hartmanns trotz des
bewunderungswürdigen Reichtums aufgezeigter Phänomene und tiefsichtiger Gedanken dem Wesen
des Guten und Sittlichen nicht gerecht werden kann. Immerhin spürt Hartmann, daß das Gute als „der
moralische Grundwert“, eine besonders entschiedene Beziehung zur Wirklichkeit aufweisen muß.
Darum verwurzelt er es in der „Zwecktätigkeit“ des Menschen, in welcher ja die Güter und Dinge der
Welt, die Akte des Menschen als Mittel einem Ziele zugeordnet werden. Darum erscheint in der
Zwecktätigkeit schon eine „Wertsumme“41, die freilich zunächst „indifferent gegen Wert und Unwert
des Zweckes selbst“ sein soll und deshalb erst durch das Gute selbst als gut „qualifiziert“ werden muß.
Geschieht dies, dann ordnet sich die ganze „Wertsumme“ und der ganze differenzierte Vollzug in „die
Richtung auf den höheren Wert“42, so daß damit die ganze Wertreihe teleologisch abgezweckt
erscheint. Also besteht das Gute für Hartmann in „der Teleologie der Werte in der realen Welt“ 43. So
hat es notwendig „einen unbegrenzten Spielraum für spezielle sittliche Werte“44, weil es ja nicht
ausschließlich auf den „höchsten“, sondern den „höheren“ Wert geht. Dennoch besteht eine „streng
allgemeine Forderung“45, nämlich den sich darbietenden höheren Wert zu wählen.
Das Positive dieser Lehre liegt darin, daß Hartmann, wie wir sagten, dem Guten im reichgegliederten
Gefüge zwecktätigen Handelns und Hervorbringens eine besondere Nähe zur „Wirklichkeit“ und
„Verwirklichung“ gibt, daß er ihm einen reichen Spielraum der speziellen Gestaltung gewährt, daß er
schließlich seine Allgemeingültigkeit betont. Neben diesen Zügen treten die Schwächen dieser Lehre nicht minder hervor. Es scheint erstens als
eine nachträgliche Qualifizierung der Handlung, während doch in Wahrheit jedes ergriffene Ziel schon
durch die Güte des Guten gerechtfertigt sein muß, wenn es überhaupt wählbar ist.
Zweitens tritt das Gute nicht in „inbegrifflicher Tiefe“ und als „letztes Ziel“ zutage, das die Werte
selbst einigt, ordnet und erhellt. Also muß die Entscheidung des „Höheren“ aus „dem Eidos“ der je
besonderen Werte selbst gefüllt werden, was angesichts der Autonomie, der Unableitbarkeit und
40 Ebd. S. 453.41 Ebd. S. 377.42 Ebd. S. 385.43 Ebd. S. 380.44 Ebd. S. 390.45 Ebd.
22
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wesentlichen Verschiedenheit der Materien nicht möglich ist.
Drittens haftet es als solches auch nicht am höheren Wert, sondern an der „Teleologie“ und der
„Vorzugswahl“ als solcher, so daß es ein nur formales Prinzip der jeweiligen Zuordnung ist.
Damit aber liegt es viertens nicht im „intendierten Sachverhaltswert“46, nicht im Wert der
„intendierenden Akte“47, sondern „im qualitativen Intentionswert“48, d. h. in der Absicht der
Menschen, dem ihm als höher erscheinenden Wert den Vorzug zu geben. So aber waltet das Gute im
Reichtum der Wertmaterien als ein nur formales Prinzip, das zudem auf den wertenden Gefühlsgrund
des Subjektes gegründet ist, dem sich die Werte in jeder Situation aus der Qualität ihres je eigenen
Eidos als vordringlicher anbieten. Da das Subjekt als solches nicht wesenhaft und von Grund aus in
der Wirklichkeit des ursprünglichen Guten west und von ihm zur Erkenntnis und zum Streben
ermächtigt ist, so liegt notwendig im Anheben eines wertfühlenden Vorzugsaktes eine durch nichts
begründete mitentscheidende Anfänglichkeit, die den ganzen ethischen Entwurf in Frage stellt.
Sofern ferner die metaphysische Begründung des Vorzüglicheren der Werte durch die Einheit der
Werte und ihr Entspringen aus dem höchsten Wert und Gut nicht erbracht werden kann, sofern des
weiteren nicht im Ziel, sondern im „Vorziehen selbst“ das Gute begründet liegt, ist diese
Phänomenologie letztlich doch nur eine formale Gesinnungsethik , die an innerer Strenge und
Verbindlichkeit weit hinter der einer transzendentalen praktischen Vernunft im Sinne Kants
zurücksteht.
10.
Ihre Darstellung macht offenbar, daß das Gute außerhalb des Seins nicht gedacht werden kann, weil
ein solcher Versuch notwendig zu seiner Subjektivierung und Formalisierung führen muß. Wird es
aber aus dem Sein gedacht, dann waltet die Kraft jenes einig-einigenden Lichtes, das die Würde der
personalen Freiheit, ihre transzendentale Auflichtung und Erstreckung mit dem Wesensreichtum des
Seienden auf das Sein und die ermächtigende, rufende und begnadende Liebe Gottes hin einigt. Jeder
Leser wird erkennen, daß die Sprache das Gute deshalb ursprünglich, lichtvoll, in bewegender Tiefeund Einfalt erhellen kann, weil sie aus der Wahrheit des Seins und der Offenbarung Zeugnis gibt und
von diesen zur Wahrheit begabt wurde. Es liegt, wie wir schon sagten, am Guten selbst und seiner
„Geschichtlichkeit“, daß es in allen Weisen endlichen Strebens, rationaler Gesetzlichkeit und idealer
Transzendenz wesenhaft unvollendet und teilhaft in nur analoger Verweisung erscheint und nur durch
Offenbarung und Huld des Göttlichen in seinem vollen Wesen enthüllt und wirklich werden kann.
46 Ebd. S. 383.47 Ebd.48 Ebd.
23
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24
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II. DIE FREIHEIT UND DAS GUTE
a.) Das Wesen des Guten
1.
Freiheit gehört zum Wesen des Menschen. Da das Wesen dasjenige ist, das den Menschen zum
Menschen macht und durch alle Wandlungen und Entfaltungen des Menschseins währt, so gibt es
nichts Menschliches als solches, das nicht durch eine Weise von Freiheit bestimmt wäre.
Diese Freiheit wird durch drei Wesenszüge gekennzeichnet. Der erste ist das Freisein von Zwang . Ein
Zwang ist eine nötigende Einwirkung von außen, die einer von innen hervorgehenden Bewegung
entgegengesetzt ist. Ein entgegengesetztes Nötigen bedeutet eine beschränkende, hemmende oder
erstickende Macht, die um so unheilvoller wirkt, als sie ins Innere des Lebens eindringen und es inseinen Wurzel- und Lebensgründen bedrängen oder verletzen kann. Daraus folgt, daß der höchste
Zwang entgegengesetzte Feindschaft mit eindringungsfähiger Wahlverwandtschaft vereinigt. Also ist
es der Mensch, dessen feindlich nötigende Gewalt dem Menschen den höchsten Zwang antun und
seine Freiheit begrenzen kann.
Ist der Mensch aber im Wesen frei, so bedeutet dies, daß solche Nötigung niemals das Innerste seiner
Natur erreicht. Noch eine Zerstörung seines Wesens wird dem Menschen daher nicht nur angetan und
aufgenötigt, sondern ist von Lebensakten begleitet, die aus dem Grunde der untergehenden Natur
hervorgehen und das Sterben zu einem Vollzug des widerstrebenden oder sich ergebenden Lebens
machen.
Diese Freiheit von Zwang ist eine negative Kennzeichnung; sie besagt ein Frei- und Ledigsein von
fremden, wesenswidrigen Einflüssen. Sie bestimmt daher das Freisein selber nicht; sie grenzt es aber
auf seinen Grund hin ein. Sie hebt es von vornherein aus dem Wirkgeflecht der Naturwesen heraus
und läßt es als selbsttätige Wesensentfaltung erscheinen. Damit tritt der zweite und eigentliche
Wesenszug der Freiheit zutage: Frei ist dasjenige, was ohne äußere Nötigung aus sich selbst
hervorgeht und sich als das, was es ist, entfaltet. An dieser Freiheit hat alles Lebendige Anteil, das aus
den Lebensgründen her sich aufbaut, sich ausbreitet und im Hervorgehen aus innen die ungehemmte
Entfaltung des eigenen Lebens erwaltet und erfährt. Thomas nennt sie die „ Freiheit der Spontaneität “,
d. h. der naturgemäßen Selbstbewegung aus dem inneren Lebensgrund, durch die der Aquinate auch
das naturgeleitete Trachten der Tiere als „frei“ zu kennzeichnen weiß.
Diese Freiheit kommt durch einen dritten Wesenszug zur Vollendung. Mit Aristoteles sagt Thomas,
daß der Freie „Ursache seiner selbst“ ist. Er ist der „Herr seines Handelns“ und als solcher „ein
getreues Abbild des königlich herrschenden Gottes“ (Gregor von Nyssa). „Herr seines Handelns“,
„Ursache seiner selbst “ kann nur sein, wer sich besitzt und sich so aus sich hervorgehen lassen kann.
Eine Weise von Selbstbesitz ist nun schon jeder spontan hervorgehenden Natur eigen, sofern sie als
Wesen in der Entfaltung bei sich selbst verharrt und ihr Leben auf sich selbst hin vollzieht. Also hat
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auch das Tier an dieser Freiheit teil. Aber wenn auch das Tier zum Vollzug des Lebens naturhaft
geneigt ist und aus einem sich selbst fühlenden Drang sich bewegt, so ist es doch diesem Drang
unterworfen, der aus den Lebensgründen und dem Gedächtnis der Gattung her angetrieben und
ausgerichtet ist. Es kann sich nicht über den Drang erheben. Also ist es auch nicht „der Herr seiner
Bewegungen“ und nicht ihre „Ursache“, sondern „Flußbett oder Strömungsrinne des Lebens“ oder
„das immer unmündige Kind der Natur“1.
Der freie Mensch aber besitzt sich selbst, weil er sich erkennt ; denn alles Erkennen ist eine Weise von
„Angleichung des Seins an die Vernunft“ und ein Einswerden eines Schauenden und einem
Angeschauten. Ein Selbsterkennen ist daher „eine Rückkehr zu sich selbst“ und eine Einigung mit
dem eigenen Wesen.
Solche Einigung wird jedoch nur dann zum Selbstbesitz, wenn der endliche Mensch sich zugleich über
sich erhebt und einen Stand gewinnt, in dem er sich selbst halten und von dem er ausgehen kann. Dies
geschieht, indem die Vernunft das Sein und mit diesem das „Gleichnis und Bild Gottes“ erfaßt, sich
des ersten Grundes aller Dinge und dessen versichert, das als Sein alles umgreift und übersteigt. In der
Helle dieses alles begründenden, umfassenden und durchwaltenden Seins erwacht die Seele zu ihrem
Leben. „So ist sie sich selbst gegenwärtig“ und leuchtet auf als der universale Grund der Wahrheit. Als
dieser ist sie selbst „Bild Gottes und des Seins“ und ist zur Erkenntnis ermächtigt durch die Gewißheit
und Festigkeit der ersten Urteile und Einsichten, die aus dem Sein entspringen. Indem sie sich selbst
vom Sein her ansieht und beurteilt, tritt ihre geistige und sinnliche Natur in den metaphysischen Blick
der Vernunft, und das Herz des Menschen erhebt sich mit seinen ursprünglichen Neigungen in ihre
Helle. Diese Urneigungen der Natur und des Herzens aber eröffnen dem Erkennen den innerlichsten
(spontanen) Bewegungs- und Freiheitsgrund des Menschen, der ohne jede Einschränkung zum Leben,
zum Dasein und zum Glück gewillt ist.
2.
Weil der Mensch das Sein und Gott erkennt, deshalb kann er „Herr und Ursache seiner selbst sein“.Seine Freiheit wurzelt daher in seiner metaphysischen Erkenntniskraft . Dies ist unschwer zu erfassen
und zu begründen.
Weil die Vernunft vom Sein im Ganzen aufgelichtet ist, deshalb hat sie erstens einen
unerschütterlichen Halt und Stand, den sie niemals auf anderes hin übersteigen kann. Denn was vom
Sein und als Sein erkannt ist, ist durch sich selbst gewiß und einleuchtend und erhellt zugleich alle
seienden Dinge und Wesen.
Zweitens erhebt sie sich mit dem Sein über alle einzelnen Dinge; also kann sie sich von ihnen lösen,
sich ihnen entgegensetzen und sich von der Nötigung ihrer endlichen Einflüsse und Wirkungen
1 Vgl. Gustav Siewerth, Die menschliche Willensfreiheit nach Thomas von Aquin (1953) S. 32-34.
26
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befreien. Das Sein ist daher „absolut“ oder abgelöst.
Drittens ruft sie aus der Helle des Seins, in welchem alles Seiende in seiner Güte und Kostbarkeit
aufscheint, den eigenen Lebensgrund, d. h. Wille und Herz, an, erweckt seine Neigungen und spannt
ihn auf das Gute und seine letzten Gründe hin aus. In dieser inneren Erweckung des Herzens, in
seinem ursprünglichen Streben leuchten jene Güter auf, die aus der Macht des Ursprungs und des
Seins das Herz bewegen und erfüllen. Als solche bilden sie den Weisheitsgrund des sittlichen Geistes
oder das Gewissen.
Viertens erfaßt die Vernunft das Streben selbst als eine Weise des Seins und unterwirft es seinen alles
durchwaltenden Richtmaßen. Auf diese Weise wird sie Besitzerhalter, Wächter Richter und Ordner
des eigenen Lebens2.
Fünftens kann die Vernunft, wie alles Leben und Handeln des Menschen, so auch ihr eigenes Urteil,
dem „Gerichtshof des seinserkennenden Geistes“ unterwerfen, weil dieser alles Endliche und deshalb
jedes menschliche Tun übersteigt. Der Mensch kann daher das Urteil selbst, das sein Handeln
beurteilt, wiederum beurteilen. In dieser letzten und höchsten Versicherung kann er sein Leben sich
nicht nur entgegensetzen und begreifend in den Griff nehmen, sondern er kann es vor sich selbst und
dem Gerichtshof des Gewissens erkennen, anerkennen und sich zuerkennen. Also kann er es
herrschaftlich dem „Befehl der Vernunft“ unterwerfen und es sich selbstverantwortlich anbefehlen.
Der Mensch ist daher „Herr und Ursache seiner selbst“, weil er vom Sein zur Erkenntnis und zum
Streben erweckt ist oder weil er vom Ursprung in der Wahrheit und im Guten Heimat und darin an
Gottes Wesen und Güte Anteil hat3.
3.
Der Mensch ist am Ursprung aus seiner Natur zum Leben und zur Seligkeit geneigt (Thomas). In diese
Neigung ist das eigene, vereinzelte Leben eingeschlossen. Er ist jedoch zugleich überstiegen. Wie das
eigene Dasein vom Sein her sich erhellt, so ist der Genuß des eigenen Lebens niemals mehr als der
Widerschein eines anderen, zu dem der Mensch von Anbeginn geneigt, gewillt und erschlossen ist.Dieses andere aber ist das Gute, das den Menschen in die Freiheit stellt. Die Freiheit ist daher im
Wesen Entschlossenheit zum Guten.
Das aber bedeutet nach dem oben Gesagten, daß der ursprüngliche Ruf des Guten, der Herz und Wille
ins Leben lockt, zum Streben begeistet und über sich hinausspannt, ohne nötigende Gewalt ist, daß er
vielmehr der Natur des Menschen so angemessen ist, daß diese in ihren Wesensgründen erwacht, und
zugleich aus sich selbst und zu sich selbst heraufgeht, wenn sie dem Rufe folgt. Das Gute ist daher
das Naturgemäße und das Vollendende des Menschen; es ist seine Seligkeit und sein Friede, seine
2 Ebd. S. 35-44.3 Ebd.
27
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Liebe und ihre Erfüllung . Es ist das, was der Mensch vom Ursprung her nicht nicht wollen kann, wenn
er sein Leben will.
Dies trifft in der Tat zu, wenn man sagt, daß der Mensch von Grund aus geneigt ist, seine Seligkeit zu
finden und zu besitzen. Weil er in allem, was er begehrt und erstrebt, nach Erfüllung, Friede und
Glück trachtet, deshalb ist das Gute auch die Notwendigkeit seiner Freiheit . Dieses Notwendige ist
frei von jeder Nötigung durch ein Äußeres und Entgegengesetztes, es ist das unbegrenzte Walten des
innersten Lebensgrundes, das Wesen des Lebens selbst, das sich nur erschließt, wenn es zum Leben
und zum Licht hin entschlossen ist. Dieses Notwendige ist daher dem Zwang entgegengesetzt4.
Diese Urneigung, die ungenötigte Notwendigkeit, durchwaltet unser Streben und enthebt es vom
Ursprung der Enge und dem triebhaften Drängen einer tierhaft beschränkten Natur. Denn wer die
Seligkeit will, will ein Unbegrenztes und Währendes, das ihm zugleich Friede und Vollendung
schenkt. Also überschwingt unser Herz in seiner Liebe Grenze und Schwermut des Todes und die
Unrast der alles verzehrenden Zeit. Wer selig sein will, hungert nach dem Licht, der Wärme und dem
Frieden einer erfüllenden Liebe. Weil in diesem Herzensdrang Strebeziel und Strebegrund einig sind,
deshalb besagt der Satz auch, daß die Liebe die Liebe erstrebt (Augustinus). Wer aber die Liebe sucht,
sucht das Gute, das sich ihm in austeilender Güte schenkt. Also erweist sich das Gute als das, was alle
Wesen aus ihrer Natur erstreben (bonum est, quod omnes appetunt; Aristoteles), und zugleich als das,
was sich dem Strebenden schenkend und verströmend mitteilt (bonum est diffusivum sui; Dionysius).
4.
Damit ist das Gute in seinem Wesen deutlich zutage getreten. Es ist in seiner Vollendung der Einklang
des Seins, die Vermählung der Wesen aus ihrem göttlich einigen Grunde, die Herzenseintracht alles
Trachtens, die Heimkehr alles Zerstreuten in den Frieden und die Freiheit der Versöhnung. Als solches
umfaßt es auch das Streben, das sich auf ein Ziel hin spannt, wie die innere Zuordnung und den Weg
zur Einigung; es bedeutet zugleich die Schönheit und Güte des Geliebten, welche die Neigung erweckt
und befeuert, wie die austeilende Güte der schenkenden und zeugenden Liebe und schließlich diedurchdringende Einigung der Wesen, Friede und Ordnung des Einklangs, Ruhe des Einvernehmens
und Wonne des verkostenden Genügens. Dieses Gute vollendet sich daher im wechselseitigen
Gewähren und Empfangen, wenn die Liebenden sich im Überfluß des Reichtums und der
Bedürftigkeit ihrer Armut begegnen. Auch das Gute der göttlichen Liebe hat in solcher Gemeinschaft
das Geheimnis seiner himmlischen Kostbarkeit. Sie hat sich daher im Gottmenschen Christus Jesus in
ihrer Vollendung offenbart, weil er das Übermaß schenkender Huld und Gnade bis zum Todesopfer
der Selbstverschwendung und darin zugleich die Liebebedürftigkeit eines göttlichmenschlichen
Herzens enthüllte. Deshalb ist der erlöste Mensch in der Empfängnis der Gnade zugleich Kind und
4 Ebd. S. 60-63.
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Bruder, ja die Braut des Herrn, welchem sie ihre Liebe verdanken und schenken.
Armut und Reichtum, strebende Durft und gewährender Überschwang sind vom Guten und der Liebe
nicht zu trennen. Ohne das Bedürfnis ist alles Gewähren ohne Ernst und Sinn, und ohne strömenden
Überfluß wird jedes Begehren und Genießen zum versehrenden Raub.
Diese Liebe ist das Gute und Vollendende der Freiheit: also schenkt und vollendet sie nur, um das
strebende Herz sich selbst zurückzugeben, um es selbst als Liebe in Freiheit und schenkender Güte
walten zu lassen. Es gewinnt durch sie die Ehre der Gemeinschaft, die Anerkennung wahlverwandten
Seins und die Würde ungenötigter Entfaltung aus ihrem Grunde, d. h. der Herrschaft selbstursächlicher
Verantwortung. Also ist das dem Menschen wesensgemäße Gute nicht übermächtigend; es hält den
Atem an, um nicht zu versehren; es hat acht, um in Achtung zu stellen; es ist behutsam, um die
Empfängnis in ihrer Freiheit zu behüten, sorgsam, um sie gegen Feindschaft zu schützen, treu, um die
Hingabe des Herzens zu versichern. Also gehört zum Guten des Strebens wie des Gewährens die
Eröffnung des freien Raumes der Begegnung , einer Wohnstätte liebenden Einvernehmens, eines
Reiches der Eintracht und des Friedens.
Da das Gute ein Streben ist, das nicht beraubt, und ein Gewähren, das sich nicht erschöpft, so ereignet
es sich nur im Licht des Seins, das sein Wesen in der Erscheinung schenkt, ohne sich zu verlieren.
Dies aber ist die Wahrheit und die Schönheit des Seins, die aus der gewährenden Huld
unerschöpflichen Überflusses entspringt. Solchermaßen gründet die Freiheit des Geistes und des
Herzens in der Wahrheit , in der das Sein sich offenbart und im Glanze seiner Schönheit heraufgeht,
ohne zu vergehen; in der es vernommen wird, ohne angetastet zu werden. Es wird als Sein nur
gewahrt, indem es zugleich „sein gelassen wird“ (Heidegger), weil der nicht erkennt, der das, was er
erkennen soll, verändert oder versehrt.
5.
Darum ist das Gute nicht ohne Wahrheit und Schönheit, ohne das Offene eines friedevollen Reiches,
ohne schenkende Huld, ohne achtsame und achtungsvolle Ehre, ohne wehrende Sorge undversichernde Treue. Die Urneigung des Herzens zur Seligkeit und zum Vollendenden des Lebens, die
alles Freisein ermöglicht, ist Liebe, die den göttlichen Thron und das Reich der Liebe ersehnt. Es ist
ein „unendliches Streben“ (appetitus infinitus), ein unbegrenztes Jasagen des Herzens, ein Wille zu
Ewigkeit und Wiederkehr, eine Entrückung ins Währende und Allgemeine des Seins, eine Innigkeit
unerschöpflicher Dichte und ein weltübersteigender Enthusiasmus.
Daß wir diese Tiefe des Lebens gemeinhin nicht sehen, weil wir dem geängsteten Treiben
zeitverhafteter Notdurft verfallen sind, bedeutet nicht, daß sie nicht in allem währe und walte, was
menschlich geschieht und vollbracht wird . Immer vollzieht sich dies vor den Thronen der Majestät desSeins, immer steht es im Glanz der Ewigkeit und ist durchglüht von einem Funken göttlichen Lebens.
29
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All unser Handeln ist befeuert „von des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ‚es war’“, sagt
Friedrich Nietzsche, dem zugleich als das „Höchste“ des Willens zur Macht erscheint, „dem
Werdenden den Charakter des Seins aufzuprägen.“ Ist nicht all unsere rastlose Arbeit eine einzige
Abwehr des Todes? Ist nicht alle Angst Widerwille gegen den Tod und damit ein leidenschaftliches Ja
zu endlosem Leben? Ist nicht „Lust tiefer noch als Herzeleid“, weil sie „Ewigkeit, tiefe, tiefe
Ewigkeit“ will? (Nietzsche.)
Ist nicht jede Liebe in ihrem Wesen ein ewiger Bund? Wäre sie nicht Verrat und Schändung, wenn sie
sich im Ursprung, da sie in ihrem reinen Wesen in den Herzen heraufgeht, auf eine Zeit begrenzte?
Woher denn der Schmerz des Abschieds, der Herz und Natur zerreißt, woher die herzverlorene
Schwermut und Trauer des Todes, der Liebende scheidet? Woher das innige Angedächtnis jeder
wahrhaften Liebe, die im Innern Bild und Nähe und darin noch die Huld des Geliebten gegen die
Macht der Zeit bewahrt? Woher die Trostlosigkeit aller Liebe, die im Tode ohne Glauben und
Hoffnung ist?
Von diesem göttlichen Wesen der Liebe kündet Hölderlins Gedicht:
„Trennen wollten wir uns? Wähnten es gut und klug?
Da wir’s taten, warum schröckte, wie Mord, die Tat?
Ach, wir kennen uns wenig,
denn es waltet ein Gott in uns.
Den Verraten? Ach ihn, welcher uns alles erst,
Sinn und Leben erschuf, ihn, den beseelenden
Schutzgott unserer Liebe,
dies, dies Eine vermag ich nicht.“
Was sich dem klugen Wähnen des Menschen verbirgt, ist die göttliche Tiefe des Gefühls, ist das
wurzeltiefe Wesensband des Lebens, das die Liebe knüpfte, deren heiliges Wesen die Herzen wie ein
Schutzgeist in Gewahrsam und Eintracht seines beseelenden und belebenden Waltens fügte. Dies aber
ereignet sich in jeder Liebe, weil sie vom Ursprung ins Zeitlose entrückt und in dieser Entrückung sich
in ihrer Treue gegen den Verrat der Zeit versiegelt. Darum gründen Glaube und Hoffnung im heiligen
Grund der Liebe, die ihres zeitlosen Wesens inneward und an der Wüste des Todes nicht im Dunkelder Schwermut oder der Herzenskälte erstarren will – sondern bereit ist, Gottes Ruf zum Heil zu
vernehmen.
Wie in der Liebe, so waltet in jeder Erkenntnis das göttlich waltende Sein; „denn der Mensch ersehnt
aus seiner Natur, die erste Ursache als sein letztes Ziel zu erkennen“5. Diese Sehnsucht wie ihr
urtümliches Licht glüht und lichtet in jedem Erkennen, auch dann noch, wenn es sich gegen sie zu
verschränken trachtet. Weil dies so ist, deshalb gibt es nur ein Erkennen, das metaphysische nämlich,
das das Sein selbst und alles Seiende in seinem Lichte enthüllt. Daher sind alle Einzelwissenschaften
unserer Zeit verborgene Philosophien, die, in Unkenntnis über sich selbst, ein gefährliches Unwesen
5 G. 3. 25 (= Summa contra Gentiles).
30
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betreiben. Entweder sind sie befeuert vom unbegrenzten Willen zur Macht, um Dinge und Menschen
in die Verfügung technischen Zuordnens und Gebrauchens zu bringen, oder sie erzeugen den
beirrenden Schein ihrer „Weltbilder“, die Anspruch und Macht des vergessenen und unbefragten Seins
in ihren begrenzten Erfahrungen und Auslegungen zum Ausdruck bringen. Diese Verwirrung ist die
Unruhe und das drohende Unheil unserer Zeit, die das Geheimnis des Daseins durch die
„wissenschaftlichen“ Gemächte ihrer Weltdeutungen zerstört. Der Mensch konnte nicht Natur als
einen Mechanismus entfalten, dabei den göttlichen Grund und die Einheit des Seins ungefragt
liegenlassen, ohne sofort das mechanische Getriebe zu verabsolutieren und in die Gefangenschaft
dieses fürchterlichen Götzen zu geraten; er konnte nicht das Menschsein aus dem Urdrang des Lebens
oder aus dem Vollzug der Arbeit deuten, ohne diese Seiten emphatisch zu rationalisieren, das
Geheimnis seines Lebens zu verdunkeln und seine letzten und höchsten Ziele, d. h. das Gute seines
Lebens, aus diesen Gründen her zu entwerfen. Es gibt keine Erkenntnis, die nicht irgendwie zum
Grunde des Seins vorstößt . Deshalb muß sie ihn in ihr Fragen aufnehmen, oder aber sie verfällt in der
bewußten Abkehr der Beirrung ihrer Beschränktheit. Unser Erkennen ist eine Teilhabe an der
Wahrheit Gottes. Es kann dieses sein Wesen nicht verleugnen, ohne in die Beirrung durch die Macht
des Seins zu geraten.
Auch unser sittliches Trachten ist ins Ewige ausgespannt . Wer konnte einem Kinde das Gebot: „Du
sollst nicht lügen“ vor Augen stellen, ohne seine Forderung zugleich dem Anspruch zeitlicher
Interessen entgegenzusetzen? Da das Gebot nur gilt, wenn es durch kein zeitliches Gut aufgehoben
werden kann, da nicht Besitz und Wohlergehen, nicht Gesundheit und Ehre, nicht Familie und Volk
die Lüge rechtfertigen können, so stellt es gebieterisch in ein Opfer, dessen Sinn und Möglichkeit ins
Geheimnis ewigen Lebens verweisen.
Ist nicht auch alles Schöne eine Entrückung aus dem Verrinnen der Zeit? Steht nicht im schönen Bilde
das Mannigfaltige im Einigen des Einvernehmens, welches das schauende Herz der Unrast und Mühe
suchenden und zusammentragenden Sammelns enthebt, es zum Wesenhaft-Währenden entzückt, das
sich mitteilt, ohne sich zu verzehren? Sind uns nicht Gedicht und Melodie nur dadurch gegeben, daß
der Hörende das Gehörte im Gedächtnis bewahrt und das Aufklingende gedenkend mit dem
Vergangenen zugleich vergegenwärtigt? Nur der der Zeit erinnernd überlegene Geist empfängt dieSchönheit der Wesen, in deren einigendem Währen das Ewige des Seins anwest. Darum ist das
Schöne Glanz aus dem währenden Grunde des Seins und enthüllt sich nicht, ohne im Einvernehmen
der Zeit der Lebenssorge und der Todesbedrängnis zu entrücken und das Herz zum Guten zu
begeisten.
Also bestätigt es sich in allen Bereichen, daß das Menschenherz in seinem Grunde von unendlicher
Sehnsucht belebt und in seinem Streben ins Wesenhafte und Währende des Seins gerufen ist. Damit
lichtet sich die Lehre des Aquinaten, daß unser Wollen schon in seinem „Anheben auf die Vollendung
hingeordnet ist“ und daß „der Wille im Ursprung von Gott angestoßen ist“. Denn er ist Wille zur
31
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Seligkeit und zur Liebe.
6.
Weil er Liebe ist, die die Liebe erstrebt, deshalb neigt sich Seiendes auf Seiendes hin. Wenn im
Erkennen der Geist des Seins inne wird, wenn solchermaßen das Wahre nach Thomas „im Geiste ist“,
so gilt vom Guten, daß der Mensch, der erstrebt, sich ins Wirkliche des Seins übersteigt. Also ist das
Gute nur in der Zuordnung wirklicher Wesen anzutreffen, die sich in ihrem Dasein berühren und
seinshaft beschenken. Das Gute ist nicht ohne solche Berührung und wirkliche Einigung. Deshalb ist
es die Vollendung des Seins selbst , weil in ihm sich alle wirklichen Wesen liebend beschenken und
berühren und die Schöpfung aus der Freiheit ihrer Wirkgründe zur Einheit eines Reiches heraufgeht.
Wenn jedoch der nach Seligkeit strebende Wille den Tod negiert und deshalb zum Unendlichen und
Währenden des Seins entschlossen ist, so ergibt sich, daß in seinem Grunde ein verborgenes Feuer
glüht, das ihn zu Gott hin begeistet. Denn das Allgemeine und Umfassende unserer Vernunft vollendet
und befriedet das Menschenherz nur, wenn es zugleich substantielle Wirklichkeit und überströmende
Liebe ist. Das substantiell Wirkliche, das zugleich alles in sich einbegreift, also das subsistente
Allgemeine, ist jedoch Gott selbst . „Du hast uns für dich geschaffen, o Gott, und unruhig ist unser
Herz, bis es ruhet in dir.“ Mit diesem Satz drückt Augustinus daher das Wesen des Menschen aus.
Freilich ist diese Wahrheit über unser Herz diesem nicht im Anheben seiner Neigung offenbar. Es
drängt ins Selige und Währende, noch nicht wissend, daß es damit alle endlichen Güter überdrängt,
um nach vielem Versuchen und Tasten die ewige Liebe selbst und das ewige Leben zu finden. Darum
sagt Thomas vom „unendlichen Streben“ des Herzens, daß es Gott „auf unentfaltete Weise“ erstrebe.
Weil das Herz ins Sein und zur Liebe zugleich gerufen ist, deshalb ist es frei. Es hat schon im tiefsten
Grunde seiner Neigung Welt und Zeit überstiegen und sich den einzelnen Dingen entrungen. Ins
Unwandelbare und Allgemeine gehoben, hat es aus dem Sein die Maße gewonnen, durch die es alles,
was sich seinem Streben bietet, dem Urteil seines Gewissens unterwerfen kann, um in Freiheit, d. h. in
richtender, entscheidender Verantwortung, sein Leben anzutreten. Alles Gute aber , das den Menschen bewegt, berührt sein Herz mit dem Glanz und der Macht
göttlichen Lebens. Denn wie die Dinge in ihrem Sein aus Gott entsprangen, so tragen sie auch in ihrer
Wahrheit und Güte die Siegel ihrer göttlichen Geburt. Darum „sind alle geschaffenen Wesen
Nachbilder des ersten Wirkgrundes, d. h. Gottes“6. Das aber besagt: „Am Guten hat ein Wesen nur
soweit Anteil, als es der ersten Güte, die Gott selber ist, angeglichen ist. Die Vollendung des Abbildes
aber ist diese, daß sie ihr Urbild durch eine Ähnlichkeit darstellt, die auf dieses verweist .“7
6 G. 3. 19.7 Ebd.
32
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7.
Das Streben des Menschen geht auf die seiend waltende Liebe. Es geht nicht auf ein Allgemeines. Also
ist es weder auf Werte oder Ideale noch auf Gesetze gerichtet. Was diese für das Gute bedeuten, kann
nur offenbar werden, wenn wir festhalten, daß das Gute strebende und schenkende Liebe und das
wirkliche Einvernehmen seiender Wesen bedeutet. Das Streben nach dem Guten aber ist frei. Immer
geht es aus dem subsistenten, dem in sich seienden Wesensgrund in persönlicher Selbstursächlichkeit
hervor. Der Wesensgrund des Menschen aber ist eine vereinzelte Natur, die ihr Leben nur durch
leibliche Empfängnis innehat. Der Mensch ist verleibte Natur . Das besagt, daß er sein Leben hat aus
der Gemeinschaft der Menschen und im Mitsein mit den Dingen der Welt. Er ist ein erzeugtes und ein
zur Welt gekommenes Wesen. Er kann sein Wesen nicht wahren und entfalten, wenn er nicht am
Ursprung in empfangender und zeugender Gemeinschaft steht und sein Dasein dem Walten der Welt
in tätiger Fürsorge abringt. Der Mensch ist das Wesen, das sein Leben in Freiheit erzeugt, erweckt,
begabt und begeistet , der es besorgt und ordnet, sammelt und tätig vollbringt und liebend dem Guten
weiht. Er ist ein einziger Hervorgang selbstursächlicher Herrschaft und Hingabe. Da Gott zeugende,
schaffende und begnadende Liebe ist, so kann er nur in dem Maße ein Wesen auf sich selbst hin
begaben, als es sich in seinem Dasein dem göttlichen Leben angleicht. Denn „der Wirkende strebt
dahin, sich das Empfangende anzugleichen, und zwar nicht nur im Hinblick auf das Sein des
Wirkenden, sondern auch auf dessen Ursächlichkeit“8. Darum bleibt dem Menschen in seiner
Angleichung an Gott das Höchste, daß er Ursache anderer Wesen sei, denn „göttlicher als alles ist,
Mitwirkender Gottes zu werden“9. (Dionysius).
Darum ist der Mensch als Bild Gottes das in Freiheit zeugende, das schaffende, erweckende und sich
liebend einigende Wesen. So aber ist er der Walter des Menschenreiches oder der Kultur . Dieses
Wort, verwandt mit den griechischen pelomai, poleyo, polis, bezeichnet ursprünglich das Wohnen des
Menschen; in seiner sprachlichen Ausfaltung geht es auf die Pflege und Bebauung der Erde und des
Ackers, die Errichtung und Verwaltung des Hauses, die Ingewahrnahme des Kindes, die Waltung des
Heiligtums, die Verehrung der Götter und die Bewahrung von Sitte und Wort. Kultur ist nur dort, wo
dieses Vielfältige wesenseinig beisammen ist und das Wohnen sich menschengemäß entfaltet.Wohnen aber besagt dem Wortursprung gemäß liebendes Verweilen und freudiges Versammeltsein.
Nur da wohnt der Mensch wahrhaft, wo die zeugende Liebe der Eltern den Kindern das Heim bereitet,
die Familie in den Frieden des Einvernehmens stellt und die Herzen zur Verehrung und Liebe Gottes
erweckt.
Wenn daher oben gesagt wurde, daß der Mensch in seinem Herzen unendliche Sehnsucht sei, die die
Liebe Gottes ersehnt und sucht, so könnte er sich dieser gar nicht nähern, wenn sein strebendes Herz
sich nicht zugleich als Liebe zu sich selbst erhöbe, um als Liebe Leben zu zeugen, Leben zu erwecken,
8 G. 3. 21.9 Ebd.
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Liebe zu schenken und zu verströmen, um am Geschick der Liebe zu reifen und als Abbild der ewigen
Liebe zu dieser zu erwachen.
Denn es ist dem Menschen nicht gegeben, Gott unmittelbar zu erkennen und liebend zu berühren,
sondern nur im vermittelnden Bild und verweisenden Glanz der den Schöpfer spiegelnden Geschöpfe.
Die Liebe des zeugenden Herzens aber ist das eigentliche Abbild der göttlichen Liebe und ihre
vermittelnde Schickung. Sie ist der heilige Gral des Menschenwesens, ein sanfter und allmächtiger
Genius des Himmels, die wurzelhafte Sehnsucht der Natur und ihr begeistendes Überströmen. Sie
waltet in der Majestät der väterlichen Verantwortung, in jener Fürsorge, die dem Zwist und Chaos der
Natur wehrt, wie in der Mühsal und im Opfer der Arbeit; sie beseelt die Huld der mütterlichen Pflege
und Wartung; sie waltet im Vertrauen des Kindes, im freundlichen Einvernehmen der Geschwister, in
der Mitsorge der Söhne und Töchter, im Erblühen der Jungfrau, in der Ehrliebe des Jünglings, im
Herzensüberschwang der Braut wie in der Innigkeit und in der Treue der Gatten. In diesen Urgestalten
der Liebe ist der Mensch in seinem Herzens- und Wesensgrund mit seinem ganzen Sein in die
Bewährung wie ins Schicksal gestellt. Hier allein ist am Ursprung das metaphysische Wesen des
Guten erfüllt , das wir oben kennzeichneten: Gemeinschaft des Empfangens und Gewährens,
überströmender Reichtum und bedürftige Armut, Innigkeit des Friedens und Genügen der Freude,
Ehre der Anerkennung, wehrende Ingewahrnahme, Sicherheit der Treue, Liebreiz der Huld, Zeugnis
der Wahrheit, Gedächtnis im schicksalskundigen Wort und in der Erinnerung der Herzen. In dieser
Liebe ist das Gute unmittelbare Gegenwart. Sie ist daher Ursprung, Mitte und Wesen aller Kultur , das
Gerühmte und Erinnerte aller Dichtung und das Erschütternde in jedem Lied – sie ist Freiheit und
Wonne, Sorge und Schmerz aller Herzen.
Von dieser Liebe hat Stifter ein unüberhörbares Zeugnis gegeben: „Wie bedeutungslos ist diese
Geschichte (eines Hauses); sie geht nur bis zum Großvater oder Urgroßvater zurück und erzählt oft
nichts als Kindstaufen, Hochzeiten, Begräbnisse, Versorgung der Nachkommen – aber welch ein
unfaßbares Maß von Liebe und Schmerz liegt in dieser Bedeutungslosigkeit! In der anderen, großen
Geschichte vermag auch nicht mehr zu liegen, ja sie ist nur das entfärbte Gesamtbild dieser kleinen, in
welchem man die Liebe ausgelassen und das Blutvergießen aufgezeichnet hat. Allein der große
goldene Strom der Liebe, der in den Jahrtausenden zu uns herabgeronnen, durch die unzählbarenMutterherzen, durch Bräute, Väter, Geschwister, Freunde, ist die Regel, und seine Aufzeichnung ward
vergessen; das andere, der Haß, ist die Ausnahme und ist in tausend Büchern aufgeschrieben
worden.“10
Je reiner und reicher diese Liebe waltet, um so mehr verinnert sich das menschliche Dasein im
Kostbaren seines Gedeihens und in der Andacht treuen Gedächtnisses. Um so tiefer erfährt es das
Heillose und Wesenswidrige des Todes, dem es in dauernder Fürsorge und Wehr den Frieden des
Heimes abgerungen hat. Am Unumgänglichen seines Verhängnisses muß der Mensch sich selbst
verlieren oder in ehrfürchtiger und demütiger Ergebung, in Glaube und Hoffnung sich zu Gott hin
10 Adalbert Stifter, Aus der Mappe.
34
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übersteigen.
Darum ist die abbildliche Liebe mit der urbildlichen wesenseinig verknüpft . Keiner liebt Gott, der
nicht menschliche Liebe empfing und gewährte und in seiner Liebe zu Gott zu tieferer Hingabe an den
Menschen angetrieben wird. Wo daher die menschliche Liebe wesenhaft waltet, erweckt sie die
Herzen zu Gott, wie die Liebe zu Gott dazu begeistet, die Brüder und Schwestern in ihm tiefer zu
lieben und aus dem Reichtum göttlichen Lebens zu beschenken.
Also ist das Gute in seinem Wesen für die Menschen die Liebe, die sich am menschlichen Herzen
entzündet und es auf Gott hin übersteigt, jener transzendierende Überschwang vom Abbild zum
Urbild, vom Kostbaren und Innigen der Herzensgemeinschaft ins Heil und das Heilige der
Gottesfreundschaft und der Gotteskindschaft. Das Gute der Familiengemeinschaft blieb daher so lange
verschattet, bis Gott selbst es in der „Gottesfamilie seiner Gemeinde“, d. h. in der heiligen Kirche,
vollendete. Das Wesenhaft-Gute dieser Gottesfamilie aber ist die reale Gegenwart des Gottessohnes,
der als Haupt und Bruder, als Heiland und König alles in die Gotteskindschaft und vor das Angesicht
des Vaters bringt.
8.
Diese Erwägungen sollen das Wesen des Guten enthüllen. Weil das Gute Seiendes liebend mit
Seiendem verknüpft, deshalb waltet es nur aus dem Grunde existierender Wesen. Daher sind nur
substantiell seiende Wesen gut im eigentlichen Sinne, weil nur das in sich Seiende an Gottes
überströmender Wirksamkeit teilhat. Also können wir nur solche Wesen gut nennen, die mit tätiger
Wirksamkeit und strebender Neigung begabt sind : die Dinge dieser Welt, die Pflanzen, die Tiere und
die wundersame Wirkgemeinschaft der Natur, vor allem die Menschen, mit diesen letzten aber
zugleich die natürlichen Gemeinschaften, die, in subsistenten Personen geeint, zur Wirksamkeit
kommen und die einzelnen als Glieder umfassen. Daher ist die Familie gut, die Sippe und das Volk,
die Gemeinde, die Kirche, Gott selbst und der Sohn, in dem Gottheit und Menschheit zu einer Person
und zu einem Leib verbunden sind. Alle genannten endlichen Wesen aber sind gut, weil sie an GottesGüte teilhaben, in deren Ausgießung des Seins und der Gnade alle Mitteilung und Einigung endlicher,
geschaffener und vereinzelter Wesen gründet.
Die Dinge sind in sich selber gut, weil sie das eigene Sein erstreben, noch mehr, weil sie wirkend,
empfangend und bewegend die Welt aufbauen. Ähnlich gestalten die Lebewesen in der Auszeugung
ihrer Arten, in dienlicher Zuordnung, in opfernder Darangabe (Hans André) wie durch ihr Streben die
Landschaft der Erde, in der der Mensch seine Herrschaftsmacht ausbreitet und das Reich seiner Liebe
bis zum Gottesreich entfaltet.
Weil aber in dieser Menschenliebe die Macht des Seins und das unendliche Streben nach seligemLeben waltet, deshalb sind alle Weisen zeitlicher Einigung, Zuordnung und Gemeinschaft zugleich
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durchglüht von einem überschwingenden Feuer; sie sind beunruhigt von einem Unstillbaren,
durchspannt von einem Allgemeinen und Hohen; sie sind befremdet durch etwas Ungemäßes,
verschattet von einem Undurchdringlichen und Geheimnisvollen; sie sind belastet durch die
Schwermut des Vergänglichen, beladen mit der Mühsal der Notdurft, durchängstet durch das
Verhängnis des Todes und durchschüttert durch die Übermacht und das Rätselvolle des Schicksals.
Deshalb gibt es keine menschliche Liebe, die nicht zugleich in Verantwortung und Auftrag gestellt
wäre, das Gute zu bewahren und zu behüten, um das Gute ohne Unterlaß zu ringen und das Heil
seligen Lebens für sich und die Geliebten zu gewinnen. Deshalb kann Thomas die Aussage machen:
„Der Mensch liebt von Natur Gott mehr als sich selbst“, weil sein Streben vom Ursprung her auf
Unendliches gerichtet ist und in keinem endlichen Gut zu Frieden und Erfüllung kommt.
9.
Aus diesem Geschick der Liebe allein enthüllen sich alle Weisen des Guten in ihrem wesenhaften
Bezug. Alle Dinge und Wesen sind gut, sofern sie unmittelbar Herz und Sinne erlaben, dem Leben als
Nahrung dienen und es erquicken. Als solche nennen wir sie das Ergötzlich-Gute (bonum delectabile).
Ihre Köstlichkeit liegt in der Labsal genießenden Verkostens, ihr gewährender Reichtum in der
Stillung der begehrenden, in der Erkräftigung der ermüdeten, in der Aufmunterung und Anmutung der
beladenen Natur. Sie sind das anreizende und lockende Geschenk des Lebens, das sich in seinem
eigenen Dienst strebend verzehrt; sie sind als lustvolle Wonne „der Zukunft Überschwang an das
Jetzt“ (Nietzsche), die durchschütterte Lösung der zeugenden Liebe in die Wesens- und
Naturgemeinschaft „eines Fleisches“, Untergang naturhaften Selbstseins zur Versiegelung unlösbarer
Vereinigung. Im Innig-Zarten liebkosender Berührung schenken sie das empfangend-gewährende
Einvernehmen, das wechselseitige Sich-Verströmen jener Liebe, die im Herzen wurzelt und alles
Leibliche durchseelt.
Dieses Gute ist mehrfachen Wesens: es ist als Seiendes kostbar in sich selbst , in seinen edelsten
Formen von erlesenem Geschmack, von wundersamer Innigkeit und verlockendem Zauber; darum istes zugleich ein Gleichnisbild und Angeld seligen Lebens (similitudo beatitudinis, Thomas), in der
Vollendung seiner Mitteilung, in seiner belebenden Wonne ein edles Sinnbild der Liebe selbst, wie der
Becher schäumenden Weines und der labende Trunk. Darum erkennt sich diese im Bild des
Erquickend-Köstlichen und gebraucht die ergötzlichen Gaben des Lebens als Geschenke, um die
Innigkeit ihrer Freude, die Wärme ihres Mitseins und die Güte ihres fürsorglichen Wohlwollens zu
bekunden. Es ist schließlich eine begleitende Gabe an das Leben, das stets zu anderem und zu
Wesenhafterem gewillt ist. Darum ist es eine mitkommende Zugabe und ein dahinschwindender
Vorübergang: Köstliches, das sich mit der Nahrung verzehrt, Erlabung, die in der Sättigung vergehe,Wegzehrung, die die Weiterfahrt beschleunigt und vergessen wird.
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Alle Dinge sind des weiteren gut, weil sie im Dienst des Lebens stehen. Dies gilt in gewisser Weise
schon vom ergötzlichen Guten, sofern der Genuß immer auch erquickt und erkräftigt. Als solche
vermitteln sie das Leben selbst. Das vermittelnde Gut aber nennen wir nützlich (bonum utile). Da das
leibliche Leben nur sein kann, indem es sich selbst besorgt und behütet, sich in der Welt eine Stätte
bereitet und diese seinem Wesen gemäß ordnet und zurüstet, so vollzieht es sich nur durch das Werk
der Lebensfürsorge. Dem Menschen ist daher die Handlung, die fügende Zuordnung wesentlich. In ihr
geschieht die Pflege des Ackers und der Erde, die Sammlung der Nahrung und des Vorrats, die
Errichtung und Einrichtung des Hauses und des Tempels, der Bau der schützenden Einfriedigung, die
Zähmung des Tieres, die Erzeugung der Geräte und der Waffen, die Herstellung des Kleides und des
Schmuckes, die Bereitung des Mahles u. a. m. Dieses Werk kann nur geschehen, sofern die Dinge
dieser Welt sich werkzeuglich fügen und dem Menschen zur Hand gehen. In dieser Gerätlichkeit sind
sie die entfaltete Wirkhand des Menschen selbst , der durch sie seine Handlungsmacht erweitert und
der Welt zu seinem Dienst mächtig wird. Indem er sich die Erde untertan macht, zwingt er alle Dinge
in den Dienst seiner Hände; sie werden ihm Zeug und Gerät, nutzbar zu helfender Vermittlung. Als
vermittelnde Güter sind sie wesentlich durch das bestimmt, was sie im Handeln des Menschen
hervorbringend vermitteln. Sie sind daher in keinem Betracht „gut an sich selbst“.
Die moderne abstrahierende Wertlehre hat die Werte als absolute Wesensgestalten herausgestellt und
dem „Nützlichen“ einen niederen Rang in der Stufenordnung der Wesensbereiche zuerkannt. Ihre
Scheidungen sind jedoch seinslose und seinswidrige Abstraktionen, die das Gute in seinem Wesen
verfehlen und verdecken. Dies zeigt sich mit Deutlichkeit am Guten, das wir das Nützliche nennen.
Denn das Menschenwerk läßt sich nicht ablösen vom Guten der Liebe selbst, das es ermöglicht und zu
sich selbst heraufführt. Wenn auch die technische Wirtschaft in verderblicher Ablösung das Nutz- und
Genußgut nach seinem Handelswert abschätzt und zu Markte bringt, so ist doch alles technische und
handwerkliche Wirken in seinem Wesen „Garten- und Stadtbaukunst“ der Erde, die dem Menschen
das Seinkönnen im Ganzen ermöglicht. Darum schenkt sich der Mensch durch sein Werk die
Zeugungs- und Erziehungsstätte seiner Liebe, die Wohnstatt frommen Lebens, das schmückende Kleid
ehrbaren Wandels, das Fahrzeug, das Liebende und Freunde vereint, die verläßliche Waffe zu sittlich
gebotener Wehr, das kostbare Werk seiner Kunst, das Denkmal ehrenden Gedächtnisses, dasHeiligtum der anwohnenden Gottheit, den Altar seines heiligen Opfers, den wärmenden Herd und die
Zurüstung zu gesammeltem Tun jeglicher Art. Das nützliche Wirken hat daher Anteil an allem Guten
des Daseins, das es helfend vermittelt und ermöglicht . Daher hat es Anrecht auf Ehre und Achtung,
weil es selbst mithilft, die Freiheit und den Reichtum ehrenhaften und liebreichen Lebens
hervorzubringen. Es ist aber gut im wesenhaften Sinne, sofern alles nutzbringende Wirken das Seiende
zuordnend miteinander verfügt und einigt, sofern es den Vollzug des Lebens ordnet, es von seiner
Mühsal befreit und den Überschwang und den Frieden einträchtigen Wohnens vermittelt. Also kann
die Liebe liebender walten, weil ihr ein Reich menschengemäße Wirksamkeit und sittlicher Ordnunggeschenkt wird.
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Wie die Dinge aber auch am Heilsstreben des Menschen Anteil haben, das sagt Bonaventura mit den
Worten: „Die Geschöpfe können angesehen werden als Dinge oder als Zeichen. In der ersten
Sichtweite sind sie geringer als der Mensch; in der zweiten sind sie Mittelwesen (media, vermittelnd)
für den werdenden Menschen oder für den Menschen auf dem Wege. Sie stehen aber nicht im Ziel,
weil sie selbst nicht dort hingelangen. Wohl aber kommt durch sie der Mensch zu Gott, nachdem er sie
zurückgelassen hat“ (I. Sent. d. 3 a. unicus q. 3 concl. ad 2).
Drittens gibt es das Gute, das dem Wesen menschlicher Liebe selbst entspringt , sich als Liebe entfaltet
und im Wesen nichts ist als die wirkende Wesensgestalt der Liebe selbst . Diese Liebe ist als
menschliche nur dann im Wesen gekennzeichnet, wenn sie im abbildlichen Bereich der zeugenden
Menschengemeinschaft sich vor ihr eigenes Wesen bringt und dieses zugleich in seiner seinshaften
und zeitlichen Beschränkung in den Grund aller Liebe übersteigt, wenn sie sich im Heiligen der
göttlichen Güte versiegelt und sich willig ihrem Geheiß unterwirft. Dieses Gute wird vom Aquinaten
als das „Ehrsame“ (bonum honestum) bezeichnet. Es ist dem verwandt, was Kant das
Achtungswürdige genannt hat, weil es aus der Freiheit des Geistes hervorgeht und stets dem
Allgemeinen und Ewigen einer weltübersteigenden Gesetzesordnung dient. Aber während bei Kant
das transzendente Gesetz in seiner abstrakten und allgemeinen Form als der Wesensgrund des Guten
erscheint, ist es bei Thomas Wesensausdruck und Geheiß des göttlichen Seins selbst und die
allgemeine Erfassung der Wesensordnung des zum Guten strebenden Daseins im Geiste des
Menschen. Es ist eine der Vernunft gemäße Regel, die das Allgemeine und Allgemein-Gültige erfaßt.
Sofern dieses Allgemeine den Wesensgrund der Dinge auflichtet, ist es verbindliche, ins Wesen
einweisende Norm unseres Handelns. Sofern es aber abstrakt ist, ist das Allgemeine zugleich ein
Unwirkliches, Unerfülltes und Unvollkommenes, das das Individuelle und den konkreten Reichtum
des wirklichen Daseins nicht enthält. Deshalb kann es menschliches Handeln und menschliche Liebe,
die stets aus dem Reichtum mannigfaltig „verwachsenen“ Lebens aufbrechen, sich im Unübersehbaren
zufälliger Dinge entfalten und dem undurchdringlichen Geheimnis persönlichen Daseins zuwenden,
nicht allein zureichend bestimmen. Daher ist es die eigentliche Aufgabe des Gewissens, die
allgemeinen Erkenntnisse, Regeln und Gesetze in persönlicher Entscheidung mit gewissenhafter
Sorgfalt und selbstursächlicher Verantwortung anzuwenden und die Handlung als gesetzlich geordnetewie als persönlich gestaltete und verantwortete zugleich hervorgehen zu lassen. Deshalb ist das
sittliche Gesetz nicht das Gute selbst , sondern eine verwehrende Grenze, die der Handelnde nicht
überschreiten darf, will er nicht die Wesensordnung des Seins verletzen und sündigen (du sollst nicht
töten!), oder es ist ein allgemeiner verweisender Anruf (liebe Gott aus deinem ganzen Herzen!), den es
in kluger Umsicht und im Einsatz der Liebe zu erfüllen und schöpferisch zu verwirklichen gilt. Darum
ist nicht die ängstliche „Einhaltung“ der Gesetzesregel dem Guten gemäß, sondern die „Erfüllung“ des
Gesetzes, die aus dem Geist der Liebe, aus der Neigung unendlichen Strebens in schöpferischer
Hingabe und in umsichtiger Klugheit im Zufälligen des Lebens sich ereignet. Das ist „die Fülle desGesetzes“, von der Paulus spricht, die allein aus dem Übermaß der Liebe hervorgeht. Das Gesetz ist
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daher ein verweisender Dienst der umgrenzenden und zielgebenden, der warnenden und
anbefehlenden Vernunft gegenüber dem handelnden Willen und dem liebenden Herzen, daß das Gute
dem Wesen des Seins gemäß geschehen könne.
Wie das Gesetz, so sind auch die sittlichen Tugenden dem Guten zugeordnet und aus dieser
Zuordnung gut; aber sie sind nicht das Gute. „Alle sittlichen Tätigkeiten sind auf etwas anderes, als
sie selber sind, hingeordnet“, sagt Thomas, „die Tapferkeit auf den Sieg und den Frieden, die
Gerechtigkeit auf die Bewahrung der Eintracht“, „die Mäßigkeit auf die Einhaltung des Mittleren oder
des Maßes in den inneren Leidenschaften wie in den äußeren Geschehnissen“ 11. Die Klugheit aber
beachtet Ordnung, Anpassung und den Gebrauch der „zufälligen Dinge“; deshalb „ist ihre
Wirksamkeit auf etwas anderes, dem sie als ihrem Ziel dient, hingeordnet“12.
Wie der Mensch in Arbeit und Wehr, im Errichten und Fügen des Hauses, in Sitte und Brauch sich ein
Wohnreich bereitet, so bereitet er auch die Wirkkräfte seiner Natur durch die Tugend zu einer
gesammelten Wirkordnung , die seinem Wesen und seiner Neigung zum Guten entspricht. Diese seine
Natur ist ein Lebensgefüge, das in dauernder Pflege und Zucht zur Reife geordneten Dienstes sich
erkräftigt, das die niederen Strebungen auf das sittlich gewillte Herz und die regelnde Vernunft hin
begeistet und ausrichtet. Dies geschieht, indem die Vernunft durch die Einbildungskraft und ihre
lockende Versinnlichung geistiger Güter die strebende Natur zum Guten erweckt, indem sie den
Herzgrund anruft und befeuert, indem sie die Leidenschaften zügelt und ihre fortreißende Hingabe auf
das geordnete Bild liebender Eintracht und Freundschaft und über diese ins Urbildliche der göttlichen
Güte leitet13. Die Tugend ist eine überströmende Begeistung, eine zielsetzende, ordnende Festigung,
eine gewöhnende Stärkung aller Strebekräfte; sie ist eine Sammlung und Ordnung des Herzens, auf
daß der Mensch sein Leben ganz zu eigen habe und vor dem königlichen Gerichtshof seines
Gewissens in selbstursächlicher Verantwortung und Herrschaft hervorgehen lassen kann. Sie schenkt
dem Menschen jene Freiheit, die ihn selbst der Liebe würdig macht und die Herzensgemeinschaft des
Gewährens und Empfangens in feinsinniger und zartsinniger Behutsamkeit zum Ereignis persönlicher
Freiheit erhebt. Sie erst macht ihn zum Abbild Gottes, wenn er in seiner menschlichen Gemeinschaft
die abbildliche Vollendung tugendhaft geordneten und liebreich beseelten Wirkens zu eigen hat, die
alles Irdische adelt und vergeistigt und es zugleich als ein Gleichnis zum ewigen Grunde hindurchstrebt, nicht ohne das Menschliche um so mehr in den Glanz, die Wahrheit und ins Kostbar-
Innige der ewigen Liebe zu erheben.
Darum sind alle Tugenden wesenhaft der Erfüllung der menschlichen Liebe in den substantiellen
Liebesgestalten der zeugenden Liebe, der Vaterschaft, Mutterschaft, Kindschaft, Brautschaft und
Gattenschaft zugeordnet, sofern diese vom Geheimnis der göttlichen Bestimmung des Menschen
durchwaltet und göttlich formiert sind. Sie sind daher als Weise vollendeter Einigung seiender Wesen
auf ähnliche Weise zu kennzeichnen wie das unmittelbare Gute der Ergötzung.
11 G. 3. 34.12 G. 3. 35.13 Vgl. Gustav Siewerth. a. a. O. S. 77-87.
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Sie sind zunächst als Enthüllung und Gabe der zeugenden Liebe von wundersamer Innigkeit und Süße.
Was ist rührender und herzbewegender als der sich der mütterlichen Huld anvertrauende Kindesblick,
was seliger als ein spielendes Kind unter den Blumen des Gartens, als der Liebreiz, der „über den
zarten Wangen des Mädchens webt“, was „siegreicher als die Anmut, die aus den Augen der
holdseligen Jungfrau strahlt“ (Sophokles), was erschütternder als die Hoheit im gefurchten Antlitz der
Mutter! Im Bilde der menschlichen Liebe waltet eine göttliche Mitgift, deren Anmut, Macht und
Schönheit das Herz berückt. Weil „der Mensch die höchste Stufe des gesamten Naturwerdens darstellt,
deshalb strebt der ganze materielle Werdegrund zu ihm hin wie zu seiner letzten und höchsten
Ausformung und Möglichkeit. Der Mensch ist das Ziel des gesamten Werdens in der Natur .“14 So
begegnet der Mensch im Menschen dem Thron und König aller Natur, der persönlichen und
subsistenten Einheit des Geschaffenen, der selbstmächtigen Ursache seines Daseins, einem
unerschöpflichen Quell des Lebens und Wirkens, dem Zeugegrund der Liebe und dem vom Sein
ermächtigten und wundersam in sich selbst aufgelichteten Geist. Sofern daher in jedem Menschen der
Werdegrund des Alls ins gesammelte und empfängliche Suchen kommt und im Menschen seine
höchste Möglichkeit erkennt, ist die Liebe des Geschlechtes ein königliches Geheimnis. In ihr ruft
alles Empfängliche der Natur nach der Herrschafts- und Aktuierungsmacht des ihm angemessenen
Seins. Darum gibt es keine Liebe, in der im Erscheinen der gottgeborenen abbildlichen Schönheit dem
geistigen Streben des Herzens nicht zunächst der Glanz göttlicher Vollendung und die Anmut
unendlich gewährender Huld vordringlich aufleuchteten und das zerbrechliche Gefäß sterblichen
Daseins verhüllten oder im Geheimnis seiner Zeitlichkeit und Einzigkeit noch kostbarer erscheinen
ließen. Darum steht jede substantielle Liebe im Vorschein ewigen, seligen Lebens im strengen Sinn
dieses Wortes. Deshalb ist keine Liebe meßbar durch die Zeit . Jede ist eine Entrückung und waltet im
Frieden zeitenthobener Herzenseintracht.
Je inniger aber die Liebe sich neigt, je substantieller sie sich versiegelt, um so tiefer stößt sie zugleich
an die Grenzen des Fremden und unüberschreitbar Einsamen und Besonderen, um so sorgsamer
behütet und beachtet sie die gebrechliche Notdurft des geliebten Lebens. Notwendig erkennt sie die
achtunggebietende sittliche Freiheit, den Ernst des Gewissens und die heilsbegierige Tiefe des
geliebten Herzens, die kein Mensch aus den Kräften seiner Natur erfüllt, die ihn deshalb auch ininnigster Nähe ins Verhaltene der Ehrfurcht weist. Also ist diese Liebe Erfüllung und unerfüllbar
zugleich, sie ist währender Friede über der Angst des Todes und der Entzweiung; sie ist vollendet und
ist doch nur Stufe und Verheißung ewigeren Lebens; sie ist überströmendes Gewähren und
Empfangen und währt doch nicht ohne die Mühsal der Sorge und der Arbeit; sie ist gelöste
Herzensfreiheit und ein seliges Spiel und steht doch im Ernst sittlichen Geheißes; sie ist inniges
Einverständnis – doch nur in ehrfürchtiger Achtung und Zurückhaltung vor dem unverlierbaren Recht
des Eigenen und Persönlichen. Also bewahrt die Liebe das Wesen ihrer Vollendung nur, wenn sie sich
14 G. 3.22.
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demütig in ihre Endlichkeit fügt und sich aus dem Überschwang ihres göttlichen Geheimnisses auf
Gott hin übersteigt. Die Liebe des Menschen ist daher in ihrer höchsten Entfaltung urbildlicher Glanz,
nachbildliches Bescheiden in ihr endliches Wesen, Sorge um die vom Tode immerfort bedrohte Natur,
gehorsame Fügung in Gesetz und Ruf des Seins, ehrbarer Wandel in Zucht und Maß naturgemäßer
Daseins-Entfaltung, sittliche Einordnung in die Gemeinschaften der Gemeinde wie des Volkes, ein
seinserhellter Überstieg auf das urbildliche Geheimnis hin und fromme Ergebung in das Geschick.
Diese Liebe ist aus Natur „ Hoffnung auf das Heil “. Als diese aber ist sie die aus Gottes Gnade gefügte
Bereitschaft zur Empfängnis des göttlichen Lebens des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. In
diesem erheben sich Herz und Geist zur Kindesgemeinschaft oder Herzensfreundschaft mit Gott. In
seinem Reifen zu seinem höchsten Guten aber entfaltet sich das Menschenherz zu den urbildlichen
und heiligen Lebensgestalten, in denen sich alle die obengenannten Ausformungen der zeugenden
Liebe wiederholen und diese in ihrem göttlichen Wesen vollenden. Denn die menschliche Vaterschaft
„hat von Gott her ihren Namen“, wie auch das Geheimnis der Kind- und Brautschaft auf die
gnadenhafte Gotteskindschaft und die Brautschaft derer hin, „die dem Lamme folgen“, entworfen ist
und sich in diesem auflichtet und vollendet. Wo immer diese Liebe waltet, steht sie daher in der
Vollendung des Göttlichen. Deshalb ist sie das ewige Leben selbst in der Verschattung und im Wandel
der Zeit, das in seiner letzten Einung mit Gott in seinem substantiellen Wesen fortwährt und alles
zeitliche Geschick ins Ewige heraufführt. Denn „die Liebe höret nimmer auf“ (Paulus).
Das Gute steht daher als Liebe hier schon im Licht seines ewigen Zieles. Daher lebt der Liebende im
spiegelnden Gleichnis des Heiligen und in allen Erfüllungen zugleich in Sinnbild und Zeichen. Indem
er sich und alles Geschaffene auf Gott hin übersteigt und das Gleichniswesen aller Dinge enthüllt,
vollendet sich alles menschliche Wirken: Dann wird Erkenntnis zu liebeerleuchteter Weisheit, alles
Streben zu heilsbegieriger Hingabe, alles Handeln zu demütig dienender Vermittlung; alle sittliche
Zucht verinnert sich zu behutsam waltender Güte. Dieses Gute ist das bräutliche Geheimnis des Seins,
der innere Aufbruch der Herzen zur Hochzeit des Lammes, das Reich Gottes, das nicht von außen
kommt, sondern „in uns wohnt“.
Weil das Gute die liebende Einigung, das schenkende Gewähren wie die Empfängnis aller
vereinzelten Wesen ist, deshalb fügt sich in ihm die zerstreute und von der Sünde verzwistete Weltzum Frieden der Herzenseintracht und der Gotteskindschaft. Das Gute ist solchermaßen das Wachsen
des Gottesvolkes und des Gottesreiches in der Freiheit selbstursächlichen Wirkens schenkender und
empfangender Liebe. In ihm sind alle Dinge und Wesenheiten in der Bewegung zur Vollendung.
Darum geht es im Guten um das einzelne „Individuum“ wie um die „Gattung“, um das „All“ wie um
die übergreifende Einheit des „Seins“ und die Entfaltung der „göttlichen Güte“15 (Thomas).
Diesem Geheimnis ist alles Wirken dienend zugeordnet : Besorgung und Pflege, Belehrung und
Bildung des heranwachsenden Lebens, die Ernährung und Erquickung der Natur, die „Garten- und
Stadtbaukunst“ der dienenden Technik, die gütervermittelnde Wirtschaft, das gerechte Walten des
15 Vgl. G. 3. 24.
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Staates wie das Zeugnis des schöpferischen Geistes. Ohne diesen dienenden Bezug, ohne die Demut
vor dem Königsgeheimnis des Guten wird jegliche Herrschaft, jedes organisierte Menschenwerk zum
abscheulichen Götzen und zur Gewalttat gegen Gott und das Wesen aller Kultur.
Alle Bildung aber, die dieses Gute umschweigt, ist eine „Abwehr des ungestümen Angriffs der
unwissenden Kinder auf die Wahrheit“; die es aber ins Nutzwerk der Naturwissenschaft und der
Technik, ins Allgemeine wesenloser Abstraktionen oder ins Zeitlich-Menschliche auflöst, ist „eine
sanfte unmerklich-allmähliche Einführung der gedemütigten Kinder in die Lüge“ (Franz Kafka).
Hoffen wir, daß das Abendland noch einmal die Kraft gewinnt zu „selbstursächlicher Freiheit“, indem
es seine Entwürdigung durch die Vormacht des „nur Vermittelnden“ und durch den wesenlosen
Bildungsbetrieb erkennt und alles dem Gericht des Gewissens unterwirft, das durch das wirkliche und
wirksame Gute der menschlichen und göttlichen Liebe erleuchtet und ermächtigt ist.
Weil das Gute Einigung in Freiheit und zuordnendes Fügen ist, so waltet es wesenhaft im Werk des
Geistes, der, vom Sein ermächtigt, im Licht der Wahrheit, im Glanz des Schönen und im Reichtum der
schaffenden und begnadenden Liebe Gottes Zeugnis gibt. Denn dem Vernehmen des Geistes ist eigen,
daß es nichts antastet, wie die Erscheinung der Dinge in ihrer Offenbarkeit das Wesen gibt, ohne sich
zu vergeben. In diesem Unversieglichen, das sich nicht verzehrt und erschöpft, waltet die
metaphysische Freiheit des Seins, das entspringen läßt ohne Verlust, das sich verströmt ohne
Minderung, das sich übersteigt ohne Entzweiung. Deshalb ist der Mensch um so mehr seiner Freiheit
geschenkt, als er im Wesen des Seins zu sich selber kommt. An dieser Freiheit hat alles Anteil, was
des Geistes ist. Dessen Wesen ist, im Zeugnis des Seins sich in diesem selbst auszuteilen und zu
bekunden. Daher ist das Leben des Geistes reine Entfaltung des Guten und eine Einigung im
Gespräch der Liebe.
Deshalb kann vom Guten nicht gesprochen werden, ohne des Wortes und der Rede zu gedenken, die
mitteilen und vereinen, enthüllen und beschenken, binden und versiegeln, bewahren und verweisen,
richten und ermahnen. Darum ist das Gute für uns nicht ohne die Sprache des Menschen, in welcher
die Liebe in allen Weisen ihres sittlichen und heiligen Wesens waltet und sich bekundet. In der
Freiheit und Fügsamkeit des aufweisenden und mitteilenden Wortes, das des Seins und Seienden
mächtig ist, im Ring der Rede, der die Herzen, das Seiende und das Sein verknüpft und imAngemessenen sittlicher und liebender Zuordnung hält, kommt das Gute ins Werk.
Wie die Worte sind Bild und Gesang Genien des Guten. Ja die Schönheit ist in ihrem Wesen nicht nur
„Glanz des Seins und der Wahrheit“, sondern die Anmut und das Holde seines liebenden und
lichtenden Überschwanges. Also waltet in ihm das Geheimnis der Freiheit. Gedicht und Gesang
entspringen der begeistenden Eintracht, in der das Herz, das nach Seligkeit dürstet, und die einig und
selig waltende Liebe im Geschick und Glanz des Seins sich berühren. Sie sind die Siegel der Ewigkeit
und versammeln das Seiende am spiegelnden Lichtrand seiner abbildlichen und urbildlichen
Vollendung.
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b) Die Weisen der Freiheit und das Gute
1.
Dieser Gang durch die Weisen des Guten hielt sich streng in der metaphysischen Einheit seines
Wesens, das so wenig aufteilbar ist wie das Sein und die Wahrheit. Wer es in Werte zerlegt, in
Gesetzen entwirklicht, in endliche Erscheinungen verschränkt, zerstört seine Wahrheit und seine Kraft.
Dieses Gute ist die Wesensmacht, die Ermächtigung der Freiheit selbst , weil nur die Liebe in ihrem
zeugenden und geistig austeilenden Walten den Menschen sich selbst schenkt, auf daß er sich selbst
besitze, sich seiner Natur gemäß erschließe, sein letztes Ziel erkenne, sich zum Guten hin auflichte,
„reifend“ seine Kräfte im „Reif und Ring des Herzens“ sammle und am Geschick der Liebe sich auf
sein Heil übersteige. Nur der ist frei, der, am Geheimnis der menschlichen Liebe gereift, zu Gott hin
entschlossen ist, weil der unstillbare Grund seines Herzens „unendliche Sehnsucht“ ist nach dem
„hochzeitlichen Ring der Ringe, dem Ringe der Wiedergeburt“; nicht wie Nietzsche ihn verstand als
die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ sondern als die Heimkehr der Schöpfung in der Hochzeit des
Lammes.
Die Freiheit der selbstursächlichen Erwirkung des eigenen Lebens ist die Mitteilung und Empfängnis
des Guten selbst und der Gang durch alle vermittelnden Wege. Sie waltet als Freiheit der richtenden
Beurteilung, als Freiheit der übersteigenden Loslösung, als Freiheit der sichtenden Zielsetzung, als
Freiheit der sammelnden Zurüstung der Natur, als Freiheit des Handelns, der Wahl, des Einsatzes und
der Versiegelung und schließlich als Freiheit des zeugenden Überschwangs.
Die Freiheit des richtenden Urteils ist das Vermögen der sittlichen Vernunft. Da diese am Ursprung
erkennt, daß der Wille „den Tod verneint“ und zur „Seligkeit gewillt ist“, daß er ferner in seiner
Urneigung dem Allgemeinen und Umfassenden des Seins unterworfen ist, so gewinnt sie ein
Richtmaß, kraft dessen sie alles menschliche Streben und Erwägen beurteilen kann. Wenn der Mensch
daher den trügerischen Ähnlichkeiten des abbildlichen Seins verfällt oder sich an Zeitliches und
Beschränktes verliert, so liegt diesem immer ein unbesonnenes Zurückdrängen des Gewissensurteils
zugrunde. Darum ist auch der geschichtliche Verfall der Menschheit bis zum Verlust der
Gotteserkenntnis nicht eingetreten ohne selbstursächliche Verschuldung.
Denn der vernunfterleuchtete Wille hat am Ursprung alles Endliche überstiegen und sich im Zeitlosen
des Seins gefestigt. Deshalb konnte er sich dem Anreiz der einzelnen Dinge und der eigenen Natur
entgegensetzen und sie seinem Urteil unterwerfen.
Da der Mensch aber Gott auf „unentfaltete Weise“ anstrebt, so zielt er zunächst auf ein Allgemeines
und Verborgenes zugleich, dessen eigentliches Sein und Wesen zu enthüllen ist . Der Mensch kommt
daher nicht zu endgültiger Zielsetzung ohne sichtende Klärung des metaphysischen Horizonts. Weil
diese forschende Erhellung im Trug von tausend endlichen Verlockungen geschehen muß, weil sie imtranszendentalen Schein des vieldeutigen Seins, im Mannigfaltigen der geschöpflichen Abbilder statt
hat und der Mensch sich immerfort im Unverbindlichen seines endlichen Wirkens hält, so steht diese
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Enthüllung im freien Wirken des Geistes. Denn sie vollzieht sich im Unentschiedenen gleichgeltender
und gleichgültiger Möglichkeiten, von denen keine das Streben des Geistes an sich zu binden vermag
(indifferentia imaginum et actuum).
Die Geschichte der heidnischen Menschheit enthüllt, daß es die Kraft der gefallenen Natur überstieg,
in der verzwisteten Welt, die unter der Schwermut des Todes seufzte, das Abbild der schöpferischen
Güte Gottes zu erkennen und das sittliche Streben dem Gericht des Gewissens gemäß auf Gott
auszurichten. Also ist es der erleuchtenden Gnade Gottes und seiner Selbstoffenbarung zu danken, daß
der Mensch durch die Verschattungen und Vergötzungen des letzten Grundes aller Dinge hindurch zu
seinem höchsten Ziele fand und sich zu ihm in Freiheit entschloß. Die zielsetzende Freiheit unserer
Liebe ist daher Vermächtnis und Gunst der sich offenbarenden Güte Gottes.
Das gleiche gilt von der sittlichen Zurüstung und Sammlung der Naturkräfte zur Freiheit tugendhaften
Wirkens. Die Strebekräfte der Natur sollen sich der regelnden Weisheit der Vernunft fügen. Sie sollen
durch Zucht und Maß, durch Einsatzbereitschaft und Treue, durch Erfahrung und Besonnenheit, durch
Sorgfalt und Behutsamkeit den Frieden bewahren helfen und das menschliche Wirken in Freundschaft
und Liebe ermöglichen. Auch hier ist alles am Ursprung des Lebens unentschieden und im
Undurchdringlichen individueller Neigungen und verschlungener Schicksale verhüllt. Darum muß der
Mensch in der helfenden Gemeinschaft seiner Erzieher die sittliche Wirkbereitschaft seiner Natur in
tausendfältigen Vermittlungen und in unablässigem Versuchen aufbauen. Da er dies nur vermag, wenn
die Liebe ihn ruft und bindet, wenn Weisheit und Sitte einer Gemeinschaft ihn erleuchten und
bestärken, schließlich, wenn ihm die menschliche Liebe, der Friede und die Ordnung der
Gemeinschaft als Abbilder göttlichen Lebens kostbar und in Gottes Liebe und Gesetz heilig
erscheinen, so wird auch hier sichtbar, daß die Freiheit sittlicher Tugenden aus der Macht des Guten
erwächst.
Zur Zurichtung der Natur gehört das Werk der Arbeit, die Ausgestaltung und Entfaltung des Lebens in
seiner unübersehbaren Mannigfaltigkeit. Der Mensch muß immerdar sein Leben besorgen und in
tausendfachen Handlungen zur Einheit fügen. Jede Handlung aber steht im sinnvollen Erschlossensein
des Daseins und entspringt daher den oben gekennzeichneten Grundweisen der Freiheit. Man kann
sagen, daß nur der handelnd entschlossene Mensch Handlungen hervorbringt. Eine solche Handlungkann sich daher vermittelnd einreihen in den Ablauf eines abgezielten Geschehens, wie der Besuch
einer Vorlesung im Ganzen einer übernommenen Studienordnung; oder aber sie kann im Ergreifen
neuer Zielsetzungen und Möglichkeiten neu anheben. Sie kann aber nicht als Handlung im
eigentlichen Sinne gekennzeichnet werden, wenn nicht in ihr das Ziel eigens ergriffen und neu gesetzt
wird. Darum geschieht eine vollendete sittliche Handlung nur im Hinblick auf das absolute und
göttliche Ziel der sittlichen Ordnung . Sie entspringt daher immer im ursprünglichen Sinne dem
Gewissensgrund des Menschen.
Ist das Ziel aber gesetzt, so besteht die Handlung in der Zuordnung von Wegen und Mitteln, die zudurchgehen oder zu gebrauchen sind, um das Ziel zu erreichen . Ihr Wesen besteht daher in der
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sorgsamen Erwägung über die angemessenen und besten Mittel und Wege. Diese sind allesamt im
Unübersehbaren des wirklichen Lebens, im Wechsel und der Verschiedenheit seiner Bedingungen, im
Undurchdringlichen des individuellen Daseins konkretisiert. Daher sind sie nirgends einfachhin
berechenbar und wie ein durch Wesensnotwendigkeiten geordnetes System des Denkens zu
verknüpfen. Das Wirkliche existiert vielmehr immer in den Besonderungen und Vereinzelungen der
Dinge, deren Wirkgründe von anderen abgeschieden und getrennt sind. Wiewohl daher die Wesen nur
im umgreifenden Grunde des Seins und im Gefüge des Universums ihr Dasein haben, so sind sie
dennoch in lockerer Streuung besondert. Daher ist jedes Wesen vom anderen abgeschieden und
existiert ursprünglich an Rissen und Rändern, die es in seinem Selbst- und Eigensein umgrenzen und
abgrenzen. Deshalb ist es dem Menschen aufgetragen, die gesamte Ordnung der Welt und seiner
Gemeinschaften aus vereinzelten Gründen in Freiheit hervorzubringen und selbstursächlich zu stiften.
Es gibt daher nichts in der Menschenwelt, was nicht durch freies Handeln gefügt und in die
Zuordnung gestellt wäre. Sofern jedoch diese Ordnungen durch Sitte, Gesetz und Einrichtungen
bereits gesetzt sind, verfallen sie und werden widermenschlicher Zwang, wenn sie nicht den immer
neuen geschichtlichen Bedingungen gemäß neu entworfen und von den einzelnen verantwortlich und
willig übernommen werden.
Niemals aber gibt es eine Menschenordnung, die nicht teilhätte an der Zufälligkeit und Unvollendung
des Menschlichen, die nicht im Wesen zugleich eine Freigabe für die persönliche Entfaltung der Liebe
und des Geistes bedeutete. Daher ist es dem Menschen aufgegeben, immer wieder handelnd
Ordnungen zu stiften, die Dinge miteinander werkzeuglich und dienend zu verfügen und das Werk der
Gemeinschaft und der Liebe in schöpferischer Freiheit hervorzubringen. Weil aber alle Dinge und
Wege, alles Tun und Trachten vereinzelt sind, so haben sie alle Anteil an der Zufälligkeit der
Verknüpfung; sie spielen in tausend Möglichkeiten und Weisen und gewinnen Maß und Mitte,
Brauchbarkeit und Gangbarkeit, Richtung und Fügung allein durch Wahl und Entscheidung des
Menschen. Darum waltet in jeder Handlung die Freiheit der Zielgebung, die Freiheit kluger
Erwägung und aussondernder Umsicht . Diese kommt im Zufälligen nicht zum Ende, wenn sie nicht in
spontaner Selbstmächtigkeit das unendliche Spiel der Möglichkeiten begrenzt (indifferentia viarum),
wenn sie nicht im vielfältig Angemessenen wählt und in freier Entscheidung Weg und Mittel bestimmt. Entscheidung aber besagt stets ein freies Ergreifen einer Möglichkeit und eine Verneinung
und Aufhebung aller nicht ergriffenen. Da es für diese Entscheidung keinen anderen letzten Grund
gibt als den entscheidenden, vorziehenden Willen des Handelnden, so ist jede Wahlentscheidung eine
selbstursächliche Übernahme. Der Handelnde muß die Entscheidung auf sich nehmen, sie sich selbst
zulasten und vor dem Gerichtshof seines Gewissens im Hinblick auf die Erreichung seiner letzten und
höchsten Ziele verantworten16.
Im Grunde steht im Dasein des Menschen alles in freier Entscheidung, weil die allgemeine Erkenntnis
des Guten und seiner Gesetze keine Handlung ermöglicht. Die Freiheit der Wahl , welcher die
16 Vgl. Gustav Siewerth, a. a. O. S. 68-88.
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unbezogene Zufälligkeit und Unentschiedenheit alles Besonderten und Endlichen entspricht, waltet
daher in jeder Freiheit , in der sichtenden Enthüllung des letzten Zieles, in der sammelnden Zurüstung
der sittlichen Tugendkraft, in Gebrauch und Nutzung aller Dinge, in der Gestaltung des Wohn- und
Lebensraumes, in der Eröffnung und im Durchschreiten der Wege des Lebens, in der Fügung seiner
Ordnungen, im Hervorgehenlassen jeder Handlung aus dem Grunde des Herzens, schließlich im
fürsorglichen, beschenkenden Walten der Liebe und im Werke des Geistes.
Diese Handlungs- und Wahlfreiheit vollendet sich im Durchhalten der Handlung selbst, die um so
mehr der Hingabe und des Einsatzes bedarf, als sie vieles verknüpft, viele Mittel und Wege
durchstrebt und viele Kräfte des Herzens ins Spiel bringt und auf ein Ziel hin bindet. Durch diesen
Einsatz, der die innere Einheit des handelnden Geschehens in der Lockerheit seiner Phasen und Mittel
erst hervorbringt, wird die Handlung erst zur persönlichen Tat und vollzieht sich in dauernder
Übernahme und Verantwortung . Diese Übernahme und Zuneigung vollendet sich wiederum in der
Versiegelung des Wirkens im vorgesetzten letzten Ziel. Es ist dem Menschen wesentlich, daß er nicht
beim Vermittelnden des Handelns stehenbleibe, nicht in der Anspannung und im Rastlosen des
Wirkens, sondern daß er das Wesenhafte ergreife und sich liebend an es hefte. Darum gewinnt jede
Handlung ihre Wesensgestalt aus ihrem Ziel . Sie ist um so mehr menschengemäß, je höher das Ziel
ist, je mehr es dem „unendlichen Streben des Herzens“ und der „göttlichen Güte des Seins“ entspricht.
Die Tätigkeit aber hat um so höheren Anteil am Wesen und Ziel der Liebe, als ihr vermittelndes
Wirken von diesem Ziel formiert oder durchprägt und vom Feuer und vom Frieden göttlichen Lebens
durchglüht ist. Darum ist derjenige mitten im geschäftigen Wirken der ordnenden Sorge um so freier,
der sich in den höchsten Zielen versiegelte, der im Treuen, ohne Wanken und in gefestigter Ruhe
wirkt, der Entschlossene und Verschworene, der Hingegebene und Geopferte, dessen Leben in der
Weihe des Guten steht, dem er sich mit allen seinen Kräften weihte. Darum ist das höchste Gebot,
Gott zu lieben aus allen Kräften und aus dem ganzen Grunde des Herzens und den Nächsten wie sich
selbst, d. h. nach dem Maß der zum Leben gewillten Natur, ein Anruf zur höchsten Freiheit, die alles
Trachten und Streben vom Zwang welt- und naturgebundenen Treibens ins Wesenhafte des Guten
befreit.
Auch diese Auflichtung der Handlungsfreiheit enthüllt, daß sie dem Menschen durch das ergriffeneGute selbst erst geschenkt wird. In jeder Entschlossenheit hat sich der Mensch zuvor für das Gute
erschlossen, dessen Helle und Kraft seine Erfahrung bestimmt, seine Klugheit zur Weisheit aufhellt,
seine Einsatzbereitschaft und Hingabe erhöht, seine Treue festigt und aller Tätigkeit Form, Maß und
Wärme der Liebe verleiht. Darum ist die Liebe die Wurzel, das Ziel, die befeuernde Kraft wie die
innere Wesensform jeder guten Handlung und der innere Grund ihrer Freiheit .
Alle genannten Weisen der Freiheit haben daher teil an der letzten und eigentlichen Freiheit des
Menschen, die wir den zeugenden Überschwang der Liebe nannten. Sie alle sind dieser zugeordnet.
Diese Freiheit ist nichts anderes als die Vollendung und der Vollzug der Freundschaft und der Herzensgemeinschaft von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Gott und von Gott zum Menschen und
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alle drei in wesenhafter Durchdringung. Hier ist das zeugende Herz und der schöpferische Geist im
überströmenden Gewähren und im Dank rückströmender Empfängnis zur Liebe vollendet. „Denn das
Leben ist die Liebe und des Lebens Leben Geist“ (Marianne v. Willemer). Alles Nützliche und
Sittliche, alles Genießen und Erquicken, Tugend und Gesetz sind überholt und überstiegen und an
ihren Wesensort gestellt, wenn die Liebe selbst aus der Erkenntnis des Seins Zeugnis gibt, wenn sie
das Kostbare und Schöne der sich mitteilenden Huld, das Holde aller Wesen dichtend und singend zur
Erscheinung bringt, wenn sie rühmend Geschick und Opfer der Liebe preist und hochherzig als sich
verschwendende Güte waltet, wenn sie das Gespräch der Herzensfreundschaft führt, alles dankbar
Empfangene und Bewahrte im Herzen verinnert und in eine Gabe der Güte verwandelt, wenn sie im
„Schönen und im Guten in den Herzen zeugt“ (Platon), wenn sie ehrfürchtig und andächtig vor dem
Geheimnis der Freiheit sich verhält, wenn sie im Glauben der „Gefangene des göttlichen Wortes“ und
in der Gnade Bruder und Freund, Kind und Braut der ewigen Liebe wurde, wenn sie im Liebeshauch
des Heiligen Geistes den Kuß der himmlischen Liebe, das Licht ihrer Weisheit und den Glanz ihrer
Hoheit empfing und in opfernder Hingabe lebt. Dieses Geheimnis des Geistes und der Liebe
durchwaltet, adelt und vollendet alle Weisen menschlichen Tuns, das Wirken der väterlichen Güte, die
huldreiche Sorge der Mutter, die innige Eintracht der Familie, die Herzensgemeinschaft der Gatten,
das Einvernehmen treuer Freundschaft, das Werk der Erziehung und Bildung, die Hirtenschaft des
Priesters, das Königtum aller Herrschaft. Sie bestimmt die Atmosphäre der Arbeit und die Begegnung
der wirtschaftenden Menschen. Wo ihr Genius sich nicht regt, ist der Mensch in seiner Freiheit und
Würde erstorben und zum Sklaven der Notdurft und Notwendigkeit erniedrigt.
Darum ist es eine Verhüllung des Menschenwesens und eine heillose Verkürzung seiner Freiheit,
wenn man diese nur im gesetzlich geregelten Tun der Moral, im Dienst der Arbeit und im
abgezweckten Handeln im Getriebe der Welt aufzufinden sucht. Denn das Wirken der Liebe kann
durch kein „Gesetz“ geregelt und eingegrenzt werden. Die Bewahrung der allgemeinen Wesens- und
Gesetzesordnung schenkt keine schöpferische Erfüllung. Nur die je persönliche Liebe vermag im
Hören des persönlichen Anrufs dem Dasein zu jeder Stunde das zu gewähren, was der Liebe gemäß
ist, die sich schöpferisch übersteigt und Stunde und Möglichkeit ursprünglichen Handelns, Schenkens
und Empfangens erst durch ihr unableitbar einmaliges Wesen heraufführt. Was sich zwischenFreunden und Liebenden ereignet, ist immer ein Einmaliges und je Besonderes, das im schöpferischen
Wachstum und Walten erst heraufgeht. Dieses Geschehen aber ist die Substanz und das eigentliche
Wesen menschlichen Daseins, das des Göttlichen oder des Guten nicht innesein kann, ohne „im
Schönen zu zeugen“.
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2.
Mit dieser Enthüllung der Freiheit aber tritt das wahrhaft Erstaunliche zutage, daß sie in allen ihren
Weisen Gnade und Gunst des Guten selber ist . Wie die Vernunft vom Sein her sich selbst übereignet
ist und nur in der Macht des offenbarenden Seins zur Erhellung der Wahrheit ermächtigt ist, wie daher
die Wahrheit im Wesen nicht aus der Erkenntnis hervorgeht, sondern als Wahrheit „die Ursache der
Erkenntnis ist“ (Thomas), wie alle Wissenschaft von ihren unmittelbar einsichtigen Gründen her sich
entfaltet, so ist auch unser Wollen und unsere Freiheit Gabe und Begabung des sich mitteilenden, des
erweckenden, begeistenden Guten. Deshalb wird der Mensch nur durch die Liebe, durch die
Erkenntnis des Seins, durch die holden Gaben aller Wesen, durch Gottes Wort und Gnade und das
heilige Walten der erlösenden und sich opfernden Liebe zu sich selbst befreit. Je mehr er sich dem
Göttlichen weiht und sich zum Werk der Liebe bereitet, um so mehr gewinnt er sich selbst, um so
tapferer und besonnener wehrt er dem Bösen, um so tiefer übersteigt er sich in Opfer und Hingabe.
Jede Bindung an das Gute erlöst aus dem Krampf und der Enge der Angst und der Mühsal der
Notdurft und bringt noch in Not und Notwendigkeit des Sterbens Freiheit und Trost des sich in Gott
begebenden und anbefehlenden Herzens. Darum ist jede Liebe begleitet vom hochherzigen
Überschwang des unendlich strebenden Herzens und eröffnet im Walten die Räume neuer Freiheit.
Jede sittliche Entschlossenheit erschließt das Dasein zu tieferem Vermögen. Darum wird auch mit der
Vollendung der Liebe nicht die Freiheit aufgehoben. Wohl verliert sie die Not und Wirrsal irdischen
Schwankens und die Gefahr der Versuchung, aber sie steigert sich „von Übermaß zu Übermaß“ in der
Übernahme der „ewigen Last an Herrlichkeit“ (Paulus), kraft der sie im „Licht der Glorie“ in
königlicher Macht und im schöpferischen Überströmen göttliches Leben empfängt und austeilt.
Darum erstickt derjenige die Freiheit, der sie vom Guten löst , um sie ans Selbstsein des Menschen, an
die schrankenlose Willkür der Individualität und ans unverbindliche Spiel ihrer Ungebundenheit zu
knüpfen17. Auch eine Erziehung, welche die Spontaneität des Kindes von der einweisenden Macht des
Seins, von der Strenge des Gesetzes und der Pflicht, von der Einfügung ins Geheiß ernster Fürsorge,
von der ehrfürchtigen Empfängnis geistigen Lebens befreien möchte, gefährdet das Kind in seinem
Wesen und bringt es um Reife und Verantwortung. So man aber das unendliche Streben der Natur vom Guten löst , kommt der Mensch triebhaft ins Wuchern und verfällt der Übermacht eines dunklen
Drängens, das nicht durch sittliches Tun formiert, durch Dienst und Opfer geläutert und durch Liebe
und Glaube begeistet, befriedet und gefestigt wird. Notwendig erscheint dann der Mensch durchdrängt
und getrieben von dem unbewußten Liebesdrang seiner Natur, dessen Unendlichkeit ihn
durchschüttert und ihn wesenlosen Verlockungen ausliefert, denen er sich nur in verdrängender Flucht
in den krankmachenden Krampf entwinden kann, um ihm um so tiefer zu verfallen. Verliert er aber
das Sein, das Heiligtum der zeugenden Liebe und das Liebesgeheimnis des Guten aus dem Auge, so
entarten alle Weisen des Menschlichen und zerstören seine Freiheit. Dann erkaltet das Sittliche zum
17 Ebd. S. 88-93.
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spröden, geistlosen Gesetzesdienst, zum pharisäischen Hochmut des Gerechten, der „die Gebote
einhält“; dann wird das vermittelnde Nutzwerk der Arbeit zur unbegrenzten Raserei eines leeren
Betriebes; dann verliert sich alles Fügen und Messen, alles Erkennen und Kulturschaffen ins Uferlose
öffentlicher Gemächte, die nirgends mehr vom gesammelten Herzen ehrfürchtig empfangen und
vernommen werden. Dann wird alles Schöne, werden Gedicht und Gesang in Zerstreuung vernutzt
und das Wort im Gerede verbraucht; dann ist der Mensch nicht mehr im Wagnis persönlicher Freiheit,
in Glaube und Hoffnung versichert, sondern sucht Halt im Gefüge massenhafter Organisationen. Dann
erstirbt der Überschwang, das Unverrechenbare und die Opferkraft der Liebe, weil das Leben nichts
Heiliges mehr kennt, dem es sich weiht.
Es versinkt in geheimer Angst. Es wird Sklave des „absoluten Herrn, des Todes“ (Hegel), und
verdeckt seine Unfreiheit in Unrast und Zerstreuung. Schließlich wird alles Ergötzliche, die Gabe
erfreuender und erquickender Liebe, zum Anreiz der Begierde, die von Genuß zu Genuß taumelt und
im Genießen „vor Begierde verschmachtet“ oder im Geistlosen und Gemeinen verödet (Goethe).
3.
Weil die Freiheit im Guten gründet, deshalb wird sie durch das Böse eingeengt und schließlich
zerstört. Wenn gesagt wird, daß das Böse ein Mangel sei, aber nichts Positives des Seins und der
Seienden, so wird diese Formel in ihrem ganzen Ernst erhellt, wenn hinzugefügt wird, daß das Böse
eine „Beraubung“ dessen sei, „was die Wesen haben müssen“18, wenn sie das sein wollen, was sie
sind. Also ist das Böse eine Wesensverletzung und eine Wunde des Seins. Als das Gegenteil des Guten
ist es daher das Ersticken und die Schwächung der Strebekraft des Herzens und ein Erlöschen seiner
mitteilenden Güte. Aber es ist mehr als dies Negative, weil das bloße Nichtsein nicht das Heillose des
Bösen kennzeichnet. Dies erscheint erst durch den Verhalt, daß es „aus dem Guten entspringt“ und
deshalb durch eine Gestalt des Seins angereizt und erweckt wird. Erst wenn der Wille seine ganze
(unendliche) Strebekraft aktualisierte, kann er in selbstmächtiger Freiheit und absoluter Gewilltheit
sich auf Seiendes hin versiegeln und im Besonderen und Endlichen sich verfestigen. Indem er aber diegöttliche Tiefe seiner Geistnatur dem Endlichen übereignet, zerreißt er die Ordnung des Seins, löst
sich und das Erstrebte von seinem göttlichen Grund und gebiert in unstillbarer Sucht widergöttliche
Götzen, die ihn nicht zur Liebe begeisten, sondern sich und ihn der Gemeinschaft der Wesen und dem
Walten des Guten verschließen. So ergibt sich, daß es auch noch das Gute des Seins ist, das die
Freiheit des Bösen ermöglicht und das Furchtbare seines Unwesens heraufführt 19.
Ist die göttliche Ordnung, der Aufstieg und Niederstieg der Liebe aber durch die Verhärtung und
Verkehrung des Bösen zerstört und durch Feindschaft verzwistet, dann walten der Tod, das
18 G.3.9.19 Gustav Siewerth, a. a. O. S. 97-101.
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Vergebliche, Unfruchtbare und Heillose, der eigensüchtige Mißbrauch und Verrat in allen Bereichen
des Seins. Diesen Todesriß des Seins zu schließen, vermag der sterbliche Mensch nicht aus eigener
Kraft . Es vollendet sich aber seine Freiheit wie seine Liebe, so er im Glauben sich unwankend an
Gottes Wahrheit heftet, in der Hoffnung allem Unheil der Zeit die Ankunft der Ewigen Liebe
entgegensetzt und im Geheimnis der gekreuzigten und auferstandenen Liebe sein Herz zum Tempel
und zur Wohnstatt des Heiligen Geistes bereitet, wenn er in der Gnade und Herzensfreundschaft des
Sohnes zu jener Liebe erstarkt, die „alles trägt, alles durchsteht und in allem geduldig ausharrt“, die
„alles glaubt und erhofft“.
Das ist das Vermächtnis des neuen Heils, daß in ihm alles erneuert und ins Gute gewendet ward . In
der Freiheit dieser Liebe wird der Seufzer der Trübsal zum Gebet, alle Trauer zum Trost der
Hoffnung, alle Schwermut zu demütigem Sich-Anbefehlen. Jede Verletzung rührt die Himmelskraft
der verzeihenden Güte an, jede Sünde das Erbarmen, jede Verwirrung und jeder Trug der Welt
erhärtet doch nur den Glauben, daß nur in Gottes Wahrheit und Liebe das Heil verborgen ist. Deshalb
ist die ängstigende Macht des Todes und der Sünde keine nötigende Schranke der Liebe, die in Christi
Liebesopfer dazu befreit ward, auch noch in den Abgründen und Finsternissen des Todes zu währen
und im durchschütterten Herzen zu innigerem und seligerem Leben zu reifen20. „Denn wir sind
immerfort als Lebende um Jesu willen dem Tode übergeben, damit auch das Leben Jesu in unserem
sterblichen Fleische offenbar werde. Darum sind wir wie Sterbende, aber siehe, wir leben, wie hart
Geprüfte, aber nicht zum Tode, als Trauernde immer in der Freude. Bettler sind wir, die viele
beschenken; nichts besitzen wir, doch alles umfassen wir“ (Paulus). Das aber ist das Unterpfand der
Vollendung, daß alle Macht des Bösen nichts vermag, als die Übermacht der Liebe zu enthüllen, sie zu
unendlicher Freiheit zu erwecken und die Herzen zur „Hochzeit des Lammes“ zu bereiten, in welcher
die ewige Güte in unsagbarer Vermählung „Gott alles in allem“ geworden ist.