Krebs und Armutsrisiken
- Erfahrungen aus der Beratungspraxis- Aktuelle Studienergebnisse
Potsdam, den 19.04.2018
Jürgen WaltherNationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT)Universitätsklinikum Heidelberg
Katja Mehlis, Leonidas Apostolidis, Matthias Kudlich, Eva Winkler (NCT Heidelberg) Julian Witte, Wolfgang Greiner(Universität Bielefeld)
Krebs und Armutsrisiken - Gliederung
• Erfahrungen aus der Beratungspraxis• Rahmenbedingungen• Sozialrechtliche Aspekte• Überschuldung durch Krankheit• Belastungen in biografischen Umbruchphasen
• Aktuelle Studien zum Zusammenhang zwischen Krebs und Armut• Halle• Mainz/Leipzig• Heidelberg
InteressenskonflikteDas Heidelberger Projekt wird durch Ipsen Pharma GmbH gefördert
Rahmenbedingungen in der Onkologie
• Entwicklungen/Fortschritte in der Medizin• Veränderte Therapieverfahren• Krebs als chronische Krankheit• Längere Überlebenszeiten• Zunahme komplexer Problemkonstellationen
• Ökonomisierung/Industrialisierung medizinischer Versorgung• Fallpauschalen• Kürzere Verweildauer im stationären Setting• Verlagerung der Behandlung aus dem stationären in den ambulanten Bereich• Versorgungslücken an den Schnittstellen der Sektoren• Politisch gewollter Wettbewerb und Konkurrenz der Leistungsträger• Konsequenz für alle Patientenversorger: Steigender Effizienz- und
Evidenzdruck
Belastung durch Krebserkrankung
• Körperlich(Einschränkungen, Therapie, Nebenwirkungen)
• Psychisch(Ängste, Hoffnung, Enttäuschung)
• Familiär(„Niemand ist alleine krank.“)
• Sozial(Beruf, Freunde, Verein, Hobby)
• Finanziell(Krankengeld, EU-Rente, Hartz IV, Grundsicherung)
EntgeltfortzahlungKrankengeld
ArbeitslosengeldErwerbsminderungsrente
Grundsicherung/Sozialhilfe
ZuzahlungenEigenbeteiligungenKinderbetreuungHaushaltshilfe
Fahrtenkomplementäre
Maßnahmen
Verluste
Mehrausgaben
Ursachen finanzieller Belastung bei chronischer Erkrankung
Mögliche Ursachen 1Prinzip der Zuzahlung und Eigenbeteiligung
SZ v. 12.04.2016 …“Das Prinzip der Zuzahlung ist die Axt an der Wurzel der Solidarität.“
Zuzahlung und Eigenbeteiligung
Gesundheitsreformen seit 2004Stärkere Inanspruchnahme der Patienten durch
• Einführung der Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal (bis 2013)• Zuzahlung bei Arznei- Heil- und Hilfsmitteln (mind. 5.- €, -höchstens 10.- €)• Verlängerung der Zuzahlungsdauer bei Krankenhausaufenthalten von 14
auf 28 Tage ( tgl. 10,- €)• Streichung der Kostenübernahme nicht verschreibungspflichtiger
Arzneimittel• Streichung der Übernahme ambulanter Fahrkosten• Streichung der Sozialklausel, d.h. der generellen Zuzahlungsbefreiung bei
Unterschreiten einer bestimmtem Einkommensgrenze • Einführung von Belastungsobergrenzen (frühere Härtefallklausel) von 2 %,
bzw. 1 % (für chronisch Kranke) des jährlichen Bruttoeinkommens
Mögliche Ursachen 2Konflikt Krankengeld – EM-Rente
Fallbeispiel § 51 SGB V und 116 SGB VI
• 54 jährige Patientin, alleinstehend, arbeitet als MTA in Uniklinikum
• 05/16 V.a. Fibroadenom Mamma li• 07/16 OP wg. Mamma-Ca• 08/16 – 03/17 adj. CHT• 04/17 – 05/17 adj. Radiotherapie• 05/17 Onkologisches Rehabilitationsverfahren
• 10/16 Aufforderung zur Rehabilitation nach § 51 durch GKV• Widerspruch• Rehaantrag vor Ablauf der Frist• Entlassung aus Reha: voll erwerbsfähig, arbeitsunfähig
• 08/17 Information durch die DRV, dass der Rentenantrag eingegangen ist
Wegfall des Krankengeldes (§ 51 SGB V)
• (1) Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist, kann die Krankenkasse eine Frist von zehn Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen haben.
• (3) Stellen Versicherte innerhalb der Frist den Antrag nicht, entfällt der Anspruch auf Krankengeld mit Ablauf der Frist.
Rechtsfolgen
• Wegfall des Krankengeldes bei unterlassener Antragsstellung innerhalb der Zehnwochenfrist.
• In Verbindung mit § 116 SGB VI kann der Rehabilitationsantrag in einen Rentenantrag umgedeutet werden (Rentenantragsfiktion).
• Der Rentenantrag kann nur noch mit Zustimmung der Krankenkasse zurückgenommen werden (Verlust des Dispositionsrechtes).
• Die Rücknahme des Antrags ohne Zustimmung der Krankenkasse führt zur Einstellung des Krankengeldes.
Umwandlung Reha- in Rentenantrag
Rentenantragsfiktion
SGB VI §§§§ 116 Besonderheiten bei Leistungen zur Teilhabe(1) (weggefallen)(2) Der Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder
zur Teilhabe am Arbeitsleben gilt als Antrag auf Rente, wenn Versicherte vermindert erwerbsfähig sind und
1. ein Erfolg von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht zu erwarten ist oder
2. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht erfolgreich gewesen sind, weil sie die verminderte Erwerbsfähigkeit nicht verhindert haben.
(3) Ist Übergangsgeld gezahlt worden und wird nachträglich für denselben Zeitraum der Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit festgestellt, gilt dieser Anspruch bis zur Höhe des gezahlten Übergangsgeldes als erfüllt. Übersteigt das Übergangsgeld den Betrag der Rente, kann der übersteigende Betrag nicht zurückgefordert werden
Mögliche Ursachen 3Niveau der EM-Renten
Neuzugänge EM Rente nach Diagnosen 2016und EM Rentenhöhe 2015
Quelle: Erwerbsminderungsrente –Das Netz für alle FälleDRV Bund 07/2015
Durchschnitts EK 2015 34.999 €
DVSG Mitgliederbefragung 2015Quelle: Kowalski et.al.Forum 3-2016
16
Quelle: SchuldnerAtlas Deutschland 2017 Creditreform Wirtschaftsforschung
Mögliche Ursachen 4
ÜberschuldungdurchKrankheit
Analyse Credeitreform Schuldneratlas 2017
Risiko Überschuldung durch Krankheit
• Ca. 6,9 Mio Erwachsene betroffen• Zuwachs um ca. 1% im Jahr 2017• Der Zuwachs 2017 fast ausschließlich aus der Mittelschicht• Frauen überproportional betroffen• Hohes Risiko von Altersarmut durch EM Rente• Erkrankung, Sucht, Unfall nehmen überproportional als
Überschuldungsursachen zu
Krankheit als Überschuldungsrisiko
…Ein deutlicher Anstieg ist bei der Bedeutung von Krankheit als wichtigstem Überschuldungsauslöser festzustellen. 8,6 Prozent der Ratsuchenden nannten diesen Grund nach 7,7 Prozent im Vorjahr. Insgesamt setzt sich damit ein seit 2008 anhaltender Trend fort…..
iff Überschuldungsreport 2016
Quelle: http://www.iff-ueberschuldungsreport.de/media.php?id=5228
Überschuldungsursachen
Quelle: iff -Überschuldungsreport 2015
Betroffene schildern…
• Angst vor den unmittelbar körperlichen Folgen der Erkrankung• Kontrollverlust • Ausgeliefertsein• Scham und Schuld• Versagensgefühle• Das Gefühl, Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein• Rollensicherheit, Identität, Selbstwertgefühl gehen verloren• Verlust von Sicherheit• Gefühl existentieller Bedrohung durch wirtschaftliche Not• Gefühl des Ausgeschlossen-Seins• Vertrauen in (staatliche) Institutionen geht verloren
����Hohe Belastung bei eingeschränkten Bewältigungskräf ten
Datenlage/Studien
• Schröder et.al. (Institut für Medizinische Soziologie Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)
• Finanzielle Auswirkungen einer Krebserkrankung (qualitative Untersuchung)
• Singer et.al. (Universitäres Centrum für Tumorerkrankungen Mainz)
• Positive und negative Veränderungen im Leben nach der KrebsdiagnoseEine prospektive Mixed-Method-Studie.online veröffentlicht am 09.04.2018 Der Onkologehttps://link.springer.com/article/10.1007%2Fs00761-018-0369-0
• The effects of multi-disciplinary psycho-social care on socio-economic problems in cancer patients:A cluster-randomized trial.online veröffentlicht am 21.12.2017https://doi.org/10.1007/s00520-017-4024-x Supportive Care in Cancer
• K. Mehlis, L. Apostolidis, M. Kudlich, Eva Winkler (NCT Heidelberg),J. Witte, W. Greiner (Universität Bielefeld)
• Finanzielle Auswirkungen einer Krebserkrankung am Beispiel von Patienten mit neuroendokrinen und kolorektalen Tumoren(Lieben Dank an Frau Mehlis für die folgenden Folien ☺)
In USA: (z.B. Zafar et al., Oncologist. 2013)
Durch die Krebserkrankung verursachte Kosten führen bei vielen Patienten zu
• Einsparungen bei Freizeitaktivitäten, Lebensmitteln und Kleidung
• Absetzen teurer Medikamente
• Subjektiver Belastung (“financial distress”)
In Deutschland wenig erforscht:
• Ergebnisse aus den USA fraglich übertragbar
• 35 – 40% der Patienten erkranken im erwerbsfähigen Alter
• Explorative Untersuchung am NCT: großer Anteil der Patienten berichtet über finanzielle Einbußen
Finanzielle Auswirkungen einer Krebserkrankung:Rahmenbedingungen
Ziele:
1. Empirische Untersuchung zu finanziellen Einbußen der Patienten sowie zu psycho-sozialen Auswirkungen
2. Vergleich von Patienten mit neuroendokrinen Tumoren Stadium IVPatienten mit kolorektalen Karzinomen Stadium IV
3. Prävalenz, Veränderungen im Versichertenstatus auf der Basis von Krankenkassendaten (Barmer, Marktanteil ca. 12,5 %)
4. Entwicklung von Empfehlungen zur frühzeitigen Erkennung und Unterstützung von Patienten, die von relevanten finanziellen Einbußen bedroht sind
Studie zu finanziellen Auswirkungen der Krebserkrankung bei Patienten mit NET und CRC
Fragestellungen:
1. Wie entwickeln sich im Verlauf einer Krebserkrankung a) die direkten krankheitsbedingten Ausgaben („Out of pocket costs“)? b) die Einkommensverhältnisse (bspw. durch Änderungen im
Versichertenstatus)?
2. Gibt es besondere Gruppen, die ein größeres finanzielles Risiko tragen?
3. Was bedeutet dies für das Erleben der Patienten:- psychisches Befinden, Lebensqualität?- Einschränkungen sozialer Teilhabe?
Studie zu finanziellen Auswirkungen der Krebserkrankung bei Patienten mit NET und CRC
Design: Quantitative Studie
Kooperation: J. Witte, W. Greiner (Universität Bielefeld, Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement)
A) Primärdatenerhebung
• Schriftliche Befragung von Patienten in Heidelberg:
Längsschnittuntersuchung (2 Messzeitpunkte)
B) Sekundärdatenerhebung
• Analyse von Krankenkassendaten
Studie zu finanziellen Auswirkungen der Krebserkrankung bei Patienten mit NET und CRC
Einschluss:247 Patienten der Ambulanz und Tagesklinik im Erhebungszeitraum mit:
• Neuroendokrinen Tumoren (n=122)• Heterogene Gruppe von Tumoren, überwiegend in Verdauungstrakt oder
Lunge• Im Vergleich zu anderen Tumoerkrankungen relativ langes Überleben in
metastasiertem Stadium möglich • Mittleres Überleben (M+): 4-5 Jahre
• Kolorektalen Karzinomen mit Fernmetastasen (n=125)• Schnellerer Krankheitsverlauf mit relativ kurzem Überleben• Mittleres Überleben (M+): bis 20-24 Monate
Beschreibung der Studienpopulation
Beschreibung der Studienpopulation
Krebsart, % (n)
neuroendokrin 49,4% (122)
kolorektal 50,6% (125)
Alter, Jahre
Mittelwert Gesamt 61,3
neuroendokrin 61,5
kolorektal 61,1
Geschlecht, % (n)
männlich 64,4% (159)
weiblich 35,6% (88)
Erwerbsstatus, % (n)
nicht berufstätig 70,0% (173)
berufstätig 30,0% (74)
59%11%
21%
7%
2% berentet
nichterwerbstätigangestellt
selbstständig
Beamter/-in
Ergebnisse I: Mehrausgaben
Haben Sie infolge Ihrer Erkrankung höhere Ausgaben?
ja 80,6% (199)
nein 15,4% (38)
keine Angabe 4,0% (10)
Ergebnisse II: Einkommenseinbußen
Sind Ihnen durch Ihre Tumorerkrankung Einkommens-
einbußen entstanden?
ja 37,2% (92)
nein 60,8% (150)
keine Angabe 2,0% (5)
n = 92
Ergebnisse III: Notwendigkeit zu Sparen
Hat Ihre Erkrankung zur Verschlechterung Ihrer
Lebensverhältnisse insgesamt geführt, d.h. müssen Sie im Alltag
sparen?
ja 39,7% (98)
nein 59,5% (147)
keine Angabe
0,8% (2)
21,4%
25,5%
35,7%
89,8%
0,0% 50,0% 100,0%
med. Behandlungen/Zusatzleistungen
Wohnen/ Haushalt
Ernährung/Lebensstil
Freizeitverhalten
Wenn ja, wo konkret müssen Sie sparen? (Mehrfachnennungen
möglich)
n = 98
Ergebnisse IV: Distress durch finanzielle Einbußen
„Wie schätzen Sie die Belastung durch Ihre Erkrankung ein?“
Die Belastung war höher…
� je höher die monatlichen Ausgaben waren.
� bei Frauen.
Die Belastung war niedriger …
� wenn nicht gespart werden musste.
� wenn keine Einkommenseinbußen vorliegen.
Die Belastung durch finanzielle Einbußen hat sich s tatistisch als unabhängiger Faktor erwiesen, der zusätzlich zur „Krankheitslast“ auf den Patienten wirkt
1. Krebs als chronische Erkrankung verursacht finanzielle Einbußen• 81% der Befragten haben Mehrausgaben, aber davon ¾ unter 200 €• 1/3 hat Einkommensverluste, davon 36% über 500€ und
24% über 1200€ monatlich
In Deutschland sind es weniger die Zuzahlungen, als die Einkommensverluste, die gravierend sind
2. Finanzielle Einbußen belasten die Patienten• Mit steigenden Ausgaben und der Notwendigkeit zu Sparen erhöht sich
die empfundene Belastung durch die Krebserkrankung
Notwendigkeit von Unterstützungsmaßnahmen auf indivi dueller und Systemebene
Zusammenfassung
Nächste Studienphase
1. Gründe für die Einkommenseinbußen: Wie entwickelt sich die finanzielle Situation der Patienten über die Zeit?(z.B. Änderungen im Versichertenstatus)
2. Prädiktion: Welche Patientengruppen sind besonders von finanziellen Verlusten betroffen?(Einbeziehung soziodemografischer und klinischer Daten)
3. Validierung: Finden sich die gefunden Muster auch in der Auswertung der Krankenkassendaten? (Verallgemeinerbarkeit)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
Jürgen WaltherNationales Centrum für Tumorerkrankungen HeidelbergSozialdienstIm Neuenheimer Feld 46069120 Heidelberg