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Kants Philosophie der Natur
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Kants Philosophie der Natur
Ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung
Herausgegeben vonEmst-Otto Onnasch
Walter de Gruyter • Berlin • New York
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Inhalt
E in le itu n g ............................................................................................. 1
Gian Franco FrigoBildungskraft und Bildungstrieb bei K a n t..................................... 9
Tobias CheungDer Baum im Baum. Modellkörper, reproduktive Systeme und
die Differenz zwischen Lebendigem und Unlebendigem beiKant und Bonnet ............................................................................... 25
Vesa OittinenLinne zwischen Wolff und Kant. Z u einigen KantischenMotiven in Linnes biologischer Klassifikation ............................ 51
Hans Werner Ingensiep
Probleme in Kants Biophilosophie. Zum Verhältnis von
Transzendentalphilosophie, Teleologiemetaphysik undempirischer Bioontologie bei K a n t ................................................. 79
Hein van den Berg
Kant on Vital Forces. Metaphysical Concerns versus Scientific
P rac tice .................................................................................................. 115
Klaus J. Schmidt
Die Begründung einer Theologie in Kants Kri tik der Urteilskraft 137
Renate Wahsner Das Mechanismus-Organismus-Problem bei Kant unter dem
Aspekt von allgemeinen und besonderen Naturgesetzen ......... 161
Karen GloyDie Bedeutung des Experiments bei Kant für die neuzeitliche
Naturwissenschaft ............................................................................... 189
Horst-Heino von Borzeszkowski
Kants Raum-Zeit-Apriorismus im Lichte der Relativitätstheorie 203
Paul ZieheDie Einheit der Natur. NaturphilosophischeEinheitsprogramme bei und nach K an t.......................................... 221
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Bernhard Fritscher An der Grenze von Physik und Metaphysik. Zum Begriff des
„Kristalls“ in Kants Opus pos tum um ................................................. 241
Steffen Dietzsch
Der Galvanismus als Form der Transzendentalphilosophie? . . . 265
Lu De VosFormen der Subjektivität oder die Naturalisierung der Subjektivität im Opus postumum ...................................................... 287
Ernst-Otto Onnasch
Kants Transzendentalphilosophie des Opus postumum gegen dentranszendentalen Idealismus Schellings und Spinozas ................ 307
Kenneth R. Westphal
Does Kant’s opus postumum Anticipate Hegel’s AbsoluteId ealism ?................................................................................................ 357
Ilmari JauhiainenHegel and Kant’s Idea of Matter. What is Wrong with the Dynamical View? ............................................................................... 385
Jeffrey EdwardsA Trip to the Dark Side? Aether, Space, Intuition, and Concept in Early Hegel and Late K a n t.......................................................... 411
Karin de Boer
The Emergence of Ideality. Hegel’s Conception of the Animal
in the Jena Philosophy of N a tu re ................................................... 435
Liste der Autoren ............................................................................... 459
Personenregister 465
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Siglen1
AA Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. vo n der preußischen,später deutschen und jetzt Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Abt. I : Werke, Bd. 1—9; Abt. I I :Briefwechsel, Bd. 10 —13; Abt. III: Handschriftlicher Nachlaß, Bd. 14 —23; Abt. IV: Vorlesungen, Bd. 24 —29,Berlin 1902 ff. [der Sigle folgt die durchlaufende Bandnummer, nach dem Punkt die Seite].
K rV Critik der reinen Vernunft, Riga 1781 (A), 21787 (B) [zit.nach AA ].
K p V Critik der practischen Vernunft, Riga 1788 [zit. nach AA ]. K d U Critik der Urtheilskraft, Berlin und Libau 1790 [zit. nach
AA], Prol. Prolegomena zu einer jed en künftigen Metaphysik, die als
Wissenschaft wird auftreten können, R iga 1783 (A) [zit. nach
AA],m a n Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Riga
1786 [zit. nach AA].OP Opus postumum , AA Bd. 21 und 22 mit den Ergänzungen in
Bd. 23. Briefe Briefwechsel, Abt. II, Bd. 10 —13. R eß . M et Reflexionen zur Metaphysik [zit. nach AA 17 und 18]. R eß . Log. Reflexionen zur Logik [zit. nach AA 16]. R eß . Med. Reflexionen zur Medizin [zit. nach AA 15]. R eß . Phys. Reflexionen zur Physik [zit. nach AA 14].
GA Joh ann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von Reinhard Lauth, ErichFuchs und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff.,Abt. I: Werke; Abt. II: Nachgelassene Werke; Abt. III:Briefe; Abt. IV : Vorlesungsnachschriften [der Sigle folgt die
1 Z ur erleichterten Orien tierun g ist den Siglen der entsprechenden Gesamtausgaben ein Kurztitel vorangestellt.
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HKA
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GW
Werke
E n z .3
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römische Ziffer für die A bt., nach „ / “die Num m er desBandes und nach dem Punkt die Seite].
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-KritischeAusgabe, hgg. von der Bayerischen Akademie der Wissen
schaften, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. [der Sigle folgt dierömische Ziffer für die A bt., nach „ / “die Num m er desBandes und nach dem Punkt die Seite]Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke,
hrsg. von K.F.A. Schelling. I. Abt.: 10 Bde., II. Abt. 4 Bde.,Stuttgart/Augsburg 1856—1861 [der Sigle folgt die römischeZiffer für die Abt., nach „ / “die Num m er des Bandes undnach dem Pu nkt die Seite].Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, inVerbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaftherausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademieder Wissenschaften, Ham burg 1968 ff. [der Sigle folgt diedurchlaufende Bandnum mer, nach dem P unk t die Seite].Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Theorie-Werkausgabe,hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel,
Frankfurt/M., 1979 [der Sigle folgt die durchlaufendeBandnumm er, nach dem Punkt die Seite].G.W.F. Hegel, Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Heidelberg 1830 [zitiert nach GW,die „Zusätze“ nach W erk e].G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, N ürn berg 1812 — 1816, 2. Aufl. der Seinslogik, Stuttgart und Tübingen 1832[zitiert nach G W ].G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen, oder die Reflexions
philosophie der Subjectivität in der Vollständigkeit ihrerFormen, als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philoso
phie, in: Kritisches Journal der Philosophie, 2. Bd., 1. St.,1802 [zitiert nach G W ].
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Einleitung1
Naturphilosophie zwischen Transzendentalphilosophie undobjektivem Idealismus
Im Gegensatz zur kritischen Philosophie wird die NaturphilosophieImmanuel Kants von der Kant-Forschung immer noch eher stiefmüt
terlich behandelt. Das ist allein schon aus dem Grunde bemerkenswert,weil genau diese Naturphilosophie, insbesondere die Metaphysik der Natur, eine Schlüsselfunktion hinsichtlich der Anwendung der Resu l
tate der Kri tik der reinen Vernunft besitzt. Denn die Begründung unsererempirischen, bzw. naturwissenschaftlichen Erkenntnis erfolgt im Ausgang und auf der Grundlage der Metaphysik der Natur. Von dieserMetaphysik der Natur hat Kant zwar die metaphysischen Anfangsgründe geliefert, es ist jedoch die Frage, ob er damit auch diese Meta
physik selbst geliefert hat. Nach der Vollendung der Kri tik der Urteilskraft (1790) schreibt ihr Verfasser in der „Vorrede“ dieses letzten kritischenWerkes, er werde nun „ungesäumt zum doctrinalen“ Teil seines Systems fortschreiten, bestehend aus einer Metaphysik der Sitten und einerMetaphysik der Natu r.2 Diese Worte sind nu r so zu verstehen, daß die
Metaphysik der Natur mit den Metaphysischen Anfangsgründen der N a -turwissenschaft von 1786 tatsächlich noch nicht, zumindest nicht imvollen Umfange vorliegt. Nun geben Kants tatsächliche Arbeiten nach1790 kaum Bemühungen zu erkennen, diese Metaphysik der Naturtatsächlich zu formulieren. Was wir allerdings sehen, ist eine intensiveBeschäftigung mit einem naturphilosophischen Teilproblem der kritischen Philosophie, nämlich wie der Übergang von den MetaphysischenAnfangsgründen zur Physik geleistet werden kann. D ie entsprechendenAusführungen dieses Teilproblems liegen in Kants umfangreichstemnachgelassenem Manuskript vor, das heute unter dem griffigen Titel
Opus postumum bekannt ist. M it der philosophischen W ürdigung diesesManuskriptbündels hat sich die Kant-Forschung seit seiner ersten Ver
1 Dieser Band ist zustande gekom m en dank der U nters tützung des Hg. durch die Niederländische Organisation fü r wissenschaftliche Forschung (n w o ).
2 K dU „Vorrede“, AA 5.170.
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öffentlichung durch Ru do lf Reicke in der Altpreußischen Monatsschrift inden 80er Jahren des 19. Jahrhunderts schwer getan.3 Der stark an na
turphilosophischen Fragen interessierte Neukantianismus hat es bedeutsamerweise kaum rezipiert; diese Tatsache hat die Forschungsliniender modernen Kant-Forschung sicherlich nachhaltig bestimmt. Dennauch nachdem das Manuskript in den 30er Jahren des vorherigen
Jahrhunderts in der Akadem ieA usgab e der Werke Kants erschienen war,ist es von der Forschung kaum beachtet, geschweige denn in den Ge
samtkontext der Kantischen Philosophie gestellt und interpretiert. ImKontrast zu den anderen Philosophen des deutschen Idealismus ist dieser
Sachverhalt höchst bemerkenswert, weil hier fast jeder neue Manuskriptfund, sei es ein Autograph oder „bloß“ eine studentische Nachschrift, eine wahre Sensation auslöst, nicht selten verbunden mit demRuf, die Philosophiegeschichte müsse nun neu geschrieben werden.Gegen diesen Hintergrund betrachtet, ist es bemerkenswert, wie legerdie Kant-Forschung auf neue Funde reagiert. Sogar ein fast anderthalbtausend Druckseiten umfassendes Manuskript von Kant selbst hatseit seiner Wiederentdeckung die Forschung zur Produktion von kaum
einem dutzend Bücher angetrieben, wohingegen zu vielen Detailpro
blemen der kritischen Philosophie die Publikationen schon kaum mehrzu überschauen sind.
Doch scheint in den letzten Jahren etwas Bewegung in diese Forschungssituation gekommen zu sein. Verstärkt werden die nachgelas
senen Papiere zu Kants letztem, allerdings unvollendet gebliebenemWerk von der Kant-Forschung beachtet und in den Kontext des Ge
samtplans der Philosophie Kants gestellt. Damit treten aber zugleichganz andere und auch neue Probleme der Kantischen Philosophie inden Vordergrund, die Zusammenhängen mit der von Kant intendierten
Architektonik seines „Systems der Vernunft“. Historisch war es nämlichgenau dieses System, bzw. seine fehlende Ausarbeitung, was von den
idealistischen Nachfolgern aufgegriffen wurde und Anfang des 19tenJahrhunderts zur „Supernova“ (Dieter Henrich) der deutschen Philo
3 Altpreußische Monatsschrift 19 (1882), 1. und 2. Heft, Januar-März, 66—127, 3.un d 4. Heft, A pril-Juni, 255 —308, 5. und 6. Heft, Ju li-September, 425 —479, 7.un d 8. He ft, O ktob er-D eze m ber , 569 —629; 20 (1883), 1. und 2. Heft, Janua r-März , 59 —122, 3. und 4. H eft, April-Juni, 342 —373, 5. und 6. H eft, Juli-
September, 415-450, 7. und 8. Heft, Oktober-Dezember, 513-566; 21(1884), 1. un d 2. He ft, Januar-M ärz, 81 —159, 3. u nd 4. H eft, A pril-Juni, 309 — 387, 5. und 6. He ft, Juli-Septem ber, 389 —420 und 7. un d 8. Heft, O kto be r-Dezem ber, 533 —620. —Die K onvolute 4, 6 und 8 hat Reicke nicht ediert.
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sophie führte. Plötzlich steht der Begriff des Systems der Vernunft unddamit der Philosophie selbst mit einer bis dahin noch nicht dagewesenen
Prägnanz auf der philosophischen Agenda. Liest man Kant bloß als denVerfasser der kritischen Philosophie, läßt sich diese Entwicklung in der
deutschen Philosophie nicht leicht verstehen. Nimmt man dagegenKants Rede von einem umfassenden System der Vernunft mit in das
zeitgenössische Verständnis der kritischen Philosophie hinein, befremdet diese historische Entwicklung schon weniger.
Wie aber ist Kants System der Vernunft genau zu verstehen? Die
besondere Schwierigkeit eines jeden Versuchs, diese Frage in Angriff zunehmen, besteht in dem Schatten, den die Systembauer des deutschen
Idealismus auf diese Fragestellung werfen. Wie läßt sich mit anderenWorten noch nach Hegel die ursprüngliche Systemfrage Kants ohne die
spätere historische Entwicklung, von der diese Frage ja überhaupt erst
zur Frage gemacht wurde, in Angriff nehmen? Dieses Problem scheintdie moderne Kant-Forschung bis heute überschattet zu haben, denn siehat sich der Frage nach dem System der Vernunft bislang kaum ernsthaft
angenommen. Außerdem wird ja nicht selten ausgerechnet Kant als das
idealistische Paradebeispiel dafür genommen, daß es im Rahmen einer
idealistischen Philosophie gar nicht notwendig sei, zu einem Systemfortzuschreiten; die implizite Pointe solcher Auffassungen ist freilich
die, die historische Philosophieentwicklung nach Kant als eine Verirrung zu stigmatisieren.
Kants System der Vernunft ist tatsächlich umfassender als bloß die
kritische Philosophie,4 obwo hl sich Kant 1799 in der berühmten Er
klärung gegen Fichte noch dahingehend erklärt hat, er verstehe nicht,warum seine kritischen Nachfolger ihm unterstellen, er „habe bloß eine
Proprädevtik zur Transscendental-Philosophie, nicht das System dieserPhilosophie selbst, liefern wollen“5. Unter historischem Gesichtspunkt
ist diese Erklärung allein schon deshalb bedeutsam, weil es nicht Fichte,
sondern vielmehr Karl Leonhard Reinhold war, der der KantischenPhilosophie ihren bloß propädeutischen Charakter und damit ihre
fehlende systematische Ausgestaltung zum Vorwurf gemacht hat. Doch
4 Vgl. dazu auch den Aufsatz von D ieter Hen rich, „Systemform und Abschlußgedanke. Methode und Metaphysik als Problem in Kants Denken“, in:
Kan t und die Berliner Aufklärung. Akte n des IX . Internationalen KantKongresses, hrsg. von Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann und Ralph Schumacher,Berlin/New York, 2001, Bd. 1, 94—115.
5 Briefe, AA 12.371.
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Kant formuliert in jener Erklärung mit Bedacht, denn er behauptetnicht, er habe mit der kritischen Philosophie das System der Vernunft
tatsächlich geliefert. Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Erklärung gegen Fichte ist eine breitere Diskussion über den Stellenwert derÄußerungen Kants ausgebrochen. Gegenstand dieser Diskussion war, obKant mit der ersten Kri tik tatsächlich das vollständige System derTranszendentalphilosophie aufgestellt habe oder nicht.6 Die erste Kritik ist hinsichtlich dieser Frage unmißverständlich: sie ist nicht das voll
ständige System der Vernunft oder der Transzendentalphilosophie,sondern bereitet den Weg dahin nur vor. Nimmt man diese und dievielen ähnlichen Behauptungen ernst, stellt sich freilich sofort die Frage,
wie das Kantische System der Vernunft zumindest seinen Grundzügennach auszusehen habe. Der Königsberger hat sich hierüber kaum ge
nauer erklärt. Der Grund hierfür war sicherlich nicht, daß er seine Redevom System der Vernunft nicht wirklich ernst nahm. Vielmehr wirdman im Gegenteil davon ausgehen müssen, daß die systematischenProbleme, wovor er sich durch die von der kritischen Philosophiemarkierten Ausgangsvoraussetzungen gestellt sah, groß, so nicht vielleicht sogar unüberwindbar waren. Die große Einsicht der theoretischen
Philosophie, daß wir keine Erkenntnis von Gegenständen haben können, die nicht unter den subjektiven Bedingungen von R au m und Zeit
stehen, hat nämlich, nehmen wir die Metaphysischen Anfangsgründe unddie dritte Kri tik mit hinzu, zur Folge, daß sich unsere Erkenntnis nicht
über solche Gegenstände hinaus erstrecken könne, die sich der mathematisch-mechanischen Erklärungsart entziehen. Tatsächlich stellen
die Metaphysischen Atfangsgründe mehr als bloß andeutungsweise klar,daß sich alle chemische, aber insbesondere alle biologische und erstrecht alle psychologische Phänomene der Erkenntnis entziehen. Aber
auch die Reichweite der Erkenntnis der unter mathematisch-mechanischen Bedingungen erklärbaren Phänomene ist äußerst beschränktund deckt keineswegs alle physischen Phänomene ab (man denke nu r anPhänomene wie Kohäsion, Elastizität usw.). Daß die kritische Erkenntnistheorie tatsächlich so weitreichende Konsequenzen für denUmfang m öglicher Erkenntnisse hat, ist vielen Lesern Kants gar nicht sounmittelbar klar. In diesen Problemen liegen daher auch die Gründe,weshalb man förmlich dazu gezwungen ist, die Kantische Erkenntnis
theorie im Kontext ihrer metaphysischen, bzw. naturphilosophischen
6 Vgl. dazu auch den Brief von Geo rg Samuel Albert Mellin vo m 13. April 1800an Kant, AA 12.303 f.
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Konsequenzen zu interpretieren, denn nur dann ist Klarheit darüber zuerlangen, wie weit sich der Umfang unserer möglichen Erkenntnisse
wirklich erstreckt. Ohne eine solche metaphysische oder naturphilosophische Erweiterung der im Ausgang der Erfahrungsmöglichkeitentwickelten transzendentalen Erkenntnistheorie ist letztendlich dem
Vorwurf der idealistischen Nachfolger Kants nicht zu entgehen, daß die
kritische Erkenntnistheorie nicht viel mehr als ein hölzernes Eisen sei.Insbesondere Schelling und Hegel haben die Beschränkungen der
kritischen Philosophie klar erkannt. Schon in den Ideen z u einer Philo-
sophie der N atu r als Einleitung in das Stu dium dieser Wissenschaft von 1797 beansprucht Schelling, apriorische Prinzipien der Chemie als einer über
die bloße mathematisch-mechanische Betrachtungsart der Metaphysi-
schen Anfangsgründe hinausgehenden Naturwissenschaft apriorisch ab
zuleiten. Obwohl die Metaphysischen Anfangsgründe von großem Einflußauf die rasante Entwicklung der zeitgenössischen Naturwissenschaften —
insbesondere der Chemie und Biologie —gewesen sind, wurden zu
gleich Kants metaphysische Prinzipien der Naturwissenschaft zunehmend als zu eng und letztendlich auch als unzureichend erfahren. Indiesem Zusammenhang könnte die Frage historisch von Bedeutung
sein, ob es die Entwicklungen auf dem Gebiet der empirischen Naturwissenschaften waren oder vielmehr intern philosophische Probleme,
die für Kants Nachfolger Anlaß dafür waren, über die Beschränkungen
der kritischen Naturphilosophie hinauszugehen. Aber genau diese Frage
trifft m. E. nicht den Kern dieser nachfolgenden philosophischen Entwicklung. Denn nicht nur Schelling und später Hegel, sondern auch
Kant selbst verfolgte die Entwicklungen innerhalb der zeitgenössischen
Physik auf dem Fuße. Das Prob lem war bloß, daß Kant nach Abschluß
seines kritischen Projekts in seinen Veröffentlichungen eben nicht ungesäumt zur Darstellung des doktrinalen Teils seines Systems fortgeschritten ist. Und dafür lassen sich gute Gründe anführen.
Schon vor der Abfassung der dritten Kri tik wälzte der Königsbergernämlich das äußerst schwierige Problem, wie von den apriorischen
Prinzipien der metaphysischen Anfangsgründe zu den empirischenPrinzipien der Naturwissenschaft übergegangen werden könne. Um1790 eröffnet Kant seinem Schüler Johann Gottfried Carl Christian
Kiesewetter, er wolle dieses Problem in einer kleinen Schrift separat
erörtern, was unterstellt, er habe es im Kopfe schon mehr oder wenigergelöst. Allerdings sollte diese Schrift niemals erscheinen. Vielmehr er
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füllt dieses zunächst unscheinbar scheinende Problem den Königsbergerquasi unter der Feder mit dem ,,Tantalische[n](r) Schmertz“7, seine
Transzendentalphilosophie nicht vollenden zu können. Es handelt sichhierbei also um ein ausgesprochen zentrales Problem der Transzen
dentalphilosophie. Unterdessen entsteht der schwierigste und auchundurchdringlichste Text, den Kant jemals geschrieben hat, nämlich derheute unter dem Titel Opus postumum bekannte Nachlaß. Daß Kantüber einem weiteren Werk brütete, war unter seinen KönigsbergerFreunden durchaus bekannt. Ob sie allerdings die für die Transzendentalphilosophie ungemein große systematische Bedeutsamkeit der imRahmen des Übergangswerkes in Frage stehenden Problematik angemessen erkannt haben, darf man füglich bezweifeln. Allerdings beweistdieser umfangreiche Kantische Nachlaß mindestens eins: daß für Kantdie aus seiner kritischen Erkenntnistheorie erwachsenen Probleme fürdie Erkenntnis von Phänomenen, die nicht ohne weiteres der mathematisch-mechanischen Erklärungsart zugänglich sind, unbedingt gelöstwerden mußte, da sonst in der Transzendentalphilosophie eine Lücke,wie Kant sich ausdrückt, klaffen würde, die Lücke nämlich, die durchdie mathematisch-mechanische Erklärungsart entsteht, sofern für so
viele, so nicht für die meisten empirischen Phänomene die Herleitungihrer Prinzipien auf der Grundlage der metaphysischen Grundkräfteungelöst ist. Kant meinte diese Lücke innerhalb der Transzendental
philosophie, ohne dafür ihren prinzipiellen Erfahrungsstandpunkt verlassen zu müssen, überbrücken zu können; doch darüber, wie dieseÜberbrückung konkret ausgesehen haben soll, besteht in der Kant-Forschung kaum Klarheit. Geahnt wird Kant aber haben müssen, daß,wenn jemand , dann n ur er selbst das Problem des Übergangs wird lösenkönnen. Und solange die Lücke von seinen Kritikern nicht entdeckt
und aufs Korn genommen war, hatte Kant noch etwas Zeit. Ebenfallsgeahnt haben wird der Königsberger, daß jeder andere Versuch, die
Lücke zu überbrücken, zwangsläufig zu einer Philosophie führen müsse,die hinte r die Ergebnisse der Transzendentalphilosophie zurückfällt (daßKant um 1800 den transzendentalen Idealismus Schellings tatsächlich soverstanden hat, habe ich in meinem Beitrag in diesem Band plausibel zumachen versucht).
Wir wollen hier nun nicht darüber streiten, ob die Philosophie
Schellings oder Hegels ein Rückfall hinter oder ein Fortschritt über dieErgebnisse der Transzendentalphilosophie ist; Tatsache ist allerdings,
7 Vgl. Kants Br ief vom 21. Septem ber 1798 an Christian Garve, AA 12.257.
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daß ihre Systeme den Kantischen Erfahrungsstandpunkt und die mitihm aufs Engste zusammenhängende Metaphysik der Natur verlassen
haben. Obwohl die idealistischen Nachfolger nirgends die von Kantselbst diagnostizierte Lücke in der Transzendentalphilosophie für ihrHinausgehen über dieselbe verantwortlich machen, kann man m. E.trotzdem behaupten, daß in der Wurzel das von Kant ungelöst geblie
bene Problem zwischen apriorischen und empirischen Erfahrungs- bzw.Erkenntnisprinzipien —mithin die Lücke im System der Transzenden
talphilosophie —letztendlich der Grund dafür gewesen ist, daß insbesondere Schelling und Hegel Kant schon sehr bald philosophisch hintersich gelassen haben. Man kann nur darüber spekulieren, was geschehen
wäre, wenn der Königsberger das Ubergangsproblem offen zur Diskussion gestellt, geschweige denn es in einer Publikation u m 1790 gelösthätte. Wäre das geschehen, wage ich ernsthaft zu bezweifeln, ob esüberhaupt zu jener Supernova gekommen wäre.
Damit tut sich die interessante Perspektive auf, daß sich sowohlKants eigener Nachlaß zum Ubergangsproblem als auch die späterenidealistischen Systeme in der Wurzel mit demselben Problem befassen.
Aus diesem Grunde könnte man das Kantische System der Philosophie —
d. h. die kritische Philosophie erweitert sowohl um die beiden M eta physiken der Natu r und der Sitten als auch um die in beiden Meta physiken virulente Ubergangsproblematik —durchaus als eine der zu jener Zeit möglichen Systemalternativen, freilich in Konkurrenz zu den
von Schelling und Hegel formulierten Systemen der Philosophie auslegen. Wie gesagt, kann und darf man den Systemanspruch der Kantischen Transzendentalphilosophie nicht vernachlässigen, zumal deshalbnicht, weil die von der Erfahrung ausgehende Erkenntnistheorie ohneMetaphysik der Natur und Ubergangsproblematik gar nicht leisten
kann, was sie dem Anspruch der ersten Kri tik nach leisten muß. Es führtdeshalb auch kein Weg daran vorbei, Kants Philosophie hinsichtlichihres Systemanspruchs in Angriff zu nehmen und verstehen zu lernen.
Und wenn wir außerdem die philosophischen Systeme des deutschenIdealismus nicht primär als Weiterentwicklungen einer ursprünglichenFragestellung Kants begreifen —obwohl sie das freilich unter einer be
stimmten Perspektive auch sind —, sondern als konkurrierende Programme zum Kantischen System, kann uns ein methodologisch hilfreiches Mittel an die Hand gegeben werden, den Systemcharakter derKantischen Transzendentalphilosophie relativ unabhängig von diesenSystemen in den Blick zu bekommen und als Kants genuin eigenen
Beitrag zur Philosophie (-geschichte) zu entwickeln. Die Systemphilo
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sophie ist selbst ein systematisches philosophisches Problem, dasdurchaus verschiedene philosophische Darstellungen annehmen kann;
keineswegs ist es eine Erfindung der deutschen Idealisten, wobei etwaHegels Enzy klopädie der philosophischen Wissenschaften die unübertroffeneoder gar unübertreffliche Krone über die Philosophiegeschichte spannt.Allein schon Kants Grundsatz, alle unsere Erkenntnis fange mit derErfahrung an, ist so unverbrüchlich mit der modernen Naturwissenschaft verbunden, daß die Kantische Erkenntnistheorie mit der aufdieser beruhenden metaphysischen Begründung der Naturwissenschaften grundsätzliche Einsichten in die Grundlagen der modernen Naturwissenschaft und ihrer Theorieformierung hervorbringen muß; das
jedoch nur unte r der Voraussetzung, daß die Kantische Erkenntnistheorie nicht losgelöst von der Metaphysik der Natur und dem Uber-gangsproblem behandelt wird.
Dieser Band und die ihm zugrundeliegende Fragestellung ist hervorgegangen aus dem von der Niederländischen Organisation für wissenschaftliche Forschung (n w o ) geförderten Forschungsprojekt desHerausgebers „The Quest for the System in the Transcendental Philosophy of Immanuel Kant“. Die Beiträge gehen zurück auf eine Ta
gung, die der Herausgeber im September 2007 in Amsterdam veranstaltet hat mit finanzieller Unterstützung der Königlichen Akademie derWissenschaften (k n a w ) sowie der Niederländischen Organisation fürwissenschaftliche Forschung (n w o ) und mit „sittlicher“ Unterstützung
durch den Arbeitskreis für Hegels Naturphilosophie.An dieser Stelle danken möchte ich zunächst ganz besonders den
Referenten für die sorgfältige Überarbeitung ihrer Amsterdamer Beiträge für diesen Band. Ebenfalls danken möchte ich den Gutachternauch für ihre vielfältigen Hinweise und Vorschläge, sowie dem de
Gruyter Verlag, besonders der Cheflektorin für Philosophie, Frau Dr.Gertrud Grünkom, für die Aufnahme dieses Bandes in das Verlags
programm und für ihre geduldige Betreuung der Drucklegung.
Amsterdam und Utrecht im Frühjahr 2009 Ernst-O tto Onnasch
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Bildungskraft und Bildungstrieb bei Kant
Gian Franco Frigo
Abstract: Starting w ith the Critique o f the Power o f Judgement, Kant does not onlydiscus the p roblem o f understanding nature from w ithin a mechanistic paradigm. R ath er, he tries to deve lop a synthesis o f determ inism and finalism. T hisis because he realizes that, on one hand, some natural processes fall within therealm o f m atter and its laws. O n the othe r hand, they apparently tend to realizea certain form or type, and can therefore be explained in terms o f ideas ofreason. In other words, not only formative forces ( Bildungskräfte), but alsoformative drives ( Bildungstriebe) are at stake here. Certainly, purposivenesscannot determine phenomena, i t is rather a sort of „Gesetzlichkeit des Zufälligen“ w hich takes place at the level o f the e m pirical laws o f nature. Th usfinality can be regarde d as a ‘prod uc tion- m anife station ’ o f a particular object,
bec ause finality enab les us to discover th e org aniz ation o f th e natu ral p hen o mena that mechanistic laws must explain.
1. Die Grenzen der „Autokratie der Materie“ und des,, Naturmechanismus “1
In der Kri tik der Urteilskraft (1790) behandelt Kant das Problem des
Verständnisses der Natur nicht nur, indem er es in die mechanistische
Perspektive einordnet, wie er es in der Kri tik der reinen Vernunft (1781,1787), in den Prolegomena (1783) oder in den Metaphysischen Anfa ngs-
gründen der Naturwissenschaft (1786) vorgenommen hat, sondern indem
er eine mögliche Synthese zwischen Determinismus und Finalismussucht.2 Dieser Versuch beabsichtigt nicht, die Naturwissenschaft derPhänomene in eine Krise zu stürzen, sondern sie in die Perspektiveeiner Produktivität der Natur zu setzen, die die kausal-mechanistischen
Prozesse zur Verwirklichung (oder Wiederherstellung) einer schon
gegebenen Form zu „führen“ beabsichtigt. Das bezieht sich auf dieorganischen Produkte der Natur, die unserer Urteilskraft wie die Verwirklichung eines Zweckes erscheinen:
1 Vgl. K dU § 81, AA 5.421-424.2 Vgl. Adickes 19 24- 192 5; Schäfer 1966; Butts 1986; Friedm an 1992;
Schwabe/Thom 1993; Bonsiepen 1997; Toepfer 2004 und Wahsner 2004.
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die Natur zeigt in ihren freien Bildungen überall so viel mechanischenHang zu Erzeugung von Formen, die für den ästhet ischen Gebrauch un
serer Urtheilskraft gleichsam gemacht zu sein scheinen, ohne den geringsten Grund zur Vermuthung an die Hand zu geben, daß es dazu nochetwas mehr als ihres Mechanisms, bloß als Natur, bedürfe, wornach sieauch ohne alle ihnen zum Grunde liegende Idee für unsere Beurtheilungzweckmäßig sein können. Ich verstehe aber unter einer freien Bildun g der N a tu r diejenige, wodurch aus einem Flüssigen in Ruhe durch V erflücht igungoder Absonderung eines Theils desselben (bisweilen bloß der Wärmma-
terie) das Übrige bei dem Festwerden eine bestimm te Gestalt oder G ew ebe(Figur oder Textur) annimmt, die nach der specifischen Verschiedenheitder Materien verschieden, in eben derselben aber genau dieselbe ist.3
Kant aber erkennt, daß diese „freien Bildungen“, eben da sie „frei“ sind,ihre Grundlage nicht einfach in den mechanischen Kräften haben
können, aus denen die Materie besteht, weil
wenn [...] die Ursache bloß in der Materie, als einem Aggregat vieler
Substanzen außer einander, gesucht wird, die Einheit des Princips für dieinnerlich zweckmäßige Form ihrer Bildung gänzlich ermangelt; und die
Autokra tie der M aterie in Erzeugungen, welche von unserm Verstände nurals Zw ecke begriffen w erden könn en, is t e in W ort oh ne B edeutung .4
In Wirklichkeit muß Kant hier erkennen, daß die Möglichkeit zu ob jektiv zweckmäßigen, die Materie betreffenden Form en absolut unlös
bar für unsere Intelligenz bleibt,
wenn wir [d]en Urgrund der Dinge nicht als einfache Substanz und dieser
ihre E igenschaft zu der specifischen Beschaffenheit de r au f sie sich g rün denden Naturformen, nämlich der Zweckeinheit , nicht als die einer intelligenten Substanz, das Verhältniß aber derselben zu den letzteren (wegender Zufälligkeit, die wir an allem finden, was wir uns nur als Zweckmöglich denken) nicht als das Verhältniß einer Causalität uns vorstellen.5
Die Schwierigkeit entsteht darin, daß, was ein organisiertes Produkt betrifft, einerseits „der Mechanismus der Natu r [...] nicht zulangenkann, um sich die Möglichkeit eines organisirten Wesens darnach zu
denken, sondern (wenigstens nach der Beschaffenheit unsers Erkennt-nißvermögens) einer absichtlich wirkenden Ursache ursprünglich un
tergeordnet werden muß“; andererseits ist es genauso wahr, daß eine
rein finalistische Grundlage diesem Produkt ihre „Natürlichkeit“ nehmen würde, auf Grund wovon Mechanismus und Finalismus vereint
3 K dU § 58, AA 5.348.4 K dU § 81, AA 5.421.5 Ebd.
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handeln müssen, damit ein Prod ukt entstehen kann, das ein Produkt der Natur, aber gleichzeitig auch das Resultat einer Endursache ist.6
Mechanische Kausalität und freie Kausalität scheinen entgegengesetzt, aber die positive Bedeutung ihrer möglichen Einheit liegt darin,daß die teleologische Betrachtung nicht die Universalgesetze der Naturals solche ausschließt, sondern gerade indem sie sich ihrer bedient, undso der freien Bildung eine Grenze auflegt.
2. Die Erfahrung der Natur
Wie ist die reine Naturwissenschaft möglich, fragt sich Kant in den Prolegomena. Er erkennt, daß die Natur verschiedene Bedeutungen annimmt: sie bezeichnet nämlich
das Dase in der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist.Sollte Natur das Dasein der an sich selbst bedeuten, so würden wir sieniemals, weder a priori noch a posteriori , erkennen können.7
Ich kann die Natur nicht a priori kennen, denn
Mein Verstand und die Bedingungen, unter denen er allein die Bestimm ungen der Dinge in ihrem D asein verknüpfen kann, schreibt den Dingenselbst keine Regel vor; diese richten sich nicht nach meinem Verstände,sondern mein Verstand müßte sich nach ihnen richten [ . . . ] .8
Aber auch kann ich sie nicht a posteriori kennen,
Denn wenn mich Erfahrung Gesetze, unter denen das Dasein der Dingesteht, lehren soll, so müßten diese, so fern sie Dinge an sich selbst betreffen,auch außer meiner Erfahrung ihnen nothwendig z u k o m m e n .9
Die Gesetze, auf die hier Bezug genommen wird, sind die in der„Analytik der Grundsätze“ der Krit ik der reinen Vernunft angegebenen.Diese Auffassung der Materie stammt direkt von der kritischen Perspektive, nach der wir von etwas Materiellem nur dann sprechen
können, wenn unsere Sinne von einer Wirklichkeit, die außer uns ist,verändert werden.
Demnach gestehe ich [.. .], daß es außer uns Körper gebe, d.i . Dinge, die,obzwar nach dem, was sie an sich selbst seien mögen, uns gänzlich unbe
6 Vgl. K dU § 81, AA 5.421 f.7 Prol. § 14, AA 4.294, vgl. dazu auch Plaass 1994.8 Ebd.9 Ebd.
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kannt, w ir durch die Vorstellungen ken nen , w elche ihr Einfluß auf unsre
Sinnlichkeit uns verschafft , und denen wir die Benennung eines Körpers
gebe n; w elches W or t also blos die Erscheinung jenes uns un beka nnten,aber nichts desto we niger w irklichen Gegenstandes be de utet.10
Die Natur, materialiter betrachtet, ist nach Kant der „Inbegriff aller Ge-
genstände der Erfahrung“, während sie, formaliter untersucht, „die Ge
setzmäßigkeit aller Gegenstände und, sofern sie a priori erkannt wird,
die nothwendige Gesetzmäßigkeit derselben“ ist.11 Das bedeutet, daß dieObjekte der Erfahrung notwendigen Gesetzen entsprechen, weil diese
auch die Gesetze aller unserer möglichen Erfahrungen sind: „die sub-
jectiven Gesetze, unte r denen allein eine Erfahrungskenntniß vonDingen möglich ist, gelten auch von diesen Dingen als Gegenständen
einer möglichen Erfahrung“ .12 Die N atur erweist sich also bestimmt als
,,de[r] ganze(n) Gegenstand aller möglichen Erfahrung“, wobei „die
Bedingungen a priori von der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die
Quellen sind, aus denen alle allgemeine Naturgesetze hergeleitet wer
den müssen“ .13 Der Verweis ist also auf die
Beschaffenheit unseres Verstandes, nach welcher alle jene Vorstellungen
der Sinnlichkei t auf ein Bew ußtsein nothw endig bezogen w erden, undw odu rch allererst die e ige ntü m lich e A rt unseres Denkens, nämlich durch
Regeln, und vermittelst dieser die Erfahrung, welche von der Einsicht der
O bjec te an sich selbst ganz zu un tersch eiden ist, m öglich ist.14
Die „Eigenschaft“15 unserer Erkennungsfähigkeit bleibt eine Tatsache,die nicht weiter untersucht werden kann, da sie jedem Denken be
züglich der Objekte und somit auch sich selbst zu Grunde liegt.
Es sind viele Gesetze der Natur, die wir nur vermittelst der Erfahrung
wissen können; aber die Gesetzmäßigkeit in Verknüpfung der Erschei
nungen, d . i . d ie Natur überhaupt , können wir durch keine Erfahrungkennen lernen, weil Erfahrung selbst solcher Gesetze bedarf, die ihrer
Möglichkei t a priori zum G runde liegen.16
Die Gesetze a priori sind aber nicht genug, um die Natur konkret zuerkennen, denn für die empirische Bestimmtheit brauchen wir den
10 Prol ., AA 4.289.11 Prol. § 16, AA 4.295 f.12 Prol. § 17, AA 4.296.
13 Prol. § 17, AA 4.297.14 Prol. §36, AA 4.318.15 Ebd.16 E bd ., 318 f.
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Beitrag der Erfahrung hic et nunc, mit anderen Worten kann der Ver
stand die vielfältigen Gesetze der Natur nur erst a posteriori erkennen.
W ir müssen [.. .] empirische Gesetze der N atur, die jederz eit besondereW ahrneh m ungen voraussetzen, von den reinen oder allgemeinen N atur
gesetzen, w elche, ohne daß besondere W ahrneh m ungen zum Grundeliegen, blos die Bedingungen ihrer nothwendigen Vereinigung in einerErfahrung enthalten, unterscheiden; und in Ansehung der letztem ist die N atu r u nd mögliche Erfahru ng ganz u nd gar einerlei.17
Wenn also das Kausalitätsprinzip von der „Beschaffenheit“ unseres
Verstands und unserer Sinnlichkeit abhängt, dann sind die Gesetze, diedie verschiedenen besonderen kausalen Zusammenhänge beschreiben,
auf Grund deren die konkreten natürlichen Prozesse erfolgen, nicht vonihr abzuleiten, sondern sind für uns nur dank bestimmter Wahrneh
mungen erkennbar; richtig bleibt jedoch, daß die Ordnung, mit der sie
aufeinander folgen, auf die noumenale Ordnung verweist, die auf unswirkt. Diese noumenale Ordnung ist für uns freilich unkennbar, siewird uns allerdings analog in der phänomenalen Ordnung offenbar.
Kant führt den Verweis auf eine noumenale Natur ein, wenn er das
Verhältnis zwischen Mechanismus und Finalismus erklärt; in der Kritik
der Urteilskraft beruft er sich auf ein „übersinnliche[s] Substrat der Natu r“ oder auch auf ein intelligibles Substrat.18
3. Materie als Bildungskraft
In den Metaphysischen Anfangsgründen ist die Materie nach Kant dasObjekt unserer äußeren Sinne, und der Körper ist die Form, die sie
annimmt, da sie innerhalb bestimmter Grenzen eingeschlossen ist. Diereine Naturwissenschaft hat ihre Grundlage in diesem empirischenBegriff von Materie, auch wenn sie dann erforscht, welche Kenntnisseder Verstand a priori von ihr erwerben kann.19 Nach rein metaphysischer
Betrachtung ist Materie „das Bewegliche im Raume“20. Der Verweis aufden Raum ist in diesem Zusammenhang verständlich, weil wir es hiermit einer sinnlichen Erfahrung zu tun haben, die unter die reine An
schauung des Raumes fällt. Es handelt sich um eine Charakterisierung
17 E bd ., 32018 K dU § 78, AA 5.416 und § 81, 422.19 M A N , AA 4.469.20 E bd ., 480.
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der Materie, die sich nicht auf die Ausdehnung bezieht, sondern n ur aufdie Bewegung, auf einen materiellen Punkt, der seine Position im
Raum verändert und somit in den Bereich der Phoronomie fällt.In der auf die Phoronomie folgenden Dynamik wird die Materie
zusätzlich als „das Bewegliche, sofern es einen Raum erfüllt“ charakterisiert.21 Dem fügt Kant hinzu: „Einen Rau m erfüllen, heißt allem Beweglichen widerstehen, das durch seine Bewegung in einen gewissen
R au m einzudringen bestrebt ist“ .22 Die Materie „erfüllt einen R au m “und nimmt einen Raum ein, weil sie „eine besondere bewegende Kraft“
besitzt;23 diese Kraft offenbart sich als „Widerstand“ gegenüber einem
anderen Beweglichen, das versucht, in den Raum des ersteren Beweglichen einzudringen. Nur weil die Materie die raumdurchdringendeKraft ist, ist es für uns möglich, uns in der Anschauung den Begriff einer
Materie darzustellen. Die Kraft, durch die die Materie den Raum er
füllt, dehnt sich in alle Richtungen aus. Aber eine bewegende Kraft, dieunendlich im Raum eine unendliche Größe hätte, kann es nicht geben,weshalb die Ausdehnung von einer anderen Kraft entgegengewirkt
wird, die sie zurückdrückt.
„Die Materie erfüllt ihre Räume durch repulsive Kräfte aller ihrer
Theile, d. h. durch eine ihr eigene Ausdehnungskraft, die einen be stimmten Grad hat, über den kleinere oder größere ins Unendlichekönnen gedacht we rden.“24 Es handelt sich hier um die beiden Kräfteder Attraktion und Repulsion. Beide gehören sie zur Materie und ga
rantieren ihr die Eigenschaften der Elastizität (expansive Kraft), derUndurchdringlichkeit (Anziehungskraft) und der Teilbarkeit.
Besäße die Materie nur Attraktionskraft, würden „alle Theile derMaterie sich ohne Hinderniß einander nähern und den Raum, den diese
einnimmt, verringern.“25 W ürden die Teile der Materie nicht in einergewissen Entfernung zueinander stehen, müßte das zur Folge haben,
daß sich alle Materie in einem mathematischen Punkt konzentrierte undder Raum folglich leer sein würde; deshalb gibt es keine positive Kraftim R au m ohne eine negative. Als Eigenschaften der Materie wirken die
Kräfte au f jed en Teil der Materie. Sie wirken nicht nur auf die Teileeines einzelnen Körpers, indem sie sie Zusammenhalten und von denen
21 E bd ., 496.
22 Ebd.23 E bd ., 497.24 E bd ., 499.25 E bd ., 511.
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anderer Körper trennen, sondern sie wirken auch aus der Entfernung
auf andere Körper, mit denen es keine Berührung gibt, d. h. sie wirken
durch den leeren Raum .26Die Schwierigkeit für unseren Verstand, sich diese Kräfte vorzu
stellen, kommt daher, daß sie, eben als „Grundkräfte“, nicht von anderen Kräften abzuleiten sind; sie geben den einzelnen Körpern Form
und bilden das ganze Universum:
Da alle gegebene Materie mit einem bestimmten Grade der repulsiven
Kraft ihren R au m erfüllen mu ß, u m ein bestimm tes materielles Ding
auszumachen, so kann nur eine ursprüngliche Anziehung im Conflict mitder ursprüngl ichen Zurückstoßung einen best immten Grad der Erfül lung
des Raums, mithin Materie möglich machen; es mag nun sein, daß dererstere von der eigenen Anziehung der Theile der zusammengedrückten
Materie unter einander, oder von der Vereinigung derselben mit der An
ziehung aller W eltmaterie herr ühr e.27
4. Materie als Bildungstrieb
In seinen Ideen zu r Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784 —1791)
hatte Johann Gottfried Herder die Idee eingeführt, daß die gesamte Natur, auch die sogenannte to te Natu r, von einer einzigen Kraft do
miniert und durchdrungen wird. Ursprünglich ist diese Kraft dunkel
und unbestimmt, doch gliedert sie sich in der Natur in die unendlicheVielfältigkeit ihrer Produkte:
In der toten Natur liegt alles noch in einem dunkeln, aber mächtigenTriebe. D ie Tei le dringen m it innigen Kräften zusamm en; jedes G eschöpf
sucht Gestalt z u gewinnen und form t sich. In diesem Trieb ist noch alles
verschlossen; er du rchd ringt aber auch das ganze W esen un zerstörbar. [...]Der Trieb des Ganzen modifiziert sich [.. .], bleibt aber noch im Ganzen
eins und dasselbe; denn die For tpflanzung ist nu r Efjlorezens des Wachstums;
beid e T rie be sind der N atu r des Geschö pfs nach unabtr ennbar. [.. .] [Der]H auptzw eck [der Na tur] ist offenbar, sich der organischen F orm zu nähern,
in der die meiste Vereinigung klarer Begriffe, der vielartigste und freieste
Ge brauch verschiedener Sinne und Glieder stattfände [.. .] D ie Teile jedesTiers stehen a uf seiner Stufe in der engsten Pro portion untereina nder; und
ich glaube, alle Formen sind erschöpft, in denen nur ein lebendiges Geschöpf auf unserer E rde fortkom m en kon nte.28
26 Ebd ., 512.27 Ebd ., 518.28 H erd er 6.105 un d 107 f.
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Herders Deutung weist gewisse Ähnlichkeiten mit Kants vorkritischenÜberzeugungen auf, ihr gegenüber nimmt der Philosoph der „koper-
nikanischen Revolution“ allerdings eine doppelte Haltung ein. Einerseits anerkennt er die universelle Gültigkeit der Kategorien des Verstands im Bereich der phänomenalen Natur, andererseits geht er davon
aus, daß bestimmte natürliche Prozesse der Erklärung nach Ideen desVerstands unterworfen sind, die deren Besonderheit hervorheben.Ersteres war, wenn auch im Grunde genommen mechanistisch ausge
drückt, schon in der Behauptung der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) enthalten, wonach nämlich die Materie, „die
bloß leidend und der Form en und Anstalten bedürftig zu sein scheint,[...] in ihrem einfachsten Zustande eine Bestrebung [hat], sich durcheine natürliche Entwicklung zu einer vollkommenem Verfassung zu
bilden“ . Das zweite erscheint schon 1775 hinsichtlich der Betrachtungder Bildung der verschiedenen Rassen, wo Kant den Begriff der
„Keime“ und der „natürlichen Anlage“ einfuhrt, um die Bildungs- undAnpassungsprozesse einiger Organismen zu erklären:
Die in der Natur eines organischen Körpers (Gewächses oder Thieres)l iegenden Gründe einer best immten Auswickelung heißen, wenn diese
Auswickelung besondere Theile betrifft , K eim e; betrifft sie aber nur dieGröße oder das Verhältniß der Theile untereinander, so nenne ich sienatürliche Anlagen. [. . .] Diese Fürsorge der N atur, ihr Ge schö pf durchversteckte innere V orkeh rung en auf allerlei künftige U m stände auszurüsten, damit es sich erhalte und der Verschiedenheit des Klima oder desBodens angemessen sei, ist bewundernswürdig [...] Der Zufall, oder allgemeine mechanische Gesetze können solche Zusammenfassungen nichthervorbringen. Daher müssen wir dergleichen gelegentliche Auswickelungen als vorgebildet an seh n.30
Kants Aufmerksamkeit für natürliche Prozesse, die —obwohl sie innerhalb des Bereiches der Materie und ihrer Gesetze bleiben —daraufausgerichtet zu sein scheinen, eine bestimmte Form oder einen bestimmten Typ zu verwirklichen, wird von der zeitgenössischen Debatte
über Präformationismus un d Epigenese immer weiter verschärft.31Jenseits der theologischen Probleme, die Kant als Philosoph beiseiteläßt, ist er daran interessiert, ein epistemologisches Modell zu entwickeln, auf Grund dessen die in der Materie wirkenden Kräfte unter
bestim mten Umständen auf eine und dieselbe Weise wirken und die
29 Allg . Naturgesch., AA 1.263.30 Von den verschiedenen Racen, AA 2.434 f.31 Vgl. dazu Len oir 1980 un d Zum bach 1984
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Die Anerkennung dafür, daß Blumenbach das wesentliche Problem des
Verhältnisses zwischen Mechanismus und Finalismus in der Natur be
rührt, liefert Kant in der Kri tik der Urteilskraft:
Denn daß rohe Materie sich nach mechanischen Gesetzen ursprünglichselbst gebildet habe, daß aus der Natur des Leblosen Leben habe entspringen und Materie in die Form einer sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit sich von selbst habe fügen können, erklärt er [d. h. Blumenbach,GFF] mit Recht für vernunftwidrig; läßt aber zugleich dem Naturme-chanism unter diesem uns unerforschlichen Princip einer ursprünglichenOrganisation e inen unbest immbaren, zugleich doch auch unverkennbarenAntheil , wozu das Vermögen der Materie (zum Unterschiede von der ihral lgemein beiwohnenden bloß mechanischen Bildungskraft ) von ihm ineinem organisirten Körper ein (gleichsam unter der höheren Leitung undAnweisung der ersteren stehender) Bildungstrieb gena nnt w ird.34
Die Grenze der rein mechanistischen Auffassung der Natur wird vonKant in der Kri tik der Urteilskraft anerkannt, indem er mit der Urteilskraftein „Mittelglied“ zwischen Verstand un d V ernunft angibt,35 auf dasunsere Urteile über das Schöne und das Erhabene, sowie unsere teleologische Interpretation von bestimmten natürlichen Prozessen zu
rückzuführen sind.36 Kant anerkennt nämlich, daß
wir die organisi r ten Wesen und deren innere Möglichkei t nach bloß mechanischen Principien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen,viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreistsagen kann: es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, dass noch etwa dereinst ein Newtonaufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde;sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprech en .37
Wenn ein organisiertes Naturprodukt dadurch gekennzeichnet ist, daßin ihm „alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist“, dann ist offensichtlich, daß es nicht nur unter einer Ursache effizienter Art, sondernauch unter einer Ursache teleologischer Art denkbar ist, so daß „einDing, welches als Naturproduct doch zugleich nur als Naturzweck
möglich erkannt werden soll, sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und W irkung“ verhält.38 N un unterscheidet Kant in der „Analytik
34 K dU § 81, AA 5.424.
35 Vgl. K dU „1. Vorrede“, AA 5.168.36 Vgl. R an g 1993; Flach 1997 und Oberm eier 1997.37 K dU § 75, AA 5.400.38 K dU § 65, AA 5.372.
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der Urteilskraft“ zwei Arten von Zwecken, d. h. einen äußeren, der dasVerhältnis vom M ittel zum Zw eck zwischen zwei äußerlichen Entitäten
anzeigt, und einen inneren, der sich verwirklicht, wenn ein Ding „von sich selbst (obgleich in zweifachem Sinne) Ursache und Wirkung“ ist.39
Zu einem Dinge als N aturzwecke w ird nun erstlich erfordert, daß die Theile(ihrem D asein un d der F orm nach) n ur du rch ihre Beziehun g au f das Ganzemöglich sind. Denn das Ding selbst ist ein Zweck, folglich unter einemBeg riff ode r einer Idee befaßt, die alles, was in ih m enthalten sein soll, a
priori bestim m en m uß [.. .] Soll aber ein Ding als Natu rpro du ct in sich selbstund seiner innern M öglichkei t doch eine Beziehung auf Zw ecke erhalten,d.i . nur als Naturzweck und ohne die Causalität der Begriffe von vernünft igen W esen außer ihm möglich sein: so wird zw eiten s dazu erfordert:daß die Theile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden,daß sie von einander wechselseitig Ursache u nd W irkun g ihrer Form sind.D en n auf solche Weise ist es allein mö glich, daß u m ge ke hrt (wechselseitig)die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Theile
bestim m e: n ic h t als U rsache —denn da w äre es ein K unstp roduct —, sondern als Erkenntnißgrund der systematischen Einheit der Form und Ver
b in dung alles M annig fa ltig en, was in der gegeben M ate rie enth alt en ist, fürden, de r es be ur the ilt.40
N un ist das Natu rp rodukt in jeder Hinsicht Naturzweck, da es, wie
Kant anhand des Beispiels des Baumes zeigt,41 Ursache und W irkungseiner selbst ist. Naturzweck ist das Naturprodukt in erster Linie hinsichtlich der Gattung, d. h. das Individuum ist nicht nur ihre Wirkung,sondern zugleich ihre Ursache, weil sich im Individuum die Gattungverewigt; in zweiter Linie als Individuum durch das Wachstum, durch
das die Materie zuerst verwandelt wird, um dann vom Individuumangeeignet werden zu können; in dritter Linie, da sich im Organismus
der Teil des Ganzen entwickelt und die Selbsterhaltung des Organismus
seinerseits von diesem Ganzen abhängt und dieses wiederum vomTeil.42 W ährend nämlich in einer Maschine — Kant gibt in diesemZusammenhang das Beispiel einer U hr — ein Teil n icht das Ganze
produziert, sondern nur ein Werkzeug der Bewegung der anderen Teile
ist, weshalb die hervorbringende Ursache des Produktes der Maschineselbst äußerlich ist, ist das organische Produkt umgekehrt „organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen“.
39 K dU § 64, AA 5.370.
40 K dU § 65, AA 5.373.41 Vgl. dazu den Beitrag von Tobias Cheun g in diesem Band.42 Vgl. K dU § 64, AA 5.371.43 K dU § 65, AA 5.374.
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Die Zweckmäßigkeit läßt sich als eine irgendwie offenbar gewordeneErzeugung eines besonderen Objektes betrachten, sofern sie es nämlich
möglich macht, die Organisation der natürlichen Prozesse zu „erkennen“, wobei die mechanistischen Bestimmungen „erklären“. Das fina-
listische und das mechanistische Modell konkurrieren somit nicht miteinander, sofern das erstere Modell nicht n ur auf bestimmte Perspektiven der Naturforschung bezogen werden kann. Vielmehr ist dieses
Modell wegen der Erkenntnis des Organismus, das ein Produkt natürlicher Kräfte ist, wesentlich „unverzichtbar“ .49 Die Teleologie läuft alsokeineswegs au f eine Ablehnung von Kausalität und anderen Erkenntniskonstituierenden Prinzipien hinaus, sondern sie führt zu einem erweiterten Verständnis einer besonderen Struktur von kausalen Prozessen.
Ihr Wert wird indirekt dadurch bestätigt, daß sie in bezug auf dieStruktur unseres Verstands lediglich ein reflektierender Begriff ist; mit
anderen Worten, für eine Intelligenz, die nicht mit der Sinnlichkeit
verbunden ist, hätte die Teleologie gar keine entscheidende Funktion.Dies erläutert Kant folgendermaßen:
Es ist daher vernünftig, ja verdienstlich, dem Naturmechanism zum Behufeiner Erklärung der Naturproducte soweit nachzugehen, als es mit
Wahrscheinlichkeit geschehen kann, ja diesen Versuch nicht darum aufzugeben, weil es an sich unm öglich sei auf seinem W ege m it der Zw eckmäßigkeit der Natur zusammenzutreffen, sondern nur darum, weil es fü r uns als Menschen unmöglich ist; indem dazu eine andere als sinnlicheAn schauung u nd ein bestimm tes Erk enn tniß des intelligibelen Substrats der N atu r, w oraus selbst v on dem M echanis m der Erschein ungen nach be sonderen Gesetzen Grund angegeben werden könne, erforderlich seinw ürde , w elches alles unser V erm öge n gänzlich übersteigt.50
5. Schlußbemerkung
Dieser kurze Exkurs hat versucht zu zeigen, daß die Kantische Auffassung der Materie eine Erweiterung der rein mechanistischen Erklärung
der natürlichen Prozesse mit sich bringt. Wenn nämlich nur dort ma
terielle Körper empirisch gegeben sind, wo es eine bestimmte Erfüllungdes Raumes gibt, dann ist das nur möglich, wenn man die Handlungvon einander entgegenwirkenden bewegenden Kräften (Anziehungs
und Zurückstoßungskraft) voraussetzt. Diese können jedoch als Grund
49 K dU § 64, AA 5.370.50 K dU § 80, AA 5.418.
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kräfte, die die Möglichkeit unserer sinnlichen Intuitionen selbst begründen, nicht empirisch erkannt werden. Das bedeutet, daß die phä
nomenale Welt auf einem übersinnlichen Substrat ruht, das nicht geleugnet werden kann, obwohl es sich unserem mit der Sinnlichkeit
verbundenen Erkennungsvermögen entzieht.
Eine weitere Bestätigung für dieses ungleiche Verhältnis zwischenSinnlichem und Übersinnlichem wird von der Beschaffenheit unseres
Verstandes geliefert: dieser sichert nämlich der Vielfältigkeit der empirischen W elt Einheit, gründet aber nicht die Ordnung, der der Verstand
die konkreten natürlichen Prozesse unterordnet, denn das verwiese auf
eine Ordnung, die nicht nur phänomenal sein kann, sondern die wirauch als noumenal voraussetzen müssen.
Außerdem erkennt Kant unter dem Einfluß der epistemologischen
Debatte über den Ursprung und die Entwicklung der lebendigen Or
ganismen, daß es für unser Erkenntnisvermögen vernunftwidrig ist, dieLebewesen von toter Materie abzuleiten, da sie sich nicht nur als Pro
dukte der Naturgesetze äußern, sondern auch, auf Grund der Gestallt,die sie annehmen und weitergeben können, als Naturzwecke, also als
Resultate von Naturkräften, die nach unserem Verstand mit Absicht
handeln. So versucht Kant, in der Kri tik der Urteilskraft ein epistemo-logisches Modell zu erstellen, das es ermöglicht, ein Naturprodukt auchals Na turzweck zu denken, ohne den unersetzlichen Erkenntniswert desMechanismus aufzugeben und ohne die lebenden Organismen auf
Kunstprodukte herunterstufen zu müssen. Die Freiheit, die ihnen eineteleologische Betrachtung zuerkennt, unterdrückt nach Kant nicht die Notw endigkeit der mechanischen Gesetze, denn nur dank dieser blei
ben sie natürlich und gehen nicht zur Künstlichkeit oder zum Chaos
über. Die Zweckmäßigkeit ist also jene Form, die dem ZufälligenGesetzmäßigkeit verleiht, während der Mechanismus der „freien Bildung“ der Naturkräfte eine Grenze stellt. Wie man sieht, begreift Kant
die Zweckmäßigkeit nicht als Ursache sondern als „Erkenntnißgrund“der natürlichen Wesen. Das bedeutet, daß sich Mechanismus und Finalismus absolut nicht in der Interpretation der natürlichen Prozesse
ausschließen, sondern daß sie zwei Perspektiven von verschiedenemepistemologischem Wert darstellen, beide garantiert von jenem „intel-
ligible[n] Substrat der Natur“ ,51 das nicht aufhört zu handeln, w en n essich auch nicht von unserem Verstand einfangen läßt.
51 K dU § 78, AA 5.416.
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Der Baum im Baum.
Modellkörper, reproduktive Systeme und dieDifferenz zwischen Lebendigem und Unlebendigem
bei Kant und Bonnet
Tobias Cheung
Abstract: In § 64 of the Critique o f Judgm ent (1790), Kant refers to different re p roductive m odes o f th e “organiz ati on” o f a “tree” (assim ila tion, generationand healing). For Kant, these modes are characteristic for all “organized” or“living beings”, and they categorically distinguish organic and “inorganic beings”. However, the “tree” as a “plant” occurs in different positions in the orders o f things o f the e igh teen th-c en tury n atural history. I will investigate ordersthat could have influenced Kant. After a detailed reconstruction of Kant’sm ode l of a “tree ”, I focus on the role o f the “tree ” as a repro duc tive system
in the writings of Henri Louis Duhamel’s La Phys ique des arbres (1758) andCharles Bonnet’s Considerations sur les corps organises (1762).
In zweiten Teil der Kri tik der Urteilskraft (1790) geht es Kant umeinen adäquaten Begriff für die O rdnung der Erscheinungen, die ein
Beobachter an einer bestimmten Klasse von K örpern erfahren kann. FürKant nötigen die Erscheinungen dieser Körper den Beobachter, einen
besonderen Begriff zu bilden, nämlich den eines „D inges“, das als
„Naturzweck“ existiert, in dem es „von sich selbst [...] Ursache und
Wirkung ist“.1 Kant nennt die Klasse dieser Körper allgemein „organisierte“, nicht jedoch lebendige Körper —obwohl seine Unterscheidung
der zwischen Lebendigem u nd Unlebendigem entspricht.2 JohannFriedrich Blumenbach, auf den sich Kant in der Kri tik der Urteilskraft fürdie Annahme einer bildenden Kraft in organisierten Körpern beruft, hat
diese Entsprechung in Ueber den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte (1781, 21789) deutlich hervorgehoben:
1 Vgl. K dU § 64, AA 5.370.2 Kant nen nt „organisirte K örper“ in der Kritik der Urteilskraft auch „organisirte
Wesen“, „organisierte Producte“, „organisirte Geschöpfe“, „organisirte Naturdinge“ und „organische Naturwesen“. Im Opus postumum erwähnt Kant„Organismen“, vgl. z. B. AA 21.187, siehe hierzu Debru 1980 und Cheung2006b.
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Man kan nicht inniger von etwas überzeugt seyn, als ich es von dermächtigen Kluft bin, die die Natur zwischen der belebten und unbelebten
Schöpfung, zwischen den organisirten und unorganischen Geschöpfen befest ig t ha t. 3
Da es Kant in der dritten Kri tik allein um einen adäquaten Begriff, nichtaber um eine konkret in der Natur verortete Systematik der Ordnung
der Dinge geht, unterläßt er es, die Trennlinie zwischen organisiertenund unorganischen Körpern anhand bestimmter Körper darzulegen.Ohne die Wahl zu begründen, erwähnt Kant in § 64 einen „Baum“, um
die „Idee von einem Naturzweck zuvörderst durch ein Beispiel [zu]erläutern, ehe wir sie völlig auseinander setzen“ .4 W en n die Idee eines
Naturzwecks als Begriff einem bestim mten Kanon von Erscheinungen
entsprechen soll, dann ist allerdings nicht nur die Konsistenz des Begriffes innerhalb einer transzendentalen Logik, sondern auch die Begründung der Wahl und die Angemessenheit der Zuordnung der Erscheinungen zu einer bestimmten Klasse von Körpern wichtig.
Kants Wahl ist zu seiner Zeit keineswegs selbstverständlich. Her
mann Samuel Reimarus, mit dessen Trieblehre Kant vertraut war, hätteKants Wahl nicht verstanden.5 Denn für Reimarus sind Pflanzen m e
chanisch operierende tote Körper. Allein Tiere und Menschen stellenfür ihn organisierte und lebendige Körper dar.6
Das Ding, das dem Naturzweck entsprechen soll, steht in der Kant-Rezeption im Schatten des Begriffes. Mir ist keine Untersuchung bekannt, die sich mit der Frage beschäftigt, warum Kant in § 64 einen
„Baum “ und nicht etwa ein Moos, einen Polypen, eine Fliege oder eineRatte als (weitere) Beispiele wählt. Dieser Frage nachzugehen, ist Zieldes vorliegenden Aufsatzes. Hierfür werde ich die Rolle des „Baumes“und das Modell organischer Ordnung in Kants und Charles Bonnets
3 Blum enbach 1789, 71. Z um Verhältnis von Blum enbach un d Kant, vo r allemin H insicht auf den „Bildungstrieb“ und das Verhältnis von Präformations- undEpigenesistheorien, siehe Toellner 1968a und 1968b; Lenoir 1980;McLaughlin 1982; Look 2006 und Zammito 2007.
4 K dU § 64, AA 5.371. In § 64 erwähnt Kant keine Tiere oder tierische Körper.Z ur Charakterisierung inn erer Zw eckm äßigkeit fuhrt er später einige Beispielean, die sich auf Tierkörper beziehen, vgl. K dU § 66, AA 5.377 ff.
5 Reim arus hatte seine Triebthe orie in Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754) zuerst vorgestellt und in Allgemeine Betrachtungen über die Triebe
der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe (1760) weiter ausgebaut. Siehehierzu Scherer 1898 und Cheung 2006a.
6 Z um historischen Kontext der Un terscheidung zwischen der O rdnun g derKörper von Pflanzen und Tieren, siehe Ingensiep 2001.
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Ansätzen vergleichen. Bonne t kennzeichnet den „Baum“ wiederholt alsein reproduktives System. Der Modellkörper „Baum“ dient ihm zu
gleich zur kategoriellen Unterscheidung von organisch „organisierten“und „unorganischen“ Körpern.7 Des weiteren bezieht sich Bonnet fürseine Ausführungen zum reproduktiven „Baum“ auf das vierte Buch
von Henri Louis Duhamels Schrift La Physique des arbres (1758), dessenthematische Gliederung in Kants Charakteristik des „Baumes“ in § 64
wieder auftaucht.Kant ist nur vier Jahre älter als Bonnet, doch hat sich Bonnet vom
Genfer See genauso wenig entfernt wie Kant von Königsberg. Beidehaben sich persönlich nie getroffen. Dennoch beziehen sie sich auf
einander. Kant erwähnt Bonnet namentlich in „Von dem ersten Grundedes Unterschiedes der Gegenden im Raume“ (1768), um auf dessenSinnesphysiologie im Essai sur les facultes de l ’äme (1760) zu verweisen,und im Anhang zur transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft (1781, 21787) sowie in „Uber den Gebrauch teleologischerPrincip ien in der Philosophie“ (1788), um Bonnets —und seiner Ansichtnach auch Leibniz’ —Idee des „Gesetzes der continuirlichen Stufenleiter“ der Ordnungsform en aller („organisirter“ und „unorganischer“) Körper
als allein „regulatives Princip der Vernunft“ zu bestimmen, dem keineeinheitliche bildende Kraft in der Natur zugrunde gelegt werden kann,ohne unkritisch Metaphysik zu betreiben.8
Direkte Nachweise der Lektüre Kants von Bonnets Schriften liegen bisher nur für die deutschen Übersetzungen Analytischer Versuch über die Seelenkräfte (1770 —1771) und Betrachtung über die N atu r (1766) vor.9Bonnets Considerations sm les corps organises wurden 1775 von JohannAugust Ephraim Goeze unter dem Titel Betrachtungen über die organisirten Körper worin von ihrem Ursprünge, von ihrer Entwickelung , von ihrer Repro-
duktion u. s. w. gehandelt wird ins Deutsche übertragen.Bonnet verfaßt 1788 zwei kurze, kritische Stellungsnahmen zu
Kants Krit ik der reinen Vernunft. Dabei zielt er vor allem auf eine nichttranszendental vermittelte Korrespondenz zwischen Sinneseindruck und
7 Für Bonnets Ansatz und dessen Ko ntext, siehe Savioz 1948a un d 1948b; Marx1976; Anderson 1982; Rieppel 1987 und 1988; und Cheung 2004, 2005b und2005c. Bei W itt 2005 findet sich ein Vergleich zwischen Hallers und KantsModell organischer Ordnung.
8 Vgl. K rV A 668 /B 696, ferner AA 2.381 und AA 8.180 Fußn ote 6. Für denEinfluß vo n Georges Louis Leclerc Buffon a uf Kants Th eorie der Rasse und desKlimas siehe Ferrari 1979 und 1992.
9 Für den schriftlichen Hinw eis danke ich W ern er Stark (Marburg).
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denkender Tätigkeit ab, ohne jedoch eine spezifische Kausalität hierfürangeben zu können .10 In Kap. 35. und 36. des Essai de psychologie hatte
Bonnet bereits auf Aporien hingewiesen, die sich zwischen demwahmehmenden Punkt des Ich und der unermeßlichen Vielfalt desW ahrgenom menen einstellen.11 Seine Überlegungen enden immerwieder in der Erkenntnis, daß die „Seele ein vom Körper verschiedenes Wesen ist: wir können diesem Wesen keine der Eigenschaften zusprechen, durch die uns der Körper bekannt ist. Wenn also der Körperauf die Seele wirkt, kann es sich keinesfalls darum handeln, daß einKörper auf einen anderen wirkt. Die Wahrnehmung scheint aus einerBewegung zu resultieren, die nichts mit einer Bewegung gem ein hat.“ 12
Und doch bleibt es Bonnets zentrales Anliegen, zu zeigen, daß einMensch und ein Tier „nicht diese Seele und nicht dieser Körper“,sondern „das Resultat der Einheit einer bestimmten Seele mit einem
bestim mten Körper“ sind .13
Entscheidend für die Rolle, die Bonnet in der Krit ik der Urteilskraft spielt, ist jedoch die Position im Diskurs der Naturgeschichte, die ihmBlumenbach 1781 in Uber den Bildungstrieb zuteilt. Für Blumenbach istBonnet einer der wichtigsten Protagonisten der Präformationstheorie,
nach welcher der sich bildende organische Körper bereits im kleinenvorgeformt im Keim vorliegt und sich bloß vergrößern muß. DieZeugung von Bastarden, vor allem von Bastardpflanzen der Gattung
Nicotiana, scheint Blumenbach mit einer Präformationstheorie nichtvereinbar zu sein:
Allein auch selbst die Erscheinungen bey Zeugung der Bastarde widersprechen allen Begriffen von Präexistenz eines präformirten Keims soschlechterdings, daß m an kaum absieht, wie bey einer reifen Erw ägung dererstem, die letztem noch ernstliche Vertheidiger haben finden können.
Mich dünkt eine einzige Erfahrung wie die, da Hr. Kölreuter durchwiederholte Erzeugung fruchtbarer Bastardpflanzen, endlich die eineGat tung von Tabak ( Nicotiana rustica) so vollkommen in eine andere(.Nicotiana paniculata) verwandelt und umgeschaffen, daß sie nicht eine Spurvon ihrer angestammten mütterlichen Bildung übrig behalten hat, müßtedoch die eingenommensten Verfechter der Evolut ionstheorie von ihremV orurthe il zurückb ringen .14
10 Bonnets Kritik findet sich zusammen m it einem ausführlichen Kom m entar beiMüUer/Pozzo 1988.
11 Vgl. Bonne t, Essai de psychologie (1755) 1978, 122—123 (37. Kap.).12 Bonnet, Essai sur les facultes de Vame (1760) 1973 (§ 46), 29.13 Eb d., (§2 2), 15.14 Blum enbach 1781, 66.
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Kant übernimmt in der Kritik der Urteilskraft die Blumenbachsche Kritikan den Präformationisten. Doch verweist er zugleich, wie Bonnet, auf
den „Baum“ als ein individuelles reproduktives System, dessen Ordnung aus einem im Keim vorliegenden präexistenten Organisationsgrund hervorgeht und dessen Teile ihrerseits reproduktive Eigenschaften aufweisen.
1. Das Beispiel des „Baumes“: Der „organisirte Körper“ alsreproduktives System
Kants dichte, sich auf knapp zwei Seiten beschränkende Beschreibungdes „Baumes“ als Modellkörper für die Klasse aller „organisirten Kör
per“ leitet in § 64 die Charakterisierung der „inneren Zweckmäßigkeit“eines Dinges als Naturprodukts ein. Die Charakterisierung schließt direkt an die im vorhergehenden Paragraphen abgehandelte äußere,„relative Zweckmäßigkeit“ an. Bevor Kant in § 64 das Beispiel „Baum“als konkretes Ding eines erfahrbaren Erscheinungszusammenhangeserläutert, hebt er zwei Kriterien hervor, die einen Beobachter „nöthi-
gen“, ein Naturprodukt als Naturzweck mit innerer Zweckmäßigkeitauszuweisen. Erstens muß die „Production“ oder „Erzeugung“ derOrdnung oder der „Form“ eines solchen Dinges nach „bloßen Naturgesetzen“, für die Kant sich an der newtonschen Mechanik orien
tiert, in so hohem Maße zufällig sein, daß es der nach einem einheitlichen System von Erkenntnissen und Gesetzen suchenden „Vernunft“geboten ist, von einer besonderen Gesetzmäßigkeit der Erzeugungauszugehen.15 Zweitens ist ein Naturp rodu kt nur dann als Naturzweckauszuweisen, „w enn es von sich selbst [...] Ursache un d W irkung ist“ .16
Ein Naturprodukt existiert als Naturzweck, wenn es sowohl als Ursachesich selbst erzeugt als auch als Wirkung Erzeugnis seiner eigenen Tätigkeit ist. Ein solches Ding bezeichnet Kant als organisierten und organisierenden Körper, in dem „alles Zweck und wechselseitig auch Mittel“
15 K dU § 64, AA 5.369 f.16 Ebd ., 370.
17 Eb d., 376. D er zitierte Text ist im O riginal kursiv gedruckt. Die Bestimmungdes organisierten Körpers als Naturzweck stellt ein regulatives Urteil dar, dasseine besonderen Erscheinungen in ein System von Begriffen einordnet, das derInstanz Vernunft obliegt. Zum Problem des regulativen Urteils in Kants Kritik
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Wie ein organisierter Körper in der Natur existiert, zeigt Kant an
einem „Baum“. Der „Baum“ steht nicht nur für alle anderen Bäume
und Gewächse, sondern auch für die Erscheinungszusammenhänge, dieTiere und M enschen als organisierte Körper charakterisieren.18 Diese
vermittelnde R olle spielt der „B aum“ als Modellkörper auch in BonnetsSchriften. Bonne t rekurriert immer wieder auf den „Baum “, um eine
Parallele zwischen den Ordnungsformen der Pflanzen und Tiere zu
etablieren. Auf dieser Parallele beruhen bereits die ersten Kapitel der
Considerations sw les corps organises (1762), in denen er verschiedene
Reproduktionsweisen (etwa des Wachstums, der Ernährung und der
Fortpflanzung) miteinander vergleicht. Sie findet ihre ausführlichsteDarstellung im zehnten Teil von La Contemplation de la nature (1764):Der Pflanzensame entspricht dem Ei, der Flüssigkeitskreislauf der
Pflanzensäfte dem des tierischen Blutes und die Rinde der H au t.19 Ziel
der Parallele ist die kategorielle Abgrenzung der Ordnungsform organisierter Körper von der unorganischer Körper. Neben dem „Baum“
bezeichnet der durch Abraham Trembley bekannt gew ordene Süß-wasserpolyp für Bonnet die gemeinsame Schnittfläche pflanzlicher undtierischer O rdnungen.20 Anhand beider M odellkörper zeigt Bonnet, daß
organisierte, lebendige Körper sich selbst durch die kontinuierlicheReproduktion eines präexistenten Organisationsgrundes erhalten und
daß bestimmte Teile (Verzweigungen, knospenartige Ausbuchtungen)dieser Körper die reproduktive Fähigkeit besitzen, zu einem eigen
ständigen organisierten Körper heranzuwachsen oder in ein anderen
der Urteilskraft siehe Düsing 1968; Philonenko 1977; Buchdahl 1981;McLaughlin 1989; Butts 1990; Wahsner 1993; Cheung 2000 und Toepfer2002 .
18 Z ur Tier-M ensch-D ifferenz vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798): „Die Charakterisirung des Menschen als eines vernünftigen Thieresliegt schon in der Gestalt und Organisation seiner Hand, seiner Finger und Fingerspitzen, deren theils Bau, theils zartem Gefühl, dadurch die Natur ihnnicht für Eine Art der Handhabung der Sachen, sondern unbestimmt für alle,mithin für den Gebrauch der Vernunft geschickt gemacht und dadurch dietechnische oder Geschicklichkeitsanlage seiner Gattung als eines vernünftigen Thieres bezeichnet hat.“ (AA 7.323)
19 Vgl. Bonn et 1985 (§ 169), 138: „Quelle que soit la puissance qui preside au
mouvement de la seve, il est certain qu’elle existe, et qu’elle produit dans levegetal, les memes effets essentiels que la force du cceur produit dans l’animal.“
20 Z u Trembleys Polypen-V ersuchen und ihrer Re zeption , siehe Daw son 1987und Q uem er & Jahn 2003.
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organisierten Körper integriert zu w erden.21 Die Schnittfläche, die denZusammenhang der „Reiche“ (regnes) der Pflanzen und Tiere be
zeichnet, bestimmt in der Palingenesie (1769) einerseits der pflanzlicheBaum (arbre vegetal) und andererseits der Polyp als tierischer Baum (arbre animal) —mit der Differenz, daß sich die Verzweigungen (rameaux) desPolypen, die den Asten des „pflanzlichen Baumes“ entsprechen, von
selbst ablösen.22 Auf diese Weise etablieren B onnet und Kant anhand des
reproduktiven Vermögens des „Baumes“ eine allgemeine Ordnungs
form, die Pflanzen und Tiere umfaßt und das organisch Organisierte
oder Lebendige kategoriell vom Unorganischen abgrenzt.Im § 64 kennzeichnet Kant den organisierten Körper „Baum“ durch
drei Charakteristika oder Merkmalskomplexe, die alle auf eine bestimmte Form „organisierender“ Tätigkeit verweisen. Diese Tätigkeit
nennt Kant „Zeugung“, „Erzeugung“, „Hervorbringung“ und „Pro
duction“. Da der organisierte Körper organisierend so tätig sein muß,daß er sich selbst als eine bestimmte Ordnungsform hervorbringt, um
dem Begriff eines Naturzwecks als Naturprodukt zu entsprechen, lassensich die drei Produktionsweisen auch unter dem Titel Reproduktion
zusammenfassen, und zwar erstens als Reproduktion neuer organisierter
Körper, zweitens als Reproduktion eines organisierten Körpers durchErnährung und Wachstum und drittens als Reproduktion einzelner
Teile des Körpers.23
21 Bo nnet w ird zu einer The orie der asexueUen Re pro duk tion von Keimen auchdurch seine eigenen Versuche zur Reproduktion von Blattläusen angeregt,siehe hierzu Buscaglia 1994.
22 Vgl. Bo nne t 2002, 170 f.: „Tandis que la troupe nombreuse des Nom enclateu rset de Faiseurs de regies generales pensoit avoir bien caracterise 1’Animal et
l’avoir distingue exactement du Vegetal, les eaux sont venues nous offrir uneProduction organique qui reunit aux principales proprietes du Vegetal, diversTraits qui ne paroissent convenir qu’a l’Animal. On comprend que je parle de
ce fameux Polype a bras, do nt la decouverte a tant etonne les Physiciens et plusembarasse encore les Metaphysiciens.“ Bonnet nennt den Süßwasserpolypenauch „Miniaturbaum“ (arbre en miniature).
23 Zur Interp retation der drei Charak teristika als Reprod uktion sweisen , sieheauch McLaughlin 1989, 43. Kant verwendet den Ausdruck „Reproduction“nur an einer Stelle im ersten Teil der Kritik der Urteilskraft (K dU § 59, AA5.352), um auf ein „Gesetz(e) der Association der Einbildungskraft“ zu ver
weisen, nach dem oft erfahrene Abfolgen von Vorstellungen sich auch ohne diesinnliche Präsenz des Vorgestellten einstellen. Auf diese Weise hatte er dieReproduktion bereits in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781)
bes timmt, vgl. A 100 f.
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Durch die Produktion eines neuen organisierten Körpers „erzeugt“ einBaum einen anderen „von derselben Gattung“, da der „hervorge
brachte“ Körper dieselbe Ordnungsform wie der hervorbringendeKörper besitzt. In diesem Sinne erzeugt sich der Baum „selbst derGattung nach“ . Er ist immer wiederkehrender Agent der Reprod uktionneuer organisierter Körper gleicher Ordnungsformen, deren Hauptmerkmal in einer bestimmten Weise besteht, organisiert und organisierend zu existieren:
Ein Baum zeugt erst l ich einen ändern Baum nach einem bekannten Naturgesetze. D er Baum aber, den er erzeugt, ist von derselben G attung; un dso erzeugt er sich selbst der Gattung nach, in d er er einerseits als W irkun g,andrerseits als Ursache, von sich selbst unaufhörlich hervorgebracht undebe n so sich selbst oft her vo rbr ing en d, sich als G attu ng bestän dig erhä lt.24
Kant nennt diese Reproduktionsweise später Fortpflanzung.25 Als erstesCharakteristikum organisierter Körper fuhrt es die zentrale Problematik
ihrer Erscheinungen ein, nämlich die fortgesetzte Reproduktion einerin Individuen vorliegenden Ordnungsform durch die Individuen selbst.
In dieser Perspektive existiert der Baum für Kant immer als Baum imBaum. Er ist als organisierter Körper ein reproduktiver Körper. Das, wasin ihm organisierend ist, ist reproduzierend, und das, was in ihm organisiert ist, ist Bedingung der Fähigkeit zur Reproduktion.
Die allgemeine Ordnungsform, die einen organisierten Körper alsreproduktiven Körper bestimmt, stellt für Kant ein „System“ dar. Der„Baum“ als „System“ entspricht dem Naturzweckbegriff als „Erkennt-nißgrund der systematischen Einheit der Form und Verbindung allesMannigfaltigen, was in der gegebenen Materie enthalten ist“26. Durch
24 K dU § 64, AA 5.371.25 Fü r Kan t stellt die Fortpf lanzung die „einzige äußere Zwe ckm äßigkeit [dar],
die mit der innern der Organisation zusammenhängt“ (KdU § 82, AA 5.425).Es ist „die Organisation beiderlei Geschlechts in Beziehung auf einander zurFortpflanzung ihrer Art“, die für Kant „allererst ein organisirendes Ganze“ ausmacht, „obzwar nicht ein organisirtes in einem einzigen Körper“ (ebd.). Siehehierzu Löw 1980, 199 und Ewers 1986, 21.
26 K dU § 65, AA 5.373. Johann Heinrich Lambert, der zwischen 1765-1770 mit
Kant korrespondiert, hat im Fragment einer Systematologie (1771) ein „System“von Teilen au f ähnliche Weise wie Kant den N aturzwe ckbegriff definiert: „ Zueinem System werden also Teile, und zwar mehrere erfordert. Diese müssenauseinandergesetzt, jedes für sich kenntlich, mit Absicht gestellt oder geordnet
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Die Art (espece) eines Baumes, die der Kantischen Gattung entspricht,stellt fur Bonnet die allgemeine, ursprüngliche Ordnungsform der
Einheit eines Plans und eines organisierten Körpers dar. Diese Ordnungsform wird in jedem besonderen System lebender Körper durch
kontingente Umstände individuell ausgeprägt.30 Der Keim enthält „denursprünglichen Abdruck (empreinte originelle) der Art, und nicht den derIndividualität“,31 un d doch „existieren nur individuelle Wesen (etres individuels), die miteinander über tausend Beziehungen verbundensind“32.
3. Die Reproduktion durch „Ernährung“ und „Wachstum“
Die zweite Reproduktionsweise, die „Bäume“ als organisierte Körperauszeichnet, besteht in einer bestimmten Verarbeitung der von außenaufgenommenen Stoffe. Diese Verarbeitung kommt der Zeugung einesdem Körper eigenen Produktes gleich, durch die er sich „selbst alsIndividuum erzeugt“, indem er durch „Hinzusetzung“ des Produkts zuseiner eigenen Masse „wächst“ und sich durch das Produkt „ernährt“.
Das Wachstum des „Baumes“ unterscheidet sich von „jeder ändernGrößenzunahme nach mechanischen Gesetzen“, weil seine innereOrganisation die aufgenommene Materie, die bereits alle „Bestandt-heile“ der „Mischung“ enthält, durch ein besonderes „Scheidungs- undBildungsvermögen“ zu einer „spezifisch-eigentümlichen Qualität“umformt, „welche der Naturmechanism außer ihm nicht liefern kann“.Diese „Mischung“, die der „Baum“ sich zum Wachstum von innen her
„hinzusetzt“ , ist derart spezifisch, „daß alle Kunst davon unendlich weitentfernt bleibt, wenn sie versucht, aus den Elementen, die sie durch
Zergliederung derselben erhält [