Humboldt-Universität zu BerlinPhilosophische Fakultät IIIInstitut für KulturwissenschaftSE „Systematisiertes Querdenken. Kreativitätstechniken im historischen Diskurs“Dozentin: Dr. Claudia Mareis
Verschriftlichung des im Kurs gehaltenen Referats alsAbschlussprüfung im Modul KUWI-7:
„Vertiefung Episteme – Strukturen – Medien“.
Morphologische Methodennach Fritz Zwicky
Johannes Maibaum
Abgabe: 27. September 2011
Matrikelnummer: 5333684. Fachsemester
Krossener Str. 27, 10245 [email protected]
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung 1
2 Die Morphologische(n) Methode(n) 22.1 Zur Morphologie allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2 Zwickys Morphologisches Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.3 Zwickys Morphologische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
2.3.1 Die Methode der Systematischen Feldüberdeckung . . . . . . . . . . . 52.3.2 Die Methode des Morphologische Kastens . . . . . . . . . . . . . . . . 5
3 Kulturwissenschaftliche, kulturtechnische Analyse 6
4 Fazit 8
5 Anhang 9
Literatur 11
1 Einleitung
Die Kreativitätstechniken stellen ein noch verhältnismäßig junges Forschungsfeld der Kultur-
wissenschaft dar. Dies ist kaum verwunderlich, bedenkt man, dass auch die psychologische
Untersuchung der menschlichen Kreativität, die Kreativitätsforschung, erst im Zuge des Kalten
Krieges verstärkt vorangetrieben wurde.1 Doch da think tanks auch im Angesicht aktueller
politischer, ökonomischer oder gesellschaftlicher Krisen immer wieder im Gespräch sind und
operative Verfahren wie das brainstorming und die mind map heute jedem Schulkind ein Be-
griU sind, verspricht die wissenschaftliche Untersuchung von Kreativitätstechniken als Kul-
turtechniken2 ein überaus interessantes Projekt zu sein.
Die vorliegende Arbeit stellt die verschriftlichte Fassung eines im Seminar „Systematisiertes
Querdenken“ gehaltenen Referats über Fritz Zwicky3 und seine morphologischen Methoden
dar. Diese umfassen einen Katalog an verschiedenen systematisierten Verfahren, um „die Ge-
samtheit der Lösungsmöglichkeiten zu einem Problem zu erfassen“ und durch strukturiertes
Vorgehen „Neuheiten oder Innovationen mindestens zu initiieren oder gar zu schaUen.“4
Der charismatische Schweizer Astronom und -physiker Zwicky begründete in seinen Schrif-
ten jeden seiner Erfolge – nicht nur auf wissenschaftlichem Gebiet – mit dieser, seiner, mor-
phologischen Denkmethode: es sei ihm, so schrieb er in einer seiner nicht selten sehr über-
heblich verfassten Autobiographien, irgendwann „bewusst geworden, dass ich alle Probleme
eben etwas anders anpackte“ als andere.5 Seine morphologischen Methoden haben als Krea-
tivitätstechniken bis heute in der Beratung von Unternehmen und staatlichen, bzw. militäri-
schen Institutionen einen hohen Stellenwert. Als Beispiel sei hier nur auf die Swedish Mor-
phological Society verwiesen, die eine „morphologsiche Analyse“ als „computer-aided method
for structuring and analysing the total set of relationships contained in multi-dimensional,
non-quantiVable, problem complexes“ anbietet.6 Spätestens in dieser zur Computersoftware
geronnenen Form wird der technische, der kulturtechnische, Charakter, der morphologischen
Methode deutlich, der in einer routinierten, streng vorgegebenen Schrittabfolge zutage tritt,
die dem ErVnder bei korrekter Anwendung systematisch „den Weg zur Konzipierung und
Realisierung neuer und bis jetzt noch nicht existierender Apparate“ zeigen soll.7
1 Vgl. z. B. den Vortrag des Psychologen Joy Paul Guilford aus dem Jahre 1950, vgl. Guilford, „Kreativität“. ZurGenese der Kreativitätstechniken aus dem Kalten Krieg, vgl. Mareis, „Systematisierte Innovationen“, S. 15 U.2 Zum BegriU der Kulturtechnik, vgl. z. B. Krämer und Bredekamp, „Kultur, Technik, Kulturtechnik“, S. 16 U.3 Fritz Zwicky lebte von 1898–1974. Auf eine detailliertere biograVsche Beschreibung seiner Person wird andieser Stelle aufgrund des Begrenzten Umfangs dieser Arbeit verzichtet und lediglich auf eine entsprechende Bio-graphie verwiesen, vgl. Stöckli und Müller, Fritz Zwicky.4 Stöckli, „Morphologie nach Zwicky“, S. 228.5 Fritz Zwicky, zit. n. Stöckli und Müller, Fritz Zwicky, S. 23.6 Ritchey, Swedish Morphological Society.7 Stöckli und Müller, Fritz Zwicky, S. 116.
1
2 Die Morphologische(n) Methode(n)
In den folgenden Abschnitten sollen Fritz Zwickys morphologische Methoden zunächst vor-
gestellt und anschließend analysiert werden. Dabei wird eine kurze BegriUsgeschichte der
Morphologie vorangestellt (Abschn. 2.1), da sich hieraus einige der von Zwicky gemachten
Aussagen über den Sinn seiner Methoden erschließen. Danach werden zwei seiner Metho-
den kurz vorgestellt: die Systematische Feldüberdeckung (2.3.1) und der Morphologische Kasten
(2.3.2), bevor eine kulturwissenschaftliche Analyse folgt (3).
2.1 Zur Morphologie allgemein
Zwicky rekurriert mit seiner Verwendung des BegriUes der „Morphologie“ auf einen wissen-
schaftlichen Diskurs, der gegen Ende des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts aufkam. Ety-
mologisch betrachtet ist „Morphologie“ eine Neuschöpfung aus dem griechischen morphé (dt.:
Form oder Gestalt) und kann demnach als „Lehre von der Gestalt“ oder auch als „Formenlehre“
verstanden werden.8 Als BegriUsschöpfer gilt gemeinhin Johann Wolfgang von Goethe, der
ihn erstmals in einem Tagebucheintrag am 25. September 1796 notierte.9 Wie Mareis aufzeigt,
ist er damit Stifter eines stets umstrittenen Diskurses, der bis in das 20. Jahrhundert hinein-
reicht und dabei immer wieder fächerübergreifend aufgegriUen wurde, so z. B. in der Biologie,
Anatomie, Geologie und schließlich in der Gestaltpsychologie.10 Goethe hatte in seinen Hef-
ten zur Morphologie (ab 1817) einen ganzheitlichen Blick auf die Natur gefordert. Wie Kuhn
schreibt, folgte er dabei einem romantischen Ideal, „die irdische Natur als Ganzes nicht nach
dem mechanischen Modell einer Maschine oder eines Uhrwerks sondern nach dem eines le-
bendigen Organismus zu betrachten“,11 denn, so Goethe: „Das Lebendige ist zwar in Elemente
zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben.“12
2.2 Zwickys Morphologisches Weltbild
Auch Zwicky erwähnt Goethes Morphologie knapp innerhalb des zweiten Kapitels seines
Buchs Entdecken, ErVnden, Forschen, deutet jedoch im Folgenden an, welche Bedeutung er der
Morphologie zuweist:
Ich habe vorgeschlagen, den BegriU der Morphologischen Forschung dahin zu erweitern, daß nichtnur geometrische, geologische oder biologische Formen und ihre gegenseitigen Verhältnisse stu-diert, sondern auch die strukturellen Beziehungen zwischen Phänomenen, Handlungen und Ideen
8 Vgl. Mareis, „Systematisierte Innovationen“, S. 2 f.9 Vgl. Goethe, Goethes Werke, S. 48.10 Vgl. Mareis, „Systematisierte Innovationen“, S. 3 f.11 Kuhn, „Goethes Morphologie“, S. 859.12 Goethe, „Ideen über organische Bildung“, S. 391.
2
jeglicher Art einbezogen werden. Einer der ersten, der wie wir modernen Morphologen von derÜberzeugung ausging, daß schließlich und endlich alles mit allem zusammenhängt, war der schongenannte Paracelsus.13
Zwicky war diese Betonung der morphologischen Forschung als „Totalitätsforschung, die
vor allem vorurteilslos alle Lösungen einen gegebenen Problems herleitet“ überaus wichtig.14
Er setzte sie deshalb an den Anfang der Beschreibung seines „Morphologischen Weltbildes“,
bei dem es sich „um das Erschauen und Erkennen von Zusammenhängen in Gesamtheiten von
materiellen Objekten, von Phänomenen und von Ideen und Vorstellungen sowie der für ein
konstruktives SchaUen einzusetzenden menschlichen Betätigungen handelt.“15 Die Bedingung
der vorurteilsfreien Herangehensweise begründete er wie folgt: „Das Studium der Geschichte
zeigt, daß es in erster Linie das schrittweise Eliminieren von Dogmen, von Aberglauben, von
Furcht und von menschlichen Verirrungen aller Art ist, das zum Fortschritt geführt hat.“16 Zu
diesem Zweck sei die morphologische Forschung prädestiniert.
Die Zielsetzung Zwickys bestand deshalb ganz allgemein darin, seine morphologische For-
schung auf breiter wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene durchzusetzen, da sie nicht
nur dem Morphologen als „Berufsgenie [. . . ], das ErVndungen und Entdeckungen auf allen
Gebieten der Wissenschaft, der Technik und den allgemeinen Lebens zu machen imstande ist“,
nütze, sondern mithin der Menschheit insgesamt, denn: „Der Morphologe ist überzeugt, dass
in jedemMenschen ein Genie steckt, ein Genie auf seinem Gebiet, wohlverstanden.“17 Deutlich
machte Zwicky gleichzeitig die Eignung der mophologischen Methode als Kreativitätstechnik:
Sie [die morphologische Forschung] ermöglicht die Systematisierung der ErVndungsgabe. Sie produ-ziert ErVndungen und Entdeckungen auf eine methodische Art und fördert die Intuition, ohne sichaufs Pröbeln oder den Zufall zu verlassen.18
Eine Intensivierung der Beschäftigung Zwickys mit dieser morphologischen Forschung Vn-
det vor allem während des Zweiten Weltkriegs statt. Laut eigener Aussage in seinem 1962
erschienenen BuchMorphology of Propulsive Power habe er z. B. zum Zwecke des Zivilschutzes
bereits vor dem Kriegsausbruch eine „morphology of total war“ aufgestellt, seiner Meinung
nach „the only sure way not to be defeated.“19
13 Zwicky, Entdecken, ErVnden, Forschen, S. 48. Hervorhebung: J.M.14 Zwicky, Morphologische Forschung, S. 13.15 Zwicky, Entdecken, ErVnden, Forschen, S. 11.16 Ebd., S. 18.17 Zwicky, Morphologische Forschung, S. 14.18 Ebd.19 Zwicky, Morphology of Propulsive Power, S. 17.
3
2.3 Zwickys Morphologische Methoden
Auch wenn diese Aussagen erst 17 Jahre nach Kriegsende publiziert wurden, und daher nur
schwer auf ihre Richtigkeit überprüft werden können, ist festzustellen, dass Zwicky kurz
nach Ende des Zweiten Weltkriegs damit begann, die öUentliche Aufmerksamkeit zunehmend
auf seine morphologischen Methoden zu lenken, indem er Vorträge hielt und entsprechen-
de Schriften publizierte.20 Tatsächlich erscheint in der Folge kaum eine Publikation Zwickys,
in der er die Methoden nicht umfassend erwähnt. So erschien im Jahr 1946 eine erste Dar-
stellung des morphologischen Kastens zum Thema Verbrennungsmotoren im US-Wirtschafts-
magazin Fortune.21 1948 veröUentlichte er in der Astronomie-Fachzeitschrift The Observatory
einen Artikel, den er mit „Morphological Astronomy“ überschrieb.22 In allen diesen schrieb
er über die Erfolge, die er als Forscher in den verschiedensten Bereichen durch die stringente
Anwendung seiner morphologischen Methode erzielt habe. Die erste deutschsprachig verfass-
te Beschreibung der speziVschen Schritte dieser Methode erschien 1959 in der Schweiz nach
einer Vortragsreihe, die Zwicky an der Eidgenössisch Technischen Hochschule in Zürich hielt:
1. Genaue Umschreibung und zweckmäßige Verallgemeinerung des Problems.
2. Bestimmung und Lokalisation aller die Lösung des Problems bestimmenden Parameter.
3. Aufstellung des morphologischen Schemas oder des morphologischen Kastens, aus dem alleLösungen des gegebenen Problems vorurteilsfrei herausgeschält werden.
4. Bewertung aller Lösungen aufgrund eines bestimmt gewählten Wertestandards.
5. Wahl der optimalen Lösung und Weiterverfolgung derselben bis zur fertigen Konstruktion.23
Zwickys Publikationen zur Morphologie kennzeichnen sich auch dadurch aus, dass er es
verstand, den einzelnen Schritten seiner Methode immer diUerenziertere Namen zu geben,
um sie als seine persönlichen Ideen darzustellen.24 Innerhalb der o. g. fünf Schritte der mor-
phologischen Methode bezieht sich die im folgenden Abschnitt beschriebene „Methode der
Systematischen Feldüberdeckung“ größtenteils auf den zweiten Schritt.
20 Vgl. Stöckli und Müller, Fritz Zwicky, S. 116.21 Eine der Originalpublikation entsprechende Darstellung Vndet sich bei Stöckli, „Morphologie nach Zwicky“,S. 229. Bibliographische Daten der Originalpublikation Vnden sich im Literaturverzeichnis.22 Vgl. Zwicky, „Morphological Astronomy“.23 Zwicky, Morphologische Forschung, S. 13. Vorhergehende Beschreibungen der Methode gliederten sich noch invier Schritte, so z. B. in Zwicky, „Morphological Astronomy“, S. 123 U. Die Suche aller Lösungsparameter (Schritt 2oben) wurde hier noch mit dem Aufstellen des morphologischen Schemas, bzw. Kastens (3.), zusammengefasst. Inheutigen Publikationen wird jedoch stets das fünfschrittige Vorgehen beschrieben, vgl. z. B. Stöckli, „Morphologienach Zwicky“, S. 228.24 Passend hierzu auch folgende Aussage Zwickys zu einem seiner frühen morphologischen Projekte, der Aid toWar Stricken ScientiVc Libraries: „Der erste Schritt bestand darin, dem Unternehmen einen respektablen Namen zugeben, so daß jeder klar wußte, worum es sich handelte und an wen er sich zu wenden hatte.“, Zwicky,Morphologi-sche Forschung, S. 25. Auch Mareis verweist auf diesen Umstand, vgl. Mareis, „Systematisierte Innovationen“, S. 10,mit Verweis auf Stöckli, „Morphologie nach Zwicky“, S. 227.
4
2.3.1 Die Methode der Systematischen Feldüberdeckung
Der Morphologe bezweckt mit dieser Methode, sich einen Gesamtüberblick über alle Mög-
lichkeiten, das zuvor formulierte Problem zu lösen, zu verschaUen. Dabei soll er auch sämt-
liche Faktoren berücksichtigen, die scheinbar außerhalb des Problemkomplexes liegen, aber
bei näherer Betrachtung sehr wohl einen EinWuss auf das Problem und seine Lösung haben.
Zwicky verweist daher auf die Notwendigkeit, „über eine genügende Anzahl von sogenann-
ten Stützpunkten des des Wissens in dem zu erforschenden Gebiet“ zu verfügen,25 von denen
ausgehend sich schrittweise vorgearbeitet wird, um schließlich das gesamte Feld möglicher
Lösungen abzudecken, ähnlich der in der in der Mathematik bekannten „Methode der sukzes-
siven Approximation“.26 Er empVehlt hier jedoch von dem Maximalziel einer „vollständige[n]
Feldabdeckung“ gegebenenfalls einen Schritt zurückzutreten: „Im praktischen Leben ist es al-
lerdings oft von der größten Bedeutung, daß man, wenn auch nicht alle, so doch einige oder
allermindestens eine neue Tatsache aufdeckt oder eine ErVndung macht.“27 Zwicky führte die
Systematische Feldabdeckung an mehreren Beispielen vor, so z. B. an den Möglichkeiten der
Konstruktion von Polyedern auf materialminimierende Art und Weise28 und an der optimalen
Planung und Konstruktion eines Teleskops.29 Sind schließlich sämtliche Komponenten und
Parameter des Problems bekannt, werden diese im nächsten Schritt, den Zwicky als Methode
des Morphologischen Kastens bezeichnete, graVsch übersichtlich angeordnet.
2.3.2 Die Methode des Morphologische Kastens
Das graVsche Anordnen der gefundenen Lösungskomponenten und ihrer Parameter stellt den
zentralen Schritt in Zwickys Methode dar. Dazu werden in vertikaler Richtung sämtliche Kom-
ponenten aufgelistet und in horizontaler Richtung die entsprechende Anzahl an Parametern.
Diese tabellarische Darstellung nennt Zwicky auch „morphologisches Schema“.30 Der namens-
gebende dreidimensionale „morphologische Kasten“31 ist nur für solche Probleme üblich, bei
denen die Lösung lediglich von drei Komponenten und ihren Parametern abhängt.
Ist der morphologische Kasten, bzw. das Schema erstellt, hat der Morphologe die gewünsch-
te Totalität sämtlicher Lösungsmöglichkeiten vor Augen und kann die einzelnen Realisationen
im anschließenden vierten Schritt der morphologischen Methode auf ihre Eignung hin be-
25 Zwicky, Entdecken, ErVnden, Forschen, S. 56.26 Zwicky, Morphologische Forschung, S. 28.27 Zwicky, Entdecken, ErVnden, Forschen, S. 57.28 Vgl. ebd., S. 58–88.29 Vgl. ebd., S. 90–103.30 Siehe auch Abb. 3 im Anhang. Ein weiteres Beispiel für ein morphologisches Schema Vndet sich in Zwicky,Entdecken, ErVnden, Forschen, S. 170.31 Siehe Abb. 1 im Anhang.
5
werten und die geeignetste(n) auswählen; beim morphologischen Kasten „derart, daß durch
Herausziehen der Schubladen der Inhalt aller Fächer geprüft werden kann.“32 Der Inhalt eines
jeden dieser imaginären „Fächer“ entspricht genau einer konkreten Problemlösung. Innerhalb
des zweidimensional konstruierten morphologischen Schemas, das n Komponenten und Pa-
rameter umfassen kann, ergeben sich die einzelnen konkreten Lösungen über „LauWinien“:
indem man „in jeder Reihe eine einzige Komponente einkreist“ und anschließend „alle einge-
kreisten Werte miteinander verbindet“.33
Zwicky erwähnt in Entdecken, ErVnden, Forschen neben den zwei o. g. außerdem noch die
Methode der Negation und Konstruktion.34 Diese sei hier aus Gründen des begrenzten Umfangs
dieser Arbeit nur kurz erwähnt. Ihr Sinn und Zweck besteht in der bewussten Negation eines
bisher zur Konstruktion als unbedingt notwendig erachteten Parameters. Zwicky nennt hier
als Beispiel aus der Geschichte der Naturwissenschaft die Entwicklung der nicht-euklidischen
Geometrie im 19. Jahrhundert durch die Verneinung des Parallelenaxioms.35 Es entstünden
so „mit Sicherheit [. . . ] ganze Gruppen von Entdeckungen und ErVndungen“, sofern man im
Anschluss an die Negation die sich ergebenden Konsequenzen „konstruktiv[] Ausbeute[]“.36
3 Kulturwissenschaftliche, kulturtechnische Analyse
In der Kulturwissenschaft, die Kultur bis in das 20. Jahrhundert hinein zumeist als Text ver-
stand,37 richtet sich der Fokus erst seit einigen Jahren vermehrt auf die Wissenspraktiken und
Kulturtechniken; eine Lesart also, „in Handlungen, Vollzügen, Ritualen und Routinen die Si-
gniVkanz von Kulturen“ zu entdecken.38 Bruno Latour gilt dabei als Wegbereiter dieser neuen
Sichtweise. Sein Verdienst ist es, die historische Bedeutungsgewinnung der Wissenschaften in
der Moderne maßgeblich an der zunehmenden Mobilität und Verfügbarkeit (v. a. durch Druck-
verfahren) der wissenschaftlichen „Inskriptionen“ festzumachen: „Kurz: man muss Objekte er-
Vnden, diemobil, aber auch unveränderlich, präsentierbar, lesbar und miteinander kombinierbar
sind.“39 Krämer/Bredekamp verweisen auch auf die Bedeutung visueller Darstellungen:
[D]ie Visualität [ist] in der Geschichte des Denkens und für unsere Wissenspraktiken keineswegseine bloß illustrative Begleiterscheinung, sondern bildet einen unersetzlichen Kern nicht nur im
32 Zwicky, Entdecken, ErVnden, Forschen, S. 127.33 Zwicky, Morphologische Forschung, S. 28.34 Vgl. Zwicky, Entdecken, ErVnden, Forschen, S. 175–192. Stöckli nennt noch eine weit höhere Anzahl an Morpho-logischen Methoden nach Zwicky, vgl. Stöckli, „Morphologie nach Zwicky“, S. 227.35 Vgl. Zwicky, Entdecken, ErVnden, Forschen, S. 175 f.36 ebd., S. 175. Stöckli nennt auch drei praktischere Beispiele, vgl. Stöckli, „Morphologie nach Zwicky“, S. 234 f.37 Vgl. Krämer und Bredekamp, „Kultur, Technik, Kulturtechnik“, S. 11.38 Ebd., S. 14.39 Latour, „Drawing Things Together“, S. 266.
6
Entdeckungs-, sondern auch im Begründungskontext der Wissenschaften.40
Wie im vorigen Abschnitt beschrieben, beruhen Zwickys morphologische Methoden im we-
sentlichen auf tabellarischen Anordnungen. Diese sind keineswegs ErVndungen der Moderne,
sondern gehen bis an die Anfänge der Schriftkultur zurück.41 Bereits damals war die Über-
sichtlichkeit tabellarischer Darstellungen bekannt, deren
hohe pragmatische EUektivität [. . . deutlich wird], wenn man sich vorstellt, die gleiche Informationwürde verbalisiert und narrativ dargestellt werden. Dabei würde nicht nur die Verständlichkeit desInhalts erheblich betroUen [. . . ], sondern auch ein Vielfaches an Speicherplatz benötigt werden.42
Als kombinatorische Verfahren tauchen Tabellen vor allem bei Raimundus Lullus auf, der
im Jahre 1308 in seiner Ars brevis mehrere tabellarische „Figuren“ mit Kombinationen zweier
Buchstaben zeichnete, welche er verschiedenen Würden, Fragen, Subjekten, Tugenden und
Lastern zugeordnet hatte. Sie stellten sämtliche möglichen philosophischen Fragen dar, die
Lullus anschließend mithilfe von Vernunft und Erfahrung lösen wollte, ganz ähnlich also
des absoluten Überblicks über ein Problemfeld, den der morphologische Kasten liefern soll.43
Auch Zwicky beruft sich also durch die Verwendung graVscher Verfahren auf diese lange Kul-
turtechnikgeschichte kombinatorischer Anordnungen, ohne sie jedoch explizit zu nennen.
Noch über Latour hinaus geht dann allerdings die Kritik an dessen „Modus des Partizip II“:
er setze einen einseitigen Fokus auf Handlungen, die „mit dem Gebrauchen von Aufzeichnun-
gen zu tun haben“,44 und verkenne dabei grundsätzlich die epistemische Funktion von „Schrei-
ben und Zeichnen, [. . . ] die im Akt der Aufzeichnung an der Entfaltung von Gegenständen
des Wissens teilhaben“, so Christoph HoUmann.45 Dieser Umstand war auch Zwicky durch-
aus bewusst, schließlich verwies er am Rande auf den Chemiker Dimitri Mendelejew,46 dessen
größte Entdeckung ebenfalls in einer graVschen Darstellung begründet lag: Sein Periodensys-
tem der Elemente regte besonders durch die vorhandenen Leerstellen zur Suche nach bisher
unbekannter chemischer Elemente an, ebenso wie Leerstellen in Zwickys morphologischem
Kasten den Fokus auf innovative, noch nie realisierte Geräte lenken können.47 Zwickys Me-
thoden ziehen einen großen Teil der Wirkung, die er ihnen zuschreibt, also besonders aus
diesem systematischen, gleichzeitig aber auch epistemologischen Akt der Anordnung.
40 Krämer und Bredekamp, „Kultur, Technik, Kulturtechnik“, S. 15.41 Vgl. Cancik-Kirschbaum und Mahr, „Anordnung und ästhetisches ProVl“, S. 111.42 Ebd., S. 110.43 Vgl. Lullus, Ars brevis. Eine Figur hieraus ist auch im Anhang zu Vnden, vgl. Abb. 2. Mareis verweist in diesemZusammenhang auch auf ähnliche Verfahren bei Leibniz, vgl. Mareis, „Systematisierte Innovationen“, S. 10.44 HoUmann, „Festhalten, Bereitstellen“, S. 10.45 Ebd., S. 7.46 Vgl. Zwicky, Entdecken, ErVnden, Forschen, S. 89.47 Vgl. z. B. die „Morphologie der Strahltriebwerke“, die Zwicky zur Konstruktion noch nicht realisierter Antriebs-arten brachte, vgl. Zwicky,Morphologische Forschung, S. 63 U. Vgl. a. Mareis, „Systematisierte Innovationen“, S. 13 f.
7
4 Fazit
Durch die obigen Ausführungen ist der kulturtechnische Charakter der morphologischen Me-
thode, die dabei unter den Kreativitätstechniken keine Ausnahme darstellt, sicherlich deutlich
zu erkennen. Die Konzeption der Methode als überaus systematisches, „geordnetes, struktu-
iertes laterales Denken“48 nach den o. g. klar festgelegten Schritten entspricht der von Krä-
mer/Bredekamp für Kulturtechniken speziVsch genannten „Dissoziierung des impliziten ‚Wis-
sen wie‘ vom expliziten ‚Wissen dass‘“.49 Glaubt man Zwickys Ausführungen, so gelangt man
einzig durch die korrekte Anwendung seiner Methode, mithin also durch lediglich „habituali-
siertes und routiniertes Können“,50 zu Innovationen und ErVndungen. Dass es um die Kreativi-
tät nicht ganz so einfach bestellt ist, darauf verweist Zwicky selbst nur indirekt: „Mit welchen
Lösungen man sich später weiter beschäftigt, ist dann eine Frage der relativen Leistungsfähig-
keit derselben mit Bezug auf gewisse Zwecksetzungen.“51 Der näheren Beschreibung der hier
angesprochenen Schritte vier und fünf seiner Methode widmete Zwicky sich nur sehr selten.52
Ohne diese Schritte ist Zwickys morphologische Methode zwar durchaus zur IdeenVndung
geeignet, „weist weiter den Weg zur Realisierung“,53 aber auch nicht mehr.
Zwickys Argumentation gerät außerdem in ein oUensichtliches Paradox: Durch sein Behar-
ren auf der Notwendigkeit seiner Methode,54 schaUt er nämlich selbst ein solches Dogma, das
er eigentlich zu bekämpfen gedachte. Es ist bei Zwickys, auch abseits dieser argumentativen
Widersprüche, sehr ambivalentem Charakter –er machte sich auch viele Feinde –,55 nicht ver-
wunderlich, dass ihm bis heute der Verdacht anhängt, „dass er spontan zu Neuem gelangte
und erst nachträglich die ‚morphological box‘ um sein Ergebnis herum konstruierte.“56
Zum Schluss sei auf folgendes Zitat von Stöckli und Müller verwiesen: „Zwicky selber war
sehr kreativ und hatte geniale Ideen. Er ging aber [sic!] von der Problemerkennung bis zur
Realisierung stets methodologisch konsequent vor.“57 Es könnte hier ein entscheidender Un-
terschied gemeint sein, der zwischen der genialistischen „Kreativität“, von der der Volksmund
gemeinhin spricht, und der Kreativität als Kulturtechnik liegt, zu der auch Zwickys Methodo-
logie zählt, mit der man sich dem Genie allerhöchstens annähern kann.
48 Stöckli, „Morphologie nach Zwicky“, S. 228.49 Krämer und Bredekamp, „Kultur, Technik, Kulturtechnik“, S. 18.50 Ebd.51 Zwicky, „Morphologische Forschung“, S. 223.52 Vgl. Mareis, „Systematisierte Innovationen“, S. 13. Ein seltenes Beispiel Vndet sich in Zwicky, MorphologischeForschung, S. 68 U.53 Ebd., S. 9.54 Zwicky betonte, dass die Rettung der Welt vor dem Atomkrieg – „Entweder Eine Welt oder Keine“ – „am ehesten[. . . ] unter morphologsichem Aspekt“ gelingen könnte, Zwicky, Entdecken, ErVnden, Forschen, S. 10 f.55 Vgl. hier z. B. Mareis, „Systematisierte Innovationen“, S. 19 f.56 Straumann und Tammann, „Zwickys bedeutendste Beiträge“, S. 115.57 Stöckli und Müller, Fritz Zwicky, S. 9.
8
5 Anhang
Hier Vnden sich die im Text zuvor erwähnten Abbildungen.
Bildquellen
Abbildung 1: Zwicky, Entdecken, ErVnden, Forschen, S. 127.
Abbildung 2: Lullus, Ars brevis, S. 16.
Abbildung 3: Zwicky, Entdecken, ErVnden, Forschen, S. 126.
Abbildung 1: Darstellung eines dreidimensionalen Morphologischen Kastens.
9
Abbildung 2: Eine kombinatorische Tabelle („Figur“) bei Lullus (1308).
Abbildung 3: Eine kombinatorische Tabelle („Morphologisches LauWinienschema“) bei Zwicky(1966).
10
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