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Wie lässt sich intelligentes Wissen im Mathematikunterricht fördern?
Die neue Unterrichtseinheit „Trigonometrie“
des MINT-‐Lernzentrums der ETH Zürich
Bei der Behandlung des Themas Trigonometrie erleben Mathematiklehrpersonen oftmals, dass die
Sinusfunktion nicht genau verstanden wurde, obwohl sie ausführlich erklärt und geübt worden ist.
Beispielsweise erhalten sie von Jugendlichen bei der Diskussion der Gleichung sin(x)=0.5 die
Rückmeldung „Mein Taschenrechner spinnt“ oder „Was ist das für ein komisches Zeichen?“
Und tatsächlich fällt es dem Taschenrechner nicht leicht auszudrücken, dass für die Gleichung
5.0)sin( = unendlich viele Winkel in Frage kommen. Dass er dazu einen Parameter verwendet,
wird von den Schülerinnen und Schülern leider häufig nicht verstanden. Würden sie nämlich die
Definition von Sinus gut verstehen, so könnten sie die entstehenden Lösungen aus der Gleichung
nachvollziehen und einsehen, dass unendlich viele Winkel auf den Sinuswert 0.5 führen. Es ist ein
typisches Problem in der Trigonometrie, dass die Lernenden zu sehr auf die Taschenrechner-‐Funktion
fixiert sind und zu wenig Wert auf das Konzeptverständnis legen.
Was kann man tun, um solche Verständnisschwierigkeiten zu beheben? Um diese Frage zu
beantworten, arbeiten im MINT-‐Lernzentrum der ETH Zürich erfahrene Gymnasiallehrpersonen
gemeinsam mit Lehr-‐ und Lernforschern daran, anspruchsvolle mathematisch-‐naturwissenschaftliche
Konzepte anhand besonders lernwirksamer Unterrichtsmethoden zu vermitteln. Zu zentralen
Themen des Biologie-‐, Chemie-‐, Mathematik-‐ und Physikunterrichts werden Unterrichtseinheiten
entwickelt, in denen Lernformen eingesetzt werden, die sich in empirischen Vergleichsstudien als
besonders effizient und nachhaltig erwiesen haben. Um zu gewährleisten, dass diese Lernformen in
den Unterrichtseinheiten optimal umgesetzt wurden, werden diese Einheiten in Schulversuchen mit
mehreren Klassen geprüft und mit herkömmlichem Unterricht verglichen. Auf diese Weise soll den
Lehrpersonen in Kombination mit Fortbildungen Unterrichtsmaterial bereitgestellt werden, das ihnen
hilft, die knappe Unterrichtszeit besser zu nutzen.
Die Trigonometrie ist zentraler Bestandteil des gymnasialen Mathematikcurriculums. Da viele
Schülerinnen und Schüler mit diesem Thema erfahrungsgemäss Schwierigkeiten haben, ist es ein
lohnendes Feld für die Anwendung innovativer Lernformen. Im Folgenden wird vorgestellt, wie
besonders wirksame Unterrichtsmethoden in der neuen MINT-‐Unterrichtseinheit zu diesem Thema
umgesetzt werden.
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(1) Wie können wir die Schülerinnen und Schüler besser auf das Lernen vorbereiten?
Am Anfang des Lernens steht die Einsicht, dass man noch nicht über die erforderlichen Konzepte
verfügt, die man bräuchte, um bestimmte Phänomene oder Zusammenhänge zu erklären. Um die
Schülerinnen und Schüler auf das Lernen vorzubereiten, hat es sich daher bewährt, ihnen vor der
Präsentation der Lerninhalte zunächst die Grenzen ihres Wissens vor Augen zu führen (Kapur 2014,
Schwartz et al. 2011). Dafür eignen sich insbesondere Aufträge, mit denen sie sich ein Verständnis
der Problemstellung erarbeiten, ohne dass ihnen dabei schon die Lösung präsentiert wird.
Als Einstieg in die Trigonometrie werden die
Lernenden deshalb aufgefordert, die Graphen
periodischer Prozesse zu skizzieren. Dazu werden
ihnen verschiedene Beispiele präsentiert, wie das
Drehen eines Riesenrades, die Veränderung des
Wasserstandes bei Ebbe und Flut, die Höhe eines
Kindes über dem Boden bei gleichmässigem
Schaukeln bis hin zu der sich ändernden Position
eines Fahrradventils, wenn sich das Rad gleichmässig
drehend vorwärts bewegt. Die Beispiele sind so gewählt, dass sie oberflächlich möglichst verschieden
sind, aber in dem abstrakten Merkmal „Periodizität“ übereinstimmen.
In diesem Zusammenhang wird den Lernenden aufgezeigt, dass die Funktionstypen, die sie
bereits kennen, wie lineare und quadratische Funktionen, Polynom-‐ und Wurzelfunktionen,
gegebenenfalls auch Exponential-‐ und Logarithmusfunktionen nicht geeignet sind, um periodische
Prozesse zu beschreiben. Sie sollen auf diese Weise davon überzeugt werden, dass zur Beschreibung
periodischer Prozesse ein neuer Funktionstyp gebraucht wird und dass sie der Unterricht zur
Trigonometrie in diesem Punkt voranbringt, sofern man periodische Funktionen modellieren möchte.
(2) Wie lässt sich intelligentes Wissen über Trigonometrie aufbauen?
Intelligentes Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass man das Gelernte auf neue Situationen
übertragen kann. Dazu braucht man geeignete geistige Repräsentationswerkzeuge wie Formeln,
Diagramme oder Graphen, die die Inhalte so abstrakt und verständlich repräsentieren, dass es den
Lernenden leicht fällt, relevante Gemeinsamkeiten auch zwischen Situationen zu erkennen, die sich
oberflächlich unterscheiden. Sind diese Repräsentationswerkzeuge geschickt gewählt, dann lässt sich
damit beispielsweise schon bei 8-‐Jährigen das Verständnis linearer Graphen fördern (Hardy et al.
2005). Aus diesem Grund wird in der Unterrichtseinheit zur Trigonometrie besonderer Wert darauf
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gelegt, dass die Schülerinnen und Schüler mit dem Repräsentationswerkzeug des Einheitskreises
vertraut gemacht werden und dass alle wichtigen Zusammenhänge anhand des Einheitskreises
erklärt werden.
Für das Thema Trigonometrie ist es entscheidend, die trigonometrischen Funktionen Sinus,
Cosinus, etc. von Grund auf zu verstehen. Sie stellen für die Schülerinnen und Schüler aber ein
komplett neues Konzept dar, weil sie zum ersten Mal mit Funktionen konfrontiert werden, die bei
ihrem Wissensstand nicht algebraisch berechnet werden können, sondern deren Definition auf einer
geometrischen Zuordnung beruht. Der Einheitskreis soll den Lernenden als Repräsentationswerkzeug
dienen, weil mit ihm die trigonometrischen Funktionen definiert werden. Zudem wird den Lernenden
im Unterricht immer wieder Gelegenheit gegeben, auf den Einheitskreis Bezug zu nehmen, indem
alle wichtigen Konzepte an ihm erklärt werden. Beispielsweise wird anhand des Einheitskreises
erklärt, warum es für Sinus und Cosinus keine Umkehrfunktionen geben kann, lässt man sie
uneingeschränkt.
Beispiel: Anna und Barbara betrachten den Einheitskreis und machen die folgenden Aussagen:
Anna behauptet: „Aus einem gegebenen )sin(:=y
bzw. )cos(:=x -‐Wert kann genau ein Winkel
zugeordnet werden. Somit muss für )sin(:=y bzw.
)cos(:=x eine Umkehrfunktion existieren.“
Barbara hingegen behauptet: „Es gibt mehrere Winkel
, die auf denselben gegebenen )sin(:=y bzw.
)cos(:=x -‐Wert führen. Somit sind )sin(:)( =y
und )cos(:)( =x keine umkehrbaren Funktionen.“ Wer hat Recht? Begründen Sie Ihre
Entscheidung anhand des abgebildeten Einheitskreises. Sie dürfen Zahlenbeispiele zu Hilfe nehmen
und die entsprechenden Punkte einzeichnen.
Mit solchen Aufgaben soll erreicht werden, dass die Schülerinnen und Schüler den Einheitskreis stets
präsent haben und die Kompetenz erwerben, alle Fragen zum Thema Trigonometrie mit seiner Hilfe
zu beantworten.
Zum intelligenten Wissen gehört auch die Kenntnis, welche Vorstellungen aus welchen
Gründen falsch sind. Es gibt eine umfangreiche Forschungsliteratur dazu, wie sich dies mithilfe so
genannter Selbsterklärungs-‐Aufträge bewerkstelligen lässt, die den Lernenden im Anschluss an die
Lektionen gestellt werden. Gerade für den Mathematikunterricht ist sehr gut belegt, dass sich mit
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solchen Aufträgen das Verständnis besonders effizient fördern lässt (Berthold & Renkl 2010). Zur
Vertiefung des Gelernten sowie zur Beseitigung von Fehlvorstellungen werden daher in dieser
Unterrichtseinheit zu den zentralen Inhalten jeder Lektion Vorschläge für Selbsterklärungs-‐Aufträge
gemacht.
Beispiel: Hugo möchte bei einem rechtwinkligen Dreieck nicht ,
sondern °= 90 berechnen. Anita hat ihm die Skizze (siehe die
Abbildung rechts) bereits vorbereitet, und Hugo stellt aufgrund der
Formeln, die er im Mathematikunterricht gelernt hat, die folgende
Gleichung auf: HypGK
=)sin( .
Führt diese Gleichung auf den gewünschten Winkel °= 90 ?
Wenn ja, wieso? Wenn nein, welche Fehlüberlegung hat Hugo gemacht?
(3) Vom Allgemeinen zum Spezialfall: Wie können wir den Transfer von Wissen unterstützen?
Die menschliche Kognition ist wesentlich bereichsspezifisch: Gelerntes wird vor allem auf Situationen
angewendet, denen man im Lernprozess bereits begegnet ist. Hingegen findet ein spontaner Transfer
auf neue Situationen nicht statt und muss durch geeignete Mittel unterstützt werden. Um den
Wissenstransfer zu erleichtern, kommt wiederum dem Einheitskreis eine wichtige Rolle zu, indem die
Schülerinnen und Schüler mit geeigneten Aufträgen angeleitet werden, ihr Wissen vom Einheitskreis
auf den Spezialfall: das rechtwinklige Dreieck, zu übertragen.
Historisch gesehen entstand die Trigonometrie aus Fragestellungen der Astronomie um das
rechtwinklige Dreieck. Die Unterrichtseinheit zur Trigonometrie ist aber bewusst so aufgebaut, dass
mit periodischen Prozessen und dem Einheitskreis begonnen wird und erst in späteren Sequenzen
die Anwendungen auf das rechtwinklige Dreieck behandelt werden. Dies hat den Vorteil, dass man
die Eigenschaften trigonometrischer Funktionen am Einheitskreis gut nachvollziehbar behandeln
kann und dann vom allgemeinen Fall: Winkel im Einheitskreis beliebig gross oder negativ, auf den
Spezialfall: das rechtwinklige Dreieck, schliessen kann. In rechtwinkligen Dreiecken gilt nämlich für
einen Winkel aufgrund der Winkelsumme die Einschränkung: °<<° 900 .
Da dieser Übergang vom Allgemeinen auf den Spezialfall vergleichsweise einfach ist, bietet
die Unterrichtseinheit in dieser Sequenz Einstiegsfragen, die von den Lernenden selbständig
beantwortet werden können und die sie auf die gewünschten Gesetze im rechtwinkligen Dreieck
führen sollen.
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Beispiel: Sie fahren mit Ihrem Fahrrad eine Bergstrasse hoch. Die Bergstrasse ist mit
einer konstanten Steigung geneigt, der Neigungswinkel der Strasse
entspricht °= 6 (siehe Abbildung).
a) Wir nehmen an, die Bergstrasse (Hypotenuse) sei 1 km lang.
Beantworten Sie folgenden Fragen mit Hilfe des Einheitskreises:
• Wie viele Höhenmeter werden überwunden?
• Wie viele Kilometer misst die zum Winkel °= 6 anliegende Kathete?
• Wie gross ist die Steigung dieser Bergstrasse?
b) Die Bergstrasse (Hypotenuse) sei nun 2, 3, 4, 5,… km lang.
Wie viele Höhenmeter werden jeweils überwunden? Was fällt Ihnen auf?
Wie viele Kilometer misst die zum Winkel °= 6 anliegende Kathete jeweils?
Was passiert mit der Steigung der Bergstrasse, wenn sich die Länge der Hypotenuse ändert, der
Winkel °= 6 aber bleibt?
Stellen Sie für obige Fragen eine allgemeine Vermutung auf und begründen Sie diese.
Wenn die Schülerinnen und Schüler auf diese Weise gelernt haben, die trigonometrischen
Funktionen vom Einheitskreis auf das rechtwinklige Dreieck zu übertragen, dann steht auch der
vielseitigen Anwendung der Trigonometrie an rechtwinkligen Dreiecken in Geometrie und Physik
nichts mehr im Wege.
Weitere Informationen zu unseren Unterrichtseinheiten und Fortbildungsangeboten finden Sie auf
unseren Webseiten: http://www.educ.ethz.ch/mint
Literaturverzeichnis
Berthold, K. & Renkl, A. (2010). How to Foster Active Processing of Explanations in Instructional
Communication. Educational Psychology Review (22), 25 – 40.
Hardy, I., Schneider, M., Jonen, A., Stern, E. & Möller, K. (2005). Fostering Diagrammatic Reasoning in
Science Education. Swiss Journal of Psychology 64 (3), 207 – 217.
Kapur, M. (2014). Productive Failure in Learning Math. Cognitive Science, 1 – 15.
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Schwartz, D. L., Chase, C.C., Oppezzo, M.A., & Chin, D.B. (2011). Practicing Versus Inventing With
Contrasting Cases: The Effects of Telling First on Learning and Transfer. Journal of Educational
Psychology, 1 – 17.
Autoren: Armin Barth, Michael Brunisholz und Ralph Schumacher