Medizinalhanf
Diskussionsforum SEG 6 & KCPP „Medizinisches Cannabis in der GKV“ Dortmund, 16. März 2017 Dr. Michael Ermisch – GKV-Spitzenverband
Ein Systembruch in Arzneimittelentwicklung und Versorgung?
Medizinalhanf
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Cannabis sativa L. (Cannabaceae)
Bild: ABDA – DAC/NRF Stand 2016/2
Cannabisblüten (Cannabis flos) blühende, getrocknete Triebspitzen der
weiblichen Pflanze Wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe:
Terpenphenolische Cannabinoide (z.B. Δ9-Tetrahydrocannabinol [THC], Cannabinol [CBN], Cannabidiol [CBD]) und Cannabinoid-Carbonsäuren (z.B. Δ9-Tetrahydrocannabinolsäure, Cannabidiolsäure)
Dirty Drugs THC: Agonist am CB1- & CB2-Rezeptor
(inhibitorische Gi/G0 GPCR )
Quellen: Wichtl – Teedrogen und Phytopharmaka, 2016 Cannabisblüten – Monographieempfehlung für das Deutsche Arzneibuch, BAnz AT 06.06.2016 B9 (-)-trans-Δ9-Tetrahydrocannabinol
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Cannabinoid-Signalwege
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Pisanti 2013; doi:10.1016/j.tips.2013.03.003
§ 31 Abs. 6 (neu) SGB V
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Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon,
wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a) nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall […] nicht zur Anwendung kommen kann,
eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Die gesetzliche Neuregelung
Cannabis-Produkte
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3 Produktgruppen Cannabis in Form von Blüten
– (Arznei-)Droge, Stoff (i.S.d. AMG/BtMG)
Extrakte in standardisierter Qualität
– Cannabis oleoresina raffinata et normata DAC
– Nabiximols (Cannabis-Dickextrakte, Auszugsmittel CO2) → Sativex®
Arzneimitteln mit den Wirkstoffen
– Dronabinol (teilsynthetisches Δ9-Tetrahydrocannabinol) → Marinol®, Rezepturherstellung
– Nabilon (Δ9-Tetrahydrocannabinol-Analogon) → Canemes®
Droge – Zubereitungen - Fertigarzneimittel
Cannabisblüten
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§ 1 Abs. 1 Satz 1 BtMVV (neu):
Die in Anlage III des Betäubungsmittelgesetzes bezeichneten Betäubungsmittel dürfen nur als Zubereitungen, Cannabis auch in Form von getrockneten Blüten verschrieben werden.
Standardisierung der Droge? Mikrobiologische Sicherheit? Standardisierung der Dosis?
Systembruch in der BtMVV?
Stoff Zubereitung Isolierter Wirkstoff Cannabisblüten Extrakt Dronabinol Schlafmohnkapseln Eingestellte Opiumtinktur Morphin Kathblätter Cathin
THC-Dosierung bei Cannabistherapie
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Sativex®1 Dronabinol Trp 2,5%
(THC PHARM)2
Marinol ®3 Cannabis-blüten4
Erhaltungs-dosis (∅ p.d.)
1 Sp ≙ 2,7 mg THC
∅ 8 Sp ≙ 21,6 mg THC
1 Trp ≙ 17,25 mg
5-20 (30) mg
1 Kps ≙ 2,5/5/10 mg
5-20 mg (Anorexie) 30(-90) mg/m² (CINV)
THC > 10%
0,2- 3g ≙ 20-300 mg
Über-dosierung
Vergiftungs-anzeichen: 18 Sp b.i.d.≙ 97,2 mg THC
LD50Maus= 482 mg/kg
ZNS-Sympt.: 0,4 mg/kg (28 mg/70 kg)
LDest(i.v. : 30mg/kg
ZNS-Sympt.: 0,4mg/kg (28mg/70kg)
Deutliche Unterschiede je nach Applikationsform
Quellen: 1FI Sativex®, 03/15; 2THC-pharm.de, 10.03.2017; 3FDA-label Marinol® 07/06; 4Müller-Vahl/Grotenhermen, Dtsch.Ärzteblatt Nr.8 2017
Cannabisrezepturen
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§ 1a Abs. 8 ApBetrO: Rezepturarzneimittel ist ein Arzneimittel, das in der Apotheke im Einzelfall auf Grund einer Verschreibung oder auf sonstige Anforderung einer einzelnen Person und nicht im Voraus hergestellt wird.
§ 4 Abs. 1 AMG: Fertigarzneimittel sind Arzneimittel, die im Voraus hergestellt und in einer zur Abgabe an den Verbraucher bestimmten Packung in den Verkehr gebracht werden oder andere zur Abgabe an Verbraucher bestimmte Arzneimittel, bei deren Zubereitung in sonstiger Weise ein industrielles Verfahren zur Anwendung kommt oder die, ausgenommen in Apotheken, gewerblich hergestellt werden.
Sonderfälle: – Defektur (§ 1 Abs. 9, § 8 ApBetrO, § 21 Abs. 2 Nr. 1 AMG) – „formula officinalis“ (Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2001/83/EG)
Gesetzliche Grundlage („formula magistralis“)
Erstattungsfähigkeit von Rezepturen
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BSG, Az. B 1 KR 19/96 R Behandlungskosten […] auch nicht […] zu tragen, wenn […] als ein […] zulassungsfreies Rezepturarzneimittel einzustufen wäre. Dem Erstattungsbegehren […] stünde dann § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V entgegen;
Positive Bewertung durch den G-BA als Voraussetzung für die Erstattungsfähigkeit von NUB
Vorgreiflichkeit der Zulassungsentscheidung (Keine Umgehung!)
Cannabisrezepturen: – Bewertung nach § 135 nicht erfolgt – Herstellung der Erstattungsfähigkeit über § 31 Abs. 6 (?) → Systembruch durch Umgehung von G-BA und Zulassung
Allgemeine Regelungen vs Cannabis
Cannabis in Fertigarzneimitteln
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Zulassungsstatus in Deutschland
Bezeichnung Wirkstoff Indikation Unternehmen Status Cesametic® Nabilon Emesis Lilly 1988
erloschen Canemes® Nabilon Nausea bei
Chemotherapie AOP Orphan 2015
zugelassen Kachexol® Dronabinol Emesis/Kachexie
bei AIDS, Krebs, MS (?)
Bionorica 2011 abgelehnt*
Kachexol® Dronabinol Emesis/Kachexie/Schmerzen bei HIV, Krebs (?)
Bionorica 2015 abgelehnt*
Sativex® Nabiximols Spastik bei MS Almirall 2010 zugelassen
* Quellen: Hanfjournal 02/2017; DAZ-online, 30.10.2015; apotheke-adhoc.de, 05.03.2016
Schutzzweck der Arzneimittelzulassung
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Richtlinie 2001/83/EG, Erwägungsgrund 2: Alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf dem Gebiet der Herstellung, des Vertriebs oder der Verwendung von Arzneimitteln müssen in erster Linie einen wirksamen Schutz der öffentlichen Gesundheit gewährleisten.
§ 21 Abs. 1 AMG: Fertigarzneimittel […] dürfen […] nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie […] zugelassen sind […]
§ 25 Abs. 2 AMG: Die zuständige Bundesoberbehörde darf die Zulassung nur versagen, wenn […] dem Arzneimittel die vom Antragsteller angegebene therapeutische Wirksamkeit fehlt oder diese nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse vom Antragsteller unzureichend begründet ist
Allgemein geltende Regelungen
Erstattungsfähigkeit für Fertigarzneimittel
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BSG, Az 1 RK 8/94: Die Voraussetzungen für die Zulassung eines Arzneimittels nach dem AMG entsprechen den Mindestvoraussetzungen, die im Rahmen der GKV an eine "wirtschaftliche" Verordnungsweise ]…] gestellt werden
Zulassung ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Erstattungsfähigkeit
Keine Erstattungsfähigkeit für
– nicht zugelassene Arzneimittel – Arzneimittel mit abgelehnter Zulassung – die Off-Label-Verwendung
Systembruch durch § 31 Abs. 6 (neu) SGB V
Allgemein geltende Regeln
Zukunft für Cannabis-Zulassungen
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Negativer Zulassungsanreiz
Quelle: apotheke-adhoc.de, 05.03.2016
Zulassung und Therapiefreiheit
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Keine Zulassung ohne Beleg eines positiven Nutzen-Risiko-Verhältnisses
Keine Verkehrsfähigkeit ohne Zulassung
Verkehrsfähigkeit formal auf zugelassene Anwendungsgebiete beschränkt
aber
Eine fehlende Verkehrsfähigkeit ist kein Anwendungsverbot, die Therapiefreiheit des Arztes kollidiert nicht mit dem AMG (BVerfG Az. 1 BvR 420/97, BSG Az. B 1 KR 37/00 R)
Haftung komplex – in der Regel primär beim Arzt
Vorgreiflichkeit der Verkehrsfähigkeit
Cannabis-Regel vs Ausnahmen
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§ 31 Abs. 6 SGB V BSG-Kriterien OLU (B 1 KR 37/00 R)
Nikolaus-Beschluss (1 BvR 347/98)
Erwägungs-gründe
Ordnungspolitik Sozialrecht, Defizite des Arzneimittelrechts
Freiheitsgrundrecht
Erkrankung schwerwiegend schwerwiegend lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich verlaufen
Therapie-alternativen
nicht verfügbar oder nicht anwendbar
nicht verfügbar nicht verfügbar
Evidenz nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome
begründete Aussicht auf kurativen oder palliativen Behandlungserfolg (Forschungsergebnisse, die ein Zulassung erwarten ließen)
nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf
Lex specialis im Vergleich
Cannabis vs Solidarprinzip
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Indikation NAP 2017 AKDAe 2015 Whiting 2015 Anmerkung
Chronische Schmerzen
substantial evidence
kann erwogen werden
moderate quality evidence
Zahlreiche Therapie-alternativen
Spastik bei MS substantial evidence
kann erwogen werden
moderate-quality evidence
Sativex®: last-line
CINV substantial evidence
kann erwogen werden (last line)
low-quality evidence
Canemes®: last-line
Anorexie (HIV) / Kachexie
limited evidence keine ausreichende Evidenz
low-quality evidence
abgelehnte Zulassung
Schizophrene Psychose
no / insufficient evidence
nicht belegt low-quality evidence for no effect
Morbus Parkinson
limited evidence enttäuschende Ergebnisse
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Tourette-Syndrom
limited evidence Wirksamkeit nicht belegt
low-quality evidence
Evidenz für Cannabis
Erstattungsfähigkeit unter § 31 Abs 6
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Produkt prae Gesetz post Gesetz Cannabis-blüten
nicht verordnungsfähig, nicht erstattungsfähig
verordnungs- und erstattungsfähig
Cannabisöl nicht verordnungsfähig, nicht erstattungsfähig
verordnungs- und erstattungsfähig
Dronabinol (Rezeptur)
verordnungsfähig, nicht erstattungsfähig
verordnungs- und erstattungsfähig
Sativex® erstattungsfähig im Rahmen der Zulassung
erstattungsfähig auch im Rahmen § 31 Abs. 6 SGB V
Canemes® erstattungsfähig im Rahmen der Zulassung
erstattungsfähig auch im Rahmen § 31 Abs. 6 SGB V
Marinol® verordnungsfähig, nicht erstattungsfähig
verordnungsfähig, Erstattungsfähigkeit fraglich
Übersicht
Cannabis als Dammbruch
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BSG, 13. Oktober 2010, Az. B 6 KA 47/09 R: – Verordnung von Megestat und Dronabinol zur Behandlung der
Kachexie (Appetitlosigkeit mit der Folge körperlicher Auszehrung) bei Bronchialkarzinomen und Tumoren der Thoraxorgane nicht zulässig, da Eignung und Unbedenklichkeit des Einsatzes nicht ausreichend belegt
Anno 2017: – Dronabinol: Anwendung zulässig – Megestat: Anwendung nicht zulässig
Jatoi 2002: In the doses and schedules we studied, megestrol acetate provided superior anorexia palliation among advanced cancer patients compared with dronabinol alone. Combination therapy did not appear to confer additional benefit.
Lex specialis oder Prajudiz?
Beseitigung des Evidenzmangels
Dr. Michael Ermisch: Medizinalhanf - ein Systembruch? 16.03.2017 Seite 19
Die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt […] übermittelt die für die Begleiterhebung erforderlichen Daten dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in anonymisierter Form. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Begleiterhebung […] regelt der Gemeinsame Bundesausschuss […] das Nähere zur Leistungsgewährung in den Richtlinien nach § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 6.
Doppelt anonymisierte Anwendungsbeobachtung → Nicht randomisiert, nicht vergleichend → Nur ein Erhebungszeitpunkt → Kein Schutz vor Bias / Unvollständigkeit
Das „Nähere zur Leistungsgewährung“?
Entscheidungsgrundlage für G-BA
Evidenzklassifikation
Dr. Michael Ermisch: Medizinalhanf - ein Systembruch? 16.03.2017 Seite 20
§ 11 Abs. 3 VerfO G-BA
Quelle: eigene Darstellung nach VerfO G-BA
Fazit
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Ziele des Gesetzgebers:
Verhinderung des Eigenanbaus von Cannabis durch Patienten Verbesserung der Versorgung schwerstkranker Patienten
Systembruch in Bezug auf
zentrale Regelungen zum Umgang mit Betäubungsmitteln, die Voraussetzungen für einen Marktzugang in Form einer
arzneimittelrechtlichen Zulassung, den Leistungsumfang der solidarisch finanzierten
Krankenversicherung und die evidenzbasierte Medizin
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Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit Dr. Michael Ermisch Abt. Arznei- und Heilmittel Reinhardtstr. 28 10117 Berlin [email protected]