MATERIALMAPPE
für Schulen, Klassen, Gruppen
JUST Wiesbaden, Spielzeit 2015.16
Herzlich willkommen!
Sie kommen mit einer Klasse oder Gruppe zu uns ins Theater – wir freuen uns auf Ihren Besuch! Für die Vorbe-
reitung der Schülerinnen und Schüler möchten wir Ihnen einige Ideen und ausgewähltes Material an die Hand
geben.
»Kein Gott in Sicht« ist ein junges, unterhaltsames, aber doch auch herausforderndes Theaterstück, mit dem Sie
den Schülerinnen und Schülern einen wunderbaren Einstieg in die Theaterwelt ermöglichen.
Denn Theater bedeutet ja nicht nur »Schönes sehen«, sondern immer auch die Aufforderung, selbst zu denken,
selbst zu erspüren, was es mit dem Leben auf sich hat.
Die Frage der vielfältigen Lebenswirklichkeiten steht heute mehr denn je im Zentrum der persönlichen und auch
der weltweiten Auseinandersetzungen. Schon früh bilden Kinder sich eine Meinung und ebenso früh sollten sie
in die Lage versetzt werden, unterschiedliche Sichtweisen und Lebenswelten zu verstehen und zu akzeptieren.
Daher: Dankeschön, dass Sie sich zum Besuch dieser Vorstellung entschieden haben. Wir hoffen, Sie werden
neben dem Vergnügen auch eine Menge intellektuelle und emotionale Anreize mitnehmen können.
Sicher haben Sie selbst schon einige Erfahrung und eine Vorstellung, wie Sie den Theaterbesuch mit Ihrer Grup-
pe am besten gestalten. Darüber hinaus finden Sie in dieser Materialmappe einige Anregungen.
Sollten Sie weitere Unterstützung wünschen: Gerne beraten wir Sie, verabreden ein Gespräch nach der Auffüh-
rung oder kommen auch in die Schule, um mit theaterpädagogischen Mitteln den Theaterbesuch Ihrer Klasse
vor- oder nachzubereiten.
Sprechen Sie uns an, wir stellen Ihnen gern ein individuelles Angebot zusammen!
Priska Janssens und das Team der Theaterwerkstatt
Kontakt:
Theaterwerkstatt im Staatstheater Wiesbaden Priska Janssens 0611.132270
Junges Staatstheater Wiesbaden, Carsten Kochan / Sophie Pompe 0611.132272
Informationen zu Autor, Werk und Umsetzung
Der Autor
Altaf Tyrewala wurde 1977 in Bombay geboren. Nach seinem Schulabschluss zog er nach New York
City, wo er am Baruch College ein Studium der Betriebswirtschaft absolvierte. 1999 kehrte er nach
Bombay zurück. Er arbeitete für verschiedene Unternehmen als Softwarespezialist und veröffentlichte
nebenbei erste Kurzgeschichten, bevor er sich im Jahr 2002 vollständig dem Schreiben zuwandte.
»Kein Gott in Sicht« ist sein erster Roman, der 2005 in Indien erschien und von der Presse als große
literarische Entdeckung gefeiert wurde. Zur Zeit arbeitet Altaf Tyrewala an seinem zweiten Roman.
Der Regisseur
Carlos Manuel wurde 1968 in Luanda/Angola geboren und ist in Brasilien aufgewachsen. Er studierte
Philosophie in Brasilien und Theaterwissenschaft an der Sorbonne-Nouvelle in Paris. Außerdem ab-
solvierte er ein Referendarjahr im Schauspiel am Conservatoire National Supérieur d’Art Dramatique
de Paris. Heute lebt Carlos Manuel in Berlin.
Als Regisseur war er u. a. am Bayerischen Staatsschauspiel München, am Thalia Theater Halle, am
Deutschen Schauspielhaus Hamburg und am Moskauer Dramatischen Theater tätig. Mit seiner Insze-
nierung Warum kommen die Dinge durcheinander von Gregory Bateson für das Theater an der
Parkaue Berlin wurde Carlos Manuel 2011 zum Weltkongress der Kinder- und Jugendtheater eingela-
den.
Pressestimme
Tyrewala führt uns nämlich menschliche Schicksale vor. Er erzeugt, erzählend, mit erstaunlich gerin-
gem Aufwand, einen gewaltigen Sog, in den nicht nur seine Figuren hineingerissen werden, sondern,
bereits nach wenigen Abschnitten, auch die (europäischen) Leser seines ersten Romans. ... Der noch
nicht einmal dreißigjährige Autor hat einen Blick für die Menschen. Er verzichtet weitgehend auf Lo-
kalkolorit. Er kommt ohne alle Exotik aus. Dafür präsentiert er uns, zuweilen extrem, verdichtetes
Leben.
Simon Winterhalder, Die Zeit, Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse
JUST | 14+
Kein Gott in Sicht
Nach dem gleichnamigen Roman von Altaf Tyrewala
aus dem Englischen von Karin Rausch
Altaf Tyrewala erzählt in knappen Szenen aus dem Leben verschiedener Menschen im heutigen Mum-
bai. Eine Stadt, die uns Europäern so fremd erscheint und doch auch ein Spiegelbild unserer Gesell-
schaft ist. Die Protagonisten, die aus ihrem Leben erzählen – aufwühlende, packende Szenen – gehö-
ren unterschiedlichsten Klassen und Schichten an, haben vielfältige Berufe, tragen religiöse Rivalitä-
ten aus und versuchen tagtäglich, ihrem Alltag zu entkommen.
Besetzung
Regie Carlos Manuel
Bühne Matthias Schaller
Kostüme Susanne Füller
Mit
Tom Gerngroß
Thomas Jansen
Elke Opitz
Martin Plass
Sophie Pompe
Irina Ries
Arthur Romanowski
Premiere 09.03.2016, 19:30 Uhr, Hessisches Staatstheater Wiesbaden, Wartburg
Die Figuren, ihre Namen und deren Bedeutungen
ISMAT Rein/ Unbefleckt / Fehlerfrei
KHWAJA Herr (ein spiritueller Titel)
UBAID Diener (Diener von Allah)
MINAZ Wunsch, Sehnsucht
KASIM Steuerung des Zorns
DER ARZT, AKBAR Der Größte (häufiger Herrschername)
AFSANA, SEINE FRAU Die Legende (kurdisch)
AMIN Treu, Zuverlässig
RUKHSHANA Die Schöne
BABUA Kleiner Junge
LAJWANTI Empfindliche Pflanze, Mimose / bescheiden, demütig
MAHANT Große Seele
ZAIL Die Strenge des Sees (altgriech.)
SULEIMAN Frieden
SHAZIA Die Duftende, Wohlriechende
ABBU Vater von
NILOFER pers. Wasserlilie
MATRONE Gebieterin
SLUM KA BHEDIYA Slumschakal
KISHORE MALHOTRA Junger Mann / Clan
MOIN CHARIYA Unterstützer, Helfer / Guter Charakter
MUNAF Aufgeregt, unhaltbar
SOPHIYA Weisheit
JEYNA Gott ist gnädig
YASMIN-BAI Schönheit / Bild der Liebe
NAWAZ Prinz (aufmerksam, sympathisch und großzügig)
BADRU Vollmond
ABHAY Furchtlos
SWATI Stern
JOSHI Herr Vishnu (die Manifestation des Höchsten)
SHILPA Vollkommene
AVANTIKA Königin
SOHAIL afg. Stern (Name des 2. hellsten Stern: Canopus)
RINA Reine und Aufrichtige
BALBIR PASHA Strenge / König
AMJHAD Der Rückkehrer / Eine der 99 Attribute Allahs: Der, der in allem
wiederkehrt
JAMAL SETH Der Schöne / faszinierend, beeindruckend
MUSHTAQ Leidenschaftlich
WASIM SHEIKH Hübsch / Chef, Edler
RAHUL Bezwinger allen Elends / Sohn von Buddha: Mond, der Fähige, der
Effiziente
Der Roman
Aus dem Englischen von Katrin Rausch.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt an Main 2006
Ja, da ist wirklich kein Gott in Sicht, dafür aber viele Menschen, die vorüberziehen und kurz aus ihrem
Leben berichten. Überall kommen Alltagssorgen, soziale Nöte, religiöse Feindschaften sowie Fami-
lien- und Beziehungsprobleme zur Sprache, eben alles, was Menschen in Bombay bewegt. Es ist beim
Lesen, wie wenn man durch die Straßen dieser indischen Millionenstadt zieht und 37 Menschen be-
gegnet, die einem etwas zu erzählen haben. Man hört eine Geschichte – und schon folgt die nächste.
Immer wieder muss man sich neu orientieren und sich in neue Lebensumstände hineindenken. Kaum
findet man sich zurecht, geht es weiter – faszinierend, fremd, verwirrend, herausfordernd und immer
tief menschlich.
Der Inhalt des Romans lässt sich nicht zusammenfassen, weil jede Person ihre eigene Geschichte ins
Spiel bringt. In diesem Geschichtenmosaik lässt sich dennoch ein roter Faden finden: Es ist wie bei
einem Staffellauf. In jedem Bericht wird der Stab weitergegeben, indem die nächste erzählende Person
in der vorhergehenden Geschichte schon erwähnt wird. So beginnt das Buch mit der sechzehnjährigen
Frau, die ihr Kind abtreiben lässt. Als nächster erzählt der Arzt, der zur großen Schande seiner Familie
Abtreibungen vornimmt, gefolgt von seinem Vater, einem Schuhverkäufer, und dann vom Schuh-
ladenbesitzer, der in die USA auswandern will. Kunstvoll endet das Buch wieder dort, wo es begonnen
hatte: Der Freund der schwangeren Frau erzählt, wie er seine Freundin zum Arzt begleitet. Jetzt könnte
die Geschichte wieder von vorne beginnen oder sich in einer neuen Variante weiter drehen.
Altaf Tyrwala stammt selber aus der islamischen Unterschicht aus Bombay. Verständlicherweise ge-
hören deshalb die meisten seiner Figuren dieser Bevölkerungsgruppe an. Der junge, 1977 in Bombay
geborene Autor legt mit seinem ersten ins Deutsche übersetzten Buch ein großartiges literarisches
Werk von weniger als 200 Seiten vor, das sich von vielen zwar interessanten, aber nicht immer kunst-
vollen Wälzern anderer indischer Autorinnen und Autoren wohltuend unterscheidet. Sowohl die Spra-
che wie der Aufbau und die Vielschichtigkeit der Entfaltung des Themas zeugen von hohem schrift-
stellerischem Können.
http://www.suedwind-magazin.at/altaf-tyrewala-kein-gott-in-sicht.
Atlaf Tyrewala im Interview
DEUTSCHLAND RADIO KULTUR/ 24.11.2011
Mit dem Roman »Kein Gott in Sicht« wurde Altaf Tyrewala 2006 bekannt, zur Zeit ist er Stipendiat in
Berlin.
Britta Bürger: Die Texte des indischen Schriftstellers Altaf Tyrewala stehen im Gegensatz zu den
opulenten Romanen, die die indische Literatur auf dem internationalen Buchmarkt repräsentieren.
»Kein Gott in Sicht« hieß der Debüt-Roman des heute Mitte 30-jährigen Tyrewala, in dem er die ext-
rem unterschiedlichen Lebenswelten der Bewohner Mumbais in 40 verschiedenen Stimmen kontras-
tiert. Hören wir zwei dieser Stimmen: Das Ehepaar Khwaja.
Mrs. Khwaja: »Früher war ich Dichterin und hing tagelang winzigen Metaphern nach. Jetzt koche ich
den ganzen Tag für Ubaid und Minaz, gebe die Tausender aus, die ihr Vater jeden Monat nach Hause
bringt, und starre geistesabwesend auf den Fernseher. Ich habe nichts mehr zu sagen. Das Summen
klimatisierter Räume und Fernsehsendungen rund um die Uhr haben mich zum Schweigen gebracht.«
Mr. Khwaja: »Vor 26 Jahren habe ich eine mittelmäßige Dichterin geheiratet. Sie schenkte mir zwei
Kinder – einen Sohn, der jede wache Minute im Internet hängt, und eine Tochter, die nie zu Hause ist.
Wir leben zusammen und sind immer noch verheiratet, die Frau und ich. Das Poetische in unserem
Leben ist verschwunden. Ich kenne sie nicht mehr.«
Bürger: Stimmen aus Mumbai verdichtet der Schriftsteller Altaf Tyrewala in seinen Texten, hier in
einem Auszug aus seinem 2006 erschienenen Debüt-Roman »Kein Gott in Sicht«.
Herr Tyrewala, herzlich willkommen im »Radiofeuilleton«.
Altaf Tyrewala: Vielen Dank! I like to be here, thanks!
Bürger: Ein Mann, der seine Frau nicht mehr kennt, jene Dichterin, die durch das Summen der Kli-
maanlagen und Fernseher zum Schweigen gebracht worden ist, Altaf Tyrewala, ist diese erfundene
Dichterin eine ihrer inneren Stimmen? Spüren Sie auch die Gefahr, dass das moderne Mumbai Sie
möglicherweise zum Schweigen bringt?
Tyrewala: Die Stadt Mumbai, wie sie sich jetzt entwickelt, bietet körperlich und geistig einfach nicht
mehr den Raum, den man braucht, um Dichtung sich entfalten zu lassen. Und die Dichterin, von der
Sie sprechen, ist auch in der Tat so eine Art Vorläuferin dessen, was der Stadt noch bevorsteht.
Bürger: Aber Mumbai ist doch auch die Stadt, die Sie bislang am allermeisten zum Schreiben inspi-
riert hat?
Tyrewala: Ja, unbedingt, aber das war auch ein anderes Mumbai. Ich war kürzlich wieder einen Mo-
nat dort, ich habe das alte Gewebe der Stadt nicht mehr wiedergefunden. Ich spürte keine innere Ver-
wandtschaft mehr mit dieser Stadt, die ist nicht mehr dieselbe, die sie mal gewesen ist.
Bürger: Beschreiben Sie uns diese Veränderungen.
Tyrewala: Ganz vieles hat sich verändert. Vielleicht ist das Auffälligste die Veränderung der städti-
schen Landschaft. Das menschliche Maß, das es früher gab, ist sozusagen verloren gegangen. Es findet
eine Fetischisierung des Wandels und eine Hymne auf die Moderne statt – eine Hymne, die nichts
mehr mit unserer Herkunft, mit unserer Kultur und Vergangenheit zu tun hat. Unter den vielen Wand-
lungsprozessen ist wahrscheinlich der größte Wandel der, dass das Geld jetzt eigentlich nie mehr aus-
reicht. Man hat ständig das Gefühl, je mehr Geld man hineinpumpt, desto mehr Geld braucht man
auch, und der Mensch bleibt sozusagen dann außen vor. Es ist keine Umwelt mehr, in der man sich als
Mensch wohlfühlt.
Bürger: Sie wurden in einer liberalen muslimischen Familie geboren, gehören somit zu einer der vie-
len religiösen Minderheiten des Landes. Inwieweit bestimmt das Ihr Leben in Mumbai, selbst wenn
Sie jetzt nicht besonders religiös leben?
Tyrewala: Ja, wissen Sie, je älter ich werde, desto schwerer fällt es mir, solche Fragen zu beant-
worten. Der Wohlstand wächst, und da möchte eben jeder irgendwie daran teilnehmen. Nun hätte man
hoffen können, dass mit wachsendem Wohlstand auch diese Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen
und religiösen Minderheiten verschwinden würden, aber das Gegenteil ist der Fall. Es wird geradezu
darauf herumgeritten, dass man diese Grenzen einhält. Diejenigen, die die Mehrheit stellen, halten
zunehmend es für ihr angeborenes, gottgegebenes Recht, jetzt auf die anderen herabzusehen. Die Vor-
urteile werden bekräftigt, es gibt tatsächlich eine Bestärkung in diesen Grundhaltungen des Hasses auf
die anderen. Die Diskriminierung und die Ghettoisierung nehmen zu, und das alles führt eben zu einer
stärkeren Grenzziehung zwischen den einzelnen Gruppen, wobei jede Gruppe wegen des höheren er-
reichten Wohlstands sich eigentlich ganz wohl damit fühlt. Aber es gilt eben: Zwischen Hindus und
Muslimen werden die Grenzen fester, es gibt keine Aussicht darauf, dass die Grenzen sozusagen ver-
schwimmen würden.
Bürger: Wie reagiert oder wie agiert die Politik inmitten all dieser Konflikte? Wen vertritt die indi-
sche Regierung? Immerhin handelt es sich um die größte Demokratie der Welt.
Tyrewala: Tja, das ist eine harte Nuss, die Sie mir da vorlegen, denn die indische Regierung ist mehr
als alle anderen Regierungen durch Wirtschaftsfachleute geprägt. Es sind eigentlich nicht mehr Politi-
ker oder Verwaltungsfachleute, die die Regierungen stellen, sondern Betriebswirte, Volkswirte, die im
Wesentlichen ihre Einsichten aus Washington zu beziehen scheinen, die sich irgendwie anzupassen
scheinen an das, was in der Weltwirtschaftspolitik geschieht. Man hätte ja gehofft, dass sie wenigstens
noch die indische Geschäftswelt vertreten, aber selbst das ist nicht mehr der Fall. Wen die indische
Regierung vertritt, das ist wirklich ein Rätsel. Man kann darauf keine eindeutige Antwort geben. Es
sieht so aus, als gäbe es da eine echte Kluft zwischen der Politik einerseits und dem Alltagsleben der
Menschen andererseits, und diese Kluft wird schlimmer von Tag zu Tag.
Bürger: Gibt es eine freie Presse, die diese Kluft spiegelt, die all die vorhandenen Schattenseiten beim
Namen nennt?
Tyrewala: Tja, Ich würde die indische Presse nicht im eigentlichen Sinne frei nennen, sondern außer
Kontrolle, wie die meisten anderen Dinge in Indien auch. Die Regierung würde es natürlich gerne
sehen, wenn sie Kontrolle über die Presse ausüben könnte. Aber das geht ja gar nicht angesichts der
vielen Sprachen, die in den unterschiedlichen Bundesstaaten gesprochen werden, ist die Medienland-
schaft ja vollkommen zersplittert. Es ist also außerordentlich schwer, hier eine Propaganda der Regie-
rung zu verbreiten. Wenn man über freie Presse oder Presse spricht, hat man es sofort mit Unterneh-
men zu tun. Und da, wo Unternehmen sind, ist immer auch Gewinnabsicht vorhanden. Es gibt also im
strengen Sinn auch keine Freiheit in der Presse. Sehr wohl gibt es aber lebendige, lebhafte, spannende
Debatten in der indischen Medienlandschaft, vor allem im Fernsehen, ich würde aber sagen, die Men-
schen gehen dort noch gar nicht weit genug. Sie gehen noch nicht so weit, dass sie das Übel wirklich
an der Wurzel packen.
Bürger: Ist das also die Aufgabe der Künstler?
Tyrewala: So sollte es sein, aber in einem Land wie Indien ist es heute zu gefährlich, diese Aufgabe
des Künstlers zu erfüllen, denn wenn man wirklich ganz in die Tiefe geht, dann kommt man auf
schmutzige Geheimnisse, und man wird feststellen, dass die Regierung einen dann nicht mehr be-
schützt, wenn man dieses verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung ausübt. Aus diesem Grund
erlegen sich die Künstler Indiens sozusagen eine innere Zensur, eine geistige Schere auf, und es wäre
einfach zu schmerzhaft, zu aufwühlend, wenn man diese Wahrheit wirklich so erzählte.
Bürger: Wo setzt Ihre innere Schere an?
Tyrewala: Diese Schere gibt es unbedingt auch in mir. Das habe ich gemerkt, als ich Indien das letzte
Mal verlassen haben, als ich zunächst mal dann zwei Monate in Boston lebte, habe ich gemerkt, wie
stark ich mich schon dieser inneren Schere unterworfen habe in meinem Schreiben, weil einfach diese
Enthüllungen zu schmerzhaft wären. Und es war für mich wirklich eine Offenbarung zu sehen, wie
stark ich unter dem Einfluss der Angst geschrieben hatte, dass man einfach immer nur sagt, was man
eigentlich sagen könnte. Das ist schon eine Art innere Zensur, und das bedeutet eben, dass man als
Künstler jedes einzelne Wort auf die Goldwaage legt und sagt: Kann ich das noch schreiben oder ge-
hört es schon zum Unsagbaren?
In meinem jetzigen Vorhaben, »Schnitte« oder »Cutting«, geht es um genau dieses Thema. Ich weiß
nicht, wie künstlerisch wertvoll dann das Ergebnis sein wird, aber der Grundimpuls ist doch ein Schrei
nach Freiheit, im Grunde ein großes Aufbrüllen aus der Gefangenschaft heraus. Es wird hässlich sein,
es wird wirklich nicht leicht zu verdauen sein, es wird politisch inkorrekt und gotteslästerlich sein,
aber es ist genau das, was ich jetzt tun muss.
Bürger: Thank you very much for being with us!
Tyrewala: Vielen Dank! Thank you!
Mumbai- Bombay
Mumbai (Marathi: म ुंबई, Mumbaī [ˈmumbəi]), bis 1996 offiziell Bombay, ist die Hauptstadt des Bun-
desstaates Maharashtra in Indien und die wichtigste Hafenstadt des Subkontinents. Sie liegt auf der
Insel Salsette vor der Westküste Maharashtras. Das Stadtzentrum befindet sich auf einem schmalen
Landstreifen, der von der sumpfigen Küste in das Arabische Meer hineinragt. Die Stadt ist das wirt-
schaftliche Zentrum Indiens. Sie ist Verkehrsknoten und Kulturzentrum mit Universitäten, Theatern,
Museen und Galerien.
Hussain Zaidi Black Friday: The True Story of the Bombay Bomb Blasts 2002
Probleme der Megacities
Megacities sehen sich – gerade durch den unkontrolliert rasanten Anstieg der Einwohnerzahlen – mit
zahlreichen Problemen konfrontiert. Zwar beschränken sich diese Probleme keineswegs nur auf Groß-
städte in Entwicklungsländern, treten hier aber dennoch mit vermehrter Intensität auf. So ist an erster
Stelle der Mangel an Wohnraum und die damit verbundene infrastrukturelle Überforderung zu nennen.
Da Megacities in der Dritten Welt nicht wie beispielsweise London oder andere Großstädte in Indus-
trieländern natürlich gewachsen sind oder sich ausbreiten konnten, ist der angesprochene Wohnraum-
mangel zum Teil ganz profan durch einen Platzmangel begründet. Zum anderen sind Megacities da-
durch auch nicht in der Lage, ausreichend Erwerbsmöglichkeiten für alle Bevölkerungsschichten anzu-
bieten. Gerade deshalb sind besonders hier extreme Vermögens- und Einkommensgefälle innerhalb
der Bevölkerung auf engstem Raum zu beobachten. Ergebnis dessen ist wiederum eine starke Segrega-
tion der Bevölkerungsschichten in Großstädten – es findet eine Entmischung statt. So sind die so ge-
nannten ›gated communities‹ ein Symptom dieser Entwicklung – vermögende Stadtbewohner ziehen
sich zum Schutz in meist abgezäunte und von Sicherheitsdiensten überwachte Wohngebiete zurück;
die Mittelschicht verschwindet immer mehr aus dem sozialen Gefüge der Großstädte.
Eine weitere Folgewirkung der beschriebenen Arbeits- und Wohnraumdefizite sind die Entstehung
von Marginalsiedlungen innerhalb von Großstädten – Elends- und Armenviertel mit zum Großteil
einfachsten Hüttenbauten.
www.grin.com/de/e-book/125870/soziale-probleme-von-grossstaedten-in-entwicklungslaendern
Das Zuhause und die Stadtviertel machen das Wesen der Stadt aus und liegen der Struktur der Stadt
zugrunde. An der Wende zum 20. Jahrhundert war die Stadt mit ihren neuen Lebensbedingungen in
neuartigen Mietshäusern mit neuen Lebensweisen in einem postindustriellen Umfeld, mit neuen admi-
nistrativen Problemen ein wichtiger Ort zum Gestalten des Raumes, in dem der Zugewanderte ein
Verständnis für die Gesellschaft entwickelt – die »Familie«. Der Ort, wo er letztlich auch den Lebens-
raum der »Gemeinschaft« mitgestaltete. Dazu schreibt Meera Kosambi in ihrem Essay »Home as
Universe« (Permanent Black, 2007), »Die Großfamilie … galt als eine unentbehrliche Stütze und tat-
sächlich auch als einzig machbare Lebensweise. Die, die gezwungen waren, den Schoß dieser Familie
zu verlassen, um zur Hochschule zu gehen oder anderswo eine Arbeit anzunehmen, versuchten häufig
durch das Zusammenbringen von Kleinfamilien und Freunden eine neue Großfamilie zu schaffen,
insbesondere dann, wenn finanzielle Zwänge vorlagen«. Geschichten aus der Zeit, als Mumbai Ende
des 19. Jahrhunderts von der Pest heimgesucht wurde, lassen ebenso erkennen, dass Gemeinschaften
oder Stadtviertel Konzepte sind, die auf vielerlei Art und insbesondere in Krisenzeiten auf die Probe
gestellt wurden und ihre Nützlichkeit unter Beweis stellten. Abwanderungen aus den ländlichen Regi-
onen oder Kleinstädten in Großstädte wie Bombay oder Kalkutta veränderten die Familienstruktur.
Zum einen handelte es sich dabei schlechthin um die Auflösung der Großfamilien, die in Wadas und
Havelis und anderen Arten ländlicher und städtischer Unterkünfte lebten und zum anderen bildeten
sich Kleinfamilien, die in Mietwohnungen und Chwals lebten, unter anderen Lebensbedingungen, als
sie gewohnt waren. Der Chawl hält sich an das Vorbild postindustrieller Mietshäuser und ist nichts
anderes als aneinandergereihte Räume mit ein paar Betten zum Schlafen. Will man die von Thomas
Blom Hansen in »Violence in Urban India: Identity Politics, ›Mumbai‹, and the Postcolonial City«
(Permanent Black, Delhi, 2001, 2005) aufgeworfenen Fragen untersuchen, muss man sich zuerst der
Frage der alleinstehenden Männer zuwenden, die als Zuwanderer in die Stadt kommen. Auch muss
man dann die Veränderung des Begriffs vom Zuhause untersuchen, die sich aufgrund veränderter wirt-
schaftlicher Bedingungen vollzog. So gab es zu einem Zeitpunkt Zuwanderer, die am und in der Um-
gebung ihres Arbeitsplatzes lebten, in Räumlichkeiten am Arbeitsplatz, in Korridoren oder auf Geh-
steigen; dann gab es Männer, die keinerlei Zuhause haben, und in der Nachbarschaft herumziehen, oft
zum Verdruss der anderen Nachbarn, für die sie Objekte sind, die keine Familie haben; sowie Männer,
die nichts vom Leben in einer »Großstadt« wissen und ihre »ländlichen Gewohnheiten« mit in die
Stadt bringen und infolgedessen zu ihrer Verschmutzung beitragen. Der alleinstehende Mann, der als
Wanderarbeiter in die Stadt zieht, wird wahrscheinlich auch dem Leben in der Stadt nicht trauen, die
ihn aufgenommen hat – sein Zuhause wird immer dort sein, wo seine Familie ist, im Dorf oder der
Kleinstadt. Es dauert immer geraume Zeit, bis die Zuwanderer ihre Frauen oder Familien in die Stadt
nachholen können. Das ist erst möglich, wenn sie einen festen Arbeitsplatz gefunden haben und ihnen
eine gewisse soziale Sicherheit bieten können.
Wirtschaft und Soziales
Auf den Straßen Neu Delhis zeigt sich das arme Indien. (© picture-alliance/AP)
Indien ist dabei, sich zu einer wirtschaftlichen Großmacht zu entwickeln. Die Wachstumsraten sind
beachtlich, und auch deutsche Firmen haben Anteil an diesem Aufschwung. Doch es gibt eine Kehr-
seite des Booms, denn mehr als drei Viertel der Bevölkerung profitieren nicht davon.
http://www.bpb.de/internationales/asien/indien/44511/wirtschaft-und-soziales
Ansprüche und Lebensstile der Eliten Mumbais äußern sich vor allem in den Wohnvierteln der reichen
Oberschicht. Die alten Villen in den großzügig angelegten Parks dieser Gegenden wurden abgerissen
und Appartementhochhäuser an ihre Stelle errichtet. Eigene Stromaggregate, Wassertanks und Wach-
personal ermöglichen der Elite schon seit den 1960er Jahren eine weitgehende Abkoppelung von der
Lebenswelt der großen Mehrheit der Bevölkerung und die Verfolgung eigener Lebensstilkonzepte. Die
wachsende städtische Mittelschicht zog aufgrund der Kommerzialisierung vieler Bereiche der Innen-
stadt überwiegend in die Außenbezirke (Mumbai Suburban District).
Im Gegensatz dazu steht die Verelendung großer Teile der städtischen Bevölkerung. Laut Daten der
Volkszählung von 2001 lebten in Mumbai 6,5 Millionen Menschen (54,1 Prozent) in Slums. Viele
Arbeitsuchende können sich das tägliche Pendeln mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht leisten, das
heißt, der Wohnort muss sich in Gehdistanz zum Arbeitsplatz befinden. Die gewinnbringende Vorhal-
tung von Brachflächen durch einflussreiche Gruppen verhindert oft sozialen Wohnungsbau selbst
dann, wenn finanzielle Mittel dafür zur Verfügung stehen. Die Probleme der Metropole Mumbai treten
in den Slums besonders deutlich zutage: Unterernährung, Hunger, mangelnde Entsorgung und unzu-
reichende Wasserversorgung führen zu erhöhter Säuglingssterblichkeit und zum Ausbruch von Tuber-
kulose, Lepra und Malaria, soziale Auswirkungen – Kriminalität, Prostitution, Alkoholismus – wach-
sen ebenfalls unter solchen Rahmenbedingungen.
Viele Slumbewohner leben unter der ständigen Drohung verjagt zu werden. Ein Beispiel dafür ist das
2,23 Quadratkilometer große Dharavi, einer der größten Slums Asiens. Angaben zur Bevölkerungszahl
des Gebietes variieren stark. Laut einer Studie des Kamla Raheja Vidyanidhi Institute of Architecture
(KRVIA) lag die Bevölkerungsdichte im zentralen Bereich von Dharavi, Chambda Baazar, 2006 bei
336.643 Einwohnern pro Quadratkilometer.
Das ursprünglich am Rand von Mumbai gelegene Viertel wurde von der Stadt umwachsen, sodass es
heute – unüblich für einen Slum – mitten in der Stadt liegt. Es bestehen Pläne der Stadtverwaltung, die
Slumhütten von Dharavi abzureißen und teilweise durch soziale Wohnungsbauten, aber auch kommer-
zielle Bauprojekte, zu ersetzen. Kritiker befürchten, dass die Pläne zur Vertreibung der Bewohner in
erster Linie dazu dienen, die attraktiv in der Innenstadt gelegene Bodenfläche des Slums für wirt-
schaftliche Zwecke nutzbar zu machen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mumbai
Der Dharavi Slum in Mumbai Mülldeponie, Yamuna River Slum, Delhi (Bild: Manuel Rivera-Ortiz)
Religionen
Wie bei den Sprachen findet man auch bei der religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung in
Mumbai ein ähnlich komplexes Muster. Nach der Volkszählung 2011 sind 66,0 Prozent der Ein-
wohner Mumbais Hindus, 20,6 Prozent Muslime, 4,9 Prozent Buddhisten, 4,1 Prozent Jainas, 3,3 Pro-
zent Christen und 0,5 Prozent Sikhs. 0,4 Prozent entfallen auf übrige Religionen (darunter Parsen und
Juden). 0,3 Prozent gaben keine Religion an.
Der überproportionale Anteil religiöser Minderheiten im Vergleich zu anderen Metropolen in Indien
ist das auffälligste Merkmal. Die zahlenmäßige Stärke der religiösen Minderheiten geht zu Lasten des
Hinduismus. Die Hindus sind aber die mit Abstand dominierende Religionsgemeinschaft. In Mumbai
spielen die Jainas und die Parsen eine wichtige ökonomische Rolle, obwohl es sich um kleine Religi-
onsgemeinschaften handelt. Die Muslime sind zahlenmäßig stark vertreten. Sie fallen durch ihre Do-
minanz in einzelnen Branchen und ihr teilweise geschlossenes Auftreten in einzelnen Stadtvierteln von
Mumbai wie zum Beispiel in Mahim und Dongri stärker ins Gewicht.
Die römisch-katholische Kirche der Region ist im Erzbistum Bombay organisiert. Das Apostolische
Vikariat Bombay wurde 1820 errichtet und am 1. September 1886 von Papst Leo XIII. zum Erzbistum
erhoben. Es ist einer der typischen Kardinalssitze der Katholischen Kirche, dessen Erzbischof zur Er-
ledigung seiner Hirtenpflichten vier Weihbischöfe zur Verfügung stehen. Die Kirchenprovinz um-fasst
die Suffraganbistümer Kalyan, Nashik, Poona und Vasai. Seit 2006 ist Oswald Gracias Erzbischof von
Bombay.
https://de.wikipedia.org/wiki/Mumbai
Jama Masjid (Freitagsmoschee)
Die Identitätsfalle
Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt
Von Amartya Sen. Aus dem Englischen von Friedrich Griese
3. KAPITEL
Gefangen in der Kultur
Der «Kampf der Kulturen» war längst ein populäres Thema, als die entsetzlichen Ereignisse vom
11. September die Konflikte und das Misstrauen in der Welt drastisch anheizten. Aber durch diese
schrecklichen Vorkommnisse wurde das Interesse am sogenannten Kampf der Kulturen enorm ver-
stärkt. …
Mit der Theorie vom Kampf der Kulturen gibt es zwei Schwierigkeiten. Die erste und vermutlich
grundlegendere hat damit zu tun, ob es praktisch überhaupt möglich und signifikant ist, Menschen
nach den Kulturen zu klassifizieren, denen sie angeblich »angehören«. Diese Frage ergibt sich lange
vor den Problemen, die wir mit der Ansicht haben, die solchermaßen in Schubladen diverser Kulturen
sortierten Menschen müssten sich irgendwie in einem Gegensatz zueinander befinden, die Kulturen,
denen sie angehören, seien einander feind. Der These von einem Kampf der Kulturen liegt die sehr
viel allgemeinere Vorstellung zugrunde, dass es möglich sei, Menschen vorrangig als Angehörige der
einen oder anderen Kultur zu betrachten. …
Wenn man einen Menschen, wie im ersten Kapitel erwähnt, vorrangig als Angehörigen einer Kultur
sieht (Huntington folgend als Angehörigen »der westlichen Welt«, »der islamischen Welt«, »der hin-
duistischen Welt« oder »der buddhistischen Welt«), dann reduziert man die Menschen bereits auf die-
se eine Dimension. Die Schwäche der These vom Zusammenprall liegt längst zutage, bevor wir zu der
Frage kommen, ob verschiedene Kulturen (auf welche die Weltbevölkerung säuberlich verteilt ist)
zwangsläufig zusammenprallen müssen oder auch nur üblicherweise zusammenprallen. Unabhängig
davon, wie wir diese Frage beantworten, verleihen wir schon dadurch, dass wir der Frage in dieser
eingeschränkten Form nachgehen, der angeblich herausragenden Bedeutung dieser einen Kategorisie-
rung gegenüber allen anderen Möglichkeiten, die Menschen der Welt einzuteilen, implizit Glaubwür-
digkeit.
Um der groben und gehässigen Verallgemeinerung entgegenzutreten, die Kultur der islamischen Welt
sei kriegerisch, pflegt man darauf hinzuweisen, in Wirklichkeit sei sie eine Kultur des Friedens und
der Freundlichkeit. Aber damit ersetzt man ein Stereotyp nur durch ein anderes, und obendrein akzep-
tiert man die stillschweigende Annahme, dass Menschen, die per Religion zufällig Muslime sind, ei-
nander im Grunde auch in anderer Hinsicht ähnlich sind. Abgesehen von all den Schwierigkeiten,
Kulturen als disparate und disjunktive Einheiten zu definieren (dazu in Kürze mehr), leiden die Argu-
mente beider Seiten in diesem Fall unter dem gemeinsamen Glauben an die Annahme, es sei ein ge-
eigneter Weg zum Verständnis der Menschen, wenn man sie ausschließlich oder vorrangig unter dem
Aspekt der religiös begründeten Kulturen betrachtet, für deren Mitglieder man sie hält. Die Aufteilung
in Kulturen drängt sich überall in die Gesellschaftsanalyse ein und unterdrückt andere, ergiebigere
Betrachtungsweisen. Sie schafft die Grundlagen dafür, fast alle in der Welt misszuverstehen, noch ehe
man beginnt, die Trommel für den Krieg der Kulturen zu schlagen.
Singulare Visionen und das Phänomen der Tiefe
… Moderne Konflikte, die ohne Berücksichtigung aktueller Ereignisse und Machenschaften nicht
angemessen zu verstehen sind, werden auf diese Weise zu uralten Fehden aufgeblasen, in denen die
heutigen Akteure in angeblich altüberkommenen Dramen in vorherbestimmten Rollen auftreten. Die
»kulturelle« Betrachtung aktueller Konflikte (in ihren größeren oder bescheideneren Versionen) stellt
daher eine hohe geistige Barriere dar, die verhindert, dass man sich eingehender über die allgemeinen
politischen Bedingungen informiert und die aktuellen Vorgänge der Aufwiegelung zur Gewalt in ihrer
Dynamik untersucht.
Dass der imposante Kultur-Ansatz solchen Anklang findet, ist leicht zu verstehen. Er beschwört die
Fülle der Geschichte und die scheinbare Tiefgründigkeit und den Ernst der Kulturanalyse, und er be-
müht sich um Tiefe in einer Weise, die der aktuellen politischen Analyse des »Hier und Jetzt«, das als
alltäglich und profan empfunden wird, offenbar abgeht. Wenn ich den Kultur-Ansatz in Zweifel ziehe,
dann nicht, weil ich seine intellektuellen Versuchungen nicht sähe.
… Die Tiefe, um die sich die Kultur-Theoretiker bemühen, ist jedoch nicht der gehobenen intellek-
tuellen Welt vorbehalten. In mancher Hinsicht spiegelt und verstärkt die Kultur-Theorie verbreitete
Ansichten, die in nicht gerade intellektuellen Kreisen im Schwange sind. Die Beschwörung »westli-
cher« Werte gegen das, was »die anderen« glauben, ist in öffentlichen Diskussionen gang und gäbe,
sie macht regelmäßig Schlagzeilen in der Massenpresse, und sie taucht in der politischen Rhetorik
ebenso auf wie in einwandererfeindlichen Reden. Nach dem 11. September kamen stereotype Äuße-
rungen über Muslime oft genug von Leuten, die sich, soweit ich das beurteilen kann, auf dem Gebiet
nicht sonderlich auskennen. Aber häufig haben Theorien über den Kampf der Kulturen vermeintlich
anspruchsvolle Grundlagen für anspruchslose und grobe landläufige Meinungen geliefert. Die kulti-
vierte Theorie kann schlichte Intoleranz fördern.
Zwei Schwierigkeiten kulturbezogener Erklärungen
Woran hapert es nun bei der Erklärung des aktuellen Weltgeschehens durch die Berufung auf unter-
schiedliche Kulturen? Ihre größte Schwäche besteht wohl darin, dass sie von der Illusion der Singula-
rität in einer besonders ambitionierten Version Gebrauch macht. Hinzu kommt ein weiteres Problem:
die Schlichtheit, mit der die Weltkulturen beschrieben werden; sie erscheinen weit homogener und
geschlossener, als sich aus empirischen Untersuchungen der Vergangenheit und der Gegenwart ergibt.
Die Illusion der Singularität stützt sich auf die Annahme, ein Mensch sei nicht als Individuum mit
vielen Zugehörigkeiten oder als Mitglied vieler verschiedener Gruppen zu betrachten, sondern aus-
schließlich als Mitglied eines einzigen Kollektivs, das ihm eine Identität von überragender Bedeutung
verleiht. Der unausgesprochene Glaube an die umfassende Erklärungskraft einer einzigen Klassifi-
kation ist nicht nur schlicht, wenn man glaubt, dadurch zu einer Beschreibung und Voraussage zu
kommen, er ist auch noch, wenn man seine Form und seine Implikationen berücksichtigt, gröblich auf
Konfrontation ausgerichtet. Wenn man die Weltbevölkerung nach einem einzigen Kriterium aufteilt,
so läuft das nicht nur der altmodischen Ansicht zuwider, dass »die Leute auf der ganzen Welt ziemlich
ähnlich sind«, es widerspricht auch der wichtigen und wohlbegründeten Einsicht, dass wir auf mannig-
faltige Weise verschieden sind. Unsere Unterschiede liegen nicht nur in einer Dimension.
Die Erkenntnis, dass wir alle viele verschiedene Identitäten haben können und tatsächlich haben, die
an verschiedene wichtige Gruppen geknüpft sind, denen wir gleichzeitig angehören, erscheint man-
chen kompliziert. Dabei handelt es sich, wie im vorigen Kapitel erwähnt, um eine ganz gewöhnliche
und elementare Erkenntnis. Im normalen Leben sehen wir uns als Mitglieder einer Vielzahl von Grup-
pen, denen allen wir angehören. Dass eine Person eine Frau ist, steht nicht im Widerspruch dazu, dass
sie Vegetarierin ist, was wiederum nicht dagegen spricht, dass sie Anwältin ist, was sie nicht daran
hindert, eine Jazzliebhaberin zu sein oder eine Heterosexuelle oder eine Verfechterin der Rechte von
Schwulen und Lesben. Jeder Mensch gehört zu vielen verschiedenen Gruppen (ohne dass dies irgend-
wie ein Widerspruch wäre), und jedes dieser Kollektive, denen allen der Betreffende angehört, verleiht
ihm eine potentielle Identität, die je nach Kontext sehr wichtig sein kann.
Die brandstifterischen Weiterungen grober und singulärer Klassifikationen wurden schon erwähnt und
werden uns weiter beschäftigen. Die konzeptionelle Schwäche des Versuchs, durch Aufteilung in Kul-
turen zu einem singulären Verständnis der Weltbevölkerung zu gelangen, stellt nicht nur unser ge-
meinsames Menschsein in Frage, sondern untergräbt auch unser aller mannigfaltige Identitäten, die
uns nicht entlang einer einzigen starren Trennungslinie gegeneinander postieren. Falsche Beschrei-
bungen und falsche Vorstellungen können die Welt zerbrechlicher machen, als sie sein müsste.
Nicht nur, dass die Annahme einer singulären Klassifikation unhaltbar ist – eine weitere Schwäche der
Kultur-Theorie besteht darin, dass sie die Verschiedenheiten innerhalb der benannten Kulturen igno-
riert und über die ausgedehnten Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Kulturen hinwegsieht.
Die deskriptive Armseligkeit der Theorie übertrifft noch ihren Makel, an die Singularität zu glauben.
Indien als hinduistische Kultur?
Lassen Sie mich das Problem anhand dessen veranschaulichen, wie Indien, mein Land, in diesem
Klassifikationsschema behandelt wird. Huntingtons Darstellung des angeblichen »Kampfes der Kultu-
ren« muss, wenn sie Indien als eine »hinduistische Kultur« bezeichnet, die Tatsache bagatellisieren,
dass in Indien sehr viel mehr Muslime leben als in jedem anderen Land der Welt, ausgenommen Indo-
nesien und ganz knapp Pakistan. Indien mag in der willkürlichen Definition »der muslimischen Welt«
keinen Platz haben, aber Tatsache ist, dass Indien mit seinen 145 Millionen Muslimen – mehr als alle
Briten und Franzosen zusammen – sehr viel mehr Muslime hat als fast jedes Land in Huntingtons De-
finition »der muslimischen Welt«. Überdies ist die heutige Kultur Indiens undenkbar ohne die große
Rolle, die Muslime in der Geschichte des Landes gespielt haben.
Es wäre in der Tat völlig vergeblich, wollte man Wesen und Vielfalt der Kunst, der Literatur, der
Musik, der Filme und der Küche Indiens zu verstehen versuchen, ohne die vielfältigen Beiträge zu
berücksichtigen, die von Hindus und Muslimen beigesteuert wurden und sich gründlich miteinander
vermischt haben. Auch der Austausch im Alltagsleben und im kulturellen Geschehen kennt keine
Trennung nach Religionsgemeinschaften. Um ein Beispiel zu nennen: Der Stil des wundervollen
Sitarspielers Ravi Shankar lässt sich zwar von dem des großartigen Sarodspielers Ali Akbar Khan
unterscheiden, wenn man ihre spezielle Beherrschung verschiedener Formen der klassischen indischen
Musik zugrunde legt, aber nie würde man die beiden als »Hindu-Musiker« beziehungsweise »Muslim-
Musiker« bezeichnen (auch wenn Shankar zufällig Hindu und Khan Muslim ist). Dasselbe gilt für
andere Bereiche kultureller Kreativität, einschließlich Bollywoods, dieses bedeutenden Bereichs der
indischen Massenkultur, in dem viele Schauspieler und Schauspielerinnen sowie Regisseure musli-
mischer Herkunft sind (neben vielen, die nicht-muslimischer Abstammung sind), und sie werden tief
bewundert von einer Bevölkerung, die zu über 80 Prozent aus Hindus besteht.
Muslime sind im Übrigen nicht die einzige nicht-hinduistische Gruppe der indischen Bevölkerung.
Die Sikhs stellen ebenso wie die Dschainas eine ansehnliche Minderheit dar. Indien ist nicht nur das
Land, in dem der Buddhismus entstand; der Buddhismus war über tausend Jahre lang die dominieren-
de Religion Indiens, und die Chinesen sprachen von Indien oft als dem »buddhistischen Reich«.
Agnostische und atheistische Schulrichtungen – die Carvaka und die Lokayata – blühten in Indien
mindestens vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum heutigen Tage. Vom 4. Jahrhundert an gab es große
christliche Gemeinden in Indien – zwei Jahrhunderte bevor es nennenswerte christliche Gemeinden in
Britannien gab. Juden kamen kurz nach dem Fall Jerusalems nach Indien, Parsen vom 8. Jahrhundert
an.
Es liegt auf der Hand, dass Huntingtons Bezeichnung Indiens als einer »hinduistischen Kultur« große
deskriptive Mängel aufweist. Dennoch vermag sie der unerhörten Geschichtsklitterung und der Mani-
pulation der gegenwärtigen Realitäten, die von sektiererischen Hindu-Politikern ins Werk gesetzt wur-
de, um Indien als eine »hinduistische Kultur« darzustellen, eine gewisse, sehr trügerische Glaub-
würdigkeit zu verleihen. Von etlichen Führern der politisch sehr regen »Hindutva«-Bewegung wird
Huntington denn auch häufig zitiert, was kaum verwundert angesichts der Übereinstimmung zwischen
seiner Sicht Indiens als einer »hinduistischen Kultur« und der Förderung eines »hinduistischen Bildes«
Indiens, das den politischen Gurus von Hindutva so teuer ist.
Wie es sich trifft, erlitt die von der Partei der Hindu-Aktivisten geführte Koalition bei den allgemeinen
Wahlen im Frühjahr 2004 eine schwere Niederlage, die einen allgemeinen Umschwung einleitete. Die
säkulare Republik Indien hat jetzt nicht nur einen muslimischen Präsidenten, sondern auch einen Sikh
als Premierminister, und der Vorsitzende der regierenden Partei ist Christ (nicht schlecht für die größte
demokratische Wählerschaft der Welt, die zu über 80 Prozent aus Hindus besteht). Doch die Gefahr,
dass die sektiererisch-hinduistische Konzeption Indiens aufs Neue hochgespielt wird, ist nicht aus der
Welt. Die einem hinduistischen Bild Indiens verpflichteten Parteien haben zwar erheblich weniger als
ein Viertel der Stimmen erhalten (was einem ziemlich kleinen Anteil der Hindu-Bevölkerung ent-
spricht), doch die politischen Bemühungen, Indien als eine »hinduistische Kultur« darzustellen, wer-
den deshalb nicht ohne weiteres aufhören. Ein simplifizierendes Bild Indiens und eine künstlich ge-
schaffene singulare Aufspaltung nach Religionen bilden, abgesehen davon, dass sie das Land falsch
beschreiben, weiterhin politischen Sprengstoff.
Globale Wurzeln der Demokratie
Die Demokratie wird oft als eine typisch westliche Idee hingestellt, die der nicht-westlichen Welt
fremd ist. Diese zivilisatorische Simplifizierung wurde in jüngster Zeit bestärkt durch die Schwierig-
keiten, auf welche die von Amerika geführte Koalition bei der Schaffung eines demokratischen Regie-
rungssystems im Irak stößt. Es trägt allerdings erheblich zur Unklarheit bei, wenn die Schwierigkeiten
im Irak nach dem Einmarsch nicht darauf zurückgeführt werden, dass die militärische Intervention, zu
der man sich voreilig entschlossen hatte, auf nicht hinreichenden Informationen und unzureichender
Überlegung beruhte, sondern auf eine angeblich mangelnde Eignung der irakischen, der nahöstlichen
oder überhaupt aller nicht-westlichen Kulturen für die Demokratie. Damit werden die Probleme, vor
denen wir heute im Nahen Osten und überall sonst stehen, meines Erachtens vollkommen falsch ein-
geschätzt.
Oft wird bezweifelt, dass es den westlichen Ländern gelingen wird, dem Irak oder einem sonstigen
Land die Demokratie »aufzuzwingen«. Hinter der so formulierten Frage steckt jedoch die Ansicht, die
Demokratie sei Eigentum des Westens, sei eine typisch »westliche« Idee, die ihren Ursprung allein im
Westen hat und sich nur dort entfalten konnte. Das ist eine ganz und gar irreführende Ansicht über die
Geschichte und die heutigen Aussichten der Demokratie.
Auf die Tradition der öffentlichen Diskussion stößt man in aller Welt. Dafür ein anderes historisches
Beispiel: Der buddhistische japanische Kronprinz Shotoku, Regent für seine Mutter, die Kaiserin
Suiko, forderte im frühen 7. Jahrhundert in der »17-Artikel-Verfassung«: »Wichtige Entscheidungen
sollte nicht eine Person allein treffen. Sie sollten mit vielen diskutiert werden.« Das ist zufällig sechs-
hundert Jahre vor der Unterzeichnung der Magna Charta im 13. Jahrhundert. Die japanische
17-Artikel-Verfassung erläuterte auch, warum es so wichtig ist, gemeinsam zu beraten: »Lass uns
nicht empfindlich sein, wenn andere anderer Meinung sind. Denn alle Menschen haben ein Herz, und
jedes Herz ist anders. Ihr Gut ist unser Schlecht und andersherum.« Es ist keine Überraschung, dass
einige Kommentatoren in dieser Verfassung aus dem 7. Jahrhundert Japans »ersten Schritt einer all-
mählichen Entwicklung zur Demokratie« gesehen haben?
Die öffentliche Diskussion hat in der ganzen Welt eine lange Geschichte. Sogar der unbesiegbare
Alexander kam in den Genuss eines guten Beispiels öffentlicher Kritik, als er um 325 v. Chr. im
Nordwesten Indiens umherzog. Als er eine Gruppe dschainistischer Weiser fragte, warum sie dem
großen Eroberer keine Beachtung schenkten (Alexander war über das mangelnde Interesse dieser indi-
schen Weisen an seiner Person offenbar enttäuscht), erhielt er die folgende energische Antwort:
König Alexander, jeder Mensch kann von der Oberfläche der Erde nur soviel besitzen wie das, worauf
er steht. Du bist nur ein Mensch wie alle anderen, außer dass du dauernd unterwegs bist und nichts
Gutes im Schilde führst, so viele Meilen von deiner Heimat entfernt, eine Plage für dich selbst und für
andere!... Bald wirst du tot sein, und dann wird dir gerade soviel von der Erde gehören, wie nötig ist,
um dich zu begraben.
Die westliche Welt hat kein Eigentumsrecht an demokratischen Ideen. Die modernen institutionellen
Formen der Demokratie sind allenthalben etwas relativ Neues, aber die Demokratie in Gestalt öffentli-
cher Partizipation und Beratung hat in der ganzen Welt eine Vorgeschichte. 1835 notierte Alexis de
Tocqueville in seinem Klassiker über die Demokratie, dass die »große demokratische Revolution«, die
sich in Amerika vollzog, von den einen als »etwas Neues« betrachtet werde, dass sie aber aus einer
weiteren Perspektive »als die stetigste, die älteste und die anhaltendste Entwicklung erscheint, die in
der Geschichte bekannt ist«. Zwar beschränkte Tocqueville seine historischen Beispiele auf die Ver-
gangenheit Europas (er wies etwa daraufhin, dass die Aufnahme von Gemeinen in den Klerus »im
Staate Frankreich vor siebenhundert Jahren« sehr zur Demokratisierung beigetragen habe), aber sein
allgemeiner Gedankengang ist weit darüber hinaus von Bedeutung.
In seiner Autobiographie »Der lange Weg zur Freiheit« schildert Nelson Mandela, welchen Eindruck
es auf ihn als Knaben machte, dass die Versammlungen in seiner Heimatstadt so demokratisch ablie-
fen:
Es sprach jeder, der sprechen wollte. Es war Demokratie in ihrer reinsten Form. Unter den Rednern
mag es zwar eine Hierarchie geben, was die Bedeutung der einzelnen betrifft, doch wurde jeder ange-
hört, ob Häuptling oder einfacher Mann, Krieger oder Medizinmann, Ladenbesitzer oder Farmer,
Landbesitzer oder Arbeiter.
Das Verlangen nach Demokratie wurde Mandela nicht vom Westen »aufgezwungen«. Es ging eindeu-
tig von seinem afrikanischen Zuhause aus, aber er hat dafür gekämpft, es »den Europäern« (man wird
sich vielleicht erinnern, dass die weißen Herrscher Südafrikas sich während des Apartheid-Regimes
selber so nannten) »aufzuzwingen«. Dass Mandela sich am Ende durchsetzte, war ein Sieg der
Menschlichkeit – und nicht einer spezifisch europäischen Idee.
Und nun hinein ins Vergnügen! ... damit es für alle eines wird, gibt es hier ein paar Regeln:
Was man während der Vorstellung im Theater DARF:
en, nachdem man’s gesehen hat
Was man NICHT DARF:
Nach dem Theaterbesuch
Genauso wichtig wie eine gute Vorbereitung ist auch eine gute Nachbereitung.
Nach einem solchen Erlebnis wie dem Besuch einer Theateraufführung möchte man natürlich über das
Gesehene sprechen, sich austauschen. Jeder Mensch nimmt kreative Prozesse unterschiedlich wahr.
Daher gibt es kein »richtig« oder »falsch«.
Um die eigenen Gedanken zu ordnen, zu verarbeiten und zu verstehen, sollten alle Schülerinnen und
Schüler die Möglichkeit bekommen, über ihre Eindrücke zu sprechen. Geben Sie sich und der Gruppe
daher genug Zeit für ein Nachgespräch.
Wir würden uns freuen, wenn Sie uns Ihre Eindrücke auch schriftlich kurz schildern, gern per Email
an: