1 09.07.2012 edition oberkassel Verlag Detlef Knut, Lütticher Str. 15, 40547 Düsseldorf; Tel.: 0211/5595090 ; www.edition-oberkassel.de
1 Klaus Brabänder: Haarspitzen
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2 Klaus Brabänder: Haarspitzen
Kapitel 1
In der Höhle von Avanos
Ich erschrecke, als ich von hinten angesprochen werde.
„Ist Ihnen nicht gut, Miss?“, fragt der Reiseführer. Sein mitleidsvoller
Blick sagt mir, dass ich ein fürchterliches Bild abgeben muss. Er beugt
sich zu mir, berührt sanft meinen Arm und scheint sich tatsächlich
Sorgen um mich zu machen. Mit seiner Einschätzung liegt er völlig
richtig.
„Wenn Sie mir vielleicht ein Wasser besorgen wollen. Das wäre nett.“
„Selbstverständlich“, entgegnet er mit freundlichem Ton. „Sofort,
Miss.“
Mit sicherem Schritt geht Yakim durch den Gang nach vorne, und ich
frage mich, wie er das bei dieser Rumpelei bewerkstelligt, ohne der
Länge nach hinzuschlagen.
Der Reiseveranstalter hat in den Unterlagen einen klimatisierten Bus
zugesichert, und was das betrifft, hat er sogar Wort gehalten. Das war
allerdings das einzige, was an dem Gefährt funktionierte.
Stoßdämpfer scheint das Vehikel keine zu haben, eventuell
vorhandene Blattfedern sind wahrscheinlich gebrochen. Hinter
zerkratzten Fensterscheiben hüpft die Landschaft Kappadokiens
vorbei, als werde sie von einem gigantischen Erdbeben erschüttert.
Nur wenn der Bus anhält, werden die Insassen gewahr, dass dieses
Auf und Ab nicht der Gegend zuzuschreiben ist.
Yakim kommt mit einer Flasche Wasser in der Hand, entschuldigt sich
und bittet um Verständnis, dass er keinen Becher auftreiben konnte.
Der junge Türke ist in Deutschland aufgewachsen und spricht meine
Muttersprache ohne Akzent.
„Übermorgen in Ankara kommt ein anderer Bus“, verspricht er. „Dann
ist alles in Ordnung.“
Seit Antalya sind wir mehr als 500 Kilometer wie auf hoher See durch
die Landschaft gepflügt. Übermorgen! Drei Tage! Dazwischen liegen
mindestens weitere 800 Kilometer. Yakim gibt sich alle Mühe, die
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3 Klaus Brabänder: Haarspitzen
vierundzwanzig Teilnehmer bei Laune zu halten. Dennoch haben die
meisten bereits jetzt von der Tour die Nase voll.
Als ich mich für die vierzehntägige Rundreise entschieden hatte, war
ich den Ratschlägen der Ärzte gefolgt.
„Entspannen Sie sich. Gewinnen Sie Abstand. Schließen Sie sich einer
Gruppe an, fahren Sie irgendwohin, wo es etwas zu sehen gibt. Etwas,
was Sie interessiert und ablenkt. Meiden Sie jedoch ein Übermaß an
Sonneneinstrahlung. Seien Sie aktiv, meiden Sie allerdings körperliche
Überbelastung. Ein Klimawechsel schadet nicht. Fahren Sie bitte nicht
in die Tropen. Die Medikamente geben wir Ihnen mit. Planen Sie einen
Urlaub, höchstens zwei Wochen …“
Tausend nichtssagende Ratschläge. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Nicht
zu heiß, nicht zu kalt. Bla, bla, bla …
Die Türkei schien ein gutes Ziel zu sein. Als Architektin interessiere ich
mich für die Gebäude in den großen Städten, ebenso für die
Architektur von Milet, Troja und Ephesos, sofern etwas davon übrig
geblieben war. Von den Sinterterrassen in Pamukkale und der
Landschaft Kappadokiens habe ich in den Reiseberichten gelesen,
darauf freue ich mich. Wäre nur dieses ewige Gehopse endlich zu
Ende.
Die meisten Passagiere dösen vor sich hin. Daran können auch Yakims
redliche Bemühungen, die vorbeiholpernde Landschaft zu erklären,
nichts ändern. Yakim muss gegen den Fahrtlärm anschreien, weil auch
die Lautsprecheranlage ihren Geist aufgegeben hat. Zu dem Getöse des
quietschenden und knarrenden Busses, dessen Getriebe sich lautstark
zu Wort meldet, kommt das Stakkato des Reiseführers, der die Sätze
schneller herausschleudert, als das menschliche Ohr deren Sinn
verarbeiten kann. Diese Reise habe ich mir völlig anders vorgestellt,
von Entspannung kann keine Rede sein.
Als Yakim mitteilt, man werde in zehn Minuten Avanos erreichen, um
dort eine Töpferei zu besichtigen, sind die Touristen froh, dass die
Schaukelei endlich ein Ende haben wird, wenn auch nur
vorrübergehend.
Das Wetter in Kappadokien ist Ende September angenehm warm und
sonnig. In fast eintausend Meter Höhe über dem Meeresspiegel liegt
Avanos unter einem strahlend blauen, fast wolkenlosen Himmel. Ich
vertrage dieses Klima besser als die drückende Hitze von Antalya.
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4 Klaus Brabänder: Haarspitzen
Durch den Kopfschleier dringt ein kühlender Windhauch, der
erträglicher ist als die aufgestaute Hitze unter der Perücke, die ich
sonst zu tragen pflege.
Es hatte lange Wochen gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte,
eine Perücke tragen zu müssen. Schließlich hatte ich einsehen müssen,
dass es keine andere Möglichkeit gibt, den kahlen Kopf zu verbergen.
Das sei nur vorübergehend, hatten die Ärzte versichert. In ein paar
Wochen würden die Nachwirkungen der Chemotherapie abklingen.
Nach vier Monaten hatte sich kein neuer Haarwuchs eingestellt. Die
Ärzte konnten nicht erklären, wieso das Nachwachsen ausblieb, sie
kümmerten sich auch nicht weiter darum. Für sie war das ein
Kollateralschaden, der angesichts der Schwere der Krankheit
akzeptiert werden musste. Nach einigem Zureden hatte ich mich damit
abgefunden, dass es schlimmer hätte kommen können. Akzeptiert
habe ich den Verlust meiner wundervollen Haarpracht bis heute nicht.
Vielleicht wird es noch schlimmer kommen. Der Krebs ist nicht besiegt
und kann jederzeit wieder ausbrechen. Gewissheit werde ich nie
bekommen. Die Angst bleibt.
Doch bevor ich länger darüber nachdenken kann, treibt Yakim die
Touristen zusammen, als wären sie eine Herde von Schafen. Er
dirigiert uns zu einer Höhle, an deren Eingang ein Verkaufsstand
aufgebaut ist, hinter dem einheimische Frauen Tee, Wasser und
Obstsäfte gegen ein geringes Entgelt anpreisen. Ältere Männer bieten
flaschenweise Wein aus dem Anbau der Umgebung an. Die Touristen
versorgen sich mit Getränken und stehen in kleinen Gruppen
zusammen.
Die Reisegruppe besteht ausschließlich aus deutschsprachigen
Teilnehmern, das erleichtert die Kommunikation untereinander. Mir
ist das egal. Ich suche weder Anschluss, noch habe ich Lust auf triviale
Gespräche. Wenn immer es möglich ist, sondere ich mich von der
Gruppe ab und versuche, das Land auf eigenen Wegen zu entdecken.
Nur mit Yakim wechsele ich manchmal ein paar Worte, wobei ich
hoffe, dass der das auf Dauer nicht falsch versteht. Falls nicht, muss ich
ihm zu passender Gelegenheit klarmachen, dass ich keine näheren
Kontakte wünsche.
Um die Erfrischungen zu sich zu nehmen, bleiben den Urlaubern nur
wenige Minuten. Yakim treibt die Gruppe weiter, hinein in die Höhle,
in der sich eine Töpferei befindet. So jedenfalls erklärt es Yakim. In der
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5 Klaus Brabänder: Haarspitzen
Höhle sind jedoch nicht nur Tonwaren ausgestellt. Die Wände sind
vollgehängt mit Teppichen unterschiedlichster Farben, Muster und
Größen. Der Boden ist zugestellt mit Schüsseln, Vasen, Skulpturen und
fast allem, was aus Ton herzustellen ist. In der Mitte bleiben nur
schmale Gänge, durch die alle Touristen an den Ausstellungswaren
entlang laufen müssen. Yakim geht voran.
Ich will nichts kaufen. Teppiche interessieren mich nicht. In meiner
Wohnung ist dafür kein Bedarf. Vasen und Geschirr besitze ich zur
Genüge. Es sind Hinterlassenschaften meiner Mutter,
Verzweiflungsgeschenke ehemaliger Kunden und Aufmerksamkeiten
von Bekannten, die mich vor meiner Krankheit regelmäßig besucht
hatten.
Als bekannt wurde, dass ich schwer erkrankt war, hatten sich alle
zurückgezogen. Ich hatte schnell begriffen, dass es ihnen unangenehm
war, sich mit einer Totkranken zu unterhalten. Vielleicht hatten sie
einfach keine Kraft dazu, oder keine Zeit, oder…
Nach meiner Entlassung aus der Klinik hatten einige Wenige versucht,
wieder Kontakt zu mir aufzunehmen. Ich wollte das nicht, und ich will
es bis heute nicht. Es ist nicht mehr dasselbe, und das wird es auch nie
wieder sein.
Yakim hält auf einem freien Platz inmitten der Höhle und spricht zu
seinen Schäfchen.
„Meine Damen und Herren. Wir befinden uns hier in Avanos, in
Kappadokien, im Herzen der Türkei. Diese Leute…“, dabei zeigt er auf
die Frauen und Greise, die hinter ihren Tonwaren vor den Wänden mit
den Teppichen sitzen, „…diese braven Menschen bieten Ihnen die
Waren der Umgebung an. Gute Ware, garantiert handgefertigt!
Schauen Sie die Teppiche, sie sind wunderschön. Ich versichere
Ihnen…“
Weiter höre ich nicht mehr zu. Ich kenne die Leier von anderen
Verkaufsveranstaltungen, zu denen Yakim uns geschleppt hat.
Einmalig niedrige Preise, einmalige Qualität, einzigartig auf der Welt,
die ganze Reihe der Superlative wird Yakim jetzt auspacken.
Mit meinen Gedanken bin ich woanders. Ich gehe im Geiste die
Reiseroute durch und hoffe, dass ich die nächsten Tage einigermaßen
heil überstehen werde. Im Augenblick fühle ich mich wieder stark, das
Wasser hat mir geholfen. Trotzdem traue ich dem Frieden nicht.
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6 Klaus Brabänder: Haarspitzen
Die eigentliche Herausforderung wartet in der Heimat auf mich. Seit
zwei Jahren bin ich aus dem Geschäft, und ich habe Angst davor, in den
Alltag der Arbeitswelt zurückzukehren.
„Du musst es nicht tun“, sage ich mir immer wieder. „Kein Mensch
zwingt dich dazu.“
Nein, ich will es, weil ich gerne als freie Architektin arbeite, und weil
mir mein Beruf immer sehr viel Freude bereitet hat. Mitzuerleben, wie
aus einer Idee ein Werk aus Glas, Beton, Holz und Stein wird, wie ein
Gedanke Gestalt annimmt, in die das Leben einzieht, ist ein
faszinierendes Erlebnis.
Des Geldes wegen bräuchte ich mir das alles nicht anzutun. Die
Ersparnisse, die Erbschaft nach dem Tod meiner Eltern, die
Mieteinnahmen, die Wertpapiere, ich könnte auch ohne Arbeit gut
über die Runden kommen. Aber das ist nicht das, was ich will. Da sind
noch so viele Ideen und Aufgaben, die darauf warten, dass ich ihnen
eine Form gebe. Die danach rufe, umgesetzt zu werden.
Wäre da nicht der Schritt in die Öffentlichkeit, in den Focus der Blicke
all derer, die mich von früher kennen. Sie werden abschätzen und
austesten, wie ich mich verändert habe. Mit einer Mischung aus
Mitleid, Anteilnahme und Scheinheiligkeit werden sie mir
gegenübertreten und gleichzeitig hinter meinem Rücken tuscheln,
dass ich ein paar Kilo zugenommen habe, und das die Perücke mein
hüftlanges schwarzes Naturhaar nicht im Entferntesten ersetzen kann.
Ich frage mich, ob ich all dem gewachsen sein werde, ob es mir
gelingen wird, mit meiner früheren Nonchalance auch weiterhin die
schwierigsten Probleme anzugehen. Diese Zweifel hatte ich schon in
der Klinik meiner psychologischen Betreuung gegenüber geäußert.
„Muss ich mich damit abfinden, bereits im Alter von vierzig Jahren ein
Außenseiter zu sein?“, hatte ich gefragt.
„Zum Außenseiter werden Sie, wenn Sie sich selbst dazu machen“,
hatte die Psychologin geantwortet. Ich empfinde das im Nachhinein als
Standardantwort aus einem Lehrbuch.
„Hallo, Miss Claudia!“ Yakims Zuruf reißt mich aus meinen Gedanken.
„Es geht weiter. Bitte folgen Sie uns!“
Die Gruppe hat sich bereits in Bewegung gesetzt, ohne dass ich das
bemerkt habe. Durch ein Felsportal geht es in eine weitere Höhle, an
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7 Klaus Brabänder: Haarspitzen
deren Eingang Yakim seine Schützlinge um sich schart. Ich trete als
Letzte in die Runde und stoße mir gehörig den Kopf an der
Durchgangsöffnung, die nicht für eine hochgewachsene Person
ausgelegt ist. Beinahe wäre mir das Tuch vom Kopf gerutscht, und ich
muss mich beherrschen, um nicht aufzuschreien.
Der kleine Mann neben Yakim ist wenig mehr als fünfzig Jahre alt. Er
ist außerordentlich beleibt, hat eine Halbglatze und strahlt über das
ganze Gesicht. Yakim hält bedeutungsvoll einen Arm in die Höhe und
zeigt mit dem anderen auf seinen Begleiter.
„Meine Damen und Herren! Das ist mein Freund Jusuf. Herr Jusuf ist
ein bedeutender Mann. Was Sie gleich sehen werden, ist einzigartig
auf der ganzen weiten Welt. Glauben Sie mir!“
Ich wende mich ab. Wieder eine der langatmigen, Nerv tötenden
Verkaufspräsentationen. Doch Yakim erhebt seine Stimme und
erweckt meine Neugier.
„Was wir jetzt besichtigen, ist das einzige Museum für menschliche
Haare auf dem ganzen Erdball.“
Die Worte durchdringen meine Gehörgänge, treffen in meinem Gehirn
wie ein Schlagbolzen auf das Geschoss und lösen einen Blitz aus.
„Mein Freund Jusuf möchte Sie nicht nur einladen, seine
wunderschönen Kacheln oder Töpfereien zu kaufen. Besuchen Sie
auch das Haarmuseum! Jede der Damen ist aufgefordert, eine kleine
Strähne ihres Haares abzugeben. Jusuf wird Ihnen behilflich sein. Sie
dürfen Ihren Name und Ihre Adresse auf einen Zettel schreiben und
dazu fügen. So wird alles an die Wand geheftet, für ewige Zeiten. Ein
Stück von Ihnen wird in dieser Höhle bleiben. Ist das nicht eine
wunderbare Geschichte? Geben Sie Jusuf ein wenig Geld für das
Museum, …“
Ich höre Yakims Worte wie durch eine Wand aus Watte. Ich kann nicht
erklären, was in diesem Augenblick mit mir geschieht. In meinem Kopf
explodierte etwas! Schmerzlos. Lautlos. Ein geräuschloses Feuerwerk
ohne Farben. Nur Blitze. Hell. Dunkel.
Die Blitze fressen sich ein, nehmen Besitz von meinem Denken,
formen sich zu langen Fäden, Haaren aus Blitzen. Ich stehe mittendrin
in diesem Gewitter. Ohne Haare, der kahle Schädel von Blitzen
umwoben. Wie lange dieses tonlose Inferno in meinem Kopf wütet,
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8 Klaus Brabänder: Haarspitzen
kann ich nicht sagen. Als der Nebel sich lichtet, stehe ich alleine im
Raum und höre aus der Ferne Yakims Stimme. Die Gruppe ist in einen
tiefer gelegenen Bereich der Höhle weitergegangen. Langsam und
benommen gehe ich hinterher.
Unter einem Schild mit der Aufschrift „Museum“ in vielerlei Sprachen
sitzt eine Frau mittleren Alters, die dezent die Hand aufhält. Die Geste
ist unmissverständlich. Ich gebe ihr einen Fünf-Lira-schein. Ich
durchschreite den Eingangsbereich, bleibe völlig überwältigt stehen
und lasse den Blick schweifen.
Ringsum an Wänden und Decke hängen Haarsträhnen, es müssen
Tausende sein. Wild durcheinander, die Ausrichtung nur der
Schwerkraft gehorchend, anscheinend mit Nägeln angeheftet, jede
Einzelne mit einem Zettel versehen, auf dem der Name des ehemaligen
Besitzers geschrieben steht.
Ängstlich und fasziniert zugleich trete ich näher an eine Wand heran.
Da hängen blondes oder schwarzes Haar, brünette Strähnen neben
roten, gelockte Büschel und glatte Zöpfe, die gesamte Vielfalt, welche
die Natur erschaffen kann, keines ist dem anderen gleich, allenfalls
ähnlich. Jedes ein Unikat, wie sein Träger, der sich seiner Zier entledigt
hat. Geblieben ist ein Stück Papier, auf dem der einstige Träger seine
ehemalige Zugehörigkeit dokumentiert hat.
Ich spüre, wie eine unsägliche Wut in mir aufsteigt. Ein Hass auf alle,
die sich freiwillig getrennt haben, von dem, was Gott ihnen geschenkt
hat. Selbst wenn es nur Teile des Kopfschmucks sind, so etwas
herzugeben, ist schändlich, jedenfalls, wenn es ohne Not geschieht.
Wie gerne hätte ich etwas behalten von meiner Zierde, die einmal
mein ganzer Stolz war. Meine Haare hatten die bewundernden Blicke
meiner Kollegen und Kunden auf sich gezogen. Nichts davon ist mir
geblieben, nicht eine Strähne, kein einziges Haar. Die Idiotinnen, deren
Haare hier an den Wänden hängen, geben ihren Schmuck freiwillig ab.
Was für eine Schande! Wie einen Hund ins Tierheim, weil man seiner
überdrüssig ist! Ohne Reue, ohne Schamgefühl, verantwortungslos,
einfach so!
Mit zitternden Beinen tappe ich an der Wand entlang, mit jedem
Schritt wird es schlimmer. Bestürzung, Wut, Hass! Ich stelle mir vor,
wie die Personen ausgesehen haben mochten, als sie ihre Natur
geopfert haben. Wer sind diese schamlosen Verräterinnen? Neugierig
lese ich die Namen auf den Zetteln.
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9 Klaus Brabänder: Haarspitzen
Shelly from Great Britain…
Nancy from Southfolk
Nadine, France…
Anna, Sverige…
Kathy, Washington DC
Ich entdecke Namen von Städten, von denen ich nie etwas gehört
habe. Teils leserlich, teils in einer ihr unbekannten Schrift, einige in
Druckbuchstaben, wieder andere in einer undefinierbaren Klaue.
Ich stolpere weiter, nehme nur noch die Haare wahr, habe den
Anschluss zu Yakim und der Gruppe verloren, verschwinde in meiner
eigenen Welt, umgeben von Bildern, die eines gemeinsam haben: Sie
zeigen mich selbst wie in einem Spiegel, mit wechselnder Haarpracht.
Die Strähnen und Locken an der Höhlenwand springen auf mein
Haupt, bedecken es wechselweise, so als stritten sie darum, welches
Haarteil für immer dort Platz nehmen darf. Ich weiß nicht, wie lange
ich in dieser schrecklichen Faszination verharrt habe, als die Dame
von der Eingangspforte mich sachte an der Schulter berührt. Das jagt
mir trotz des behutsamen Kontakts einen fürchterlichen Schrecken
ein.
„Miss…“, sie hat gütige, verständnisvolle Augen, obwohl es unmöglich
ist, dass die türkische Frau meine absurden Träumereien erahnen
kann. „Bitte… Gruppe gehen…“ Sie zeigt in die Tiefe der Höhle und
nickt mir mit einem Lächeln zu.
„Ja, danke! Entschuldigung, ich… ich weiß… ich gehe schon.“
Ich gehe durch das Spalier der Trophäen, immer noch benommen,
fasziniert und abgestoßen zugleich. Die Wände scheinen
zusammenzurücken, drohen, mich zu erdrücken. Trotz der
künstlichen Beleuchtung wird es immer dunkler. Ich taste mich
vorwärts, kaum in die Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Eine
Ewigkeit scheint zu vergehen, ehe ich zu der Gruppe stoße, die in einer
Ausweitung der Höhle versammelt ist und Jusufs Worten lauscht, die
Yakim übersetzt.
Jusuf erzählt die Geschichte der Höhle und des Museum. Ich stehe so
weit hinten, dass ich kaum etwas verstehe. Als Jusuf geendet hat,
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10 Klaus Brabänder: Haarspitzen
applaudieren die Zuhörer. Einige Frauen scharen sich um die beiden
Sprecher, während der Rest der Gruppe dem Ausgang zustrebt.
Mit Entsetzen beobachte ich, dass Jusuf bei einer der Frauen Hand
anlegt, wobei er eine Locke ihres Haares um einen Finger dreht. In
seiner Faust blitzt eine Schere auf, und mit raschem Schnitt trennt er
eine Haarpartie aus dem Nackenbereich der jungen Frau. Unter dem
Applaus der umher Stehenden überreicht er ihr das Büschel und einen
Zettel, wobei er sie auffordert, Namen und Adresse zu notieren. Die
Prozedur wiederholt sich bei den anderen Frauen. Nach und nach
heftet Jusuf die Trophäen an die freien Stellen der Höhlenwand.
Ich erzitterte. Unüberwindbarer Ekel steigt mir die Kehle hinauf,
gegen diese Idiotinnen, die ihren Körper ohne Lohn verkaufen, nur um
der Hoffnung willen, dass ihr Haar irgendwo im entlegensten Winkel
der Welt, in der Abgeschiedenheit der kappadokischen Einöde an der
Wand einer bedeutungslosen Höhle hängt, um ab und an von anderen
unbenannten Menschen würdelos angegafft zu werden. Mir wird übel
und schwindlig, so dass ich mich an der Wand abstützen muss. Dabei
berühre ich ein Büschel, bei dessen Kontakt ich erstarre. Es ist eine
lange schwarze Haarsträhne, spiegelglatt, eine feine Eleganz
ausstrahlend mit einem seidig matten Glanz, so als lebe das Haar
immer noch, für sich alleine, ohne Wurzel und Kontakt zu seiner
ehemaligen Besitzerin. Edel und hochmütig hängt es da, als wollte es
sagen, schau her, bewundere meine Schönheit, labe dich an mir, sei
neiderfüllt, aber verachte die, die mich zurückgelassen hat in das
Schicksal der Einsamkeit.
Ich kann den Blick nicht abwenden. Einst hat solches Haar meinen
Kopf geschmückt, mit der gleichen geheimnisvollen Würde, mich
geadelt und gekrönt. Das hier war eine Schande, ein Skandal
ohnegleichen. Voller Wehmut und Trauer streiche ich über die Strähne
an der Wand.
„Miss Claudia, bitte nicht anfassen!“
Yakims Stimme lässt mich zusammenfahren. Als ich den Arm
zurückziehe, merke ich, dass der Zettel an meiner Hand hängenbleibt.
In einem Reflex schließe ich die Faust.
„Schon gut“, entgegne ich und gehe auf wackligen Beinen zum Ausgang
der Höhle.
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11 Klaus Brabänder: Haarspitzen
Draußen werden Erfrischungen gereicht, Postkarten und Souvenirs
angeboten. Ich trinke hastig einen Traubensaft. Kurz darauf wird die
Gruppe in den Bus getrieben, das nächste Etappenziel wartet. Als ich
wieder alleine in meiner Reihe am Fenster sitze und mich
unbeobachtet fühle, öffne ich die Faust und blicke auf den Zettel, der
eben noch in der Höhle an dem wundervollen Haar gehangen hat.
Anonym verbleibt es jetzt dort, kein Mensch wird je erfahren, wem es
dereinst gehört hat. Ich alleine halte diese Information in Händen.
Vorsichtig falte ich den Zettel auseinander und lese den Namen und
die Herkunft des Spenders.
Der Ort liegt keine 40 Kilometer von meinem Wohnort entfernt.
Tausende Kilometer von zuhause habe ich traumhaft schöne Haare
entdeckt, deren ehemalige Besitzerin in meiner unmittelbaren Nähe
lebt. Das kann kein Zufall sein! Das ist Fügung, davon bin ich
überzeugt. Wenn es ein Zeichen ist, was will es mir sagen? Ich sehe
nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Am nächsten Etappenziel
werde ich die Rundreise abbrechen!
Kapitel 2
An der Bettinger Mühle
Seit ein Uhr in der Nacht war Hannes in der stickigen Backstube der
alten Bettinger Mühle damit beschäftigt, den Teig zu kneten und zu
portionieren. Immer wieder wischte er sich mit dem rechten Oberarm
den Schweiß von der Stirn. Nach zwei Stunden hatte er die ersten
Laibe in den Ofen geschoben. Jetzt war es halb sieben in der Frühe,
und die ersten hundert Brote für die Gäste des Mühlenfestes waren
fertig.
Hannes gönnte sich eine Pause, goss Kaffee aus der Thermoskanne in
seinen Pott und ging nach draußen. An der frischen Luft konnte er für
einige Minuten der Hitze des Backofens entfliehen. Noch lag der
Mühlenhof friedlich und ruhig im milden Licht des beginnenden Tages.
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12 Klaus Brabänder: Haarspitzen
Nichts deutete darauf hin, dass hier in wenigen Stunden hunderte
Besucher beim Essen und Trinken zusammensitzen würden.
Seit fast zwanzig Jahren, kurz nachdem der historische Mühlenverein
im Jahre 1994 gegründet worden war, galt Hannes als treues Mitglied
der Mühlenfreunde. Nach jedem Sommerfest auf dem Gelände der
Mühle schwor er, sich diese Knochenarbeit des Brotbackens für
hunderte von Menschen im nächsten Jahr nicht mehr anzutun. Wenn
dann die Zeit gekommen war, der Bürgermeister lange genug auf ihn
eingeredet hatte, und die Presse den Veranstaltungskalender
veröffentlichte, stand er doch wieder bereit und wollte seine geliebte
Backstube niemand anderem überlassen.
Kein Fest hatte er bislang versäumt, auch nicht, nachdem er vor drei
Jahren in den Ruhestand gegangen war und den Beruf als Hausmeister
in der Willibrodschule an den Nagel gehangen hatte. Damals hatte er
seiner Frau geschworen, mit ihr auf Reisen zu gehen. Viel rum
gekommen war er seitdem nicht, stattdessen trieb er sich noch öfter
auf der Mühle herum und gab Kurse im Brotbacken.
Die Kühle des Morgens und der starke Kaffee ließen die Lebensgeister
von Hannes Küster schnell zurückkehren. Er überquerte den
Mühlenhof und spazierte durch das Tor über die Brücke des
Mühlengrabens hinüber zur Mühleninsel. Das Bild der Insel zwischen
Mühlengraben und dem Bachbett der Prims wurde beherrscht von der
uralten mächtigen Linde, durch deren Krone die ersten
Sonnenstrahlen fielen und ein idyllisches Schattenspiel auf die
Grasfläche warfen.
Der mächtige Baum, das satte Grün der Insel mit den Wiesenblumen,
das Plätschern des Mühlenbaches, das war alles, wonach Hannes sich
sehnte. Ibiza, Mallorca oder eine Kreuzfahrt durch das Mittelmeer
konnten dieses heimatliche Fleckchen nicht ersetzen.
Hannes ging hinüber zur Linde unter deren Blätterdach er auf einer
Bank Kraft für die nächsten Stunden sammeln wollte. Bis zum
Nachmittag würde er aus der Backstube nicht mehr herauskommen.
Genüsslich nahm er einen Schluck Kaffee.
Er hatte die Linde noch nicht erreicht, als er spürte, dass an diesem
Morgen irgendetwas anders war als sonst. Etwas stimmte nicht! Als er
näher an den Baum herankam, erkannte er den Grund für sein ungutes
Gefühl: Auf der Bank saß eine Person!
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13 Klaus Brabänder: Haarspitzen
Hannes war weder ängstlich noch schreckhaft, aber wenige Schritte
später jagte es ihm eine Gänsehaut über den Rücken.
Die Frau, die in merkwürdiger Pose auf der Bank saß, war ihm
bekannt. Dora Bergers Oberkörper war seitlich abgekippt, ihr Kopf
nach hinten geneigt. Die Augen waren weit aufgerissen, mit starrem
Blick auf ein unbekanntes Ziel. Hannes kannte Dora seit ihrer Kindheit.
Sie war es ganz ohne Zweifel.
„Dora!“, sagte Hannes beinahe flüsternd. „Dora, hallo“, diesmal viel
kräftiger, als könne er dadurch eine Antwort aus der Stille des
Morgens erzwingen.
Als Dora Berger nicht antwortete und weiterhin reglos sitzen blieb,
spürte Hannes, dass sich seine schlimmste Vorahnung bestätigte: Dora
Berger war tot! Obwohl er noch nie eine Leiche aus der Nähe gesehen
hatte, war er sich sicher. Die starren Augen und die merkwürdige
Körperhaltung sprachen für sich und ließen keinen anderen Schluss
zu.
Näher als zwei Schritte traute sich Hannes nicht an Dora heran. Sie
hatten im gleichen Karnevalsverein gefeiert und oft miteinander
geredet, aber ihre Leiche machte Hannes Angst. Ihm zitterten die Knie,
das Herz schlug ihm bis zum Halse, als er überlegte, was er jetzt tun
sollte.
Dass er die Polizei rufen musste, war klar, aber leichter gesagt als
getan. Sein Handy hatte er nicht dabei, weil es in der Backstube
ohnehin keinen Funkkontakt gab. Den Schlüssel zum Büro im
Hauptgebäude hatte der Vereinsvorstand. Vor neun Uhr würde sich
von den Herren bestimmt keiner blicken lassen. Zur Mühle war
Hannes in der Nacht von seiner Frau gebracht worden, weil die am
Morgen den Wagen zum Einkauf brauchte. Demnach blieb nur eine
Möglichkeit, um Hilfe zu holen: zu Fuß!
Hannes wollte losrennen, als ihm einfiel, dass er noch zwanzig Brote
im Ofen hatte. Dora Berger war ohnehin nicht mehr zu helfen, da galt
es wenigstens die Brote zu retten. Er kehrte zurück in die Backstube
und leerte den Ofen, währenddessen er fieberhaft überlegte, an wen er
sich wenden konnte. Er fand eine Lösung und marschierte los.
Der Bürgermeister wohnte auf der anderen Seite der Hauptstraße, nur
wenige Gehminuten von der Mühle entfernt. Zu ihm hatte Hannes
immer noch gute Kontakte und ein vertrauensvolles Verhältnis,
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14 Klaus Brabänder: Haarspitzen
vielleicht sogar ein besseres als zu Zeiten, als der Bürgermeister noch
sein Chef war. Falls der noch nicht am Frühstückstisch saß, musste er
ihn eben aus dem Bett klingeln. Auf jeden Fall wäre Hannes das
Problem los, und sein Ex-Chef würde wissen, was zu tun war,
schließlich war er der Bürgermeister. Hannes fand die Idee genial und
marschierte los. Wenige Minuten später klingelte er bei seinem
ehemaligen Chef, der kurz darauf im Morgenmantel in der Tür
erschien.
„Moin, Chef. Unter der Linde sitzt eine Leiche“, stammelte Hannes.
„Moin, Hannes. Mach keinen Quatsch, warst du zu lange am Backofen?“
„Nee, ehrlich. Es ist Dora. Sie sitzt auf der Bank und ist tot.“
„Bist du sicher? Was ist passiert?“
„Keine Ahnung, aber es ist Dora. Eindeutig. Irrtum ausgeschlossen.“
„Komm rein, ich ruf die Polizei und zieh mich an. Trink eine Tasse
Kaffee! Willst du einen Schnaps? Du zitterst am ganzen Körper.“
„Ich weiß nicht…. Ich glaub, ich lauf lieber zurück.“
„Wenn sie tot ist, wird sie uns wohl kaum abhauen“, antwortete der
Bürgermeister und wählte die Nummer der Polizei.