Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM)
Arbeitskreis Prävention
Kennen Sie FASD?
Diagnostik Fetaler Alkoholspektrum-Störungen
gemäß der S3-Leitlinie
Dr. Lieselotte Simon-Stolz
Kinder- und Jugendärztin
Kinderschutzmedizinerin
Fetale Alkoholspektrum-Störungen
(FASD)
Oberbegriff für die Schädigungen eines Menschen,
die vorgeburtlich durch den Alkoholkonsum der
Mutter während der Schwangerschaft entstehen
Die Auswirkungen der vorgeburtlichen Schädigung
durch Alkohol können unterschiedlicher Ausprägung
sein
Wieviel beschäftigen wir uns mit dem
Alkoholkonsum von Schwangeren?
Einschätzung von Gynäkologen:
• Unzureichende Erfassung der Anamnese
• Keine standardisierte Befragung in der
Schwangerenvorsorge
• Unzureichende anamnestische Angaben der Schwangeren
• Kein standardisiertes Vorgehen bei positiver Anamnese
• Häufig unvollständige Dokumentation
Keine sicheren Biomarker zur Erfassung des Alkoholkonsums in der
Schwangerschaft
Wieviel beschäftigen wir uns mit dem
Alkoholkonsum von Schwangeren?
Rückmeldung von Suchtberatungsstellen:
• Kaum Thema im Alltag der Beratungsstelle
• Kein aktives Aufsuchen der Beratungsstelle durch Alkohol
konsumierende Schwangere
• Keine Zuweisung von anderen Institutionen, Gynäkologen,
Hebammen, Schwangerenberatungsstellen
Wieviel beschäftigen wir uns mit
FAS / FASD?
Rückmeldung von saarländischen Kinder-
und Jugendärzten (2010):
• sehen Kinder mit FAS /FASD kaum oder selten,
„alle 2-3 Jahre mal“
• keine spezielle Diagnostikmöglichkeit vor Ort
• in der Regel Verdachtsdiagnose
Viele Vorurteile, große Unsicherheiten und Berührungsängste
Alkoholkonsum bei Schwangeren
Jemals Alkohol in der Schwangerschaft:
USA: 8,0% bis 30,0%
Europa: 10,8% bis 91,7%
Deutschland:
• wiederholter wissentlicher Alkoholkonsum in der
Schwangerschaft: 14,4% bis 30%
• Exzessives Trinken in d. Schwangerschaft:
1,2 bis 3,4 %
Befragung in saarländischen
gynäkologischen Praxen
Ministerium für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familien
(MSGFF), Landesinstitut für Präventives Handeln (LPH)
April bis September 2016
Anonymisierte Befragung von 808 Schwangeren aus 79 (von 85)
saarld. gynäkolog. Praxen
Befragung zu Nikotin u./o. Alkoholkonsum in der Schwangerschaft:
45,1 % tranken vor der Schwangerschaft Alkohol
99,0 % haben aufgehört
1,0 % trinken weiter wie bisher
Fachtagung FASD, Neunkirchen, 2016
Risikofaktoren für höheren Alkoholkonsum
in der Schwangerschaft
• > 30 Jahre häufiger moderater Konsum
• < 25 Jahre eher Rauschtrinken (> 5 Getränke / Gelegenheit)
• Alkoholkonsum vor der Schwangerschaft
• Konsum illegaler Drogen, Rauchen (auch des Partners/ der
Bezugsperson)
• Ungeplante oder ungewollte Schwangerschaft
• Höherer sozioökonomischer Status /
kein Migrationshintergrund
• Alleinstehend / Geringe soziale Unterstützung
• Zustd. nach Gewalterfahrung
• Psychische Erkrankung
Häufigkeit von FASD
Keine existierenden Prävalenzstudien in Deutschland
aktuell vorliegende Daten beruhen auf Hochrechnungen oder
Schätzungen
Expertenschätzungen gehen von einer 1%igen FASD-
Prävalenz der Gesamtbevölkerung aus
Pro Jahr werden bundesweit geschätzt ca. 10 000 bis 14 000
Kinder mit FASD geboren
davon zeigen ca. 10 % das Vollbild des Fetalen
Alkoholsyndroms (FAS).
Die derzeit angegebenen Prävalenzen von FAS liegen
bundesweit bei 0,2 bis 8,2 pro 1 000 Geburten.
Landgraf, 2017
Häufigkeit von FAS im Saarland
„Überall da, wo der Konsum von Alkohol
gesellschaftlich toleriert wird, werden Kinder mit
FASD geboren“
Geht man von der derzeit geltenden FAS-Häufigkeit
aus, dann müssten saarlandweit bei einer Rate von
ca. 8000 Geburten pro Jahr ca. 1 bis 60 Kinder mit
dem Vollbild FAS geboren werden
Die Ursache der teratogen toxischen Wirkung
des Alkohols in utero ist bis heute unbekannt
Alkohol beim Feten
Alkohol wird 1:1 über die Plazenta zum Kind
transportiert
nach 1–2 Std. äquivalente Konzentration von
mütterlichem und fetalem Alkoholspiegel
Verzögerter fetaler Abbau bedingt durch Unreife und
reduzierte metabolischer Kapazität
Anreicherung von Alkohol in Amnionflüssigkeit
orale Wiederaufnahme
Längere Expositionszeit (bis zu 10 fach )
Alkohol-Elimination ist abhängig von mütterlicher
metabolischer Kapazität
Mütterliche Risikofaktoren für die
Entwicklung eines FASD
• Alter > 30 Jahre
• Nikotin-, multipler Drogenkonsum
• Geringer sozioökonomischer Status
• Unter- oder Fehlernährung
• Alkoholkonsum des Vaters
• Stress der Mutter
• Alkoholbedingte Veränderungen endokrinologischer
Funktionen
• Vorherige Geburt eines Kindes mit FASD
• Genetische Disposition
Pathogene Mechanismen
Alkohol = teratogene Substanz / Zellgift
Wachstumshemmend
Störung der Organbildung
Störung der Zelldifferenzierung
Neurotoxische Substanz
„Trotz intensiver Forschung zur Pathogenese und Ätiologie des
FASD sind die Ursachen für die schweren, wahrscheinlich
lebenslangen Folgen durch die Einwirkung des Alkohols auf das
sich entwickelnde fetale Gehirn bis heute noch weitgehend
ungeklärt“ (Spohr, 2016)
Wie viel / wie oft / wann
Alkohol während der Schwangerschaft?
• kein verlässlicher Grenzwert für eine intrauterine,
für das Ungeborene unschädliche Alkoholexposition
• wiederholter Alkoholkonsum oder ein
mindestens einmalig auftretendes Rauschtrinken
(mind. 5 Getränke zu einer Gelegenheit) während
der Schwangerschaft birgt bereits das Risiko der
Entwicklung einer FASD beim Kind
• kein ungefährlicher Zeitpunkt für Alkoholkonsum
während der Schwangerschaft
Zeitpunkt der Noxe bestimmt Art und
Ausprägung der Schädigung
Warum ist die Diagnose so schwierig zu
stellen?
FASD ist keine Blickdiagnose!
Es gibt nicht das eine, die Diagnose beweisende Symptom
in der Regel mehrere richtungsweisende Befunde, die aber
auch bei anderen Erkrankungen zu finden sind und bei
fehlender Alkoholanamnese häufiger eine Zuordnung schwierig
machen
Vollbild FAS mit typischen kraniofazialen Fehlbildungen nur
kleiner Prozentsatz der betroffenen PatientInnen
Kein eindeutiges und spezifisches neuropsychiatrisches Profil
komorbide Störungen häufig
Häufig Poly-Drug-Konsum
Alkohol in unserer Gesellschaft noch immer Tabu-Thema
Diagnose-Stellung - wie?
In der Regel nur interdisziplinär möglich
Empfohlen: multimodales diagnostisches
Verfahren in einem Netzwerk von miteinander
kooperierenden Fachdisziplinen oder in
entsprechenden spezialisierten Zentren
gemäß der evidenz- und konsensbasierten
S3-Leitlinie FAS / FASD (Landgraf / Heinen 2013 bzw. 2016)
Formen von FASD
• Vollbild Fetales Alkoholsyndrom (FAS)
• partielles Fetales Alkoholsyndrom (pFAS)
• alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung -
alcohol related neurodevelopmental disorders –
(ARND)
pFAS und ARND nicht weniger schwere Form oder
harmlose Variante!
FAS / FASD- Diagnostik
Aktuelle S3-Leitlinie
. Landgraf, F. Heinen, 2013, 2016
1. Wachstumsverzögerung
2. Faziale Auffälligkeiten
3. ZNS-Auffälligkeiten
4. Alkoholkonsum in der Schwangerschaft
Beim Vollbild Fetales Alkoholsyndrom
(FAS) treffen alle 4 Kriterien zu
Wachstumsauffälligkeiten
Mindestens 1 der folgenden Auffälligkeiten
adaptiert an Gestationsalter, Alter, Geschlecht
dokumentiert zu einem beliebigen Zeitpunkt:
Geburts- oder Körpergewicht ≤ 10. Perzentile
Geburts- oder Körperlänge ≤ 10. Perzentile
Body Mass Index ≤ 10. Perzentile
„klassisches FAS – Gesicht“
Gesichts-Auffälligkeiten
Zur Erfüllung des Kriteriums sollten die 3 fazialen
Anomalien vorhanden sein:
1) Kurze Lidspalten (</= 3er-Perz.)
2) Verstrichenes Philtrum (Rang 4 oder 5)
3) Schmale Oberlippe (Rang 4 oder 5)
Beurteilung mithilfe der Perzentilenkurven und des Lip-
Philtrum-Guide
Lidspaltenlänge
M. N. Landgraf, F. Heinen, MoKi 9/2017
Lip-Philtrum-Guide
M. N. Landgraf, F. Heinen, MoKi 9 / 2017:
Gesichts-Auffälligkeiten bei
Jugendlichen
FAS-typische faziale Auffälligkeiten bei betroffenen
Jugendlichen oft weniger eindeutig
Fotos vom Kleinkind- und Kindesalter zur Diagnostik oft
hilfreich
Diagnostisches Kriterium im Jugendalter auch erfüllt,
wenn die drei Kriterien im jüngeren Alter nachweisbar
waren
ZNS-Auffälligkeiten
Es sollte bei der Diagnose FAS mindestens 1 der
folgenden Auffälligkeiten zutreffen:
Strukturelle ZNS-Auffälligkeiten
Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten
Strukturelle ZNS-Auffälligkeiten
Es sollte folgende Auffälligkeit, adaptiert an
Gestationsalter, Alter, Geschlecht, dokumentiert zu
einem beliebigen Zeitpunkt, zutreffen:
Mikrozephalie (Kopfumfang ≤ 10. Perzentile)
Funktionelle Auffälligkeiten
Intelligenzminderung (IQ unter 70)
( oder signifikante (mind. 2 Standardabweichungen) allgemeine
Entwicklungsverzögerung bei Kindern < 2 Jahren)
oder Teilleistungsstörungen (mind. 2 Standardabweichungen)
in mindestens 3 Bereichen
oder in mindestens 2 Bereichen in Kombination mit einer
Epilepsie
• Lernen und Gedächtnis
• Aufmerksamkeit
• Visuelle Wahrnehmungsleistungen
• Räumlich-konstruktive Fähigkeiten
• Exekutivfunktionen
• Verhalten
• Sprache
• Fein- und Grobmotorik
Alkohol-Exposition bei FAS
Der Alkoholkonsum der leiblichen Mutter während der
Schwangerschaft sollte bei der Diagnosestellung eines FAS
evaluiert werden
„Wenn Auffälligkeiten in den drei übrigen diagnostischen Säulen
bestehen, soll die Diagnose eines Fetalen Alkoholsyndroms
auch ohne Bestätigung eines mütterlichen Alkoholkonsums
während der Schwangerschaft gestellt werden“
Partielles Fetales Alkoholsyndrom
(pFAS)
Zur Diagnose pFAS sollen alle Kriterien 1. bis 3.
zutreffen:
1. Faziale Auffälligkeiten (2 von 3)
2. ZNS-Auffälligkeiten (mind. 3)
3. Bestätigte oder wahrscheinliche intrauterine Alkohol-
Exposition
Wachstumsauffälligkeiten müssen nicht
vorhanden sein
M. Landgraf, F. Heinen, Pocket Guide FASD, 2016
pFAS
Beim pFAS wird das gemeinsame Auftreten von
mindestens 3 ZNS-Auffälligkeiten gefordert
Dieses steht im Gegensatz zur diagnostischen Empfehlung beim
FAS, bei dem das alleinige Auftreten einer Intelligenzminderung
bzw. globalen Entwicklungsverzögerung oder einer
Mikrocephalie ausreicht, um die Diagnose zu stellen
Grund: Vermeidung von Überdiagnosen bei Erhöhung
der Spezifität durch strengere ZNS-Kriterien
Intrauterine Alkoholexposition
Die Leitliniengruppe definiert „wahrscheinlichen
mütterlichen Alkoholkonsum während der
Schwangerschaft“ als mündliche oder schriftliche
Angabe im Rahmen der Fremdanamnese
„Personen, die im beruflich-unterstützenden und privaten Umfeld
verlässliche Auskunft über den mütterlichen Alkoholkonsum in
der Schwangerschaft geben können, sollten befragt werden“
Alkoholbedingte entwicklungsneurologische
Störung ARND (alcohol related neurodevelopmental disorders)
Kriterien:
Bestätigte intrauterine Alkohol-Exposition
komplexes Muster an nicht altersgemäßer
Entwicklung, Verhaltensauffälligkeiten und kognitiven
Störungen
Keine körperlichen Hinweise
Alkoholbedingte entwicklungsneurologische
Störung (ARND)
Bestätigung des mütterlichen Alkoholkonsums in
der Schwangerschaft wird für die ARND gefordert
die ZNS-Auffälligkeiten, auch in ihrer Kombination,
nicht spezifisch für die ARND
ARND : „nicht sichtbare Behinderung“ des
Kindes/Jugendlichen
Diagnose schwierig und nur mit einer ausführlichen
psychologischen Diagnostik möglich
Prognose??
• 80% der FASD-Kinder leben nicht mehr in ihren
leiblichen Familien
• Höheres Misshandlungs- und Vernachlässigungs-Risiko
• die meisten betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen können nicht alleine leben und für sich selbst sorgen
• bei 60% Schulunterbrechung oder Schulabbrüche
• 70 % haben keine Arbeit
• 80 % brauchen personelle Hilfe in der Lebensführung
• der überwiegende Anteil zeigt psychische, Sucht- und andere Gesundheitsprobleme (90%)
• 60% haben Konflikte mit dem Gesetz
Spohr, 2016
Prävention
FASD ist zu 100 % vermeidbar!
• Primäre Prävention von FAS/FASD beinhaltet Aufklärung von
allen Frauen und Männern im zeugungsfähigen Alter
• Identifizierung und intensivierte Beratung von Risikogruppen für
Alkoholkonsum in der Schwangerschaft
• Aufklärung sollte in allen Bereichen zunehmen (auch bereits in
der Sexualaufklärung im Jugendalter)
• Ziel: Steigerung der öffentlichen Wahrnehmung
Aktives Ansprechen des Problems
Sofortige Abstinenz
Anbieten von Hilfe statt Schuldzuweisung
Professionelle Hilfe
Informationen zum Thema
FASD-Diagnostik
• S3 Leitlinie Diagnostik FAS Kurzfassung AWMF (Landgraf /
Heinen 2013)
• Pocket Guide FASD Landgraf / Heinen, 2016
• Spohr, Das fetale Alkoholsyndrom im Kindes- und
Erwachsenenalter, Dr Gryter, 2016
• FASD-Deutschland, www.fasd-deutschland
• SPZ München, www.spz-muenchen.de
• Drogenbeauftragte, www.drogenbeauftragte.de
(Geplant) Schwanger ??
Null Alkohol – Null Risiko für FASD
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Lieselotte Simon-Stolz