Jugendstrafrecht
Geschichte
Jugendkriminalität
Verfahren
Sanktionen
Institutionen
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http://www.iuscrim.mpg.de/de/info/ aktuell/lehre/
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Was bedeutet Jugendstrafrecht?
Sonderstrafrecht für junge Menschen– in Form des Jugendgerichtsgesetzes (JGG)
– für Jugendliche (14-17-Jährige)– unter besonderen Bedingungen (§105 JGG) für
Heranwachsende (18 - 20-Jährige)
Was bedeutet Sonderstrafrecht?– Das Erwachsenenstrafrecht (StGB, StPO etc.) gilt nur
insoweit, als im Jugendgerichtsgesetz keine Bestimmungen enthalten sind
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Grundnormen
§1 JGG
– Dieses Gesetz gilt, wenn ein Jugendlicher oder Heranwachsender eine Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist
§2 JGG
– Die allgemeinen Vorschriften gelten nur, soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist
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Was ist das Besondere am JGG?
JGG ist Täterstrafrecht
Rechtsfolgen gründen sich auf eine schuldhafte Tat und bemessen sich nach der Täterpersönlichkeit
Rechtsfolgen des JGG
Erziehungsmaßregeln
Zuchtmittel
Jugendstrafe
StGB ist Tatstrafrecht
Strafe gründet sich auf eine verschuldete Tat und bemisst sich danach (§46 StGB)
Rechtsfolgen des StGB
Geldstrafe
Freiheitsstrafe
Maßregeln der Besserung und Sicherung
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Unterschiede zwischen JGG und StGB
JGG
Strafrahmen des StGB gelten nicht §18 S. 3 JGG
§18 JGG Höchststrafe: 5/10 Jahre Jugendstrafe
Strafzweck: Erziehung
JGG: Besonderes Verfahren vor Jugendgerichten
StGB
Strafrahmen des BT
§38 StGB:Höchststrafe 15 Jahre/lebenslange Freiheitsstrafe
Strafzweck: Schuldausgleich
StPO: Normales Verfahren
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Was bedeutet Kindheit und Jugend?
Kindheit und Jugend haben mehrere Bedeutungen
Biologische Phase
Soziale Kategorie
Entwicklungs(psychologische) Phase
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Die Entdeckung der Kindheit
Die Kindheit (oder Jugend) als soziale Kategorie gilt als Entdeckung des 19. Jahrhunderts
Diese Entdeckung zieht weitreichende normative Konsequenzen nach sich
Die bedeutsamste Konsequenz besteht in der scharfen Trennung zwischen Kindes- und Erwachsenenalter und der Zuordnung alterspezifischer Rechte und Pflichten
Zwischen Kind und Erwachsenem wird ein Unterschied gemacht; im Unterschied zu den Gesellschaften des Mittelalters werden die sozialen Räume von Kindern und Erwachsenen getrennt
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Der Prozess der Differenzierung nach Alter
Im Mittelalter existiert ein sozialer Abstand zwischen Kind und Erwachsenem nicht
Kinder hatten bis in das 15. Jahrhundert hinein keine abgetrennten Lebensbereiche: sie verhielten sich und wurden behandelt wie „kleine Erwachsene“
Ab dem 17. Jahrhundert entsteht Interesse an Erziehung; die Familie bekommt eine neue Funktion: Erziehung und Sozialisation der Kinder
Die Familie wird zu einem Ort, wo Bindungen emotionaler Art vorherrschen (besondere Bindungen zwischen Eltern und Kindern). Dies fällt
it d hi h V ä d
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Childsaver
und „Gefährliche Klassen“
Im 18./19. Jahrhundert wird auch als Folge der Industrialisierung und der Verstädterung Massenarmut und Massenelend als Problem erkannt.
Insbesondere Kinder werden als schutzbedürftige Gruppe betrachtet
Die Childsaver Bewegung nimmt sich vor allem im englischsprachigen Raum verelendeter und ausgebeuteter Kinder an
Im Vordergrund stehen Kinderarbeit, sexuelle Ausbeutung und dann auch die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf Kinder
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Die Lage von Kindern im 19. Jahrhundert
Kinder und Industriearbeit
Hohe Kindersterblichkeit
Sterblichkeitsziffern in Leeds 1813-1830
– 0-5 53– 5-9 9– 10-14 5– 15-19 7– 20-29 17– 30-39 19– 40-49 23– 50-59 31– 60-69 44– 70-79 67
– 80-89 88
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Childsaving
und Jugendschutz
Verbot der Kinderarbeit
Einführung der Schulpflicht
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Zentrale Thesen zu Kindheit und Jugend
Kinder unterscheiden sich prinzipiell von Erwachsenen– Kinder müssen erzogen werden– Kinder sind verletzlicher und deshalb leichter
korrumpierbar, deshalb immer auch schutzbedürftig
Kinder sind formbar
Je früher die Behandlung eines Problems beginnt, desto besser sind die Erfolgsaussichten
Fällt die Familie als Erziehungs- und Sozialisationsinstanz aus, dann muss der Staat an die Stelle der Eltern treten und erzieherische Funktionen wahrnehmen
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Rechtliche Altersgrenzen
Geburt: Rechtsfähigkeit, Parteifähigkeit (Prozessrechtlich)
3. Lebensjahr: Mitwirkung an Musikveranstaltungen erlaubnisfähig
6. Lebensjahr: Schulpflicht, Mitwirkung an Theater-/Musikveranstaltungen (bis zu 4 Stunden) erlaubnisfähig; öffentliche Filmvorführungen bei Freigabe ab 6 J.
7. Lebensjahr: beschränkte Geschäftsfähigkeit, Deliktsfähigkeit, Prozessfähigkeit
12. Lebensjahr: Religionsmündigkeit
13. Lebensjahr: Beschäftigung in Landwirtschaft bis zu 3 Std. täglich; Zeitungsaustragen etc. bis zu 2 Std. täglich
14. Lebensjahr: bedingte Strafmündigkeit; freie Wahl des Religionsbekenntnisses; familienrechtliche Mitwirkungsrechte
15. Lebensjahr: Vollzeitschulpflicht endet; Beschäftigung grundsätzlich erlaubt (mit Ausnahmen)
16. Lebensjahr: Erlaubnis zur Eheschließung kann erteilt werden; Aufenthalt in Gaststätten bis 24.00; Kauf von alkoholischen Getränken erlaubt (kein Branntwein); Personalausweispflicht; Eidesfähigkeit; Testamentsfähigkeit
18. Lebensjahr: Volljährigkeit; volle strafrechtliche Verantwortlichkeit (Ausnahme §105 JGG)
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Interpretationen der Entwicklung der Kindheit
De Mause: Hört Ihr die Kinder weinen?
Geschichte der Ausbildung der sozialen Kategorie der Kindheit und Jugend bedeutet
– Fortschritt– Schutz– mehr Entwicklungs- und
Entfaltungsmöglichkeiten
Parallele zu Elias: Der Prozess der Zivilisation
Ariès: Geschichte der Kindheit
Reduzierung von Selbstbestimmung
Reduzierung von Entfaltungsmöglichkeiten
Parellele zu Foucault: Entwicklung von Herrschaft
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Die Abspaltung des Jugendstrafrechts
Carolina (1532): eigenständige Regelung für jugendliche Diebe (< 14 Jahre), anstelle der Todesstrafe tritt eine Leibesstrafe (wer wegen „jugend und andere gebrechlichheyt halben jre sinn nit haben“)
Periode des „Gemeinen“ Rechts: Vorsatzfähigkeit und Strafmilderung
Code Penal (1810): Einführung des „discernement“ für die Strafbarkeit der unter 16-Jährigen
Reichsstrafgesetzbuch (1871): Strafmündigkeit mit 12 Jahren
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Die Entstehung des Systems des Jugendrechts
Die Jugendgerichtsbewegung
Die moderne Strafrechtsschule: Das Marburger Programm (1882, Franz v. Liszt)
Tagung der IKV Halle 1891: Thema Jugendstrafrecht
Appelius, Die Behandlung jugendlicher Verbrecher und verwahrloster Kinder 1892
1908: erste Jugendgerichte (im Geschäftsverteilungsplan) in Frankfurt, Köln und Berlin
1909: 1. Deutscher Jugendgerichtstag
1912: 1. Jugendgefängnis in Wittlich/Rheinland
1922: Jugendwohlfahrtsgesetz
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Jugendstrafrechtsreformen
Jugendgerichtsgesetz 1923– Strafmündigkeit ab 14 Jahren– Einführung von Erziehungsmaßregeln– Einführung von Jugendgerichten– Prozessuale Besonderheiten: Ausschluss der Öffentlichkeit,
Beschränkung des Legalitätsprinzips– Einführung der Jugendgerichtshilfe
Jugendgerichtsgesetz 1943– Einführung von Jugendstrafe und Zuchtmitteln– Auflockerung der Altersgrenzen (Anwendung von
Erwachsenstrafrecht auf 16-jährige)
Jugendgerichtsgesetz 1953– Einführung der Strafaussetzung zur Bewährung und der
Bewährungshilfe– Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht
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Orientierungspunkte in der Entwicklung des Jugendstrafrechts
Strafrecht und Strafrechtsmodell
Erziehung und Wohlfahrtsmodell
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Internationale Tendenzen
Abwendung vom Jugendwohlfahrtsmodell (USA, Skandinavien, England)
Hinwendung zu Rechtsstaatsmodell
Anwendung von Erwachsenenstrafrecht
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Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht -
Stellt die Jugendkriminalität die Justiz vor neue Herausforderungen?
Anlässe und Forderungen
Jugendkriminalität - Umfang und Tendenzen
Besondere Problembereiche und Problemgruppen
Ursachen und Bedingungen der Jugendkriminalität
Was wissen wir über die Wirkungen des Jugendstrafrechts?
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Anlässe und Forderungen
Zyklische Befassung mit Jugendkriminalität
Verlängerte Zyklen der Aufmerksamkeit infolge gesteigerter Medienpräsenz
Killerkinder und Kinderkiller
Jugend und kriminelle Karrieren
Peergroups, Gangs und Subkulturen
Forderungen: Sind junge Menschen (Männer) gefährlich oder gefährdet?
Forderungskataloge
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Zyklische Thematisierung von Jugendkriminalität und Jugendgewalt
Jugend galt schon immer als „faul, gottlos und gewalttätig“
Die Geschichte der (modernen) Jugend lässt sich auch als Abfolge der Problematisierung von Jugend (Gewalt) darstellen
– von Burschenschaften, Edelweisspiraten hin zu Rockern, Halbstarken, Skinheads, Hooligans
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Anlässe: Killerkinder
Amerikanische Schüler gestehen tödliche Steinwürfe
Drei amerikanische Jugendliche haben gestanden, Steine von einer Brücke auf fahrende Autos geworfen zu haben. Die handballgroßen Brocken hatten insgesamt sechs Fahrzeuge getroffen, zwei Menschen starben, fünf weitere wurden verletzt. Die Staatsanwaltschaft beantragt Haftbefehl wegen Mordes und Mordversuchs.
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Anlässe: Kriminelle Karrieren
Mehmets Karriere
Wieviele Mehmets gibt es?
Wann und warum beginnen Mehmets kriminelle Karrieren?
Was wissen wir über Karriereverläufe?
Welche Möglichkeiten der Intervention gibt es?
Wann steigt Mehmet aus?
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Anlässe: Gangs und Subkulturen
Vergesellschaftungsformen junger Männer
Peer Groups (Eckenstehergruppen)
Jugend und Subkultur
Punks
Skins
Rave
Hooligans
Banden und Motorradgangs
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Kombinationen: Gangs, Gewalt und Ausländische Jugendliche
Gesellschaftlich sensible Themen und gesellschaftliche Aufmerksamkeit
Immigration, Gewalt, Drogen, Gang
Von Aufmerksamkeit zu moralischer Panik
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Jugendkriminalität und Moralunternehmen
Jugendkriminalität dient als Gradmesser des Versagens einer Gesellschaft und ihrer Institutionen
Jugendkriminalität dient als Nachweis der Begründetheit rechts- und gesellschaftspolitischer Forderungen
Jugendkriminalität und Verantwortliche:– Familie– Schule/Erziehung– Medien– Justiz
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Die drei grossen
„L“
Zu lasch
Zu lau
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Forderungskatalog I Politische Stimmen
Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters auf 12 Jahre
Häufigere und längere Jugendstrafen
Schnellere und erleichterte Untersuchungshaft (taste of prison approach)
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Forderungskatalog II BRDrSache
17.8.99 (Bayern)
Meldepflicht bei Gericht etc. als jugendrichterliche Weisung
Fahrverbot als allgemeines Zuchtmittel
Einstiegsarrest neben Bewährungsstrafe bzw. neben §27 JGG
Regelmäßige Bestrafung von Heranwachsenden nach Erwachsenenstrafrecht
Anhebung der Obergrenze der Jugendstrafe auf 15 Jahre für nach Jugendstrafrecht verurteilte
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Polizeilich registrierte deutsche Jugendliche Tatverdächtige und Verurteilte (pro 100.000)
010002000300040005000600070008000
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
Tatverdächtige Jugendliche Verurteilte JugendlicheTatverdächtige HW Verurteilte HW
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Junge deutsche Tatverdächtige Delikte gegen das Leben (pro 100.000)
02468
101214161820
1977
1979
1981
1983
1985
1987
1989
1991
1993
1995
1997
1999
2001
2003
Kindl. TV Jugendl. TV Heranw. TV
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Polizeilich registrierte deutsche Jugendliche Tatverdächtige (pro 100.000) Raubdelikte
050
100150200250300350
1984
1986
1988
1990
1992
1994
1996
1998
2000
2002
2004
Tatverdächtige Jugendliche Tatverdächtige HW
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Polizeilich registrierte deutsche jugendliche und heranwachsende
Tatverdächtige (/100.000) schwere Körperverletzung
0100200300400500600700800900
1984
1986
1988
1990
1992
1994
1996
1998
2000
2002
2004
Tatverdächtige Jugendliche Tatverdächtige HW
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!4-17-Jährige Strafgefangene 1971 - 2005 (Stichtag 31.3.)
0
100
200
300
400
500
600
700
800
900
1000
1971
1973
1975
1977
1979
1981
1983
1985
1987
1989
1991
1993
1995
1997
1999
2001
2003
2005
14-17 Jugendstrafgefangene 14-17 jugendliche Ausländer 14-17-j. jugendliche Deutsche
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Zusammenfassung I Trends
Die polizeilich registrierte Jugendkriminalität nimmt in den 1990er Jahren deutlich zu
Der Schwerpunkt der Zunahme liegt im Bereich des Strassenraubs und der Körperverletzung
Schwerstkriminalität (Tötungsdelikte/Vergewaltigung/ Bankraub) bleibt langfristig stabil (auf niedrigem Niveau)
Die Zunahme bezieht sich auf Tatverdächtige (nicht auf Straftaten!)
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Zusammenfassung II Erklärungen
Die Anzeigeneigung (kriminelle Reizbarkeit) hat zugenommen
Prekäre (Risiko) Gruppen sind grösser geworden
Informelle Kontrollen werden schwächer (Familie, Nachbarschaft etc.)
Risiken (kriminelle Anreize) werden grösser (beispw. neue Medien)
Die Jugend hat sich verändert
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Prävalenz
Polizeilicher Registrierung in den Geburtskohorten 1970, 1973, 1975 und 1978 im Alter von 17 Jahren in %
Deutsche/Männlich
02468
1012141618
1970 1973 1975 1978
12 bis 4> 4Insgesamt
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Prävalenz
polizeilicher Registrierung in den Geburtskohorten 1970, 1973, 1975 und 1978 im Alter von 17 Jahren in %
Ausländisch/männlich
0
5
10
15
20
25
30
35
40
1970 1973 1975 1978
12 bis 4>4Insgesamt
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Prävalenz
Polizeilicher Registrierung in den Geburtskohorten 1970, 1973, 1975, 1978 im Alter von 17 Jahren in %
Aussiedler/männlich
0
5
10
15
20
25
30
35
40
1970 1973 1975 1978
12 bis 4>4Insgesamt
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Zwischen Jugendwohlfahrt und Jugendstrafrecht
Diskussionen der sechziger und siebziger Jahre:
Arbeiterwohlfahrt 1970: Vorschlag eines Erweiterten Jugendhilferechts und Abschaffung des Dualistischen Modells
1. Gesetz zur Änderung des JGG 1990
Kinder- und Jugendhilfegesetz 1990
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Was wissen wir über „Karrieren“
Etwa 2-3% der männlichen Angehörigen einer Geburtskohorte entwickeln „Kriminelle Karrieren“ (5 und mehr Registrierungen)
Auf diese Gruppe gehen bis zu zwei Drittel aller polizeilich registrierten Straftaten in dem Geburtsjahrgang zurück
„Karrieristen“ sind bislang prospektiv nicht sicher identifizierbar
Jugendkriminalkarrieren enden in der Regel mit dem Übergang in die Erwachsenenwelt
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„Ursachen“
von Jugendkriminalität *
Materielle Deprivation .075
Emotionale Bindung an Familie .233
Ablehnung der Schule .239
Gewalt in der Familie .258
Streit in der Familie .273
Peer-Toleranz von Kriminalität .338
„Night-Life“ orientierter Lebenstil .348
Peer-group orientierter Lebensstil .349
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Gesellschaftliche Bedingungen und Jugendkriminalität
Neue Gelegenheiten und neue Risiken
Der Zerfall von Systemen informeller Kontrolle
Individualisierungstendenzen und Modernisierungsverlierer
Die Zunahme prekärer (Risiko-) Gruppen
Der sozio-kulturelle Kontext der (Gross-)Stadt
reduzierte Zugangschancen und Schattenwirtschaften
Gettoisierung und Segregation
Verlust von Akzeptanz und Legitimation
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Der sozio-kulturelle
Kontext
Individuelle Risikofaktoren der Delinquenz wirken in Abhängigkeit von dem unmittelbaren sozio-kulturellen und ökonomischen Kontext, in dem Jugendliche leben
In desorganisierten und durch Schattenwirtschaft etc. geprägten Nachbarschaften (Gettos) ist die Wahrscheinlichkeit von Delinquenz unabhängig vom Ausmaß der individuellen Risikofaktoren bzw. vom Ausmaß der „protektiven“ Faktoren
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Die Konzeption des JGG
Jugendgerichtsgesetz enthält– materielles Jugendstrafrecht– Jugendstrafverfahrensrecht– Jugendgerichtsverfassungsrecht– Jugendstrafvollstreckungs-/-vollzugsrecht
Richtlinien zum JGG (Vereinbarung der Landesjustizverwaltungen)
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Altersgruppen
Kinder < 14 Jahre §19 StGB schuldunfähig
Jugendliche 14-17 Jahre §1 II Geltung des JGG
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Stufen der Schuldfähigkeit im Vergleich
Wann beginnt die strafrechtliche Verantwortlichkeit/ Schuldfähigkeit?
– In Europa: zwischen 7 Jahren (Irland, Schweiz) und 16 Jahren (Portugal)
– England 10 J., Holland 12 J., Frankreich 13 J.
Wann beginnt die Geltung des Erwachsenenstrafrechts?
– Mit Erreichen des 18. Lebensjahres
Allerdings: Bei Kindern beschränkt sich auch bei Annahme früher Schuldfähigkeit die Reaktion auf Erziehungsmaßnahmen
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Variation in der Festlegung des Beginns der Schuldfähigkeit
Warum sollen 8- oder 9-Jährige schuldfähig sein?
Moralische Urteilsfähigkeit (oder die Fähigkeit der Unterscheidung von Recht und Unrecht) beginnt recht früh
Kinder verstehen schon im Vorschulalter moralische Normen im Sinne ihrer formalen und universellen Gültigkeit
– es handelt sich um intrinsisch formales Wissen– Kinder sind ferner zu einer kategorial-formalen Begründung
von Verboten in der Lage
Allerdings werden die kognitiven Einsichten nicht unbedingt verhaltenswirksam
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Kognition und Verhaltenssteuerung
Kinder sind „fröhliche Sünder“– das Wissen um das Verbotensein einer Handlung
muss, wenn das Wissen verhaltenswirksam werden soll, durch das Erlernen von Motiven verstärkt werden
– Lernen (und Verlernen) von Motiven für die Unterlassung von Unrecht entwickelt sich über die gesamte Kindheits- und Jugendphase
– Lernen und Verlernen/Aufgeben von Motiven enden nicht, sondern ziehen sich über die gesamte Lebensphase hin
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Konsequenzen
empirische Schnittstellen der Strafmündigkeit oder Strafreife sind nicht vorhanden
die Setzung von Verantwortlichkeitsschwellen setzt Wertungen voraus
die Setzung von Verantwortlichkeitsgrenzen ist beeinflusst durch generalpräventive Bedürfnisse und Interessen
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Die Zukunft
Die rechtspolitischen Rahmenbedingungen sprechen für eine Beibehaltung der 14-Jahres Grenze
Deutscher Juristentag 2002: Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß?
– Für die Beibehaltung der 14-Jahresgrenze
DVJJ Jugendstrafrechtsreformkommission– Beibehaltung der 14-Jahresgrenze
Kurzstellungnahmen von Experten in DVJJ-J 1996, Nr. 154, S. 321 ff.
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Erziehungsmündigkeit?
Schlüchter, Plädoyer für den Erziehungsgedanken, 1994
Vorschlag– Trennung zwischen Erziehungs- und Strafmündigkeit– Erziehungsmündigkeit tritt ab dem 10. Lebensjahr ein– mit der Konsequenz:
» der Jugendrichter kann erzieherische Maßnahmen (aber keine Jugendstrafe) gegen 10-jährige verhängen
» Jugendstrafe (bzw. Bestrafungsmündigkeit) setzt ab 16 Jahren ein
Konsequenz: ab 10-jährige unterfallen dem Jugendstrafrecht
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Disziplinierende Anreicherung des KJHG?
Gesetzesantrag Bayern BR-Dr. 645/98; Gesetzesantrag der CDU-CSU Fraktion BT-Dr. 14/3189 mit dem Ziel der Erweiterung der Kompetenzen der Familiengerichte
– richterliches Erziehungsgespräch– Weisungen in Form von regelmäßiger Teilnahme am
Schulunterricht– Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs– Erbringung von Arbeitsleistungen– Täter-Opfer-Ausgleich– Unterlassen des Aufsuchens bestimmter Orte oder des
Kontaktes mit bestimmten Personen– Weisungen an die Erziehungsberechtigten
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Ansatzpunkt in der Reform des KJHG
Änderung der §§ 1631b, 1666 BGB – gesetzliche Vermutung: (schwere) Kriminalität und
Suchtgefahr gefährden das Kindeswohl– wiederholte schwerwiegende Straftaten oder Anzeichen einer
drohenden Abhängigkeit von Betäubungsmitteln oder von anderen Suchtmitteln begründen das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung
Problem:– Angleichung des familienrechtlichen Verfahrens an das
Strafverfahren» Verteidiger?» Beweisformen und -erfordernisse?
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Geschlossene Heime
1993 standen in Deutschland etwa 130 Plätze in 9 Einrichtungen zur Verfügung, die eine geschlossene Unterbringung erlauben
Geschlossene Heime stellen aber keine Hochsicherheitstrakte dar
Auch mit geschlossener Heimunterbringung lassen sich die Probleme jedenfalls des Entweichens und des Sichentziehens nicht lösen
In geschlossenen Heime sind Entweichungen am häufigsten
Vgl hierzu auch Lösel/Pomplun Jugendhilfe statt
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 59
Kinder und Straftaten
Kinder sind strafunmündig
Strafmündigkeit ist Strafverfolgungsvoraussetzung
Strafgesetze und strafprozessuale Regeln sind deshalb nicht anwendbar
Deshalb: keine vorläufige Festnahme oder andere strafprozessuale Zwangsmaßnahmen (umstritten)
Begründung: Strafprozessuale Maßnahmen setzen einen Tatverdächtigen voraus
Tatverdächtiger kann nur jemand sein, gegen den ein Strafverfahren mit dem Ziel der Feststellung von Schuld durchgeführt werden kann
Es bleiben polizeirechtliche oder jugendrechtliche Maßnahmen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 60
Jugendliche und Straftaten
§1 I JGG: Verfehlung, die nach allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist
– keine Sondertatbestände für Jugendliche– aber: Klarstellung, dass ein Unterschied zum
Erwachsenenstrafrecht gegeben ist
§3 Strafrechtliche Verantwortlichkeit tritt nur ein, wenn der Jugendliche reif genug ist
– das Unrecht der Tat einzusehen– nach dieser Einsicht zu handeln– §3 ist regelmäßig zu prüfen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 61
§3 JGG
Pflicht zur Prüfung der individuellen Strafmündigkeit
In der Praxis: Keine Beurteilung und Feststellung im Einzelfall, sondern pauschalisierende Betrachtung
Entspricht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz– Stigmatisierung
» Bei vertiefter Untersuchung» Bei Annahme der Strafmündigkeit
Sozial-Normative Gesamtbeurteilung
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Folgen des §3 JGG
Bei Feststellung fehlender Reife
– Einstellung des Strafverfahrens gem. § 170 II StPO» Ggfs. Maßnahmen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz
§3 Satz 2 JGG
Bei Zweifeln bezüglich der fehlenden Reife– in dubio pro reo: keine Schuldfähigkeit
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 63
§
3 JGG und §20 StGB
Konkurrenzverhältnis zwischen §3 JGG und §20 StGB
Verhältnis der Spezialität
Bei psychischem Zurückbleiben: nur §3 JGG
Bei einem vom Entwicklungsprozess unabhängigen pathologischen Zustand: §20 StGB, §7 JGG
Bei Pathologischem Zurückbleiben, das durch Entwicklung ausgeglichen werden kann: §3 JGG + §20 StGB
– Vorrang von §3 JGG– Vorrangige Prüfung von §20 StGB, § 7 JGG– Wahlmöglichkeit: die im Einzelfall gerechte Lösung
Kann nicht aufgeklärt werden, ob Schuldunfähigkeit auf §3 oder auf §20 zurückzuführen ist: in dubio pro reo §3
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 64
§3 JGG und §21 StGB
Fehlen die Voraussetzungen des §3, 1 JGG, so kann auch bei Vorliegen von Bedingungen, die §21 StGB (verminderte Schuldfähigkeit) begründen, §21 (und damit ggfs. eine Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung nicht in Betracht kommen.
Liegt die Verantwortlichkeit nach §3 vor, so kommt §21 zur Anwendung (fakultativer Strafmilderungsgrund).
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 65
§3JGG und §17 StGB
Die Voraussetzungen von §3 und die Voraussetzungen des §17 StGB (Verbotsirrtum) beziehen sich gleichermaßen auf die Schuld
– §3 betrifft einen reifebedingten Verbotsirrtum
– §17 betrifft einen intellektuellen Verbotsirrtum
– Prüfungsabfolge: zuerst §3 JGG, dann §17 StGB
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 66
Heranwachsende
§105 JGG
– Entwicklungsstand einem Jugendlichen gleichstehend
– Jugendverfehlung
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Probleme der Altersfeststellung
Kind oder Jugendlicher?– Bei Zweifeln: in dubio pro reo
Unsicherheit, ob Jugendlicher oder Heranwachsender
– Wird §105 JGG angenommen, dann Jugendstrafrecht– Ansonsten: in dubio pro reo die dem Angeklagten
günstigere Regelung (Vergleich der konkreten erwartbaren Folgen)
Unsicherheit, ob Heranwachsender oder Erwachsener
– In dubio pro reo
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 68
Das Verhältnis zwischen KJHG und JGG
Bei Erziehungsbedarf– Für Kinder und Jugendliche: §27 ff KJHG (Hilfen zur
Erziehung) ..\..\Links\27.doc
Bei Straftaten– Jugendliche:
– §3 S. 2 JGG– Jugendrichter = Vormundschaftsrichter– Erziehungsmaßregeln
– Kinder– §27ff KJHG
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 69
Orientierung des JGG
Wohlfahrtsmodell
Rechtsstaatsmodell
JGG ist zuerst Strafrecht– Anknüpfung an die Straftatbestände des Besonderen Teils
des StGB– Deshalb hat auch das JGG die Funktion der strafrechtlichen
Zurechnung und das heißt: Generalprävention (Rechtsgüterschutz)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 70
Prinzip Erziehung
Pädagogische Interpretation
Spezialpräventive Interpretation
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Entwicklung der Überlegungen zur Erziehung im Jugendstrafrecht
Zur Zeit der Entstehung des JGG: Erziehung durch Strafe oder Strafe als Erziehungsmittel (Erziehungsstrafe)
– Straftaten Jugendlicher sind Ausdruck von Erziehungsbedürfnissen
– Erziehung kann oder muss sogar durch Strafe stattfinden– Erziehung ist Eingriff (Jugendhilfe als Eingriffsverwaltung)
– Noch deutlich erkennbar im alten Jugendwohlfahrtsgesetz
Neues Verständnis von Erziehung– insb. §1 KJHG: Förderung und Eigenverantwortlichkeit des
jungen Menschen– Erziehung als Leistung
Beschränkungen des Erziehungsbegriffs
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 72
Beschränkungen der Erziehung
Erkenntnis: Nicht jede Straftat ist Ausdruck von Erziehungsproblemen und Nachweis von Erziehungsbedürfnissen
Dunkelfeldforschung: – Jugendkriminalität ist bis zu einem gewissen Grade
„ubiquitär“– Jugendkriminalität ist überwiegend Einmal-Kriminalität– Auch ohne Interventionen werden jugendliche Straftäter
ganz überwiegend nicht mehr rückfällig
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 73
Beschränkungen des Erziehungsprinzips
Pädagogische und fürsorgerische Maßnahmen sind im Zusammenhang mit staatlichen Zwangseingriffen (Jugendstrafrecht) grundsätzlich nicht mit ihren eigentlichen erzieherischen Inhalten und Zielen durchführbar.
Die Praxis und die Folgen des Jugendstrafrechts zeigen, dass der eigentliche Inhalt der Rechtsfolgen des JGG trotz teilweise anderer Bezeichnungen eben doch Sanktionierung darstellt.
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Legitimationsfunktion des Erziehungsbegriffs
Für die Begründung eines besonderen Jugendstrafrechts
Alternative: Sonderrecht begründet sich aus der besonderen gesellschaftlichen Stellung des jungen Menschen und der Jugendkriminalität
– Schuldbezogen: Beschränkungen in der Entscheidungsfreiheit
– Unrechtsbezogen: Jugendstraftaten unterscheiden sich vom Unrechtsgehalt her gesehen von Straftaten Erwachsener (weniger Schaden, spontane Ausführung etc.)
– Positive Generalprävention: geringerer Normvalidierungsbedarf
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Inhaltliche Bedeutung des Erziehungsprinzips?
JGG verweist offensichtlich auch auf materielle Gesichtspunkte der Erziehung: vgl. §5 JGG
Ausgangspunkt: Art. 6 GG Eltern sind Erziehungsberechtigte; die Rolle des Staates ist subsidiär
Erzieherische Maßnahmen bleiben im Schwerpunkt Angelegenheit der Jugendhilfe: Jugendgerichtshilfe sowie andererseits §12 JGG (Erziehungsbeistandschaft sowie Heimunterbringung nur nach Anhörung des
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Reformvorschläge
DVJJ (Hrsg.) Jugend im sozialen Rechtsstaat. Für ein neues Jugendgerichtsgesetz. Dokumentation des 22. Deutschen Jugendgerichtstages, 1996
Bundesvorstand der Arbeiterwohlfahrt: Diskussionspapier zur Reform des Jugendhilfe- und des Jugendkriminalrechts November 1993 (Frommel/Maelicke Neue Kriminalpolitik 1994, S. 28)
Zweite Jugendstrafrechtsreformkommission der DVJJ: Vorschläge für eine Reform des Jugendstrafrechts. 2002.
Albrecht, H.-J.: Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß? Gutachten D zum 64. Deutschen Juristentag, 2002
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 77
Die Jugendgerichtsverfassung
Bundesgerichtshof– Senat
Oberlandesgericht– Senat
Landgericht– Strafkammer
Amtsgericht– Schöffengericht– Einzelrichter
Landgericht– Jugendstrafkammer
§§33II, 33b
Amtsgericht– Jugendschöffengericht
§§33II, 33a I– Jugendrichter §§ 33II
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Die Jugendgerichtsverfassung
Die Jugendstrafkammer (§41 JGG)– ist zuständig für alle Straftaten Jugendlicher, für die gem. §74 GVG das Schwurgericht
zuständig wäre, bei Vorlage des Schöffengerichts wegen besonderen Umfangs, bei Verfahren gegen Jugendliche und Erwachsene (§103 JGG, wenn für Erwachsene die Grosse Strafkammer zuständig wäre.
Das Jugendschöffengericht (§40 JGG)– ist zuständig für alle Straftaten Jugendlicher, für die keine besondere Zuständigkeit
eines anderen Gerichts begründet ist.
Der Jugendrichter (§39 JGG)– ist zuständig für alle Straftaten Jugendlicher, für die lediglich Erziehungsmaßregeln
oder Zuchtmittel in Betracht kommen,– berechtigt zur Verhängung von Jugendstrafe bis zu einem Jahr, wenn sich erst nach
Eröffnung der Hauptverhandlung herausstellt, dass Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel nicht ausreichen (Vermeidung von Verzögerungen des Verfahrens).
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 79
Der Jugendrichter
Gesetzliche Grundlagen: §§34-37 JGG
Jugendrichter: §34 I Aufgaben des Richters am AG
§34 II JGG: Personalunion Jugendrichter und Vormundschaftsrichter zwecks Abstimmung jugendstrafrechtlicher und jugendhilferechtlicher Maßnahmen
§37: Jugendrichter soll erzieherisch befähigt sein und erzieherische Erfahrungen haben
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 80
Funktion und Rolle des Jugendrichters
Vorstellungen des historischen Gesetzgebers: Jugendrichter als Ersatzvater
Richtlinien zu §37 JGG: Jugendrichter soll Neigung und Eignung haben; Kenntnisse auf den Gebieten der Pädagogik, der Psychologie, der Kriminologie und der Soziologie sind von besonderem Nutzen
Aber: Nichtbeachtung des §37 JGG ist kein Revisionsgrund, da bloße Ordnungsvorschrift (BGH NJW1958, S. 936); Jugendstrafrecht erfährt in der Justiz die geringste Anerkennung; Auswahl von Jugendrichtern in der Praxis erfolgt wohl keineswegs nach Eignungsgesichtspunkten
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 81
Selbst-
und Fremdbild des Jugendrichters
Empirische Untersuchungen zum Selbst- und Fremdbild des JugendrichtersHauser, Der Jugendrichter - Idee und Wirklichkeit, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1980, 1ff;
Eilsberger, Die Hauptverhandlung aus der Sicht jugendlicher und heranwachsender Angeklagter, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1969, S.304ff;
Pommerening, Das Selbstbild der deutschen Jugendrichter, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1982, S.193ff
Ergebnisse:– Jugendrichter sehen sich als „Erzieher“– Jugendliche sehen Jugendrichter eher als normale
Strafrichter
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 82
Jugendschöffen
§35 JGG– Stellung der Schöffen
– Volles Richteramt (§30 I GVG)» (1) Insoweit das Gesetz nicht Ausnahmen bestimmt, üben die Schöffen
während der Hauptverhandlung das Richteramt in vollem Umfang und mit gleichem Stimmrecht wie die Richter beim Amtsgericht aus und nehmen auch an den im Laufe einer Hauptverhandlung zu erlassenden Entscheidungen teil, die in keiner Beziehung zu der Urteilsfällung stehen und die auch ohne mündliche Verhandlung erlassen werden können.
– Unabhängig wie Berufsrichter (45 I, 1 DRiG)» (1) Der ehrenamtliche Richter ist in gleichem Maße wie ein
Berufsrichter unabhängig. Er hat das Beratungsgeheimnis zu wahren (§ 43).
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 83
Voraussetzungen des Schöffenamts
§31 GVG– Ehrenamt– Nur deutsche Staatsbürger
§32– Unfähig: Freiheitsstrafe > 6 Monate oder Verlust der Fähigkeit öffentliche Ämter
auszuüben (§45 StGB)
§33– Nicht berufen werden sollen Personen < 25 und > 70 Jahre, noch nicht 1 Jahr in
Gemeinde wohnhaft; Vermögensverfall; Gesundheitsgründe
§34– Nicht berufen werden sollen: Bundespräsident, Mitglieder der Bundes- und
Landesregierungen, politische Beamte, Richter und Staatsanwälte, Notare und Rechtsanwälte, Polizisten und Bewährungs-, Gerichtshelfer, Religionsdiener sowie Personen, die bereits 8 Jahre als Schöffen gearbeitet haben
§35– Ablehnen dürfen: Abgeordnete, Ärzte, besondere Härtefälle (Familienbetreuung,
wirtschaftliche Konsequenzen), Personen > 65 Jahre
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 84
Auswahl der Jugendschöffen
§35 I– Vorschlag des Jugendhilfeausschusses (§71 KJHG)
– Wahl der Schöffen durch beim Amtsgericht zusammentretenden Ausschuss (§40 GVG)
– Gleiche Anzahl von Männern und Frauen (vgl. auch §33aI, 2 JGG)
– Erzieherische Befähigung und Erfahrung (§35II,2)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 85
Der Jugendstaatsanwalt
Ein Jugendstaatsanwalt muss in Staatsanwaltschaften vorhanden sein und als solcher bestellt werden (§36 JGG)
Die gesetzlichen Anforderungen an den Jugendstaatsanwalt entsprechen denjenigen an den Jugendrichter (§37 JGG)
Die Probleme in Auswahl und Voraussetzungen entsprechen freilich denen des Jugendrichters
Die Bedeutung des Jugendstaatsanwalts hat (zu Lasten der Bedeutung des Jugendrichters) durch die beständige Erweiterung der unbedingten und bedingten Verfahrenseinstellung (§45 JGG)
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Die Jugendgerichtshilfe Stellung und Rolle
§38 JGG Jugendgerichtshilfe ist Aufgabe des Jugendamts
Die Jugendgerichtshilfe ist deshalb organisatorisch institutionell unabhängig von Jugendgericht und Justizbereich; sie ist Teil der Sozialverwaltung
Folgen: keine Eingliederung der Jugendgerichtshilfe in die Justiz wie beispw. Bewährungshilfe, Sozialdienst im Strafvollzug oder Gerichtshilfe (Soziale Dienste in der Justiz)
Die Jugendgerichtshilfe gilt als „erzieherisches Einfallstor“ im Jugendstrafrecht
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 87
Jugendgerichtshilfe zwischen Jugendstrafrecht und Jugendhilfe
Rechte und Pflichten der Jugendgerichtshilfe §38 II JGG:– Erforschung der Persönlichkeit des jugendlichen
Tatverdächtigen und der sozialen Umstände des Jugendlichen bzw. des Hintergrundes der Tat
– Anfertigung eines Jugendgerichtshilfeberichts– Vortrag des Jugendgerichtshilfeberichts in der
Hauptverhandlung und Vorschlag von geeigneten Rechtsfolgen
– Die Jugendgerichtshilfe ist frühestmöglich über die Einleitung eines Verfahrens zu informieren
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Rechte und Pflichten
Jugendgerichtshilfevertreter haben in jeder Phase des Verfahrens das Recht zur Äußerung
Jugendgerichtshilfevertreter haben ein umfassendes Besuchsrecht im Falle eines sich in U-Haft befindlichen Beschuldigten oder Angeklagten (§93 III JGG)
Jugendgerichtshilfevertreter haben ein Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung (§50 III JGG)
Jugendgerichtshilfevertreter haben das Recht und die Pflicht zur nachgehenden Betreuung und Überwachung eines Verurteilten (§38 II JGG)
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Rechte und Pflichten
JGH überwacht die Durchführung von Auflagen
JGH vollzieht Betreuungsweisungen
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Zielkonflikte in der Jugendgerichtshilfe
Zielkonflikt der Jugendgerichtshilfe– Betreuung und Unterstützung des jugendlichen
Tatverdächtigen– Berichtspflicht (an das Gericht) zum Zwecke der
Rechtsfolgenbestimmung sowie in der Überwachung von Rechtsfolgen
Folgen:– Offenlegung der Berichtspflichten (entsprechend §136
StPO)– Keine Pflicht zur Selbstbelastung
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 91
Fall
Der Jugendrichter am Amtsgericht F. setzt eine Hauptverhandlung gegen den Jugendlichen A an und lädt zu diesem Termin auch die Jugendgerichtshilfe mit der Bitte, einen Jugendgerichtshilfebericht über A vorzulegen. Jugendgerichtshelfer C antwortet auf die Ladung mit dem Hinweis, dass weder er noch irgendein anderer Jugendgerichtshelfer zu diesem oder zu einem anderen Termin erscheinen werden. Man habe weder die Zeit, einen Bericht anzufertigen, noch die Zeit, während der Hauptverhandlung anwesend zu sein.
Was kann der Jugendrichter tun?
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 92
Besondere Probleme
Kostentragungspflicht bei Nichterscheinen der Jugendgerichtshilfe in der Hauptverhandlung
– JGH ist Weisungen des Jugendgerichts nicht unterworfen– Meinung 1: Kostentragungspflicht entsprechend §§51, 77,
145IV, 467 II StPO, §56 GVG (Zeugen, Sachverständige)– Meinung 2: Keine Gesetzeslücke, deshalb keine
Kostentragungspflicht
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 93
Besondere Probleme
Beschlagnahme von Jugendgerichtshilfeakten– LG Bonn Neue Zeitschrift für Strafrecht 1986, S.40– LG Siegen DVJJ-Journal 1/1996, S. 84f
– Für die Übermittlung von Sozialdaten gem. §§35 I SGB I, 67 I SGB X bedarf es einer Befugnis
– Durch Einwilligung §§61 I SGB VIII, 67b I SGB X, 35 SGB I– Einfache Amtshilfe (§68 I SGB X) nur wenn schutzwürdige
Belange des Betroffenen nicht entgegenstehen– Liegen schutzwürdige Belange vor, so bedarf es für eine
Weitergabe einer richterlichen Anordnung (§73 SGB X)– Im übrigen können Akten mit einem Sperrvermerk der
vorgesetzten Behörde versehen werden, was ihre Beschlagnahme entfallen läßt.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 94
Der Jugendgerichtshilfebericht
Der Jugendgerichtshilfebericht soll enthalten:– Informationen zur Person– Informationen zur Entwicklung– Informationen zu den sozialen Umständen
Der JGH-Bericht hat die Funktion– der Unterstützung des Jugendrichters bei der Bestimmung
der Rechtsfolgen durch objektive Informationen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 95
Der Jugendstrafverteidiger
Die Rolle und Funktion des Verteidigers sind immer noch prekär wegen der Frage des Verhältnisses zwischen interessengebundener Strafverteidigung und Erziehungsprinzip
Alle Grundsätze der Verteidigung gelten auch im Jugendstrafverfahren
Insbesondere gilt der Grundsatz der notwendigen Verteidigung (§68 JGG, in Verbindung mit §140 StPO), darüber hinaus
– wenn den Erziehungsberechtigten die prozessualen Rechte entzogen worden sind– wenn Unterbringung droht– wenn Untersuchungshaft angeordnet ist
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 96
Beistand
§69
– wenn kein Fall einer notwendigen Verteidigung vorliegt– Akteneinsicht kann gewährt werden– Beistand hat dieselben Rechte wie ein Verteidiger in der
Hauptverhandlung
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 97
Jugendpolizei
Eine selbständige Jugendpolizei existiert nicht
Allerdings existieren Jugend- bzw. Jugendschutzdezernate, deren Zuständigkeit in der Bearbeitung von
– Jugendstrafsachen und– Jugendschutzsachen besteht.
Die Bearbeitung von Jugendsachen beruht auf der 1996 bundesweit eingeführten PDV 382 „Bearbeitung von Jugendsachen“ (hierzu Kuhnath, W.: DVJJ-Journal 1/1997, S. 24ff).
Polizisten sind „Hilfsbeamten“ der Staatsanwaltschaft; insoweit gibt es keine selbständige Erledigungsbefugnis der Polizei (wie beispw. in England oder Holland)
In den letzten Jahren ist aber die faktische Rolle der Polizei in der Schaffung von Einstellungsvoraussetzungen gestiegen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 98
Die Erziehungsberechtigten
Erziehungsberechtigte spielen im Jugendstrafverfahren eine besondere Rolle (§67 JGG)
wegen Art. 6 GG sowie der subsidiären Stellung des Staates im Erziehungsprozess
Erziehungsberechtigte haben alle prozessualen Rechte wie der Beschuldigte/Angeklagte selbst
– Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung– Stellung von Anträgen– Rechtsmittel
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 99
Vernetzung und Kooperation
Das Erziehungsprinzip wird auch interpretiert als Forderung nach
– Beschleunigung
– Kooperation der am Verfahren Beteiligten (unter der Zielsetzung der erzieherischen Einflussnahme)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 100
Stuttgarter „Haus des Jugendrechts“
Eingerichtet 1997
Polizei, Jugendgerichtshilfe, Jugendstaatsanwaltschaft „unter einem Dach“
Ziele– Beschleunigung– Bessere Kooperation
Feuerhelm, W., Kügler, N.: Das „Haus des Jugendrechts“ in Stuttgart Bad Cannstatt. Ergebnisse einer Evaluation. Institut für
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 101
Die Einleitung des Jugendstrafverfahrens
Keine Unterschiede im Vergleich zum Erwachsenenstrafverfahren
Bei Vorliegen eines Tatverdachts haben die Strafverfolgungsbehörden Ermittlungen einzuleiten
– §152 II StPO– §160 I StPO– §163 I StPO
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 102
Umfang der Ermittlungen
§43 JGG
– Untersuchung der Lebens- und Familienverhältnisse– Werdegang und bisheriges Verhalten– Anhörung der Erziehungsberechtigten, der Schule und des
Ausbildenden– Keine Anhörung der Schule bzw. des Ausbildenden, wenn
Nachteile zu erwarten sind– Soweit erforderlich: Untersuchungen zum Reifestand
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 103
Diversion und Einstellung des Strafverfahrens
Legalitätsprinzip und Opportunitätsprinzip
Funktion des Legalitätsprinzips (§152 II StPO)
– Gleichbehandlung/Ausschluss von Willkür– Trennung von politischen und rechtlichen Entscheidungen– Schutz des Staatsanwalts vor politischen Pressionen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 104
Entstehung des Diversionsgedankens
Diversion = Umleitung (um das Strafverfahren/die Hauptverhandlung)
Labeling approach und Etikettierung: – Jugendkriminalität ist weitgehend episodenhaft (Einmalkriminalität)– Vermeidung von Stigmatisierung und Sekundärdevianz sowie der
Entwicklung krimineller Karrieren
Non-Intervention zur Vermeidung aller negativen Kontakte mit Polizei und Justiz
Diversion: Umleitung und Transfer in nicht-justizielle Programme (Erziehung und Betreuung)
Diversion und §45 JGG
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 105
Einstellung nach §45 JGG
1. Variante §45 Absatz 1 JGG– Absehen von der Strafverfolgung– ohne Zustimmung des Richters– unter den Voraussetzungen des §153 StPO
Voraussetzungen des §153 StPO– Vergehen– Schuld des Täters ist gering– kein öffentliches Interesse an Strafverfolgung
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 106
Einstellung nach §45 JGG
2. Variante §45 Absatz 2 JGG– erzieherische Maßnahme ist bereits durchgeführt
oder eingeleitet– eine Beteiligung des Richters oder eine Anklage
werden nicht für erforderlich gehalten
Auswirkung des Subsidiaritätsprinzips– ausreichende Reaktion der Eltern, Schule etc. reicht
aus und muss berücksichtigt werden– Jugendstaatsanwalt kann die Voraussetzungen selbst
anregen/einleiten
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 107
Einstellung nach §45 JGG
3. Variante §45 Absatz 3– JStA regt Ermahnung oder Erteilung von Weisungen (§10
Nr. 4,7,9 JGG) oder Auflagen durch den Jugendrichter an– Beschuldigter ist geständig– jugendrichterliche Reaktion wird für erforderlich,– Anklage wird nicht für erforderlich gehalten
– Jugendrichter entspricht der Anregung– Weisungen oder Auflagen sind erfüllt
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 108
Einstellung und Therapie
Einstellung zu Therapiezwecken in Verfahren gegen Drogenabhängige (§§ 29 Abs. 5, 31a, 37, 38 Abs. 2 BtMG)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 109
Unterschiede zum Erwachsenenstrafverfahren
Keine Beschränkung auf Vergehen
§45 III: Geständnis
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 110
Praxis und Entwicklung der Einstellung/Diversion
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 111
Anteile Formell und Informell Sanktionierter bei erstmaliger Auffälligkeit wegen einfachen Diebstahls im Alter von 14-15 Jahren in den Geburtskohorten
1970-1973-1975
37 3323
63 6777
0102030405060708090
1970 1973 1975
Formell Sanktioniert Informell Sanktioniert
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 112
Unterschiede in Diversionsraten zwischen Bundesländern
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 113
Probleme der Diversion
Net widening
Probleme der Einbeziehung des Opfers (keine Rechtsmittel)
Ungleichbehandlung– bei Einzeldelikten– Insgesamt
Rechtsstaatsprinzip
Marginalisierung der Judikative
„Exekutives“ Recht
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 114
Diversionsrichtlinien
Vereinheitlichung der Einstellungskriterien durch sog. Diversionsrichtlinien
Rechtsgrundlage: Weisungsrecht gegenüber Staatsanwälten (§§ 146, 147 GVG)
Bundesländerspezifische Richtlinien für Einstellungen
Besondere Bedeutung: Drogendelikte
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 115
Beispiel Diversionsrichtlinien
Richtlinien zur Förderung der Diversion bei jugendlichen und heranwachsenden Beschuldigten
Gem. Erl. d. MJBE, d. IM u. d. MFJWS v. 24.6.1998 Schleswig Holstein
Alle Fälle, in denen ein Strafgesetz auf § 248a StGB (,,geringwertige Sachen") verweist
Diebstahl (§ 242 StGB), Unterschlagung (§ 246 StGB) und Betrug (§ 263 StGB), wenn die Höhe des Schadens oder der Wert der Sache nicht mehr als etwa 50 € beträgt (geringer Schaden); leichte Fälle von Urkundenfälschung, ggf. in Tateinheit mit Betrug, bei Preisetikettenaustausch (§§ 263, 267 StGB)
leichte Fälle des Fahrraddiebstahls (§§ 242, 243 StGB); leichte Fälle des Automatenaufbruchs (§§ 242, 243 StGB)
unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs (§ 248b StGB); Hehlerei (§ 259 StGB)
Sachbeschädigung (§§ 303, 304 StGB) ohne feste Wertgrenze: entscheidend ist die jugendtypische Motivation oder Situation; vorsätzliche Körperverletzung (§§ 223, 224 STGB), bei leichtem Angriff und leichten Folgen sowie bei leichtem Angriff und schweren Folgen, wenn trotz der schweren Folgen aufgrund besonderer Umstände der Schuldgehalt als gering anzusehen ist; fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB); leichte Fälle der Nötigung und Bedrohung (§§ 240, 241 StGB); Hausfriedensbruch (§123 StGB); Beleidigung (§185 StGB); Missbrauch von Notrufen (§145 StGB) und Vortäuschung einer Straftat (§ 145d StGB), z.B. wenn diese den Charakter eines ,,Streiches" haben; Beförderungserschleichung (§ 265a StGB); Verkehrsstraftaten• Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG);leichte Verstöße gegen das Pflichtversicherungsgesetz (§§ 1, 6 PflVG) bzw. Kraftfahrzeugsteuergesetz (§§ 1,4 KfzStG) in Verbindung mit leichten Vergehen gegen die Abgabenordnung (§ 370 AO); leichte Fälle des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§142 StGB)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 116
Fortsetzung Diversionsrichtlinien
2.4 § 45 Abs.1 JGG
Insbesondere bei Taten erstmals auffällig gewordener Jugendlicher und Heranwachsender ist die Anwendbarkeit von § 45 Abs. 1 JGG zu prüfen, wenn es sich um jugendtypisches Fehlverhalten mit geringem Schuldgehalt und geringen Auswirkungen handelt, das über die bereits von der Entdeckung der Tat und dem Ermittlungsverfahren ausgehenden Wirkungen hinaus keine erzieherischen Maßnahmen erfordert. Der Erziehungsgedanke des Jugendgerichtsgesetzes unter Abkehr von Strafverfolgung setzt allerdings voraus, dass eine erzieherische Wirkung des Ermittlungsverfahrens von den Verfahrensbeteiligten sichergestellt wird.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 117
Fortsetzung Diversionsrichtlinien
3.1.1 Sind Beschuldigte geständig oder bestreiten sie nicht ernstlich den Tatvorwurf ist zunächst in Ausführung des Erziehungsgedankens des Jugendgerichtsgesetzes sicherzustellen, dass von dem Ermittlungsverfahren eine erzieherische Wirkung ausgeht. Anlässlich der verantwortlichen Vernehmung hat die Polizei deshalb ein erzieherisches Gespräch mit den Beschuldigten zu führen, das der Normverdeutlichung dient und die erzieherischen Wirkungen des Ermittlungsverfahrens unterstützen soll. Gleichzeitig sollen die Beschuldigten in geeigneten Fällen auf Hilfsangebote staatlicher und sozialer Organisationen, insbesondere von Trägern der Jugendhilfe, hingewiesen werden.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 118
Fortsetzung Diversionsrichtlinien
3.1.1.1 Als eine weitere erzieherische Reaktion kommt eine sofortige Entschuldigung beim Opfer sowie eine sofortige Schadenswiedergutmachung in Betracht. In geeigneten Fällen hat die Polizei aufgrund ihrer Fürsorgepflicht gegenüber den Beschuldigten diese Wiedergutmachung an Ort und Stelle anzuregen, weil sie einen positiven Einfluss auf die Abschlussentscheidung der Staatsanwaltschaft haben kann. Hält die Polizei danach weitere Maßnahmen für entbehrlich, so teilt sie dies unter gleichzeitiger Übersendung der Akten der Staatsanwaltschaft mit und schlägt eine Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG vor.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 119
Neuere Entwicklungen
Diversion durch Polizei?
Diversionsrichtlinien von Schleswig-Holstein und Berlin lassen es zu, dass die Polizei die Voraussetzungen für eine Einstellung selbst schafft und der Staatsanwaltschaft dann vorschlägt, das Verfahren einzustellen
Polizei regt Wiedergutmachung oder TOA an bzw. führt ein Erziehungsgespräch bzw. verwarnt.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 120
Einstellung durch den Jugendrichter
§47 JGG– Nach Einreichung der Anklage
» 1) Voraussetzungen des §153 StPO liegen vor» 2) erzieherische Maßnahme im Sinne des §45 II ist bereits
durchgeführt oder eingeleitet und macht ein Urteil entbehrlich» 3) Richter hält Urteil für entbehrlich und ordnet gegen
geständigen Jugendlichen eine Maßnahme wie in §45 III, 1 bezeichnet ein
» 4) mangels Reife ist der Angeklagte nicht verantwortlich
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 121
Voraussetzungen und Folgen des §47
§47 II Zustimmung des Staatsanwalts
§47 II, 3 Begründung des Einstellungsbeschlusses
§47 III Beschränkte Rechtskraft– Neue Tatsachen oder Beweismittel– Müssen zu einer anderen rechtlichen Bewertung (desselben)
Sachverhalts führen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 122
§31a BtMG
Besondere Einstellungsvorschrift des Betäubungsmittelgesetzes
– §31 a (1) „Hat das Verfahren ein Vergehen nach § 29 Abs. 1, 2 oder 4 zum Gegenstand, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre, kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht und der Täter die Betäubungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch … oder besitzt“
– Verhältnis der Spezialität zu §§45, 47
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 123
Strafverfahren und Zwangsmaßnahmen
§81a StPO Körperliche Untersuchungen (beispw. Blutprobe)
§81b StPO Lichtbilder, Fingerabdrücke, Messungen
§81e ff StPO Molekulargenetische (DNA) Untersuchungen
§§94 ff Beschlagnahme, Durchsuchung etc.
§§112 ff Verhaftung und vorläufige Festnahme
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 124
Untersuchungshaft
Haftvoraussetzungen der StPO §§112ff
Besondere Voraussetzungen bei Jugendlichen §72 JGG
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 125
Voraussetzungen der Untersuchungshaft
§112
– Dringender Tatverdacht
– Haftgrund
– Verhältnismäßigkeit
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 126
Haftgründe
Flucht oder Fluchtgefahr (§112 II, 1, 2 StPO)
Verdunkelungsgefahr (§112 II, 3 StPO)
Wiederholungsgefahr (§112 a StPO)
Schwere der Straftat (§112 III StPO)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 127
Besonderheiten des JGG §72 JGG
Besondere Prüfung von Alternativen wie vorläufige Maßnahmen der Erziehung
Besondere Prüfung der Verhältnismäßigkeit
Besondere Begründungspflicht
Besondere Voraussetzungen bei unter 16-Jährigen (§72 II JGG)
Besondere Beschleunigung des Verfahrens (§72 V JGG)
Haftentscheidungshilfe durch die Jugendgerichtshilfe
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 128
Haftentscheidungshilfe
§72 a JGG
– Muss: Unverzügliche Unterrichtung der Jugendgerichtshilfe von der Vollstreckung eines Haftbefehls
– Soll: Mitteilung des Erlasses eines Haftbefehls– Muss: Unterrichtung über vorläufige Festnahme, wenn
Vorführung vor den Richter gem. §128 StPO zu erwarten
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 129
Alternativen zur Untersuchungshaft
§72 I JGG
– Voraussetzung der Untersuchungshaft– Zweck der Untersuchungshaft (Verfahrenssicherung) kann
nicht erreicht werden durch» Vorläufige Anordnungen über die Erziehung (§71 JGG)» Andere Maßnahmen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 130
Verhältnismäßigkeit
§112 I, 2 StPO
– §72 I, 2 JGG: zu berücksichtigen insbesondere die besonderen Belastungen des Vollzugs für Jugendliche
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 131
Begründung
§72 I, 3 JGG
– Begründung, dass– Andere Maßnahmen nicht ausreichen– Die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 132
Unter 16-Jährige
§72 II JGG
– Einschränkung bei Fluchtgefahr» Bereits dem Verfahren entzogen oder Anstalten zur Flucht
getroffen» Kein fester Wohnsitz im Geltungsbereich des Gesetzes
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 133
Das Sanktionensystem des JGG
Erziehungsmaßregeln
Zuchtmittel
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 134
§5 JGG
Verhältnis der Sanktionen zueinander
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 135
Voraussetzungen und Zielsetzung
§5: Die Straftat– Tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung
Alle Rechtsfolgen des JGG dienen dem Erziehungsziel– Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgedankens durch
– Erziehungsbedürftigkeit?– Erziehungsfähigkeit?– Erziehungswilligkeit?
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 136
Ziel der Erziehung
§21 I: „rechtschaffener Lebenswandel“?– Problem der Bestimmtheit
Legalbewährung oder Leben ohne Straftaten
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 137
Abgrenzung
Erziehungsmaßregeln Erziehung
Zuchtmittel Erziehung und Ahndung
Jugendstrafe Erziehung, Ahndung, Strafe
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 138
Abstufung
Subsidiarität/Verhältnismäßigkeit
– Erziehungsgeeignetheit
– Eingriffsintensität (beispw. Verwarnung = wenig intensiv)
– Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Gewicht der Straftat)
– Allerdings ist die Abgrenzung zwischen Zuchtmittel und Erziehungsmaßregel wohl kaum noch sinnvoll durchführbar (§10 Nr. 4 Arbeitsleistungen erbringen, sowie §15 I, Nr. 4 Arbeitsleistungen zu erbringen)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 139
Prognose
Intuitive Prognose: Alltagstheorien, -überlegungen
Klinische Prognose: Psychiatrische/medizinische Erhebung von Informationen im Einzelfall
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 140
Prognosefehler
Ereignis wird vorhergesagt, es tritt aber nicht ein
Ereignis wird nicht vorhergesagt, es tritt aber ein
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 141
Strafzumessung und Erziehung
Einheitssanktion §31 I JGG– Keine Gesamtstrafenbildung
§6 Keine Straffolgen, die Stigmatisierung mit sich bringen
§8: Kombinationsmöglichkeiten– Ausschluß der Kombination ausgesetzte Jugendstrafe und
Jugendarrest
§5 III Absehen von Zuchtmitteln oder Jugendstrafe, wenn Unterbringung die Ahndung entbehrlich macht
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 142
Erziehungsmaßregeln
§§9ff JGG
Voraussetzungen:
– aus Anlass einer Jugendstraftat
– erzieherisch wirksame Beeinflussung der Lebensführung des jugendlichen Straftäters
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 143
Weisungen §10 JGG
§10 I: Lebensführungsregelung
§10 I, 2: Zumutbarkeit
Grundrechtliche Schranken: insb. Art. 4, 5, 9, 12 GG
§11 I Laufzeit– Bestimmt– Höchstens 2 Jahre
» Nr. 5 1 Jahr, Nr. 6 6 Monate
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Inhalt von Weisungen
Nicht abschließender Katalog
Begrenzung durch – Inhalt muss klar und bestimmt (und überprüfbar) sein– Zumutbarkeit– Umgehungsverbot
Frage: Darf der Jugendrichter den Jugendlichen anweisen, Weisungen eines Jugendgerichtshelfers nachzukommen?
Darf eine Weisung verhängt werden, wenn die Eltern ausdrücklich widersprechen?
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 145
Art. 6 GG
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
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Voraussetzungen des TOA
Regelmäßig sollten gegeben sein
– Geständnis– Nachweis der Tat– Belehrung, dass die Teilnahme freiwillig erfolgt
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 147
Besondere Weisungen
Gemeinnützige Arbeit (und Arbeitszwang?)
Soziale Trainingskurse
Betreuungsweisung
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 148
Ziele der neuen Weisungen
Ersetzung von freiheitsentziehenden Sanktionen, insb. Jugendarrest
Pädagogische Einflussnahme
Aufgreifen des Opfer- und Wiedergutmachungsgedankens
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 149
Gemeinnützige Arbeit
Ist gemeinnützige Arbeit unzulässige Zwangsarbeit (Art. 12 III GG)?
§11 JGG: Laufzeit und nachträgliche Änderungen von Weisungen
– §11 III Ungehorsamsarrest bedeutet Erzwingbarkeit der gemeinnützigen Arbeit
BVerfGE 74, S. 102ff: Trotz Erzwingbarkeit keine Zwangsarbeit
– gemeinnützige Arbeit nach JGG fällt nicht in den Schutzbereich des Art. 12 GG
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 150
Konsequenzen aus dem Urteil des BVerfG
Die Arbeit darf nicht herabwürdigend sein
Die Arbeit muss inhaltlich sinnvoll sein
Die Arbeit muss der Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Person dienen
Die Arbeit darf nicht als bedrückend, schikanös oder unnötig belastend empfunden werden
Die Arbeit darf den Jugendlichen nicht überfordern
Die Anzahl der Arbeitsstunden muss in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat stehen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 151
Anzahl der Arbeitsstunden
Keine Anhaltspunkte im JGG
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Literatur überwiegend: 120 Stunden
2. Reformkommission der DVJJ: 80 Stunden
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 152
Arbeit als Weisung oder Auflage
Unterscheidung Arbeitsauflagen nach § 15 Abs.1 Nr.3 JGG und Arbeitsweisung nach § 10 Abs.1 S.3 Nr.4 JGG:
– Weisungen sollen die Lebensführung des Jugendlichen regeln: Förderung der Erziehung, § 10 Abs.1 S.1 JGG
– Voraussetzung: Erziehungsbedürftigkeit, -fähigkeit und -willigkeit des Beschuldigten. Weisungen müssen deshalb frei sein von vergeltenden und repressiven Elementen
– Umstritten ist, ob Arbeitsweisungen nur angeordnet werden dürfen, um die Einstellung zur Arbeit zu verändern oder auch aus darüber hinausgehenden erzieherischen Überlegungen
– EineArbeitsweisung setzt eine pädagogische Ausgestaltung voraus
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 153
Soziale Trainingskurse
Laufzeit nicht mehr als 6 Monate (§11 I JGG)
Inhalt: Vom Jugendamt oder freien Trägern angebotene Kurse mit
– unterschiedlichem Inhalt: gesprächs-, handlungs- oder erlebnisorientiert
» Beisp. Anti-Gewalt-Training
– unterschiedlichen Formen (Wochenende, Freizeit, Dauerkurse)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 154
Richtlinie für die Durchführung von sozialen Trainingskursen
Wesentliche Merkmale sind dabei:– die Intensität und Befristung,– die Projekt- und Handlungsorientierung,– ein ausgeprägter thematischer Bezug,– Einbezug des die Lebensbedingungen bestimmenden sozialen
Umfeldes des jungen Menschen,– der regionale Bezug
Bei der didaktischen Gestaltung der sozialen Trainingskurse sind die soziale Gruppenarbeit und Einzelfallhilfe gleichermaßen zu berücksichtigen
Soziale Trainingskurse sollen von den Teilnehmern als Beitrag zur positiven Veränderung ihrer Lebensperspektive erfahren werden können.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 155
Soziale Trainingskurse
Sozialer Trainingskurs “Soziales Lernen”
Zielgruppe: Straffällig gewordene Jugendliche und junge Volljährige beiderlei Geschlechts von 14 bis 21 Jahren
Ziele:Vermeidung neuer Straftaten, Lernen neuer Handlungsmuster, Stärkung von Kooperations- und Gruppenfähigkeit Vermittlung gültiger Rechtsnormen
Leistungen: Gruppendynamische Übungen, Konfrontative Verfahren, Kooperationsübungen, Beratungsgespräche, Erlebnispädagogische Massnahmen
Häufigkeit– 12 Abende je 2 Zeitstunden, 1 Wochenendveranstaltung, 2
Tagesveranstaltungen
Anbieter: Sprungbrett e.V. Bonn
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 156
Soziale Trainingskurse
Sozialer Trainingskurs B. Anti-Gewalttraining
Zielgruppe: männliche Jugendliche und junge Volljährige beiderlei Geschlechts von 14 bis 21 Jahren mit Gewaltdelikten
Ziel: Vermeidung neuer Straftaten, Reduzierung der Gewaltbereitschaft, Erhöhung der Frustrationstoleranz, Vermittlung gültiger Rechtsnormen, Erhöhung der Selbstwertgefühls und der Selbstwirksamkeit
Leistungen: Psychodramatische Verfahren, Konfrontative Verfahren
Häufigkeit: 12 Abende je zwei Zeitstunden (bei 10 Teilnehmern), 1 Tagesveranstaltung, 4 Abende je 3 Zeitstunden
Sprungbrett e.V. Bonn
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 157
Kosten der Sozialen Trainingskurse
Verfahrenskosten?– §464a I, 1 StPO
Vollstreckungskosten nach §464a I, 2 StPO? – Weisungen werden nicht vollstreckt
notwendige Auslagen des Verurteilten gem. §464a II StPO?
§ 27 I KJHG regelt den Anspruch auf erzieherische Hilfe – Nach Absatz 2 richten sich Art und Umfang der Hilfen nach dem
erzieherischen Bedarf im Einzelfall
Dem Jugendrichter obliegt es in diesem Fall, über Anordnung, Umfang und Beendigung des Trainingskurses zu entscheiden, und damit die nach dem KJHG bestehenden Aufgaben der Jugendhilfe zu konkretisieren
Der Jugendrichter stellt mit der Weisung fest, dass die Voraussetzungen des §27 I KJHG vorliegen
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Betreuungsweisung
§10 I Nr. 5
– Betreuung und Aufsicht durch eine bestimmte Person– Jugendgerichtshilfe §38 II, 7– Dauer höchstens 1 Jahr (§11 I)
– Nichtbefolgung von Weisungen des Betreuers» Ungehorsamsarrest?
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Täter-Opfer-Ausgleich
Wird angeboten in Projekten freier Träger bzw. der Jugendgerichtshilfe
Begründung: Anstatt Strafe konstruktive Lösung eines Konflikts
Inhalt – Mediation, Ausgleich, Konfliktlösung– Wiedergutmachung
Probleme: Mitwirkungsbereitschaft des Opfers, Erwartungen des Opfers und der Öffentlichkeit, Durchsetzung (als Teil strafrechtlichen Zwangs)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 160
Voraussetzungen des TOA
Regelmäßig sollten gegeben sein
– Geständnis– Nachweis der Tat– Belehrung, dass die Teilnahme freiwillig erfolgt
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 161
Zuchtmittel (§13 JGG)
Verwarnung
Erteilung von Auflagen
Jugendarrest
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 162
Zuchtmittel Voraussetzungen und Inhalt
§13 JGG: „wenn Jugendstrafe nicht geboten ist“
§13 JGG: Disziplinierung/Sanktion, „dem Jugendlichen muss eindringlich zum Bewusstsein gebracht werden, dass er für das Unrecht einzustehen hat“
Problem: Abgrenzung von Weisungen (insb. gemeinnützige Arbeit)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 163
Auflagen (§15 JGG)
Schadenswiedergutmachung
Entschuldigung
Gemeinnützige Arbeit
Geldauflage
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 164
Wiedergutmachung
Voraussetzung– Zivilrechtliche Anspruchsgrundlage– Zivilrecht definiert Obergrenze
– Nach Kräften: Zumutbarkeit muss berücksichtigt werden
Auflage soll Art und Höhe genau benennen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 165
Arrest
Voraussetzungen: für an sich „gut geartete“ Jugendliche, die durch kurzen Freiheitsentzug zur Besinnung gebracht und erzieherisch beeinflusst werden können.
Reformüberlegungen:– vollständige Abschaffung– starke pädagogische Ausgestaltung (dann freilich
Abgrenzungsprobleme zu den Erziehungsmaßregeln)– „Einstiegsarrest“ (Schnupperhaft)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 166
Arrestformen (§16 JGG)
Freizeitarrest
– Wöchentliche Freizeit: 1 – 2 Freizeiten– 1 Freizeit: Samstag Morgen bis Montag Morgen
Kurzarrest– Zusammenhängender Arrest erscheint erzieherisch
zweckmäßig– 1 Freizeit entspricht 2 Tagen Kurzarrest
Dauerarrest– Mindestens 1 Woche und höchstens 4 Wochen (Bemessung
nach vollen Tagen oder Wochen)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 167
Arrestanstalt SH
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 168
Arrestvorschriften Schleswig Holstein
Was müssen zukünftige Arrestantinnen und Arrestanten mitbringen?
Informationen für zukünftige Arrestantinnen und Arrestanten und was Sie bei Arrestantritt in der Jugendarrestanstalt Moltsfelde zu beachten haben:
Es ist unbedingt erforderlich, dass Sie folgendes mitbringen:– Ladung zum Arrestantritt– Personalausweis– Krankenversicherungskarte– Ausreichend Bekleidung - ohne politische Parolen– Bettwäsche, Handtücher– Seife, Zahnpasta, Zahnbürste - original verpackt -– Duschgel, Shampoo - in durchsichtigen Flaschen -– Briefmarken, Briefpapier– Geld für die Heimfahrt– Geld für den Einkauf (Tabakwaren, Süßigkeiten, Getränke)
Das können Sie mitbringen:
Weiterhin mitbringen können Sie:– Schreib- und Zeichenmaterial - keine Filzstifte -– Lehrbücher und -material– Genügend Tabakwaren - original verpackt -
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 169
Arrestvorschriften
Nicht mitbringen dürfen Sie:
Lebensmittel, Obst, Gemüse, Alkohol, Getränke
Angebrochene Tabakwaren
Radio-, Kassettenrecorder, Walkman, Discman, MP3-Player
Handy
Rasierer und Haarschneider
Sprayflaschen - z. B. Rasierschaum, Schaumfestiger, Deo
Stiefel - jeder Machart -
Kopfkissen und Bettdecke
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 170
Fall
Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - sprach den zur Tatzeit fast 21-jährigen Beschwerdeführer des Raubs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig und setzte die Entscheidung, ob Jugendstrafe zu verhängen sei, für die Dauer von zwei Jahren zur Bewährung aus (§ 27 JGG). Ferner verhängte es einen Dauerarrest von vier Wochen.
– BVerfG 2 BvR 930/04, vom 9. 12. 2005 (http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20041209_2bvr093004.html)
– Art. 103 II GG
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 171
Jugendstrafe
Grenzen: 6 Monate - 5 Jahre (10 Jahre) § 18 JGG
Untergrenze 6 Monate: Begründung Erziehung und schädliche Folgen kurzen Freiheitsentzugs
Obergrenze 5 Jahre: ebenfalls begründet mit Erziehung; eine 4-5 Jahre übersteigende Aufenthaltsdauer in einer ge-schlossenen Einrichtung wird unter Erziehungs- gesichtspunkten als unbrauchbar oder gar kontraproduktiv betrachtet
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 172
Voraussetzungen der Jugendstrafe (§17 JGG)
Schädliche Neigungen– wenn wegen der schädlichen Neigungen des
Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen
wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 173
Schädliche Neigungen
Schädlichen Neigungen werden definiert als – eine Entwicklungsstörung oder Entwicklungsgefährdung – mit einem Ausmaß, das die Begehung weiterer nicht unerheblicher
Straftaten befürchten lässt
Insoweit enthält die Definition neben einer Zustandsbeschreibung auch ein prognostisches Element (nicht unerhebliche Straftaten in der Zukunft)
Schädliche Neigungen müssen in der Straftat zum Ausdruck kommen
Schädliche Neigungen müssen zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung vorliegen
Schädliche Neigungen müssen so schwer sein, dass sie nur in einer längeren Gesamterziehung (Jugendstrafe) beseitigt werden können
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 174
BGH NStZ
1988, S. 498
Die JugK bejaht schädliche Neigungen der Angeklagten in erheblichem Umfang und hält deshalb trotz fehlender Vorstrafen aus erzieherischen Gründen eine langdauernde Jugendstrafe für geboten. Zur Begründung führt sie an, die Angeklagte habe sich dem erzieherischen Einfluss ihrer Eltern entzogen und ausschließlich unter dem negativen Einfluss des Mitangekl. Karl- Heinz L gestanden; neben ihm sei sie zu einer eigenen Persönlichkeitsentwicklung nicht imstande gewesen.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 175
BGH NStZ
1988, S. 498
Das genügt jedoch nicht, um schädliche Neigungen der Angeklagten zu bejahen. Die JugK berücksichtigt nicht, dass die Angeklagte bisher weder vorgeahndet noch vorbestraft ist. Schädliche Neigungen eines Jugendlichen können sich zwar schon in seiner ersten Straftat zeigen. Es bedarf dann aber regelmäßig der Feststellung schon vor der Tat entwickelt gewesener Persönlichkeitsmängel, die auf die Tat Einfluss gehabt haben und befürchten lassen, dass weitere Straftaten begangen werden. Bei einem bisher noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getretenen Täter, der dem Einfluss anderer erlegen ist, wird regelmäßig nicht von schädlichen Neigungen gesprochen werden können (BGH, Urt. v. 1. 7. 1976 - 4 StR 207/76) ...
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 176
BGH NStZ
2002, S. 89
Schädliche Neigungen können sich auch schon in der ersten Straftat des Jugendlichen zeigen. Es bedarf dann aber regelmäßig der Feststellung von Persönlichkeitsmängeln, die - wenn auch verborgen - schon vor der Tat entwickelt waren, auf sie Einfluss gehabt haben und weitere Taten befürchten lassen. Wer die hohe Hemmschwelle bei Tötungsdelikten überwindet, wird in aller Regel, wenn die Tat nicht durch außergewöhnliche Umstände geprägt ist, erhebliche Persönlichkeitsmängel aufweisen, die Anlass zu der Befürchtung weiterer gravierender Straftaten geben und - unabhängig davon, dass auch die Schwere der Schuld Jugendstrafe rechtfertigt - die Ahndung nur mit Zuchtmitteln als nicht ausreichend und verfehlt erscheinen ließen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 177
Was spricht für schädliche Neigungen?
Umgehendes Fortsetzen von Straftaten nach vorübergehender Inhaftierung und Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe
Wiederholtes vom Täter zu verantwortendes Scheitern beruflicher Integrationsmaßnahmen
Zeitnah nach der zu verhandelnden Tat begangene Straftaten
Verweigerung von gemeinnütziger Arbeit bei Gewährung von Sozialhilfe
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 178
Was spricht gegen schädliche Neigungen?
Gruppenzwang, „falsch“ verstandene Solidarität
Ersttat
Situationsbedingtes Verhalten
Geringfügige Straftaten
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 179
Schulderwägungen und Erziehung
Schuld soll limitieren: kein Abweichen nach oben wegen erzieherischer Erfordernisse
– Begründung?– Sachbeschädigung und schädliche Neigungen: 4 Jahre
Jugendstrafe?
Bemessung und Dauer der Jugendstrafe soll immer erzieherisch begründet sein §18 II (so zu bemessen, dass die erzieherische Einwirkung möglich ist)
Problem: §18 I, Satz 2: Höchststrafe 10 Jahre knüpft offensichtlich allein an Schuld- bzw. Generalpräventionsgesichtspunkte an
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 180
BGH Strafverteidiger 1998, S. 336
Hinweis auf §18 II JGG – auch bei der Bemessung der Jugendstrafe von mehr als 5
Jahren wird die Anpassung an erzieherische Bedürfnisse verlangt
Die Erweiterung des Strafrahmens auf 5 bis 10 Jahre wird im Gesetz aber alleine an das Vorliegen einer Straftat gebunden wird, die nach Erwachsenenstrafrecht einen Strafrahmen von mehr als 10 Jahren eröffnen würde
Damit ist die Begründung ausschließlich an die Schuldschwere gebunden
– Jedoch keine Berücksichtigung von Generalprävention
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 181
Bemessung der Jugendstrafe
BGH Strafverteidiger 1987, S. 306
Nach den Feststellungen stand der Angeklagte im Alter von 14 Jahren auf dem Stand eines Viertklässlers. Deshalb war nach Ansicht der Jugendkammer eine Jugendstrafe erforderlich zur weiteren erzieherischen Einwirkung auf den Angeklagten, der in der Haft eine Berufsausbildung beginnen und den Hauptschulabschluss anstreben sollte.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 182
Reformüberlegungen
Abschaffung des Anknüpfungspunkts der schädlichen Neigungen
Orientierung allein an Schwere der Straftat und Schuld (begrenzt durch §18 JGG)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 183
Jugendstrafe und Bewährung
§21 JGG Strafaussetzung zur Bewährung
§27 JGG Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung
§57 JGG Vorbewährung (Absätze 1 und 2)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 184
Strafaussetzung zur Bewährung
§21 I JGG– bis zu einem Jahr– zu erwarten (Prognose)
– Jugendlicher lässt sich die Verurteilung als Warnung dienen
– Rechtschaffener Lebenswandel unter der erzieherischen Einwirkung während der Bewährungszeit auch ohne Einwirkung des Jugendstrafvollzugs
§21 II JGG– bis 2 Jahre– Vollstreckung ist im Hinblick auf Entwicklung nicht
geboten (Prognose)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 185
Vollstreckte Jugendstrafe
Zur Erziehung geeignet?
Problem der Geeignetheit einer Gesamterziehung im Jugendstrafvollzug
Verhältnismäßigkeit? Vgl.: OLG Schleswig Strafverteidiger 1985, S. 420: gesetzgeberische Grundentscheidung für eine „Erziehungs“-Strafe
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 186
Aussetzung der Verhängung §27
Erschöpfung der Ermittlungsmöglichkeiten
Keine sichere Beurteilung, ob in der Straftat eines Jugendlichen schädliche Neigungen von einem Umfang hervorgetreten sind, das eine Jugendstrafe erforderlich ist
– Feststellung der Schuld des Jugendlichen– Entscheidung über die Verhängung der Jugendstrafe wird zur
Bewährung ausgesetzt– Festsetzung der Bewährungszeit (§28)– Bestellung eines Bewährungshelfers (§29)– §30: Verhängung der Jugendstrafe oder Tilgung des Schuldspruchs
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 187
Vorbewährung §57
(1) Die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung wird im Urteil oder, solange der Strafvollzug noch nicht begonnen hat, nachträglich durch Beschluß angeordnet. Für den nachträglichen Beschluß ist der Richter zuständig, der in der Sache im ersten Rechtszug erkannt hat; der Staatsanwalt und der Jugendliche sind zu hören.
(2) Hat der Richter die Aussetzung im Urteil abgelehnt, so ist ihre nachträgliche Anordnung nur zulässig, wenn seit Erlaß des Urteils Umstände hervorgetreten sind, die allein oder in Verbindung mit den bereits bekannten Umständen eine Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung rechtfertigen.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 188
Verteilung der jugendstrafrechtlichen Sanktionen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 189
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 190
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 191
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 192
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 193
Gefangene mit Jugendstrafe (Stichtag 31.3.)
0
1000
2000
3000
4000
5000
6000
7000
8000
1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005
Alle 14-17 Jährige
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 194
Verfahrenserledigungen und Ungehorsamsarrest
1991 1992 1993 1994
Verfahrenserledigungen insgesamt 3086 2795 2939 2534
Davon: Arbeitsleistungen 417 397 476 388
Geldauflagen 454 312 458 424
Betreuungsweisungen 187 158 231 226
Schadenswiedergutmachung 86 124 105 123
Kombinationen 214 170 47 26
Arrestbewehrte Weisungen u. Auflagen 1358 1161 1317 1187
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 195
Einheitsstrafe
Strafenbildung bei mehreren Straftaten:
– im Erwachsenenstrafrecht gilt das Prinzip der Gesamtstrafenbildung (§§53, 54 StGB)
– im Jugendstrafrecht gilt das Prinzip der einheitlichen Strafe (§31 JGG)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 196
Sanktionen, Nebenfolgen und Maßregeln
Nebenfolgen (§45 StGB) – Konzept der Nebenfolgen: Verlust der Bürgerrechte– §6: keine Nebenfolgen gem. §45 StGB im Jugendstrafrecht
Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§63, 64, 66ff StGB): §7 JGG
– Unterbringung in Psychiatrie (§63 StGB)– Unterbringung in Erziehungsanstalt (§64 StGB)– Entziehung der Fahrerlaubnis (§69 StGB)– Führungsaufsicht (§68 StGB)– keine Sicherungsverwahrung für Jugendliche
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 197
§8 JGG: Verknüpfung von mehreren Sanktionen
§8 I JGG: grundsätzliche Verbindungsmöglichkeiten zwischen und innerhalb (von) Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln
Ausnahme: §8 I, Satz 2: keine Verbindung zwischen Jugendarrest und Hilfe zur Erziehung gem. §12 Nr. 2 (Heimunterbringung)
Jugendstrafe: Neben Jugendstrafe können lediglich Auflagen und Weisungen angeordnet werden, im Übrigen Erziehungsbeistandschaft
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 198
Verfahrensarten
Erwachsenenstrafverfahren– §§153, 153a StPO– Strafbefehl (§§407ff StPO)– Beschleunigtes Verfahren
(§§417ff StPO)– Nebenklage (§§395ff)– Privatklage (§§374ff)– Adhäsionsverfahren
(§403ff)– „Normal“-verfahren
Jugendstrafverfahren– §§45, 47 JGG– Ausgeschlossen (§79)
– Ausgeschlossen (§79)
– Ausgeschlossen (§80)– Ausgeschlossen (§80)– Ausgeschlossen (§81)– Vereinfachtes und
„normales“ Jugendverfahren
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 199
Vereinfachtes Jugendverfahren
§§76-78 JGG
Teilnahme der Staatsanwaltschaft nicht notwendig
Jugendgemäße Gestaltung– Verzicht auf Formen– Gefahren für Justizförmigkeit des Verfahrens – Allerdings darf die „Erforschung der Wahrheit“ nicht
beeinträchtigt werden
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 200
Die Hauptverhandlung
Funktion der Hauptverhandlung– prozessordnungsgemäße Klärung der Frage, ob der
Angeklagte die in der Anklage behauptete Straftat begangen hat
Ziele der Hauptverhandlung– eine materiell richtige Entscheidung– eine prozessordnungsgemäß zustande gekommene
Entscheidung– eine abschließende Entscheidung, die Rechtsfrieden
schafft
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 201
Besonderheiten der Hauptverhandlung und des Urteils im JGG
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 202
Öffentlichkeit
§§169, 173 GVG Hauptverhandlung in Strafsachen ist grundsätzlich öffentlich
§48 I JGG – Die Verhandlung ist grundsätzlich nicht öffentlich– Gründe: Erziehungsprinzip
» Vermeidung von Bloßstellung (besondere Bedeutung der Persönlichkeit) BGHSt 42, 296
» Gefährdung der Wahrheitsfindung (Einschüchterung des Angeklagten, Geltungsbedürfnis)
Wird gegen Jugendliche, Heranwachsende, Erwachsene gemeinsam verhandelt, dann kann (im Interesse des Jugendlichen) die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden (§48 III)
§48 I gilt auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren (§46I OWiG)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 203
Ausnahmen
§48 II
Teilnahme ist zu gestatten– Verletzter– Bewährungshelfer– Betreuungshelfer– Erziehungsbeistand– Heimleiter
Teilnahme kann gestattet werden– Aus besonderen Gründen
» Studenten, Referendare (Ausbildungszwecke)» Presse
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 204
Fall
Ein 25-jähriger wird wegen eines Tötungsdelikts, das im Alter von 17 Jahren begangen wurde, angeklagt.
Ist die Verhandlung öffentlich oder nicht öffentlich?
– Nicht öffentlich BGHSt 22, 24– Entscheidend für die Anwendung von materiellem und
formellem Recht ist der Tatzeitpunkt (§1, I JGG)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 205
Ausschluss des Angeklagten
Grundsatz: Anwesenheitspflicht des Angeklagten (§231 StPO)
Ausschluss des Angeklagten» §177 GVG Entfernung wegen ordnungswidrigen Benehmens
oder zur Verbüßung von Ordnungshaft» §247 StPO Wahrheitssuche, Zeugenschutz,
Angeklagtenschutz
§51 Ausschluss aus der Hauptverhandlung» Wenn Nachteile für die Erziehung entstehen können» Unterrichtungspflicht (soweit für die Verteidigung
erforderlich)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 206
Urteilsgründe
Allgemein §267 StPO » Für erwiesen erachteter Sachverhalt» Begründung der Strafe/Strafzumessung
JGG §54 I» Besondere Betonung der Persönlichkeit und der Auswahl der
Rechtsfolgen
§54 II JGG– Kürzung der Urteilsgründe
» Wenn Nachteile für die Erziehung zu befürchten sind
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 207
Vereidigung
Grundsatz §59 StPO Zeugen sind zu vereidigen
Beschränkung des Eideszwangs durch §49 bei Verfahren gegen Jugendliche (Absatz 2) auf
– Fälle ausschlaggebender Bedeutung der Aussage– Herbeiführung wahrheitsgemäßer Aussage
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 208
Ausschluss anderer Verfahrensbeteiligter
§50 II (alte Fassung)
– Ausschluss der Erziehungsberechtigten– soweit „gegen ihre Anwesenheit Bedenken bestehen“
BVerfG DVJJ-Journal 1/2003, S. 68-77– §51 II ist verfassungswidrig, da die Vorschrift in unbestimmter
Art und Weise in das Grundrecht aus Art. 6 II, 1 GG (Erziehungsrecht) eingreift
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 209
Anrechnung von U-Haft, §§52, 52a
Der Bf. wurde mit Berufungsurteil des LG Frankenthal vom 3. 12. 1998 wegen einer am 26. 7. 1997 begangenen gefährlichen Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr ohne Bewährung verurteilt, die er ab 13. 2. 1999 verbüßte. Mit Beschluss vom 9. 8. 1999 setzte das AG Speyer den noch offenen Rest der Jugendstrafe mit Wirkung zum 12. 8. 1999 gem. § 88 JGG zur Bewährung aus. Am 15. 12. 1998 verurteilte ihn das AG Ludwigshafen wegen des Tatvorwurfs einer Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern zu einer weiteren Jugendstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten ohne Bewährung; eine Einbeziehung der mit rechtskräftigem Urteil vom 3. 12. 1998 gegen den Bf. verhängten Jugendstrafe von 1 Jahr gemäß §31 II JGG erfolgt nicht. Auf die Berufung hin sprach ihn das LG Frankenthal am 2. 6. 1999 von diesem Tatvorwurf frei; gleichzeitig wurde festgestellt, dass der Bf. im Hinblick auf die nach vorläufiger Festnahme am 29. 6. 1998 bis zum 12. 2. 1999 vollzogene U-Haft zu entschädigen sei. Mit Beschluss vom 23. 6. 1999 lehnte das AG Speyer die von dem Bf. beantragte Anrechnung der in dem zweiten Verfahren erlittenen U-Haft ab; BVerfG NStZ 2000, 278
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 210
Jugendstrafrecht und Opferrechte
Grundsätzlich: keine Berücksichtigung des Opfers (Erziehung als Hauptziel)
deshalb: Ausschluss der Privat- und Nebenklage bzw. Adhäsionsklage
Sonstige Opferrechte? §§ 406dff StPO Differenzierung nach Informations- und Abwehrrechten
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 211
Fall
Das AG sprach den jugendlichen Angekl. P vom Vorwurf der Vergewaltigung der jugendlichen Zeugin B frei. Dagegen legte die StA Berufung ein. Mit Schriftsatz vom 25. 9. 2002 zeigte Rechtsanwältin D die anwaltliche Vertretung der Geschädigten an und beantragte ihre Beiordnung gem. §§ 406g, 397a StPO. In der Hauptverhandlung wurde die Rechtsanwältin D als Verletztenbeistand gem. § 406f StPO beigeordnet, der Antrag auf Beiordnung gem. §§ 406g, 397a StPO wurde zurückgewiesen. Ausweislich des Sitzungsprotokolls verließ darauf hin Rechtsanwältin D den Sitzungssaal bis zur Vernehmung der geschädigten Zeugin. An deren Einvernahme nahm sie als Zeugenbeistand teil. Vor dem Fortsetzungstermin der Hauptverhandlung nahm die StA mit Zustimmung des Angekl. und seines Verteidigers die Berufung zurück. Mit Schriftsatz vom 22. 10. 2002 hat Rechtsanwältin D namens der Zeugin B, gesetzlich vertreten durch deren Mutter, gegen die Ablehnung ihrer Beiordnung gem. §§ 406g, 397a StPO Beschwerde eingelegt, der die Jugendkammer nicht abgeholfen hat.
OLG München, Beschluss vom 17. 12. 2002 - 1 Ws 1184/02, NJW 2003, 1543
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 212
Reform der Hauptverhandlung?
Hauptverhandlung am „Runden Tisch“
Zweiteilung der Hauptverhandlung (Schuldinterlokut)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 213
Zweiteilung der Hauptverhandlung
Anlehnung an common law Konzepte der Hauptverhandlung
– Trennung zwischen Schuldfeststellung und Strafzumessung– Gründe:
» Geschworenenverfahren » Risiko der Beeinflussung der Schuldfeststellung durch
Informationen, die nur für die Strafzumessung von Relevanz sind (Vorstrafen, Persönlichkeit etc.)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 214
Rechtsbehelfe im Jugendstrafverfahren
Normale Rechtsbehelfe– Beschwerde (§§304ff StPO)– Berufung (§§ 312ff StPO)– Revision (§§333ff StPO)
Außerordentliche Rechtsbehelfe– Wiederaufnahme des Verfahrens (§§359ff StPO)– Verfassungsbeschwerde (Art 93 GG, §§ 90ff BVerfGG)– Beschwerde gem. Art. 25 der Europäischen
Menschenrechtskonvention
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 215
Anfechtungsberechtigte
Angeklagter/Verurteilter
Jugendstaatsanwalt
Gesetzlicher Vertreter/Erziehungsberechtigter
Strafverteidiger» Jedoch nicht gegen den ausdrücklichen Willen des
Jugendlichen» Keine Beschränkung bei Auftrag der
Erziehungsberechtigten/gesetzlichen Vertreter
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 216
Mehrere Rechtsmittel
Mehrere Anfechtungsberechtigte legen Rechtsmittel ein
– Bei gleichzeitiger Einlegung von Berufung und Revision» Berufung, weil umfassenderes Rechtsmittel
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 217
Beschränkungen der Rechtsbehelfe im JGG
Beschränkungen der Beschwerde (§59 II, Satz 2)
Beschränkung der Rechtsmittel
– Sachlich (§55 I JGG)
– Instanziell (§55 II JGG)
Begründung: Erziehung
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 218
Sachliche Beschränkung
Nicht angefochten werden können im Hinblick auf Art und Umfang:
– Erziehungsmaßregeln– Zuchtmittel– Kombination Erziehungsmaßregel und Zuchtmittel– Überlassung der Entscheidung über die Rechtsfolgen dem
Vormundschaftsrichter
Anfechtung aber bei Gesetzeswidrigkeit der Erziehungsmaßregel allgemein
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 219
Instanzielle
Beschränkung
Berufung oder Revision
Beschränkung gilt auch bei einem für den Jugendlichen nachteiligen Urteil in der Berufungsinstanz (wenn Jugendlicher und Staatsanwaltschaft Rechtsmittel eingelegt haben sowie bei (behauptetem Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot)
Ausnahmen» Erstinstanzlicher Freispruch und Verurteilung in der
Berufungsinstanz » Verurteilung zu einer Rechtsfolge in der Berufungsinstanz, die nicht
von der Strafgewalt der Erstinstanz gedeckt ist» Berufungsurteile, die die Berufung als unzulässig verwerfen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 220
Reformatio
in peius
Verbot der Schlechterstellung in der Rechtsmittelinstanz (§331, §358 II StPO)
Schlechterstellung nach Art und Höhe der Strafe
– Wenn nur der Verurteilte Rechtsmittel eingelegt hat– Gilt nicht, wenn auch der Staatsanwalt Rechtsmittel eingelegt hat
Verhindert werden soll, dass der Verurteilte befürchten muss, bei Einlegung eines Rechtsmittels härter bestraft zu werden
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 221
Reformatio
in peius
Beurteilungsmaßstab BGHSt 24, S. 14ff
Gesamtbetrachtung der verhängten Maßnahmen– generell-objektiv
– konkrete, rechtliche und tatsächliche Belastung
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 222
Einzelfragen
Jugendstrafe ohne Bewährung ist gegenüber allen anderen Sanktionen nachteilig
Jugendstrafe mit Bewährung in erster Instanz und kürzere Jugendstrafe ohne Bewährung in zweiter Instanz?
Jugendstrafe ohne Bewährung in erster Instanz und längere Jugendstrafe mit Bewährung in zweiter Instanz?
Jugendarrest in erster Instanz und zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe in zweiter Instanz?
Jugendarrest in erster Instanz und Heimerziehung in zweiter Instanz
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 223
Die Kosten des Verfahrens
Ausgangspunkt– Allgemeines Kostenrecht gilt: §§464ff StPO– Aber: §74 JGG. Es kann davon abgesehen werden, dem
Angeklagten Kosten und Auslagen aufzuerlegen– Aus erzieherischen Gründen soll der Jugendliche von
zusätzlichen Belastungen durch die Kosten des Verfahrens freigestellt werden
– Vollständige oder teilweise Freistellung– Zu berücksichtigen: wirtschaftliche Verhältnisse des
Jugendlichen und Verhalten im Verfahren
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 224
Notwendige Auslagen des Jugendlichen
Befreiung gem. §74 JGG auch von den Kosten eines Pflicht- oder Wahlverteidigers?
– Umstritten» §464a StPO erfasst auch den Verurteilten als Beteiligten» Erziehungsargument soll gerade auch für Belastung durch
Auslagen des Jugendlichen gelten
Bei mehreren Angeklagten bleibt bei Befreiung nach §74 JGG bei einem Angeklagten der so entstehende Betrag aus der gesamtschuldnerischen Haftung ausgeschlossen (§466 StPO)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 225
Die Vollstreckung
Zuständigkeiten – Der Jugendrichter ist auch Vollstreckungsleiter, §82 JGG
Vollstreckung der Jugendstrafe (§91 JGG)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 226
Die Vollstreckung von Erziehungsmaßregeln
Überwachung der Weisungen durch den Jugendrichter (§84 I JGG)
Der Jugendrichter bedient sich zur Überwachung der Jugendgerichtshilfe
Die JGH hat erhebliche Zuwiderhandlungen dem Richter mitzuteilen (§38 JGG)
Weisungen können nachträglich verändert werden (§11)
Bei Zuwiderhandlungen gegen Weisungen kann Jugendarrest (Ungehorsamsarrest) verhängt werden.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 227
Ungehorsamsarrest
Voraussetzung: Belehrung (§11 III, 1 JGG) und schuldhaftes Zuwiderhandeln (Vorsatz oder Fahrlässigkeit)
Ungehorsamsarrest ersetzt nicht die Weisung; auch nach Verbüßung des Arrests bleibt der Jugendliche zur Befolgung der Weisung verpflichtet.
Bei weiterem Zuwiderhandeln kann erneut Arrest angeordnet werden.
Der Ungehorsamsarrest ist je Verurteilung auf 4 Wochen (Obergrenze des Jugendarrests) begrenzt.
BVerfG NJW 1989, S. 2529: kein Verstoß gegen Doppelbestrafungsverbot
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 228
Vollstreckung der Hilfen zur Erziehung
Mit Rechtskraft des Urteils gilt die Hilfe zur Erziehung (§12) als angenommen.
Es bedarf keiner weiteren Willenserklärung des Jugendlichen (Zwang zur Annahme).
Über die Durchführung der Hilfen entscheidet das Jugendamt (§82 II JGG, 85, 86, 89 SGB VIII)
Die Heimerziehung wird in der Regel in privaten Einrichtungen (Caritas etc.) vollzogen
Konflikt über geschlossene und offene Heime
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 229
Vollstreckung des Jugendarrests
Rechtliche Grundlagen
– §90 JGG
– Jugendarrestvollzugsordnung
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 230
Jugendarrest
Vollstreckungsleitung: Jugendrichter am Ort der Jugendarrestanstalt
Ziel des Jugendarrestvollzugs (§90): Kombination von Abschreckung und Erziehung
Ziel: schnelle Vollstreckung sofort im Anschluss an das rechtskräftige Urteil
Bei zu langer Verzögerung: §87 III, 2 JGG (Absehen von der Vollstreckung des Jugendarrests)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 231
Inhalt des Jugendarrests
Jugendarrestvollzugsordnung
Einzelunterbringung bei Nacht; gemeinschaftliche Unterbringung/Veranstaltungen bei Tag
Soziale Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und Unterricht
Sport, Anleitung zu sinnvoller Gestaltung der Freizeit
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 232
Arrest und Aussetzung zur Bewährung
Grundsätzlich ist eine (Rest) Aussetzung zur Bewährung nicht zulässig
Aber:
– §87 III, 1– §87 III, 2– §87 III, 3
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 233
Anfechtungsmöglichkeiten
Jugendrichterliche Entscheidungen in der Vollstreckung (§83 I): sofortige Beschwerde (§83 III)
Verwaltungsentscheidungen des Vollstreckungsleiters (Ladung zum Arrest): Beschwerde zur Generalstaatsanwaltschaft und gegen diese Anrufung des Gerichts gem. §§23 EGGVG
Vollzugsrechtliche Entscheidungen (§90 II, 2): Rechtsweg zum Oberlandesgericht nach §§23 EGGVG
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 234
Jugendstrafvollzug
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 235
Nationalität und Jugendstrafvollzug 1971 -
2003
0100200300400500600700800900
1000
1971
1973
1975
1977
1979
1981
1983
1985
1987
1989
1991
1993
1995
1997
1999
2001
2003
Deutsche Ausländer
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 236
Deliktsstruktur im Jugendstrafvollzug
Grafik: Entwicklung der Deliktsstruktur im Baden-Württembergischen Jugendstrafvollzug
0
10
20
30
40
50
60
Diebsta
hl
Drogen
Körperv
erletz
ung
Raub
Tötun
gsdelik
te
Sexu
aldelik
te
Verkeh
r
1974 1984 1999
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 237
Ethnische Zusammensetzung
Grafik: Entwicklungen in der ethnischen Zusammensetzung der Jugendstrafgefangenen
8,91 0,8
98,5
14,85,9 1,8
77,5
27,6
14,119,6
38,7
0
20
40
60
80
100
120
Im Ausland geboreneAusländer
In Deutschlandgeborene Ausländer
Im Ausland geboreneDeutsche
In Deutschlandgeborene Deutsche
1974 1987 1999
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 238
Jugendstrafvollzug
Rechtsgrundlagen– §§91, 92, 110, 115 JGG– §§23, 25 EGGVG: Rechtsweg zum OLG– §§178, 176 StVollzG: Anwendung der Vorschriften des
Erwachsenenstrafvollzugsrechts im Bereich unmittelbarer Zwangs, Entlohnung der Gefangenen und ärztliche Zwangsbehandlung
– Bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften zum Vollzug der Jugendstrafe (von 1977)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 239
Gestaltung des Jugendstrafvollzugs
§91 III JGG – Öffnung des Vollzugs– Anknüpfung an einen der im Strafvollzugsgesetz
erwähnten Vollzugsgrundsätze (§3 StVollZG)– Ziel: Vermeidung von Prisonisierungsprozessen– Der Vollzug kann demnach aufgelockert und in geeigneten
Fällen weitgehend in freien Formen durchgeführt werden – §91 IV JGG gibt vor, dass Beamte des Jugendstrafvollzugs
für die Erziehungsaufgabe geeignet und ausgebildet sein müssen.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 240
Methoden des Jugendstrafvollzugs
Vollzugsplan Nr. 3 VVJug
Erziehungsgruppen/Wohngruppen
§91 II: Ordnung, Arbeit, Unterricht, Leibesübungen und sinnvolle Freizeitbeschäftigung
§91 III: Lockerung und Öffnung, Urlaub, Freigang, Ausgang
Reststrafenaussetzung §88 JGG
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 241
JGG und Strafvollzugsgesetz
§§43, 44, 49-52 StVollZG, Regeln über das Arbeitsentgelt und den Arbeitsurlaub, werden durch §176 StVollZG für anwendbar erklärt
§178 I StVollZG in Verbindung mit §§ 94-101 StVollZG unterstellt junge Strafgefangene den Vorschriften über den unmittelbaren Zwang des Erwachsenenstrafvollzugs- gesetzes
§§194 Nr. 5, 199 II, Nr. 6 StVollZG in Verbindung mit §§566, 571 Reichsversicherungsordnung beziehen junge Gefangene in den Geltungsbereich der Arbeitslosenver- sicherung ein.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 242
Altersgrenzen
§92 II
– 18 Jahre und fehlende Eignung für den Jugendstrafvollzug
– 24 Jahre: Vollzug in Erwachsenenstrafanstalt
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 243
Altersstruktur im Jugendstrafvollzug 2003
822
3511
2943
0
500
1000
1500
2000
2500
3000
3500
4000
14-17 Jahre 18-20 Jahre > 20 Jahre
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 244
Durchschnittsalter
Im Jugendstrafvollzug Baden-Württemberg
1994
– 20 Jahre
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 245
Altersstruktur der jugendlichen und heranwachsenden Gefangenen 2003
2 43
242
535
878
1156
1477
0
200
400
600
800
1000
1200
1400
1600
14 Jahre 15 Jahre 16 Jahre 17 Jahre 18 Jahre 19 Jahre 20 Jahre
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 246
Jugendstrafvollzugsgesetz
Bislang keine Rechtsgrundlage entsprechend dem Strafvollzugsgesetz: Konflikt mit dem Rechtsstaatsprinzip
Lange Geschichte des Reformprozesses: seit den 1970er Jahren
Verfassungswidriger Zustand
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 247
Verfassungswidrigkeit des Jugendstrafvollzugs
BVerfGE 33, S. 1ff zum Erwachsenenstrafvollzug
Rechtsstaatsprinzip erfordert gesetzliche Grundlagen für den Vollzug von Freiheitsstrafe und hierbei auferlegten Beschränkungen der Freiheitsrechte
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 248
BVerfG
Urteil
vom
31. Mai 2006 –
2 BvR
1673/04; 2 BvR
2402/04 –
Für den Jugendstrafvollzug fehlen die verfassungsrechtlich erforderlichen, auf die besonderen Anforderungen des Strafvollzuges an Jugendlichen zugeschnittenen gesetzlichen Grundlagen. Für eine begrenzte Übergangszeit bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Regelungen müssen jedoch eingreifende Maßnahmen im Jugendstrafvollzug hingenommen werden, soweit sie zur Aufrechterhaltung eines geordneten Vollzuges unerlässlich sind. Die Übergangsfrist endet mit dem Ablauf des Jahres 2007.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 249
Reformentwürfe
Entwürfe zu einem Jugendstrafvollzugsgesetz – Arbeitsentwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des
Jugendstrafvollzugs und zur Eingliederung junger Straffälliger vom 30. Juni 1980
– Arbeitsentwurf des Bundesministeriums der Justiz von 1984– Entwurf eines Jugendstrafvollzugsgesetzes von Baumann (1985)– Entwurf der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Jugendstrafanstalten
in der DVJJ (1988)– Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums 1991– Entwurf des Bundesjustizministeriums (23. 6. 1995) – Referentenentwurf 2004– Entwurf, Stand Juni 2006
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 250
Erziehungsregister
Bundeszentralregister und Erziehungsregister
Rechtsgrundlage: Bundeszentralregistergesetz (Generalbundesanwalt)
Eintragung in das Erziehungsregister §60 BZRG: Entscheidungen nach §45, Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel
Eintragungen werden entfernt mit Erreichen des 24. Lebensjahrs
Jugendstrafe wird in das Zentralregister eingetragen
Keine Aufnahme des Erziehungsregisters in ein Führungszeugnis
Beschränkte Aufnahme von Jugendstrafen in das Führungszeugnis §32 II BZRG
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 251
Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende
§105 JGG
– Nr. 1 Entwicklungsstand entspricht dem eines Jugendlichen
– Nr. 2 jugendtypische Straftat
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 252
Jugendverfehlung
Funktion: Beweiserleichterung (im Vergleich zur Persönlichkeitsbeurteilung)
Indizien:– Äußere Merkmale
– Art der Begehung
– Motivation
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 253
Reife
Keine Gleichsetzung mit Retardierung/psychiatrischer Auffälligkeit
Konzeption des Heranwachsendenalters als zwischen Jugend und Erwachsenensein liegend
Deshalb die Frage: wo liegen für einen Heranwachsenden die stärksten Bezüge? Jugend oder Erwachsenenalter
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 254
Reifebeurteilung
Marburger Richtlinien
Operationalisierung durch Tests/Interviews:– 1. Realistische Lebensplanung – 2. Eigenständigkeit im Verhältnis zu den Eltern – 3. Eigenständigkeit im Verhältnis zu Gleichaltrigen/Partner – 4. Ernsthafte Einstellung zur Arbeit – 5. Äusserer Eindruck– 6. Realistische Alltagsbewältigung – 7. Alter der Freunde – 8. Bindungsfähigkeit – 9. Integration von Eros und Sexus– 10. Konsistente berechenbare Stimmungslage
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 255
Konsequenzen des §105 JGG
Jugendstrafe: Obergrenze 10 Jahre
Keine Hilfen zur Erziehung oder Erziehungsbeistandschaft zulässig (§12 JGG)
Wenn Aburteilung als Erwachsener: Keine lebenslange Freiheitsstrafe
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 256
Konsequenzen der Anwendung des Jugendstrafrechts
Entsprechende Anwendung von
– §§4-8 JGG– §9 Nr. 1– §§10, 11– §§13-32
§105 III JGG: Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende beträgt 10 Jahre
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 257
Konsequenzen der Anwendung des JGG für das Verfahren
§107 JGG
– §§ 33, 34 I JGG– §§ 35-38 JGG
gelten entsprechend
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 258
Konsequenzen der Anwendung des Erwachsenenstrafrechts
§106 JGG
– An Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe kann Freiheitsstrafe zwischen 10 und 15 Jahren angewendet werden
– Abs. III: Sicherungsverwahrung darf seit 2003 in Form der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung angeordnet werden
– Der Richter kann anordnen, dass die Folgen des §45 I StGB nicht eintreten
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 259
Verurteilung Heranwachsender nach Jugendstrafrecht (%)
0
20
40
60
80
100
120
1980
1982
1984
1986
1988
1990
1992
1994
1996
Diebstahl Raub Insgesamt Sexualdelikte Strassenverkehr
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 260
Reform der Behandlung der Heranwachsenden
Reformdiskussion wird bedingt durch
– Gewaltkriminalität– Forderung der Anwendung auch lebenslanger
Freiheitsstrafe bei Tötungsdelikten Heranwachsender– Forderungen nach Anwendung der
Sicherungsverwahrung– Kritische Betrachtung der überwiegenden Anwendung
von Jugendstrafrecht durch die Gerichtspraxis
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 261
Status Quo Modell (§105 JGG)
Status Quo Modell – Sichtbar in der praktischen Handhabung des §105 JGG– Anwendung des Erwachsenenstrafrechts wird zur Ausnahme
» in den Bereichen schwerer Kriminalität – Das Modell stößt auf Kritik
» Die durch §105 JGG vorgegebenen Entscheidungskriterien verdecken ganz überwiegend die tatsächlichen Entscheidungsgründe
» Zufälligkeiten oder verfahrensökonomische Erwägungen bestimmen die Entscheidung, ob Jugendstrafrecht oder das allgemeine Strafrecht Anwendung findet
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 262
Bayerischer Gesetzesantrag 1999
BR-Drucksache 449/99; vgl. schon Gesetzesantrag des Freistaates Bayern (BR-Dr. 741/96).
Behandlung Heranwachsender nach Jugendstrafrecht ist Ausnahmefall
Jugendstrafrecht ist auf Heranwachsende nur anwendbar, wenn erhebliche Entwicklungsverzögerungen vorliegen
Argumentation
Der historische Gesetzgeber 1953 hat die Anwendung von Jugendstrafrecht als Ausnahme verstanden wissen wollen,
Die Praxis hat sich jedoch von diesem Leitbild zunehmend entfernt
Deshalb ist nunmehr gesetzgeberischer Korrekturbedarf vorhanden
Der Grundsatz, dass der Heranwachsende mit Eintritt der Volljährigkeit alle Rechte und Pflichten übernehme, muss auch im Strafrecht gelten
Ausnahmen von diesem Grundsatz können nur in besonderen Einzelfällen in Betracht kommen.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 263
Generelle Einbeziehung
Generelle Einbeziehung (von 18, 19, 20-Jährigen) und ersatzlose Streichung des §105 JGG)]
begründet mit der Reduzierung – von Kosten– Vermeidung von Ungleichbehandlung – bessere Möglichkeit einer persönlichkeitsbezogenen Behandlung
Das Modell wird durch einen weiten Konsens zwischen Wissenschaft, Praxis und Rechtspolitik getragen werde
Probleme der Strafzumessung bei mehreren Tätern – Der kritische Punkt betrifft die lebenslange Freiheitsstrafe, die aber angesichts der
Transformation in eine quasi zeitige Freiheitsstrafe an Brisanz verloren hat – Möglich wäre eine vollständige Einbeziehung bei gleichzeitiger Erhöhung des Strafrahmens
generell auf 15 Jahre Jugendstrafe. – Allerdings wäre dies nur generalpräventiv zu begründen– realisiert wäre damit die (weitgehende) Unterstellung unter die Erwachsenenstrafrahmen.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 264
Genereller Ausschluss
Vorgeschlagen von – Peters MschrKrim 1966, S.49ff, S. 50; Peters
Kriminalpädagogik 1960, S. 248f
– Begründung– Weiterentwicklung des Erwachsenenstrafrechts auf der Basis
von Spezialprävention und Täterorientierung
Regelfall europäischer Gesetzgebung– Strafmilderung bei Heranwachsendem- oder
Jungerwachsenenalter
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 265
Rechtsprechung
Tendenziell für erweitertes Status Quo Modell
BGHSt 12, 116; BGHSt 36, 37 mit Anmerkung Walter/Pieplow NStZ 1989, S. 576
– Abgestellt wird auf die Entwicklung und die Entwicklungsfähigkeit eines jungen Menschen
– Handelt es sich um einen noch prägbaren Menschen, bei dem die „Entwicklungskräfte“ noch in größerem Umfang wirksam sind
Im Grunde müsste dies die Abschaffung auch der Altersgrenzen zwischen Heranwachsenden/Erwachsenen nach sich ziehen
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 266
Jungerwachsene
Vorgeschlagen wird die Erweiterung des Jugendstrafrechts auf 21 bis 24-Jährige (Jungerwachsene)
– Zwischenbericht der Zweiten Jugendstrafrechts- reformkommission, S. 2f
Allerdings– Die Gruppe repräsentiert typische Erwachsenenkriminalität– Lebensführungsregelnde Weisungen passen nicht auf
Vollerwachsene
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 267
Mehrere Straftaten in verschiedenen Altersstufen
§32 JGG
– einheitliche Behandlung der Straftaten
– Schwerpunktprinzip» Unrecht» Bedeutung der Taten für die Person und Entwicklung
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 268
Internationale Grundsätze
Kinderrechtskonvention 1989
Minimumstandards (soft law)– 29. 11. 1985 Vereinte Nationen beschliessen Mindest-
grundsätze für die Jugendgerichtsbarkeit (Bejing Rules)– 2.4. 1991 Vereinte Nationen beschliessen Mindest-
grundsätze für den Jugendstrafvollzug– 28.3. 1991 Vereinte Nationen beschliessen
Mindestgrundsätze zur Prävention von Jugendkriminalität (Riyadh Guidelines)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 269
Soft Law
Unverbindliche Standards/Empfehlungen
Wirkungen– Auslegung des internationalen Rechts– Auslegung des nationalen Rechts
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 270
Fundstelle Konventionen etc.
http://www.hri.ca/uninfo/treaties/index.shtml
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 271
Kinderrechtskonvention
Art. 37 a schreibt die besondere Behandlung von Kindern (unter 18 Jahren) anlässlich der Begehung von Straftaten vor (insbesondere durch Ausschluss der Kapital-Strafen, darunter auch die lebenslange Freiheitsstrafe ohne Entlassungsmöglichkeit)
Art. 37 c Trennung von Kindern und Erwachsenen im Bereich des Strafvollzugs
Art. 40 Anerkennung des Grundsatzes, Kinder in einem Strafverfahren auf eine Art und Weise zu behandeln,
– die das Alter und die Notwendigkeit berücksichtigt, die soziale Wiedereingliederung sowie die Übernahme einer konstruktiven Rolle in der Gesellschaft durch das Kind zu fördern.
Art. 40 II Verfahrensrechte, insbesondere Verteidigerzugang, Art. 40 II, b ii
Art. 40 III Besondere Verfahren und Institutionen des Kriminalrechts für den Umgang mit jugendlichen Straftätern
Art. 40 IV Die Behandlung soll sowohl am Kindeswohl als auch an den persönlichen Umständen wie auch an der Straftat orientiert sein
Art. 40 IV Besonders angesprochen werden nicht-freiheitsenziehende Maßnahmen
Art. 40 III b Erledigungen von Strafverfahren ohne oder außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens werden betont
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 272
Mindestgrundsätze für die Jugendgerichtsbarkeit (Bejing
Rules)
Rule 3: Mindestgrundsätze gelten auch für so genannte Statusdelikte
Rule 5: Jugendgerichtsbarkeit soll sich am Kindeswohl orientieren; Reaktionen sollen im Hinblick auf Tat und Täter proportional sein
Rule 6: Besondere Betonung ausreichenden Ermessens in allen Verfahrensabschnitten
Rule 7: Grundsätzliche Verfahrensrechte auch für Jugendliche (Unschuldsvermutung, Verteidigung, Rechtsmittel)
Ferner: Betonung von Diversion, besondere Ausbildung von Polizei und Justizpersonal, Anwesenheitsrecht der Eltern in der Verhandlung, Vermeidung von Untersuchungshaft, Gerichts-, Bewährungshilfeberichte zur Vorbereitung der Entscheidung, keine Todes- oder Körperstrafen, vorsichtiger Gebrauch des Freiheitsentzugs
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 273
International Covenant
on Civil and Political
Rights 16 December
1966
Art. 6 (1) 1. Every human being has the inherent right to life. This right shall be protected by law. No one shall be arbitrarily deprived of his life.
(5) Sentence of death shall not be imposed for crimes committed by persons below eighteen years of age and shall not be carried out on pregnant women.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 274
Vorbehalte
United States of America
Reservations:
"(2) That the United States reserves the right, subject to its Constitutional constraints, to impose capital punishment on any person (other than a pregnant woman) duly convicted under existing or future laws permitting the imposition of capital punishment, including such punishment for crimes committed by persons below eighteen years of age.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 275
Mindestalter für Todesstrafe in den USA
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 276
Altersstruktur der Todeszelleninsassen 2001
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 277
SUPREME COURT OF THE UNITED STATES
ROPER, SUPERINTENDENT, POTOSI CORRECTIONAL CENTER v. SIMMONS CERTIORARI TO THE SUPREME COURT OF MISSOURI, No. 03-633. Argued October 13, 2004 decided March 1, 2005
At age 17, respondent Simmons planned and committed a capital murder. After he had turned 18, he was sentenced to death.
Held: The Eighth and Fourteenth Amendments forbid imposition of the death penalty on offenders who were under the age of 18 when their crimes were committed.
As in Atkins, the objective indicia of national consensus, the rejection of the juvenile death penalty in the majority of states, the infrequency of its use even where it remains on the books and the consistency in the trend toward abolition of the practice provide sufficient evidence that today society views juveniles, in the words Atkins used respecting the mentally retarded, as categorically less culpable than the average criminal
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 278
Begründung
Capital punishment must be limited to those offenders who commit a narrow category of the most serious crimes and whose extreme culpability makes them the most deserving of execution
Three general differences between juveniles under 18 and adults demonstrate that juvenile offenders cannot with reliability be classified among the worst offenders:
– Juveniles susceptibility to immature and irresponsible behavior means their irresponsible conduct is not as morally reprehensible as that of an adult (Thompson v. Oklahoma, 487 U. S. 815, 835)
– Their own vulnerability and comparative lack of control over their immediate surroundings mean juveniles have a greater claim than adults to be forgiven for failing to escape negative influences in their whole environment.
– The reality that juveniles still struggle to define their identity means it is less supportable to conclude that even a heinous crime committed by a juvenile is evidence of irretrievably depraved character.
The Thompson plurality recognized the import of these characteristics with respect to juveniles under 16. The same reasoning applies to all juvenile offenders under 18. Once juveniles diminished culpability is recognized, it is evident that neither of the two penological justifications for the death (retribution and deterrence of capital crimes by prospective offenders) provides adequate justification for imposing that penalty on juveniles. … When a juvenile commits a heinous crime, the State can exact forfeiture of some of the most basic liberties, but the State cannot extinguish his life and his potential to attain a mature understanding of his own humanity. While drawing the line at 18 is subject to the objections always raised against categorical rules, that is the point where society draws the line for many purposes between childhood and adulthood and the age at which the line for death eligibility ought to rest.
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 279
Reformen des JGG
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 280
Gesetzesantrag im Bundestag vom 12.04.2000 (BT-Drs. 14/3189)
Gesetzesentwurf der CDU/CSU-Fraktion zur „Verbesserung der gesetzlichen Maßnahmen gegenüber Kinder- und Jugenddelinquenz“
– Erweiterungen von Eingriffen in das Personensorgerecht durch eine gesetzliche Vermutung für die Gefährdung des Kindeswohls bei wiederholter Delinquenz und drohender BtM Abhängigkeit
– Erteilung von Weisungen gegenüber delinquenten Kindern (Arbeitleistungen, TOA, Soziales Training)
– Einführung des Fahrverbots als Zuchtmittel– Regelanwendung des Erwachsenenstrafrechts bei
Heranwachsenden – Aufhebung des Verbots, Jugendarrest neben Jugendstrafe
anzuordnen, und Einführung eines „Einstiegsarrests“– Erhöhung des Strafrahmens für schwerste Verbrechen bei
Heranwachsenden auf fünfzehn Jahre
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 281
Antrag des Landes Thüringen 15.09.2000 (BR-Drs. 549/00)
Anwendung des beschleunigten Verfahrens auch bei Jugendlichen (§127b StPO)
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 282
Entschließungsantrag 21.09.2000 (BR-Drs. 564/00)
Land Baden-Württemberg: Entschließungsantrag zur wirksameren Bekämpfung von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit
» Einführung eines Fahrverbots als eigenständige Sanktion» Anwendung des beschleunigten Verfahrens auch im
Jugendverfahren» Einführung des „Einstiegsarrests“» Regelmäßige Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf
Heranwachsende
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 283
Antrag 17.10.2000 (BR-Drs. 637/00)
Freistaat Bayern Gesetz zur Erweiterung des strafrechtlichen Sanktionensystems
» Fahrverbot als Zuchtmittel » „Meldepflicht“ für Jugendliche » Beschleunigtes Verfahren
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 284
Antrag 16.04.2002 (BT-Drs. 14/8788)
Antrag der CDU/CSU Fraktion im Bundestag Gesetzesentwurf zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes
» Zulassung der Nebenklage » Zulassung des Adhäsionsverfahrens
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 285
Antrag 04.07.2002 (BR-Drs. 634/02)
Land Brandenburg: Verbesserung der Bekämpfung der Jugendkriminalität
» Zulassung der Nebenklage und des Adhäsionsverfahrens» Meldepflicht als Weisung» Fahrverbot als Zuchtmittel» Streichung des Kurzarrestes» Aussetzbarkeit des Dauerarrests zur Bewährung
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 286
Antrag 08.05.2003 (BR-Drs. 312/03)
Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Thüringen, Niedersachsen
– Einstiegsarrest neben der Aussetzung einer Jugendstrafe zur Bewährung
– regelmäßige Anwendung des allgemeinen Strafrechts auf Straftaten Heranwachsender
– Obergrenze der Jugendstrafe bei Straftaten Heranwachsender auf 15 Jahre
– Meldepflicht und Fahrverbot
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Gesetzesantrag vom 25. März 2004
Bundesländer Bayern, Hessen, Niedersachsen, Sachsen, Thüringen: Gesetz "zur Stärkung des Jugendstrafrechts und zur Verbesserung und Beschleunigung des Jugendstrafverfahrens„
» Zusammenlegung von Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln» Fahrverbot, Einstiegsarrest, Meldeweisung» Änderung der Voraussetzungen der Verhängung von Jugendstrafe» "Der Richter verhängt Jugendstrafe, wenn 1. eine in der Tat hervortretende
Gefährdung oder Störung der Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen die weitere Begehung nicht unerheblicher Straftaten befürchten lässt und Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder 2. wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist."
» Geltung des §230 StPO im vereinfachten Jugendverfahren» Zulassung von Adhäsionsverfahren und Nebenklage» Regelanwendung des Erwachsenenstrafrechts bei Heranwachsenden» Anwendung der Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden
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Referentenentwurf eines 2. Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes
2004
Neudefinition der Erziehung in §2 JGG: Schwerpunkt auf Legalbewährung
Erweiterung der Pflichtverteidigung
Vorführung bei vereinfachtem Jugendverfahren
Erweiterung der Verletztenrechte bei Nebenklagedelikten
Zulassung der Adhäsion bei Heranwachsenden
Jugendstrafrecht SS 2006 Page 289
Referentenentwurf eines Gesetzes zur Regelung des Jugendstrafvollzuges (GJVollz)
2004
Vollzugsziel Leben ohne Straftaten
Unterbringung in zahlenmäßig beschränkten Wohngruppen (besondere Wohngruppen für die 14 - und 15-jährigen Gefangenen)
Unterbringung im offenen Vollzug als Regelfall,
Einführung besonderer Vorschriften für weibliche Gefangene,
verstärkte Bildungsangebote
Zurücktreten von Disziplinarmaßnahmen hinter Konfliktlösung
Verbesserung der Entlassungsbedingungen
Jedoch: keine Sozialversicherung bei Arbeit