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Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte III. Mittelalter
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III. Die Wirtschaft im Mittelalter (500 –
1500)
(Cameron 1989, Kapitel 3, mit zahlreichen Ergänzungen)
1. Die mittelalterliche Landwirtschaft .................................................................................... 4
1.1. Charakteristika der mittelalterlichen Landwirtschaft ...................................................... 4
1.2. Gesellschaftliche und politische Implikationen der mittelalterlichen
landwirtschaftlichen Organisation .................................................................................. 8
1.3. Verschiebung des politischen Schwerpunktes vom Mittelmehrraums nach
Nordwesteuropa (und nach Zentral- und Osteuropa) ................................................... 12
2. Wiederaufkommen der Städte und dessen Auswirkungen ............................................ 14
2.1. Neuentstehung von Städten ........................................................................................... 14
2.2. Handelsströme im Mittelalter (Fernhandel) .................................................................. 15
2.3. „Industrie“: Handwerk und Manufaktur ........................................................................ 17
2.4. Die Zünfte...................................................................................................................... 21
3. Krise des Mittelalters – Übergang zur Neuzeit................................................................ 22
3.1. Einleitung der Krise....................................................................................................... 22
3.2. Tiefergehende Krisenursachen ...................................................................................... 23
4. Fazit: Mittelalterliche Grundlagen des modernen Europa (Mitterauer)...................... 26
4.1. Eine neue Sicht der Entstehung Europas ....................................................................... 26
4.2. Der Durchbruch von der Tradition zur Moderne im ‚rückständigen’ Europa
(Mitterauer, mit Erweiterungen) .................................................................................. 27
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Das Mittelalter kann grob strukturiert werden durch die Einteilung in
* Frühmittelalter, 500-1000, geprägt durch die Dominanz der Landwirtschaft,
* Hochmittelalter (1000-1300); hier werden Städte neu gegründet; es bildet sich
langsam eine Städtezivilisation aus – bei Dominanz des Landes! - und
* Spätmittelalter, 1300-1500, Krise ab etwa 1300 und Wiederaufschwung ab
ungefähr1450.
Den Jahreszahlen darf natürlich keine genaue Bedeutung beigemessen werden – es sind
grobe Marksteine. Auch die allgemeine Einteilung kann diskutiert werden. So wurde gesagt,
das Mittelalter sei im Westen geprägt durch die Katholische Christenheit; es beginne im Jahre
313, in dem der römische Kaiser Konstantin das Christentum tolerierte (380 wurde es
Staatsreligion), und ende 1517 mit dem Thesenanschlag von Luther zu Wittenberg, mit dem
der Protestantismus entsteht und das Zeitalter der Glaubensspaltung beginnt.
Lange wurde das Mittelalter als eine Zeit des Obskurantismus und der wirtschaftlichen
Stagnation betrachtet. Diese Auffassung setzte mit den geistigen Strömungen von
Humanismus und Renaissance ein; beide implizieren eine freie Auseinandersetzung mit der
griechisch-römischen Antike. Der Humanismus (Erasmus von Rotterdam) beschäftigt sich mit
antiker Dichtung und Philosophie. Die Renaissance umfasst alle Lebensbereiche:
Naturwissenschaften, Medizin, Technik; (römisches) Recht, Wirtschaft (Produktion und
Handel); die Künste (Malerei, Bildhauerei, Architektur).
Die Vorstellung vom Mittelalter als einer dunklen Zeit erreichte mit der Aufklärung im
18. Jahrhundert ihren Höhepunkt und dauert über das 19. Jahrhundert bis weit ins 20. Jh
hinein (bis um 1970 herum). Der Glaube an die Wissenschaft und der Fortschrittsglaube
dominieren; dabei stand die Idee des absoluten Fortschritts im Zusammenhang mit der
Evolutionstheorie im Vordergrund. Das MA wird als Zeitalter des Aberglaubens und des
religiösen Fanatismus bezeichnet. Das ausgezeichnete kleine Buch der französischen
Kunsthistorikerin Régine Pernoud: Pour en finir avec le Moyen Age (Paris, Editions du Seuil
1977) räumt mit dieser Vorstellung auf. Grob gesprochen hat seit den 1970er Jahren ein
Gesinnungswandel in der Haltung zum Mittelalter eingesetzt.
Diese Vorstellung vom dunklen Mittelalter trifft tatsächlich überhaupt nicht zu. Wenn
man nur das Wirtschaftliche und Soziale betrachtet, war das MA in dreifacher Hinsicht
Grundlage für die modernen Entwicklungen, die mit der industriellen Revolution (1770-80)
einsetzten:
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1) Das MA wies eine überraschend starke ökonomische und technische Dynamik auf
(Mühle als Energiequelle; eine Maschinenbautradition, die schon im Frühmittelalter
einsetzte).
2) Die mittelalterlichen Institutionen regeln das Wirtschaftsleben bis zur industriellen
Revolution (z.B. die Zünfte; das Handwerk ist Ausgangspunkt für die Entwicklung
über die Manufaktur zur Fabrik).
3) Im MA entstehen auch die sozialen Voraussetzungen für den Handelskapitalismus
(etwa 1500-1750) und das Industriezeitalter (ab 1770-80): in den west- und
zentraleuropäischen Städten entsteht nämlich das europäische Wirtschaftsbürgertum.
Der österreichische Wirtschafts- und Sozialhistoriker Michael Mitterauer geht noch
weiter. Nach ihm hat bereits das frühe Mittelalter die allgemeinen Grundlagen für die
moderne europäische Entwicklung gelegt; im Hochmittelalter haben dann die
Versammlungen der Stände – Adel, Geistlichkeit und später das Bürgertum – die Grundlagen
zur Herausbildung des europäischen Parlamentarismus und der Demokratie gelegt. Darauf
kommen wir im Abschnitt 4 kurz zurück. Doch vorerst: 1. Die mittelalterliche
Landwirtschaft; 2. Das Wiederaufkommen der Städte und 3. Krise des Mittelalters und
Übergang zur Neuzeit.
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1. Die mittelalterliche Landwirtschaft
1.1. Charakteristika der mittelalterlichen Landwirtschaft
a) Es besteht ein Gegensatz zwischen Altertum und Mittelalter:
In den Hochkulturen des Altertums (von Sumer bis Rom) dominierten die Städte, obwohl
die grosse Mehrheit der Bevölkerung auf dem Lande lebte.
Im MA dominieren dagegen die ländlichen Institutionen, obwohl die städtische
Bevölkerung in Italien und in Flandern z.B. zunimmt. Landbesitz war untrennbar verbunden
mit politischer Macht und mit sozialem Prestige. Wiederum sieht man, dass es so etwas wie
absoluten Fortschritt nicht gibt.
b) Von zentraler Bedeutung ist die im Frühmittelalter, geschaffene Grundherrschaft:
Der adelige Oberherr gibt seinen Gefolgsleuten (Vasallen) Land zum Lehen. Die
untersten dieser Vasallen werden zu Grundherren.
Auf dem Grund und Boden (Gebiet) des Lehens übt der Grundherr nicht nur weitgehend
die politische und richterliche Gewalt aus, sondern er bestimmt auch die wirtschaftliche
Nutzung des Bodens.
Vereinfachend gesagt, ist die Grundherrschaft auf zwei unterschiedliche Arten realisiert
worden, die mit der politischen Lage zusammenhangen, die – mehr oder weniger - instabil
oder stabil sein konnte.
Die Instabilität hat im Frühmittelalter dominiert. Die Grundherrschaft stellte dann eine
Partikulargewalt dar, die zustande kam, weil die Staatsgewalt weitgehend schwach oder sogar
nichtexistent war.
Die politische Instabilität entstand nach dem Untergang des (west-)römischen Reiches
(um 500). Es entstehen in Westeuropa sukzessive instabile Nachfolgestaaten im Zuge der
germanischen Völkerwanderung.
Die Instabilität wird noch gefördert durch verschiedene Invasionen:
- Araber (Mauren): besetzen 711 Spanien, 732 bei Poitiers geschlagen (von Karl
Martell, dem Grossvater Karls des Grossen)
- Die Magyaren (Ungarn) verwüsten Süddeutschland, Italien und Ostfrankreich.
- Die Normannen (Vikinger) plündern in England und Nordfrankreich
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[Einschub aus Internet: Während des 9. Jh. zogen die Normannen-Wikinger
(überwiegend Dänen, aber auch Norweger) durch Nord- und Mittelfrankreich. Entlang der
Flüsse plünderten sie Dörfer, Städte und Klöster.
Die westfränkischen Könige hatten ihnen kaum etwas entgegenzusetzen.
Am Ende dieser Kämpfe stand der Vertrag von St. Clair-sur-Epte von 911 zwischen dem
Normannenführer Rollo und dem französischen König Karl dem Einfältigen: In diesem
Vertrag wurde festgehalten, daß die Normannen Christen werden, Karl den Lehnseid leisten
und die Küsten vor anderen Normannen schützen sollten. Als Gegenleistung erhielten sie die
Normandie als Lehen und Siedlungsgebiet.
Aufbau eines neuen Herzogtums: Was den Normannen im 10. und 11. Jh. gelang, war der
Aufbau eines fast selbständigen Herzogtums von hoher kultureller Qualität. Sie bauten sehr
viele Kirchen und Klöster und beschenkten sie reich. So wurde die Abtei Mont St. Michel
restauriert und ausgebaut. Schon bald blühte in der Normandie eine reichhaltige
Klosterkultur: Die normannischen Klöster waren ein Ort der Gelehrsamkeit, Frömmigkeit und
Gottesfurcht, aber auch der Reform. Sie wurden Vorbild für viele Klöster in Frankreich.]
In diesem Klima der Unsicherheit konnten keine stabilen Staatswesen zustande kommen;
deshalb wird die politische Gewalt auf den grundherrschaftlichen Territorien ausgeübt: die
Herrschaftsgewalt wird mit Bann bezeichnet.
In dieser Zeit hat auch die Kirche als relativ gut organisierte Kraft zur politischen
Stabilisierung beigetragen und konnte so das Leiden der ursprünglich ansässigen römischen
Bevölkerung lindern (vor allem in Frankreich und Italien). Es gab Fürstbischöfe, z.B. der
Bischof von Sitten (im Jahre 999 überliess der letzte Burgunderkönig Rudolf III. die
Grafschaft Wallis dem Bischof Hugo von Sitten als Lehen).
Eine bedeutsame politische Stabilität kam im karolingischen Reich um etwa 800
zustande, vor allem unter Karl dem Grossen (von 768-800 fränkischer König, dann Kaiser bis
zu seinem Tode 814; Dreiteilung des Reiches 843). Hier war die Grundherrschaft Grundlage
des Herrschaftssystems, das den Ausgangspunkt bildete für die neuzeitlichen und modernen
europäischen Entwicklungen (Teil 4). In karolingischer Zeit galt das Lehen nur für eine
beschränkte Zeit – maximal für die Lebenszeit des untersten Lehensnehmers, des Grafen. Die
Grundherren (Grafen) übten die politische und richterliche Gewalt im Namen des Kaisers aus.
Neben den weltlichen Grundherren gab es auch geistliche Grundherren (Bischöfe) sowie die
Klöster. Verteidigung und Kriegsführung waren zentral vom Kaiser geregelt. Die
wirtschaftliche Nutzung des Landes wurde vom Grundherren aufgrund von kaiserlichen
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Direktiven geregelt. Die Art und Weise, wie das Land genutzt wurde ist nun von
ausserordentlicher Bedeutung, wie der nächste Abschnitt zeigt.
c) Wirtschaftliche Organisation der Grundherrschaft (im karolingischen Reich)
Diese beruht auf der Zweiteilung des Bodens (domaine bipartite) (nicht zu verwechseln
mit der Zweifelderwirtschaft, die eine agrartechnische Einrichtung ist). Die Zweiteilung des
Bodens ist eine soziale und politische Institution:
* ein Teil des Bodens wird direkt vom Grundherrn bebaut (Herrengut), der zur
Verwaltung einen Verwalter (Meier) einsetzt.
Auf dem Herrengut setzt technische Dynamik ein: Über die Mühle wird die
Wasserkraft genutzt: Einfache Anlagen werden betrieben, z.B. um Getreide zu
mahlen und Holz und Steine zuzusägen.
* der andere Teil wird an die Bauern zur Nutzung übergeben (‚Verpachtung’ ist in
diesem Zusammenhang nicht ganz richtig) und von diesen bebaut, um sich und ihre
Familien zu ernähren.
Das den Bauern zur Nutzung übergebene Land wird in Höfe (Hufen oder Mansen)
aufgeteilt; auf den Höfen sind die Bauern selbständig. Dies fördert die Eigeninitiative.
Obwohl die Bauern Leibeigene sind, ist ihr gesellschaftlicher Status im karolingischen Reich
viel besser als die soziale Position der römischen Sklaven.
Allerdings müssen die Bauern Abgaben leisten und auf dem Boden des Grundherrn
Dienstleistungen (Fronarbeit) erbringen. Die Fronarbeit beträgt in der Regel sechs Monate
pro Jahr. Freie Bauern müssen vier bis sechs Wochen Fronarbeit leisten.
Der Lehensboden war ursprünglich ‚Gemeineigentum’: Sowohl der Grundherr wie die
Bauern hatten bestimmte Nutzungsrechte, die mit Pflichten verbunden waren.
Jedenfalls kann als vorläufige Schlussfolgerung festgehalten werden, dass die
Zweiteilung des Bodens für die weitere europäische Entwicklung von entscheidender
Bedeutung war. Auf dem Herrengut wurde über die Mühle, d.h. die mit Wasserkraft
angetriebenen Anlagen (Weizenmühlen, Holz- und Steinsägen), eine technische Dynamik
ausgelöst, die einen zentralen Faktor für in der Industriellen Revolution darstellte, die den
Durchbruch zur Moderne brachte. Die West- und Zentraleuropäer bekamen mit der Zeit
Freude am Maschinenbau!
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Auf den Höfen (Hufen, Mansen) entstanden die Eigeninitiative und die
Eigenverantwortung, die in der antiken Wirtschaft, in der die Sklavenarbeit dominierte, nicht
vorhanden waren.
Die Nutzung des Bodens über die Zweiteilung des Bodens ist beruht auf dem
Christentum, vor allem dem Gedanken von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen (z.B.
vor dem Gesetz), die aber mit Ungleichheit in den Anlagen und Fähigkeiten einhergeht. Wie
Aristoteles und Plato bereits festgestellt haben, sind solche Ungleichheiten unbedingt
erforderlich, weil in einer Gesellschaft gleichzeitig sehr unterschiedliche Aufgaben
wahrgenommen werden müssen: Güterproduktion, Leitung und Verwaltung der politischen
Gemeinschaft, Lehre und Forschung, sowie - im Mittelalter, und darüber hinaus – die
geistliche Betreuung der Menschen.
Mit der Nutzungsform der Hufe oder Manse (Hof), die vor allem vor dem Jahre 1000
bestand, waren bestimmte Rechte und Pflichten verbunden:
Die Rechte bestanden in materiellen Gütern und Nutzungsrechten, die der Grundherr den
Bauern zur Verfügung zu stellen hatte:
- Behausung des Pächters
- den zu bebauenden Boden
- Nutzungsrechte an herrschaftlichen Wäldern und an Rodungen (Neuland)
Diesen Rechten standen Pflichten gegenüber:
FRONARBEIT auf dem Boden des Grundherrn
- Leibeigene Bauern (Hälfte der Zeit – 6 Monate)
- Freie Bauern (freie Mansen oder Hufen): drei bis sechs Wochen im Jahr
d) Nach dem Jahr 1000 (in etwa) treten in der Landwirtschaft Veränderungen ein,
hervorgerufen durch:
- Bevölkerungsdruck, verbunden mit der vermehrten Erschliessung von neuem Land
(Rodungen)
- Aufkommen der Geldwirtschaft
- Neue landwirtschaftliche Produktionstechniken (Zugtiere, Pflug)
Neue Pachtformen entwickeln sich parallel im Rahmen der Lehen, die nun erblich
werden; der Grundherr betrachtet den Boden als seinen Boden; es setzt allmählich ein
Übergang vom Gemeineigentum zum Privateigentum ein:
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* Kleinpacht (métayage, métayer) – aus Höfen: Der Grundherr stellt alles zur
Verfügung: Gebäude, Werkzeuge, Vieh, sogar Geld.
Es gibt zwei Varianten der Kleinpacht:
** Teilpacht: der Pächter gibt einen bestimmten Teil des Ernteertrages an den
Grundbesitzer ab (z.B. der Zehnte); dazu kommen verschiedene
Dienstleistungen (Fronarbeit)
** Pacht gegen Geld (Kauf der Abgaben und der Fronarbeit durch die Pächter)
* Aus der Geldpacht entwickelt sich gegen Ende des MA, ab etwa 1300 die Pacht im
eigentlichen Sinne (Grosspacht, fermage, fermier); der Grundherr verpachtet sein
Herrengut:
Der Grundherr verpachtet sein ganzes Land gegen Geld. Der Pächter erbringt in der
Regel die Werkzeuge, das Vieh und das Geld.
1.2. Gesellschaftliche und politische Implikationen der
mittelalterlichen landwirtschaftlichen Organisation
a) Politische Doktrin des Feudalismus
* Es gibt drei gesellschaftliche Stände, die bestimmte Funktionen ausüben:
[Stände und Klassen sind gesellschaftliche Gruppierungen: Stände ergänzen sich
gegenseitig in ihren Funktionen. Klassen betreiben Interessenvertretung und stehen sich
gegensätzlich gegenüber, z. B. nach der Industriellen Revolution: bürgerlich Klasse gegen
Arbeiterklasse.]
Die Stände haben Rechte und Pflichten:
Pflichten: Der Adel ist zuständig für Justiz und Verteidigung (Recht und Schutz) und
allgemeine Verwaltung, vor allem Organisation der Bodennutzung.
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Rechte: Anrecht auf den ganzen oder eines Teils des landwirtschaftlichen Überschusses;
Erteilen von Privilegien für Stadtbürger betreffend Produktion und Handel mit Gütern.
Pflichten: Der Geistlichkeit kommt die geistliche Betreuung der Bevölkerung zu; dazu
kommen Forschung und Lehre (Theologie und Philosophie) sowie Unterricht
(Klosterschulen); die Kirche übt auch Rechtsfunktionen aus (kanonisches Recht).
Rechte: Anrecht auf den landwirtschaftlichen Überschuss, vor allem über die Klöster.
Die Geistlichkeit kann auch Funktionen (mit Rechten und Pflichten) übernehmen, die
dem Adel zukommen (Fürstbischöfe).
Bauern und ländliche Handwerker produzieren den gesellschaftlichen Überschuss, der in
erster Linie landwirtschaftlicher Überschuss ist (Pflicht); für die Bauern besteht, wenigstens
ursprünglich, das Recht, ein Stück Boden nutzen zu können (Hof – Hufe, Manse). [Die
einzigen Bauern, die selber über den Überschuss verfügen konnten waren von
mittelalterlicher Zeit an, die Zentralschweizer Bauern, in der Neuzeit gefolgt von
holländischen und englischen Bauern.]
Die städtischen Handwerker bezahlen für das Privileg, bestimmte Güter produzieren zu
können; die Kleinkaufleute bezahlen für das Privileg mit bestimmten Gütern Handel zu
treiben, ebenso (zum Teil später) Manufakturbesitzer, Fernkaufleute – Grosskaufleute – und
Bankiers (Pflichten). Rechte: für die Handwerker und Kleinkaufleute (Kleinbürger) und
Manufakturbesitzer, Fernkaufleute – Grosskaufleute – und Bankiers (Grossbürger) das Recht,
in einer Stadt Bürger zu sein; vor allem die Grossbürger wurden dann zum Teil in der
Stadtregierung politisch tätig; eventuell wurden Grossbürger auch in den Adelsstand erhoben.
(In bürgerlichen Ländern, z.B. Schweiz, Holland und in den italienischen Stadtstaaten
mussten natürlich die Bürger keine Privilegien für ihre Tätigkeiten als Produzenten, Kaufleute
und Bankiers bezahlen; diese wurden durch Steuern ersetzt.)
[Die Bürger sind dann im Spätmittelalter und bei Beginn der Neuzeit neben dem Adel
und der Geistlichkeit ein eigener Stand geworden, der dritte Stand. Im Zuge der
Französischen Revolution hat der Bürgerstand - Tiers-Etat - in Frankreich die absolute
politische Macht übernommen. Damit war der Weg für die politische Moderne geebnet.
Feudale Institutionen wie das Recht des Adels auf Teile des landwirtschaftlichen
Überschusses, Privilegienzahlungen durch Bürger sowie Zünfte wurden durch die
Französische Revolution zuerst in Frankreich, dann weltweit regelrecht weggefegt.]
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Der gesellschaftliche, vor allem landwirtschaftliche Überschuss wird im Mittelalter durch
technischen Fortschritt gesteigert (in Mühlen werden über die Wasserkraft einfache
mechanische Anlagen betrieben). Dazu kommen die Fortschritte in der landwirtschaftlichen
Produktionstechnik im Hochmittelalter (11. - 13. Jh.), die vor allem dem Adel und der
(hohen) Geistlichkeit zugute kommen, teilweise auch den Grosspächtern.
Eine schwache oder nicht existierende Zentralgewalt charakterisiert weite Teile des MA.
Nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches (um 500), bildeten sich instabile
Königreiche. Das Reich Karl des Grossen um 800 war stabil, wurde aber seinerseits 843
(Vertrag von Verdun) aufgeteilt in Frankreich, Lothringen und Deutschland. Diese lösten sich
ebenfalls weitgehend auf. Feudale Zersplitterung setzt ein. Im Hoch- und Spätmittelalter
festigt sich die Zentralgewalt (des Königs) allmählich, vor allem in Frankreich und England.
Im Zuge dieses Auflösungsprozesses ging die politische und richterliche Gewalt (Bann)
an die lokalen Vertreter der Könige über: Grafen, Barone und andere Grundherren. Diese
nehmen nun die königliche Banngewalt für sich in Anspruch:
- Dies geschah einmal durch militärische Leistungen, die den Bauern auferlegt
wurden; die betroffenen Bauern mussten aus dem Überschuss Pferd und Rüstung
finanzieren, was voraussetzte, dass der Hof eine beträchtliche Grösse aufweisen
musste; aus diesen „Wehrbauern“ entstand mit der Zeit der Ritterstand, der einen
Kleinadel bildete.
- Dann setzten die Grundherren Abgaben und indirekte Steuern, inklusive Zölle, fest.
- Sie übernahmen auch die Organisation der Justiz (Rechtssprechung).
Im Allgemeinen verschlechterte sich nach der Teilung des karolingischen Reiches der
rechtliche Status der Bauern.
- Bis ins 10. und 11. Jahrhundert hinein gab es Sklaven, die auf dem grundherrlichen
Boden arbeiteten.
- Die meisten Bauern waren Leibeigene (gebunden an eine bestimmte
Grundherrschaft); die Leibeigenen bearbeiten Boden für sich (Höfe: Hufen, Mansen)
und leisten Fronarbeit auf dem Boden des Grundherrn.
- Schliesslich gab es auch relativ wenige freie Bauern.
Faktisch verschlechterte sich die Lage der Bauern im Zeitablauf - ihre Rechte vermindern
sich. Tatsächlich werden sie immer mehr zu Sklaven:
- sie dürfen nicht über ihren Boden verfügen, diesen auch nicht vererben.
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- auch dürfen sie sich nicht ausserhalb des herrschaftlichen Besitzes verheiraten.
- die Belastung durch Abgaben verstärkt sich: z.B. in Frankreich wird die taille
eingeführt, eine ausserordentliche (zusätzliche) Steuer, die vom König oder vom
Grundherrn nach eigenem Gutdünken festgelegt wurde.
b) Die [früh-]mittelalterlichen Eigentumsverhältnisse sind politischer, nicht wirtschaftlicher
Natur:
- Der Boden ist [im Prinzip] Gemeineigentum.
- Der Boden wird vom König oder Kaiser dem Adel und z.T. der Geistlichkeit
(Fürstbischöfe) zum Lehen gegeben, was, wie bereits angedeutet, mit Rechten und
Pflichten verbunden ist.
- Das Lehen impliziert, dass Adel und Geistlichkeit, aber auch die Bauern am
gemeinsamen Boden Nutzungsrechte haben:
- Adel und Geistlichkeit erhalten den gesellschaftlichen Überschuss, damit sie ihren
Pflichten nachkommen können, ohne produzieren (arbeiten) zu müssen.
- die Bauern haben ein Recht auf "eigenen" Boden, der ihren Lebensunterhalt sichern
soll (Nutzungsrechte an einem Teil des Bodens).
Diesen Rechten stehen Pflichten gegenüber:
Adel: Verteidigung, Verwaltung (Organisation der Bodennutzung vor allem) und Justiz
Geistlichkeit (Kirche): Lehre und Forschung; Unterricht und Justiz
Bauern: Produktion des gesellschaftlichen Überschusses durch Abgaben und Fronarbeit.
c) Eine entscheidende Veränderung der Eigentumsordnung trat mit der Einführung der
Geldpacht ein (etwa ab dem Jahre 1000). Zwei Punkte sind dabei bedeutsam:
1) Der landwirtschaftliche Überschuss wird immer mehr für den Markt produziert, d.h.
für den städtischen Markt, wo er vor allem von den Handwerkern gegen Geld
gekauft wird; der andere Teil des Überschusses geht immer noch an Adel und
Geistlichkeit, immer mehr in Geldform.
2) Das Lehen wird erblich. Einige Grundherren werden zu Territorialfürsten auf ihrem
Land. Faktisch wird Boden allmählich und immer mehr als Privateigentum
betrachtet: Grundbesitz entsteht. Kauf und Verkauf von Boden wird möglich. Auch
reiche Bürger beginnen Boden zu erwerben.
Beide Elemente prägen sich immer mehr aus. Damit löst der Markt das Feudalsystem
zunehmend ab. Die Französische Revolution fegt dann endgültig die feudalen
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(mittelalterlichen) Privilegien hinweg. Gleichzeitig löst auch das Bürgertum (der dritte Stand)
den Adel und die Geistlichkeit als dominierende Schicht ab.
d) Mit der Erblichkeit der Lehen setzt ab dem 10. Jh. Immer mehr die feudale Zersplitterung
ein. Aber es ergeben sich unterschiedliche Entwicklungen in Frankreich, England und
Deutschland. In Frankreich bricht der König allmählich die Macht der Feudalherren und ein
zentralisierter Staat entsteht. Höhepunkt dieser Entwicklung: der absolutistische Staat
Ludwigs XIV (1643-1715).
England: Magna Charta (1215): Machtbalance zwischen dem König und den grossen
Feudalherren. Später gewinnt das Bürgertum, verbunden mit dem niedrigen Adel, immer
mehr an Macht. Resultat glorreiche Revolution von 1688; der König wird faktisch entmachtet;
die Monarchie wird repräsentativ. Das Parlament und die aus ihm hervorgehende Regierung
üben die Macht aus.
Deutschland: Kaiser verliert immer mehr an Macht. Feudale Zersplitterung kommt
zustande. Diese resultiert in politischer Zersplitterung: Fürstentümer von sehr
unterschiedlicher Grösse entstehen; einige davon werden zu Königreichen, z.B. Österreich,
Bayern, Sachsen und Preussen.
1.3. Verschiebung des politischen Schwerpunktes vom
Mittelmehrraums nach Nordwesteuropa (und nach Zentral- und
Osteuropa)
a) Hauptgrund: Fortschritte in der Landwirtschaft
Zwischen Seine und Rhein werden den natürlichen Bedingungen angepasste
Getreidesorten eingeführt, Roggen und Hafer (Mitterauer). Dadurch steigt der
landwirtschaftliche Überschuss. Dieser wird weiter gesteigert durch die Ablösung der
Zweifelderwirtschaft (die Hälfte des Bodens wird bebaut, die andere Hälfte wird brach
gelassen, damit der Boden sich erholen kann) durch die Dreifelderwirtschaft (der Boden wird
zwei Jahre hintereinander angebaut und im dritten Jahr brach gelassen). Diese Umstellung
erbringt einen Produktionsanstieg von 33% (von 50 auf 67, auf eine maximale (kurzfristige)
Produktion von 100). Diese Steigerung des landwirtschaftlichen Überschusses ermöglichte
den Aufbau des karolingischen Reiches (768-843), aus dem Europa herausgewachsen ist.
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Damit verschob sich der politische Schwerpunkt im Westen vom Mittelmeerraum (römisches
Reich) zuerst nach Nordwesteuropa (karolingisches Reich), dann auch nach Zentraleuropa
(römisch-deutsches Reich). (Diese Entwicklung fand statt, obwohl im Mittelmeerraum z.T.
jährliche Ernten eingebracht wurden.)
Die Rodungen (Wald wird in Ackerland verwandelt) brachten einen weiteren Zuwachs an
landwirtschaftlich nutzbarem Land und damit eine weitere Steigerung des
landwirtschaftlichen Überschusses, auch wieder im Nordwest- und Zentraleuropa (im
Mittelrraum hatten die Römer die Wälder weitgehend abgeholzt!). Rodungen wurden
veranlasst von Grundherren und von Klöstern (z.B. Klöster des Zisterzienser-Ordens, von
Bernard de Clairvaux Ende des 11. Jh. gegründet).
b) Die Klöster spielten im MA eine wichtige Rolle (Bp. St.Gallen). Sie waren:
- Kulturträger durch Lehre (Philosophie und Theologie) und Forschung (z.B.
Aristoteles vom Arabischen in Lateinische übersetzt; aber auch schon Ansätze zur
Erforschung der Natur im Rahmen der Naturphilosophie).
- Unterrichtsstätten (Klosterschulen für Adelige, aber auch für Bauernkinder: soziale
Mobilität!).
- landwirtschaftliche "Versuchsanstalten" (bessere landwirtschaftliche
Produktionstechniken und neue Produkte wurden entwickelt: Käsesorten, Weine,
Liqueure). Ernst Tremp: Mönche als Pioniere (im Literaturverzeichnis).
c) Die eben genannten Fortschritte in der Landwirtschaft ermöglichten ein beträchtliches
Bevölkerungswachstum:
um 1000 um 1300
Westeuropa 12 -15 Mio. 45 – 50 Mio.
Europa 18 – 29 Mio. 60 – 70 Mio.
d) Der Bevölkerungsdruck war ein wichtiger Grund (neben religiösen, politischen -
Machtsteigerung – und wirtschaftlichen Gründen) für westeuropäische
Expansionsbewegungen, von denen zwei von besonderer Bedeutung sind:
- die deutsche Ostkolonisation (Brandenburg, Schlesien, Pommern, Preussen)
- die Kreuzzüge: Papst Urban II. lancierte 1095 den ersten Kreuzzug (1096
begonnen). Hauptargument war die Wiedergewinnung des heiligen Landes für die
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Christenheit. Jedoch spielte der Bevölkerungsdruck im Hintergrund eine wichtige
Rolle. Dazu kam das Gewinnmotiv (Handelsgewinne durch den Orienthandel): Fritz
Rörig: Verfälschung der Kreuzzugsidee durch Venedig, mit dem Ziel, sich das
Monopol für den Orienthandel zu sichern (in: Die mittelalterliche Stadt). Die
Kreuzzüge und der damit einsetzende Handel mit dem mittleren Osten (und sogar
mit China – Seidenstrasse – Marco Polo war um 1260 in China) waren wichtig für
das wieder Aufkommen der Geldwirtschaft in Europa. (Steven Runciman: The First
Cruisade. Cambridge University Press 1992; first published 1980.)
2. Wiederaufkommen der Städte und dessen Auswirkungen
2.1. Neuentstehung von Städten
Mit dem Untergang des römischen Reiches, verschwindet auch dessen Städtekultur
weitgehend, vorwiegend verursacht durch die römische Grundherrschaft (Latifundien). Im
Zuge der Völkerwanderung werden die römischen Latifundienbesitzer wurden durch
germanische Grundherren abgelöst! Nur in Italien überleben die alten Städte. Diese dienen als
wirtschaftliches Bindeglied zwischen dem armen Westen und dem reicheren Osten: sie
vermitteln den Handel zwischen Westeuropa und dem östlichen Mittelmeerraum; wichtige
Handelsstädte sind Amalfi, Neapel, Venedig, Pisa und Genua; schlussendlich wird Venedig
den Orienthandel fast vollständig dominieren.
Von den Hafenstädten ausgehend, entwickelt sich die Städtekultur im Landesinnern:
Mailand, Florenz und andere; Florenz wird nicht nur ein Zentrum der Textilproduktion
sondern auch Finanzzentrum (die Banken der Familie Medici); in Flandern entsteht das erste
europäische Industriezentrum durch die Textilmanufakturen von Brügge und Gent.
Eine ungeheure Dynamik setzt ein (wo ist da das dunkle Mittelalter?). Neben dem
Fernhandel, der Textilproduktion und den Banken von Florenz setzt der Austausch zwischen
Stadt und Land voll ein. Die Grundherren verpachten Land gegen Geld. Pächter suchen ihre
Gewinne zu steigern, was zu einem Anstieg der landwirtschaftlichen Produktivität führt.
Gründe für die Entstehung von Städten:
- Sitze von Adeligen mit Burgen und Stadtmauern) (Schutzfunktion)
- Bischöfe (mit Kirchen und eventuell einer Kathedrale)
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- Vermittlung des lokalen Handels zwischen Stadt und Land (günstige Lage, eventuell
an einem Fluss, um die Warentransporte zu erleichtern)
- Fernhandelsstädte (auch hier ist die geographische Lage wichtig, z.B. ist Venedig
ideal gelegen, um den Handel mit dem Mittleren und dem Fernen Osten (China-
Seidenstrasse) zu vermitteln.
Die Stadtbevölkerung nimmt rasch zu: Am Ende des 13. Jh. (um 1300) zählt Mailand um
die 200‘000 Einwohner; Venedig, Genua, Florenz haben etwa 100‘000 Einwohner; andere
italienische Städte zwischen 20-50'000. Paris: 80‘000 Einwohner (heute leben in der région
métropolitaine etwa 12 Millionen Einwohner); London: um die 40'000 (heute hat die
Metropolitan Area um die 14 Millionen Einwohner!). Gent in Flandern: um die 50'000
Einwohner.
2.2. Handelsströme im Mittelalter (Fernhandel)
a) Etwa ab dem Jahr 1000 gab es jahrhundertelang intensive Handelsbeziehungen zwischen
Italien (und Europa) und dem Orient:
Einfuhr: Seide und Porzellan aus China, vor allem durch Venedig (um soll sich 1260
Marco Polo in China aufgehalten haben); Luxustextilien, z.B. Brokate: Seidentücher mit
Gold- und Silberfäden durchwirkt, wurden aus Byzanz eingeführt, Edelsteine aus Kleinasien,
Baumwolle aus Syrien.
[Seide und Porzellan aus China wurden über die Seidenstrasse in den mittleren Osten und
nach Europa gebracht. Die südliche Seidenstrasse verlief entlang der chinesisch-russischen
Grenze über Zentralasien, dem heutigen Usbekistan (Samarkand, Buchara), nach Persien
(Iran), mittlerer Osten, Venedig. Die nördliche Seidenstrasse ging von China durch
Südrussland nach Zentraleuropa, vor allem Deutschland. Die (absolute) Sicherheit der
Seidenstrasse wurde durch die Mongolen garantiert, die damals Zentralasien und Randgebiete
dominierten. Über die Seidenstrasse kamen wichtige technische Information aus China nach
Europa, vermutlich Kompass und Standuhr über die südliche Seidenstrasse,
Porzellanherstellung (Meissen!) und Buchdruckskunst (Gutenberg in Mainz).]
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Ausfuhr: Textilien (Leintücher) aus Flandern (Westbelgien), dem ersten europäischen
Industriezentrum; Pelze aus Nordeuropa; Metallprodukte (Werkzeuge) aus Zentraleuropa und
der Lombardei; Glaswaren aus Venedig (Murano!); Weizen aus Sizilien.
Venedig dominiert den Ost-West-Handel immer mehr; schaltet unter anderen auch
Genua als Konkurrenten aus; genuesische Seefahrer werden arbeitslos und begeben sich in
den Dienst, zuerst der Könige von Portugal, dann in den Dienst der spanischen Krone
(Christoph Columbus war ein Genuese). Im Zuge der grossen Entdeckungen wird dies
Venedig zum Verhängnis; Venedig wird isoliert und die Ecke gedrängt: der Mittelmeerhandel
verliert an Bedeutung, der Atlantik und der Indische Ozean werden die grossen
Handelsmeere.
b) Ostseehandel: Die Hanse (ein Verein deutscher Handelsstädte Köln, Rostock u.a.,
angeführt von Lübeck) betreibt Handel mit Nordeuropa und vor allem mit Russland.
Drehscheiben des Handels sind Novgorod (leicht südöstlich von Sank Petersburg), Riga und
Danzig.
Landwirtschaftliche- und Naturprodukte (Pelze, Honig) aus dem Osten, vor allem
Russland, werden gegen Handwerksprodukte aus deutschen und nordischen Städten
getauscht. (Die Bürger von Novgorod neigten sich so dem Westen zu; nach Siegen über die
Mongolen übernahm um 1450 der Grossfürst von Moskau, Ivan III (der Grosse), die
Kontrolle über Novgorod und liess westlich gesinnte Bürger zu Tode foltern. Moskau erlangte
so die Herrschaft über riesige Gebiete im Norden des heutigen Russland; damit beginnt der
Aufstieg Moskaus und Russlands zur europäischen Grossmacht.
c) Wichtig sind auch die mittelalterlichen Handelsmessen, vor allem die der Champagne,
südöstlich von Paris mit der Stadt Reims im Mittelpunkt. Die Champagner-Messen verbinden
die beiden wichtigsten europäischen Wirtschaftszentren des Mittelalters: Norditalien und die
Niederlande, vor allem Flandern. Aus Flandern gelangen über die Champagner-Messen
Textilien nach Norditalien; von dort aus werden sie vor allem von Venedig in den Orient
exportiert. Umgekehrt gelangen aus Venedig-Norditalien orientalische Waren nach Flandern
und nach Nordwest- und Zentraleuropa.
Auf den Champagner-Messen entstehen neue Kreditinstrumente; z.B. wird der Wechsel
erfunden (vielleicht neu erfunden); Techniken des internationalen Zahlungsverkehrs
entstehen; es wird über ein Jahr hinweg verrechnet und nur noch Saldi führen am Jahresende
zu Edelmetalltransporten, von Norditalien nach Flandern oder umgekehrt.
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In Norditalien entstehen Handelsgesellschaften um den Handels-Verkehr zwischen
Orient und Okzident abzuwickeln, die grösste Handelsgesellschaft ist la vera società. Ihr
Hauptsitze sind in Florenz, Venedig und Mailand; es gibt Zweigstellen in Brügge, London,
Paris, Genf, und anderen Städten. Diese Gesellschaften üben auch bankenähnliche Funktionen
aus. Um den Handel weiter zu erleichtern, wird international anerkanntes Geld geprägt; am
berühmtesten waren der Florin, ab 1252 in Florenz geprägt sowie die Dukaten, in Venedig ab
1284 geprägt.
Aber diese Gelder werden schon bald durch Kreditgeschäfte, vor allem Wechsel,
teilweise ersetzt (Erhöhung der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes!).
Die zunehmende Komplexität der Geschäfte erforderte Fortschritte in der Buchführung.
Wiederum zeichnen sich hier die Italiener aus. 1494 legt der italienische Franziskanermönch
Luca Pacioli in der Form eines Lehrbuches ein ausgebautes System der Doppelten
Buchhaltung vor. Es handelt sich hier um das erste betriebswirtschaftliche Lehrbuch! Max
Weber, der deutsche Ökonom und Soziologe, hat einmal gesagt, ohne doppelte Buchführung
hätte sich der moderne Kapitalismus mit seinen komplexen Geschäften nicht entwickeln
können. Das ist vielleicht etwas übertrieben, aber sicher nicht ganz falsch.
d) Man darf aber nicht übersehen, dass trotz dieses beträchtlichen Fernhandels der
Lokalhandel, d.h. der Handel zwischen Stadt und Land von überragender Bedeutung blieb.
2.3. „Industrie“: Handwerk und Manufaktur
Die „Industrie“ spielt im MA (ab 1000) keine unwesentliche Rolle, obwohl die Anzahl der
Beschäftigten sehr gering ist. Nach dem Untergang Roms (um 500) gehen die technischen
Kenntnisse ein wenig zurück – vor allem in Architektur und Bautechnik. Um das Jahr 1000
werden aber die Kenntnisse der Antike wieder erreicht und dann schrittweise übertroffen. Die
beiden wichtigsten industriellen Tätigkeiten sind das Weben von Tüchern und das Bauen (von
Burgen und Kathedralen).
Kathedralen werden vor allem in Nordfrankreich gebaut. Neben Notre Dame de Paris ist
die Kathedrale von Chartres, vollendet 1194, wahrscheinlich die berühmteste. Ein arabischer
Einfluss ist festzustellen – ohne arabische Architekturtechnik hätten die Kathedralen nicht in
dieser Form gebaut werden können. Die Araber sind hervorragende Architekten. Die
Moscheen sind volumenmässig gross, scheinen aber wie Zelte in der Luft zu schweben! Die
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Kathedrale von Poitiers (weitestes Vordringen der Araber nach Norden, 732) weist eindeutig
arabische Einflüsse auf.
Das Weben von Tüchern findet in fast allen Haushalten Europas statt. Jedoch bilden sich
etwa ab dem Jahr 1000 regionale Spezialisierungen bei der Tuchherstellung heraus;
Textilzentren entstehen: Flandern, Norditalien (z.B. waren im Textilzentrum Florenz im 14.
Jahrhundert tausende von Arbeitern tätig, Spinner und Weber), Süd-Ost-England (Lavenham:
vollständig erhaltenes Weberdorf im Südosten von Cambridge), Südfrankreich, auch Lyon. In
diesen Textilzentren sind Wolle und Leinen ist Basismaterial. Dazu kommen etwas Seide und
Baumwolle (Italien, Spanien).
Die Kleinbürger, d.h. die Arbeiter (Weber, Spinner, Färber, …) sind in Zünften
organisiert, ebenso die Grosshändler, die Grossbürger, die Rohmaterialien kaufen (z.B.
Schafwolle) und die Endprodukte verkaufen: Verlagssystem.
Um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen werden Manufakturen eingerichtet. Hier werden
wichtige Erfindungen gemacht:
- der Tretwebstuhl wird eingesetzt, was das Weben viel schneller gestaltet.
- Spinnanlagen, die mehrere Fäden auf einmal spinnen, werden eingerichtet.
- mit Wasserkraft (Mühlen) werden Webstühle und Spinnräder angetrieben (im Zuge
der industriellen Revolution wird die Dampfkraft die Wasserkraft ersetzen).
Flandern wird erstes Industriezentrum Europas. Hier bestehen die fortschrittlichsten
Techniken; mit dem technischen Fortschritt gehen auch soziale Veränderungen einher: die in
den Manufakturen tätigen Handwerker werden zu Proletariern; ein Manufakturproletariat
entsteht. [Aufgrund dieser historischen Erfahrungen kann Belgien anlässlich der Industriellen
Revolution im 18./anfangs des 19. Jh. am besten mit England mithalten. Für Flandern und
Belgien ist die „Fabrikrevolution“ sozusagen eine Wiederholung auf höherer Stufe;
wiederholt wird nämlich die mittelalterliche „Manufakturrevolution“ in Flandern.]
Die Herstellung von Eisen macht im Mittelalter erhebliche Fortschritte. Gemessen an der
Anzahl Beschäftigter ist die Eisenproduktion viel weniger bedeutend als Tuchherstellung, ist
aber für die langfristige Entwicklung von zentraler Bedeutung (aus Eisen und Stahl werden
Werkzeuge und im Zuge und nach der Industriellen Revolution vor allem Maschinen
hergestellt, die in den Fabriken stehen).
Die Herstellung von Eisen wird in Europa durch verschiedene Umstände erleichtert:
Eisenerz relativ leicht zugänglich (auffindbar).
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Die Beschaffung von Brennmaterial, das benötigt wird, um das Eisen aus dem Eisenerz
heraus zu schmelzen, ist vor allem nördlich der Alpen kein Problem: Holz, aus dem
Holzkohle hergestellt wird, ist hier reichlich vorhanden.
Hydraulische (mit Wasserkraft betriebene) Gebläse kommen auf (Vorläufer des
modernen Hochofens). (Um die Holzkohle zum Glühen zu bringen, ist eine Luftzufuhr
erforderlich.)
Aus Eisen werden Waffen hergestellt (Schwerter, Ritterrüstungen). Das wahrscheinlich
von China nach Europa gekommene Schwarzpulver (Seidenstrasse!) ermöglicht gegen Ende
des Mittelalters / Beginn der Neuzeit (um 1500) die Entwicklung von Feuerwaffen: Gewehre
und Kanonen.
Natürlich werden aus Eisen Werkzeuge verschiedenster Art hergestellt, auch Eisenpflüge
für gut gestellte Pächter, was die landwirtschaftliche Produktivität steigert.
[Der Schmied ist bis zur Industriellen Revolution der wichtigste Handwerker: Er stellt
die Waffen her, aber auch die Werkzeuge, die unentbehrlich für die Produktion sind. Nach der
Industriellen Revolution wird der Schmied abgelöst von der Werkzeugmaschinen-Industrie.]
Die Holzverarbeitung ist im Mittelalter sehr wichtig, auch die Verarbeitung von Leder.
Fernrohr und Kompass werden in Europa gebräuchlich (der Kompass stammt aus China
und kam über die Seidenstrasse nach Europa), was die Fortschritte im Schiffbau und in der
Schiffahrtstechnik erklärt. Diese sind wichtig für den Übergang von Mittelalter zur Neuzeit,
der materiell durch die grossen Entdeckungen (um 1500) markiert ist.
Die Buchdruckerkunst (Gutenberg druckt 1453 in Mainz die erste Bibel) und
Papierherstellung haben ungeheure wirtschaftliche und kulturelle Auswirkungen. Zum
Beispiel wird die rasche Verbreitung von wissenschaftlichen Informationen möglich. (Die
technischen Informationen über die Buchdruckerkunst kamen wahrscheinlich über die
nördliche Seidenstrasse von China nach Zentraleuropa.)
Aber die Erfindung der Mühle und damit die Nutzung der Wasserkraft ist vielleicht das
beste Beispiel für die technische Schöpfungskraft des Mittelalters (sehr wichtig).
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Horizontale Mühlräder gab es schon lange, mindestens seit dem 1. Jh. v.Chr. sowohl in
Nordeuropa als auch in China; im europäischen Mittelalter wurde das vertikale Mühlrad
eingesetzt. Dieses dient dazu, immer komplexere Mechanismen anzutreiben und damit
verschiedene Arbeiten auszuführen: Mahlen von Getreide und anderen Stoffen; Papier
herstellen, Tuch und Leder bearbeiten; Holz und Steine zusägen (für den Bau von Städten,
Kirchen und Kathedralen sowie von Burgen), Gebläse für die Eisenherstellung antreiben.
Durch die Mühle wird die Wasserkraft die wichtigste Energiequelle des Mittelalters, die dann
im Zuge der Industriellen Revolution von der Dampfkraft abgelöst wird; am Ende des 19. Jh.
kommen Verbrennungs- und Elektromotoren auf!
In den Ebenen Nordeuropas werden Windmühlen eingesetzt.
Die von Wasserkraft angetriebenen Maschinen (Arbeitsmühlen!) erfordern eine präzise
und subtile Mechanik. Man bekommt in Europa Freude an der Mechanik und beginnt, sich
‚hobbymässig’ damit zu beschäftigen. Das führt zu einem neuen Anwendungsgebiet, nämlich
der Herstellung von Standuhren, die bereits ab dem 13. Jh. in grösseren Mengen hergestellt
werden.
[Einschub: J.M. Hobson (2004, Lit.verz., pp. 130-32) sagt, dass die Erfindung der
Standuhr eine der grössten angewandten Leistungen des Menschen sei. Entscheidend war die
Erfindung der Hemmung, die in regelmässigen Zeitabständen (in der Regel alle 15 Minuten,
um das Läuten festzulegen) das Räderwerk anhält, um eine richtige Zeitmessung zu
ermöglichen (alle 60 Minuten Übergang auf eine neue Stunde und Wiederbeginn der
Minutenzählung). Die ersten Zeitmessungsanlagen tauchen in der zweiten Hälfte des 13. Jh.
(ab 1250) im arabischen Südspanien auf. Aber niemand weiss, wer diese Anlagen erfunden
hat. Hobson sagt nun, dass die Hemmung und damit die Möglichkeit, Uhren herzustellen, im
Jahre 725 in China erfunden wurde. Über arabische Texte sei die Beschreibung dieser
Erfindung schliesslich nach dem damals arabischen Südspanien gekommen und dann von dort
nach Norditalien gelangt, zuerst Venedig und Mailand.]
Die Standuhr weist den Menschen auf die verfliessende Zeit hin. Man beginnt über den
Sinn des menschlichen Daseins auf Erden nachzudenken. Geschichtsphilosophien entstehen
vor allem in der Neuzeit (was ist der Sinn und Zweck der Geschichte?).
Auch erscheint das Universum allmählich nicht mehr als etwas Mysteriöses
Geheimnisvolles).
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Das Universum wird schon vom französischen Bischof Nikolaus Oresmius (~ 1325 – 82)
als ein Uhrwerk betrachtet, das vom Schöpfer geregelt wird. Dieser Vergleich wird von
Kepler und Newton aufgenommen. Newton sagt, dass das Universum durch die
Gravitationskraft im Gleichgewicht gehalten werde.
[Für uns Ökonomen und Sozialwissenschafter ist nun von zentraler Bedeutung, dass
Adam Smith (1723-90), der Begründer der Wirtschaftstheorie die Mechanismus-Analogie
auch auf Wirtschaft und Gesellschaft übertragen hat. Die wirtschaftlich-gesellschaftliche
Gravitationskraft ist für Adam Smith die propriety (Angemessenheit), eine Mischung von self
interest (Eigeninteresse) und fellow feeling (soziales Mitgefühl). Wenn die Menschen
überwiegend angemessen handeln, dann kommt wirtschaftliche und gesellschaftliche
Harmonie zustande. Dieser Harmoniebegriff von Adam Smith ist dann gegen Ende des 19. Jh.
zum Gleichgewichtsbegriff geworden (Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage auf
den verschiedenen Märkten). Und nun entscheidend: Man beginnt vom Marktmechanismus
zu sprechen. Man glaubt diesen mit naturwissenschaftlichen Methoden erklären zu können;
wirtschaftliche Phänomene werden auf das Verhalten von Individuen reduziert
(Konsumenten, die den Nutzen maximieren und profitmaximierende Produzenten). Weiter
wird postuliert, dass unter Konkurrenzbedingungen das Verhalten der Individuen von den
Marktkräften (Angebot und Nachfrage) so reguliert wird, dass ein soziales Optimum zustande
kommt (das allgemeine Gleichgewicht von Léon Walras ist auch ein Pareto-Optimum).]
Schlussfolgerung: Die Mühle, Nutzung der Wasserkraft, um einfache mechanische
Anlagen anzutreiben, führt in West- und Zentraleuropa zu einer Maschinenbau-Tradition.
Diese hat dann die technischen Grundlagen für die Industrielle Revolution geliefert.
Der amerikanische Wirtschafts- und Kulturhistoriker John Nef spricht im
Zusammenhang mit der Mühle von einer mittelalterlichen industriellen Revolution, die
allerdings keine grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen mit sich brachte.
2.4. Die Zünfte
a) Definition
Zünfte sind Handwerksverbände, die im Mittelalter und teilweise bis zur Französischen
Revolution die handwerkliche Produktion regelte. Es bestand also keine Gewerbefreiheit.
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b) Die Bereiche der Reglementierung waren
- Preise, Qualität, Menge
- Absatzgebiete; [heutige Kartelle als eine Art „Teilzünfte“ (Bierkartell von 1935 bis
1991 diktierte Preise und legte Absatzgebiete fest)]
- Ausbildung der Gesellen (Lehrlinge) und Meister war strikt geregelt. Die Prüfung
bestand aus dem Gesellenstück (dadurch wurde man vom Lehrling zum
Handwerker) und dem Meisterstück (dadurch wurde ein Handwerker zum Meister,
der das Handwerk ‚unterrichten’ durfte).
c) Zwei Prinzipien der Zunftverfassung
1. Gleichheit und Solidarität der Mitglieder untereinander (soziale
Versicherungsfunktion: alle Zunftmitglieder bezahlen Beiträge in eine gemeinsame
Kasse; wird beispielsweise ein Zunftmitglied krank, unterstützt ihn die Zunft).
2. Grundsatz der gesellschaftlichen Abschliessung (stark beschränkte Kontakte zu
anderen Zünften und der übrigen Gesellschaft): Das ist Ausdruck der bestehenden
gesellschaftlichen Ordnung mit ihrer schroffen Absonderung der verschiedenen
Stände und Berufe.
Zunftzwang: Handwerker mussten einer Zunft angehören, um Benachteiligungen von
Zunftmitgliedern und Bevorteilungen von Handwerkern, die nicht einer Zunft angehören zu
vermeiden.
3. Krise des Mittelalters – Übergang zur Neuzeit
3.1. Einleitung der Krise
Im Jahre 1348 erreicht (aus Asien kommend – über die Seidenstrasse?) die Schwarze Pest
Europa. Sie verbreitet sich rasch entlang der Handelswege und wütet vor allem in den
Städten. Innerhalb von zwei Jahren erreicht sie ganz Europa, von Portugal bis Russland und
von Sizilien bis Island. In einigen städtischen Regionen vermindert sich die Bevölkerung um
mehr als 50% in ganz Europa um mehr als einen Drittel. In absoluten Zahlen wird die
europäische Bevölkerung von (etwa) 100 Mio auf 50 Mio reduziert. Besonders betroffen
werden Orte an feuchten Lagen, vor allem an Flüssen; in der Schweiz wird Basel besonders
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stark von der Pest heimgesucht. Die Pest dauert bis zum Ende des 14. Jahrhunderts, also etwa
50 Jahre lang.
3.2. Tiefergehende Krisenursachen
a) Rückgang der Wirtschaftstätigkeit
Einige Gründe:
* Der hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England (1338-1453) verwüstet
Westeuropa. (Seit der Normannischen Invasion Englands (1066) hat die englische
Krone immer wieder Ansprüche auf Teile Frankreichs angemeldet.) Die
Wirtschaftstätigkeit geht stark zurück.
* Einnahme von Konstantinopel durch die Türken (1453) – Konstantinopel wird
Istanbul. Ausgezeichnete Beschreibung dieses äusserst wichtigen Ereignisses durch
Steven Runciman: The Fall of Constantinople. Cambridge University Press 1990;
orig. 1965.
Die Expansion der Türken ist verbunden mit einem Rückgang des Handels, vor
allem des Orient-Handel. Venedig wird dadurch schwer getroffen (die Venezianer
haben übrigens heroische Anstrengungen unternommen um Konstantinopel zu
halten), zusammen mit klimatischen Veränderungen.
* Die landwirtschaftliche Produktion geht zurück (folgender Abschnitt b) und damit
auch der landwirtschaftliche Überschuss, was wiederum einen Rückgang der
Wirtschaftstätigkeit und des Handels auslöst.
* Zudem führt die Überbevölkerung in Europa 1315-17 zu einer grossen Hungersnot.
b) Wirtschaftlich und soziale Faktoren in der Landwirtschaft
* Wirtschaftliche Faktoren:
Gegen Ende des 13. Kommen die Rodungen zu einem allmählichen Stillstand. Die
massive Zerstörung der Wälder führt in Südeuropa zu Erosion; weiter im Norden widersetzen
sich die Grundbesitzer zusätzlichen Rodungen, um ihre Jagdprivilegien zu bewahren. Weil
durch Rodungen kein Neuland mehr gewonnen werden kann, werden Wiesen (Viehzucht) in
Ackerland (Roggen, Weizen) verwandelt. [Wichtig: Mit einer bestimmten Fläche Ackerland
(Roggen und Weizen zu Brot verarbeitet) kann viel mehr Menschen ernähren als mit einer
gleich grossen Fläche Weideland (Viehzucht und Fleischproduktion)]. Der Viehbestand
nimmt dadurch. Damit standen weniger natürliche Düngemittel zur Verfügung. Die
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Bodenproduktivität sinkt – das ist ein erster Grund für die grosse Hungersnot von 1315-17.
[Ackerland und Weideland mussten also im Mittelalter (bis weit in die Neuzeit hinein) in
bestimmten Proportionen stehen, um eine optimale Nahrungsmittelproduktion (Brot und
Getreidegerichte einerseits sowie Fleisch, Käse und Butter andererseits) zu gewährleisten; die
Proportionen sind nicht unabhängig von der Skala: Ausmass der Nahrungsmittelproduktion!]
Ein zweiter Grund für die grosse Hungersnot von 1315-17 waren klimatische
Veränderungen, die wahrscheinlich durch die ausgedehnten Rodungen von Wäldern ausgelöst
wurden.
* Soziale Faktoren:
Aber auch soziale Spannungen treten auf:
Einerseits haben in der mittelalterlichen Expansionsperiode (1000-1300) viele
Grundbesitzer die Fronarbeit durch (Geld-) Pachten ersetzt.
Anderseits führt das Bevölkerungswachstum zu hohen Nahrungsmittelpreisen und
niedrigen Lohnsätzen.
Deshalb wollen nun viele adelige Grundbesitzer das günstige Preis-Lohn-Verhältnis
wieder ausnützen und vermehrt selber (mit Loharbeit) den Boden bebauen. Sogar die
Fronarbeit sollte wieder ausgedehnt werden. Die Grundbesitzer sind in Westeuropa nicht sehr
erfolgreich: Die Territorialfürsten gewinnen an Macht und wollen die adeligen Grundbesitzer
nicht wirtschaftlich tätig werden lassen, sondern diese zu militärischen Zwecken und für
politische Dienstleistungen einsetzen (Administration, Rechtssprechung) einsetzen.
Dies steht im Gegensatz zu Osteuropa, wie die Grundbesitzer durch Verwalter ihre
Grundherrschaften selbst nutzten, die Bauern sind dabei Leibeigene (in Russland wurde die
Leibeigenschaft erst 1861 abgeschafft!).
Dazu kommt die Steuerbelastung. Die wirtschaftlich erfolgreichen Grundbesitzer (und
Grosspächter) bereichern sich, die Bauern verarmen, weil immer höhere Abgaben geleistet
werden müssen, in Frankreich z.B. für die Finanzierung des Hundertjährigen Krieges.
Deshalb gibt es schwere Bauernunruhen im 14. Jahrhundert. Bauernkriege in Frankreich
und Deutschland zu Beginn des 15. Jahrhunderts. [Einschub: Die Zentralschweizer Bauern
gelten damals in ganz Europa als Vorbild: Sie besitzen ihren eigenen Boden und verfügen
selber über ihren Überschuss. Wie auf religiöser Ebene der Protestantismus wandten sich die
Bauern auf sozialer und politischer Ebene gegen die bestehende Ordnung.]
c) Die Krise als Vorbedingung für den Wiederaufschwung
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Pest und Hungersnöte führen zu einem Bevölkerungsrückgang im Zeitraum von etwa
1350-1450. Die Geldlöhne steigen und die Nahrungsmittelpreise sinken. Die steigenden
Reallöhne bewirken, dass die Bevölkerung ab etwa 1450 wieder zunimmt.
Zudem ist wegen den Wüstungen (unbebautes Land) wiederum reichlich Land
vorhanden. Es kann vermehrt Viehzucht betrieben werden. Damit stehen zusätzliche
Düngemittel zur Verfügung. Die Bodenproduktivität steigt an.
So werden die Katastrophen des 14. Jh. zur Vorbedingung für einen wirtschaftlichen
Wiederaufschwung im 15. Jahrhundert, etwa ab 1450. Das betrifft auch die Städte, die von
der Pest dezimiert waren. Die städtische Gesellschaft reorganisiert sich:
- Die Zünfte reglementieren vermehrt, um das Angebot zu kontrollieren und damit die
Preise zu stützen.
- Die Kaufleute steigen ihre Effizienz durch genauere Erfassung der geschäftlichen
Vorgänge. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts (1494) wird das System der doppelten
Buchhaltung in der Form eines Lehrbuches (verfasst vom Franziskanermönch Luca
Pacioli) dargestellt und kann sich so rasch verbreiten.
- Das Bankwesen nimmt einen neuen Aufschwung. (Die Familie Medici in Florenz
organisiert ihre Bank in der Form einer Holding, damit der Konkurs einer
Gesellschaft nicht das Ganze gefährdet.) [Von den Medici könnten auch unsere
heutigen Grossbanken lernen!]
- die Verleger suchen wegen der höheren Lohnkosten nach rationelleren
Produktionsmethoden; es entstehen vermehrt Manufakturen, die mit niedrigeren
Kosten produzieren.
Schliesslich finden regionale Umschichtungen statt:
- Florenz und Venedig schalten mit Gewalt Konkurrenten aus [der Internationale
Wettbewerb kann zu Konflikten und Kriegen führen, weil die Märkte beschränkt
sind].
- Als internationaler Markplatz ersetzt Genf die Champagnermärkte und wird
seinerseits gegen Ende des 15. Jahrhunderts durch Lyon verdrängt.
- Die italienischen Häfen verlieren immer mehr Terrain gegenüber ihren nordischen
Rivalen (Antwerpen, Amsterdam). Das kündet eine neue Epoche an, die durch die
grossen Entdeckungen um 1500 eingeleitet werden: Der Mittelmeerhandel wird
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immer mehr durch den Atlantikhandel veredrängt (auch der indische Ozean gewinnt
an Bedeutung). [Heute wird immer mehr der Pazifik zum grossen Handelsmeer.]
4. Fazit: Mittelalterliche Grundlagen des modernen Europa (Mitterauer)
4.1. Eine neue Sicht der Entstehung Europas
In der bisher dominierenden Sichtweise wurden die Grundlagen des modernen Europa mit
Beginn der Neuzeit, d.h. im 16. Jahrhundert gelegt. Humanismus und Renaissance brachten
einen Aufschwung der Wissenschaften und einen Umbruch in den Künsten. Der
Protestantismus wurde als die treibende Kraft hinter dem Kapitalismus gesehen (Max Weber:
Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus). Die Aufklärung brachte vor allem
im 18. Jh. – in England schon früher - neues Denken auf dem Gebiete der politischen
Philosophie: die Idee der Gewaltenteilung und der parlamentarischen Demokratie wurde im
Zusammenhang mit den Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entwickelt. Aus
der Englischen Industriellen Revolution und der Französischen Politischen Revolution wuchs
das moderne Europa und die moderne Welt auf den Trümmern des Ancien Régime hervor.
Diese Sichtweise wird nun von Michael Mitterauer grundsätzlich in Frage gestellt.
„[Abweichend von den derzeit vorherrschenden Meinungen zur Genese des modernen
Europa, des europäischen Sonderweges] führt sein Weg zu Wurzeln, die weit ins Mittelalter
zurückreichen“(Mitterauer 2003, Umsschlagseite), nämlich in das Karolingische Reich, das
um 800 herum bestand. Die Wurzeln sind vielfältig: religiös-kulturell, wirtschaftlich und
gesellschaftlich-politisch.
Das westliche Christentum bildet die religiös-kulturelle Grundlage des Reiches
(Dezentrale Organisation des Reiches – Vorwegnahme des Subsidiaritätsprinzips; prinzipielle
Gleichheit aller Menschen – daraus sind die modernen Menschenrechte herausgewachsen
Recht auf Nutzungsrechte an Land – später Recht auf Privateigentum); die eigentliche
geistige Grundlegung Europas ist dargestellt an einem soeben (2010) erschienen Buch:
Monasterium Sancti Galli 5: Alkuin von York und die Geistige Grundlegung Europas,
herausgegeben von Ernst Tremp und Karl Schmuki, Verlag am Klosterhof St. Gallen 2010
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(Alkuin von York war einer der bedeutendsten Theologen seiner Zeit und Hauptberater
Karls des Grossen betreffend die geistige, rechtliche und politische Gestaltung des
Karolingischen Reiches.)
Die wirtschaftlichen Grundlagen haben wir bereits erwähnt: Auf den Höfen entstand über
die Nutzungsrechte auch bei den einfachen Bauern Eigeninitiative und Eigenverantwortung;
das Herrengut mit der Mühle war der Ausgangspunkt für die europäische Maschinenbau-
Tradition.
Michael Mitterauer wendet sich nun auch den gesellschaftlich-politischen Grundlagen
Europas zu, die im Reich Karls des Grossen entstanden sind. Für Mitterauer ist der
europäische Sonderweg nicht in erster Linie durch Kapitalismus und Industrialisierung und
deren Entwicklung, sondern durch Parlamentarismus und Demokratie gezeichnet, die sich aus
den mittelalterlichen Ständeverfassungen entwickelt haben. Letztere wiederum haben ihren
Ursprung in der karolingischen Grundherrschaft. [Aus den zwei ersten Ständen (Adel und
Geistlichkeit) gehen nach der französischen Revolution konservative Parteien hervor, aus dem
dritten – bürgerlichen – Stand liberale Parteien: Radikale, Freisinnige. Im 19. Jh. geht dann
aus dem vierten (Arbeiter-) Stand die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien
hervor.]
4.2. Der Durchbruch von der Tradition zur Moderne im
‚rückständigen’ Europa (Mitterauer, mit Erweiterungen)
a) in der zweiten Hälfte des 18. Jh. sind in England eine Reihe von komplementären
Bedingungen zustande gekommen, die zur Industriellen Revolution geführt haben (Abschnitt
V.2. dieser Vorlesung). Die ganze europäische Entwicklung seit dem Karolingischen Reich
und der dauernde asiatische und nordafrikanische Einfluss sowie dessen schöpferische
Weiterentwicklung der Europäer haben den Zustand geschaffen, der in England die
industrielle Revolution auslöste.
b) Die ursprüngliche eurozentrische Sicht besagt, die Grundlagen für die moderne
Entwicklung seien durch Humanismus und Renaissance um 1500 herum geschaffen worden
(das 16. Jh. als Schlüssel-Jahrhundert): die wissenschaftliche und technische Revolution
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wurden eingeleitet, die grossen Entdeckungen erfolgten um diese Zeit. [In Wirklichkeit war
die technische und wissenschaftliche Revolution (Natur- und Sozialwissenschaften) die
Anwendung der scholastischen Methode auf Mensch, Gesellschaft und Natur; die
scholastische Methode war die Suche nach der plausibelsten Theorie, um irgendeinen
Sachverhalt zu erklären; im Mittelalter wurde die scholastische Methode auf die Theologie
und die Philosophie angewendet. Auch in den Wissenschaften zeigt sich also die
grundlegende Bedeutung des Mittelalters.]
c) Mitterauer legt nun stark modifizierte eurozentrische Betrachtungsweise vor:
Der Ausgangspunkt für die spezifische europäische Entwicklung, die zum Durchbruch
zur Moderne führten wurden im frühen Mittelalter gelegt, im Reich Karls des Grossen
(karolingisches Reich, um 800 (in diesem Jahre wurde Karl der Grosse in Rom zum Kaiser
gekrönt), genau von 768 (Karl der Grosse wird fränkischer König) bis 843 (das Karolingische
Reich wird dreigeteilt in Frankreich, Lothringen und Deutschland).
d) Wichtig waren im Karolingischen Reich:
*Einmal die dezentrale Organisation des Reiches durch das Lehenswesen. Die
Grundherrschaften auf den verschiedenen Stufen des ‚Lehensherr-Lehensnehmer-
Verhältnisses bilden eigenständige Selbstverwaltungseinheiten. Die Dezentralisierung beruht
(implizit) auf dem Subsidiaritätsprinzip (die obere staatliche Ebene übt nur Funktionen aus,
die von den unteren Ebenen nicht durchgeführt werden können. Zum Beispiel kommt die
Entscheidung über Krieg und Frieden dem Kaiser, dem obersten Lehensherrn zu). Dadurch
erhalten die staatlichen Funktionsträger bis hinunter auf die unterste Stufe, den Bauern,
Handlungsspielräume, die Eigeninitiative wird dadurch gefördert. Auf der untersten Stufe
wird diese konkretisiert durch die Zweiteilung des Bodens, die dem einzelnen Bauern auf
seiner Hufe (Hof) Nutzungsrechte an einer bestimmten Bodenfläche zukommen lässt.
*Die Zweiteilung des Bodens ist von zentraler Bedeutung. Die Bauern entwickelten auf
ihren Höfen (Mansen, Hufen) Eigeninitiative; dazu wurde die Eigenverantwortung gestärkt.
Auf dem Herrengut entstand die Mühle: mit Wasserkraft wurden einfache Anlagen
angetrieben. Dadurch entstand in Europa eine Maschinenbautradition, die für die Industrielle
Revolution von entscheidender Bedeutung war. Diese Elemente: Eigeninitiative,
Eigenverantwortung und Maschinenbautradition waren grundlegend für Mitterauers
Europäischen Sonderweg.
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*Im Hochmittelalter bildet sich allmählich ein Dualismus zwischen Adel und
Geistlichkeit einerseits und dem Fürsten (König, Kaiser, Herzog) heraus. Adel und
Geistlichkeit schliessen sich zu Ständen zusammen, die auf Ständeversammlungen über ihre
Rechte und Pflichten (auch dem Fürsten gegenüber beraten; die englische Magna Charta von
1215 regelt erstmals klar das Verhältnis von (Hoch-)Adel und König). Später kam vereinzelt
auch der bürgerliche Stand hinzu.
*Nach der französischen Revolution wurden die Stände zu Klassen, die ihre Interessen
vertraten. Dies führte schliesslich zur Bildung von politischen Parteien und zur
parlamentarischen Demokratie.
*Das Christentum propagiert die prinzipielle Gleichheit aller Menschen (in den Schulen,
die von Karl dem Grossen eingerichtet wurden, befanden sich adelige und Bauernkinder.) Die
natürlichen Gemeinschaften - Sippe, Stamm und Grossfamilie - treten in den Hintergrund, die
Kleinfamilie und die Individuen rücken in den Vordergrund. Im karolingischen Reich bestand
eine gewisse Unabhängigkeit zwischen Institutionen (Funktionen) und den Personen, die in
einer bestimmten Institution tätig waren (Lehen wurden maximal auf Lebenszeit. vergeben).
Im Hochmittel traten die Personen (und ihre Abstammung) wieder verstärkt in den
Vordergrund. Allmählich wurde aber im Verlaufe der Neuzeit das persönliche Element
wieder zurückgedrängt. Adelige und Geistliche wurden zu Regierungsmitgliedern, Beratern,
Administratoren und Offizieren. Die Funktionen (Institutionen) wurden nach der
Französischen Revolutionen immer mehr von den Personen unabhängig.
*In den westeuropäischen Städten ist allmählich ein Wirtschaftsbürgertum entstanden,
das sich allerdings im Zuge der Industriellen Revolution sozial gewandelt hat. Jean-François
Bergier sagt aber ausdrücklich, dass das Industrie-Bürgertum eine soziale Neuschöpfung ist
und sich nicht aus dem bestehenden Bürgertum heraus entwickelt hat.
e) Wichtig ist auch, dass Europa nie vom mächtigeren Asien dominiert wurde, dies
wegen seiner Randlage. Den Persern gelang um 500 v.Chr. nicht, Griechenland zu erobern.
Die Hunnen unter Attila wurden 451 n.Chr. auf den Katalaunischen Feldern
(Nordostfrankreich) von den Römern/Germanen (Aetius) geschlagen. Die Araber wurde 732
n.Chr. in Poitiers von den Franken (Karl Martell) gestoppt. Die Mongolen kamen um 1241
herum bis nach Schlesien, wo sie bei Liegnitz eine Schlacht gewannen, sich dann aber nach
dem Tode ihres Grosskhans Ögedei aus Deutschland und Polen zurückzogen; vielleicht hatten
sie auch kein Interesse, weiter nach Westen vorzustossen, weil hier nicht viel zu holen war
oder der Weg zu lang war.
Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte III. Mittelalter
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f) Damit um Zusammenhang steht, dass Europa war nie eine politische Einheit war. Vor
allem England hat dafür gesorgt, dass auf dem europäischen Kontinent nie dauernd eine
dominierende politische Macht entstehen konnte. Die Rivalität zwischen Staaten und
Regionen erforderte, den sozialen Überschuss zu steigern, auch um höhere Steuereinnahmen
sicherzustellen. Teilweise wurde dies durch Verbesserungen der Produktionstechnik zustande
gebracht (einfache Maschinen, die von Wasserkraft angetrieben waren; Manufakturen
entstehen). Vor allem führte die Rivalität zwischen den europäischen Mächten zu
Verbesserungen in der Waffentechnik. Die Artillerie wurde weiterentwickelt, was die
Kenntnisse im Maschinenbau förderte.
g) Zwei Neuanfänge haben die Entwicklung in Europa entscheidend bestimmt. Ein erster
Neuanfang fand in Griechenland nach dem plötzlichen Zusammenbruch der kretisch-
mykenischen Kultur um 1200 v.Chr. statt. Im klassischen Griechenland (800 – 200 v.Chr.)
erreichte im vierten Jh. v.Chr. das philosophische Denken mit Platon und Aristoteles einen
einzigartigen Höhepunkt. Das Denken wurde nicht mehr vom Mythos sondern von der
Vernunft getragen. Unterschiedliche, sogar widersprüchliche Denksysteme entstehen, Fragen
und Zweifel tauchen auf (Sophisten und Skeptiker); wissenschaftliche Theorien entstehen,
also Denkmodelle; dieser Vorgang wurde gefördert durch die Lautschrift (Buchstabenschrift),
die eine allgemein verständliche Bildung von Begriffen ermöglichte – die verfeinerte
chinesische Zeichenschrift war nur einer Elite zugänglich.)
Das Reich Karls des Grossen um 800 stellte – wie oben angedeutet – einen (zweiten)
staatlichen, aber auch gesellschaftlich-wirtschaftlichen Neuanfang auf christlicher Grundlage
dar, der einen spezifisch europäischen Entwicklungsweg einleitete (Mitterauer, 2003).