Ideologien können in einer ersten Annä-
herung bestimmt werden als Aussagensys-
teme, welche ein gesellschaftliches Phä-
nomen, einen gesellschaftlichen Prozess
oder eine gesellschaftliche Struktur ver-
zerrt, naturalisierend oder enthistori-
sierend darstellen und dabei – intendiert
oder nicht-intendiert – zur Legitimati-
on von Herrschaftsinteressen beitragen.
Diese ideologischen Aussagen existieren
nicht nur kognitiv, sondern sind immer
zugleich in Praxisformen sowie in (staat-
liche) Apparate eingebettet, sie sind in
diesem Sinn also materiell.
Systematisch betrieben wurde Ideologie-
forschung zunächst von der Philosophie
der Aufklärung. Die allgemeinen Ursachen
von Irrtum und falschem Bewusstsein soll-
ten durch die theoretische Erklärung der
Mechanismen, die die Erkenntnis des Wah-
ren verhindern, aufgedeckt werden. Fran-
cis Bacon (1561-1626) forderte in seinem
Buch Neues Organon eine vorurteilsfreie,
auf Erfahrung gegründete Wissenschaft,
die von allen Trübungen durch vorgefasste
Anschauungen, blinden Autoritätsglauben
und unkritische Annahme überlieferter
Meinungen und Fehlschlüsse befreit wäre.
Da die Entstehung des „Ideologieproblems”
historisch eng mit den Emanzipationsbe-
strebungen des frühen europäischen Bür-
ger_innentums verbunden war, wurden vor
allem Theologie und Kirche als Apologet_
innen und Stützen einer bereits fragwür-
dig gewordenen absolutistischen Gesell-
schaftsordnung kritisiert. Zwar waren
die meisten Vertreter_innen der Aufklä-
rungsphilosophie an der Beseitigung des
realen Elends interessiert, die Wurzel
aller (gesellschaftlichen) menschlichen
Leiden sahen sie aber zunächst in den
Vorurteilen, vor allem in den religiö-
sen und moralischen Vorstellungen, die es
zu überwinden gelte. Im Rahmen der sog.
„Priestertrugstheorie” (Holbach) wurde
Ideologien: Falsches Bewusst-
v o n H a n s P ü h r e t m a y e r
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Aspekte der Geschichte des Ideologiebegriffs
materielle
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argumentiert, von Priestern würden zum
Zweck der Erhaltung und Sanktionierung
der Macht der Herrschenden religiöse Vor-
stellungen (die gegebene Ordnung sei gott-
gewollt, u.Ä.) gezielt erfunden und ver-
breitet, die die Menschen daran hindern,
ihr Leben ihren
wirklichen Be-
dürfnissen gemäß
einzurichten.
Einen besonde-
ren Stellenwert
in der Ideolo-
gieforschung des
18. Jahrhunderts
nehmen Vertre-
ter_innen der
französischen
Aufklärungsphi-
losophie ein,
vor allem Con-
dillac, Cabanis
und Antoine De-
stutt de Tracy, die auch als „les idéo-
logues”, die „Ideologenschule”, bekannt
wurden. Diese Theoretiker interessierten
sich besonders für soziale, politische
und staatliche Institutionen in ihrer
Wirkung auf das Verhalten von Individu-
en. Sie beanspruchten, die Ursachen und
Wirkungen von Ideen in diesem Kontext auf
eine quasi-naturwissenschaftliche Weise
analysieren zu können.
Erstmals als Teil einer Gesellschafts-
theorie wurde der Ideologiebegriff von
Karl Marx (1818-1883) und Friedrich En-
gels (1820-1895) bestimmt: Es sei die
herrschafts-
förmige Orga-
nisation einer
gesamten, in
Klassen ge-
spaltenen, Ge-
s e l l s c h a f t ,
die notwen-
d i g e r w e i s e
zu Ideologi-
en führt. Zu-
gleich argu-
mentierten sie,
dass ideologi-
sche Vorstel-
lungskomplexe
eine zentrale
Bedeutung für den Reproduktionsprozess
der Gesellschaft haben. In den sog. Früh-
schriften, insbesondere der Deutschen
Ideologie (1845/46), entwickelt Marx ge-
meinsam mit Engels ein Konzept von Ideo-
logie als „falsches Bewusstsein”. Die
„verkehrte”, weil „entfremdete” ökonomi-
sche Realität, d.h. die kapitalistischen
sein oderPraxisform?
„Ideologien werden also weder als bloße Illusionen, noch als pas-sive ’Widerspiegelungen’ einer entfremdeten Welt verstanden, sondern als Kräfte mit einer ei-genständigen Wirksamkeit und Dynamik. ”
materielle
klassenförmigen Produktionsverhältnisse,
bewirke „verkehrte” Bewusstseinsformen,
welche die Individuen über sich und ihre
Lebensverhältnisse täuschen, indem die
wirklichen Herrschaftsverhältnisse ver-
schleiert werden. Damit werde die politi-
sche Kraft der Unterdrückten gelähmt und
so faktisch die Macht der jeweils herr-
schenden Klasse gestützt. Aus der Erklä-
rung des Entstehens von Ideologien aus der
ungleichen Organisation der Gesellschaft
folgt auch, dass ideologisches Denken und
Handeln nicht einfach durch Aufklärung
des Bewusstseins verändert werden kann.
Ludwig Feuerbach und die Philosoph_in-
nen der Aufklärung hätten übersehen,
dass nach der Entlarvung der menschli-
chen und sinnlichen Grundlagen der reli-
giösen Ideen das Wesentliche noch zu tun
bleibe: die Analyse und die Veränderung
der weltlich-gesellschaftlichen Grundla-
ge und ihrer Widersprüche (vgl. MEW 3).
Die Ausführungen von Marx und Engels zur
Ideologie waren durchaus widersprüchlich
und uneinheitlich: Während sie in manchen
Texten ein quasi-automatisches Entstehen
von ideologischen Gedankenformen annah-
men, wie z.B. im Kapitel über den sog.
Warenfetischismus (vgl. zur Kritik u.a.
Althusser 2007), haben sie in den stär-
ker politikwissenschaftlichen Schrif-
ten die Vermittlungstätigkeit durch die
„aktiven konzeptiven Ideologen” (MEW 3:
46) der herrschenden Klasse sowie auch
die Institutionen, die für die Ausarbei-
tung und Verbreitung von Ideologien not-
wendig sind, thematisiert. Ein weiteres
Problem besteht darin, dass Marx und En-
gels zwar eine gesellschaftstheoretische
Erklärung von Ideologien versuchten, sie
diese allerdings immer wieder mit Meta-
phern aus Physik und Chemie verbanden und
damit deterministische Sichtweisen nahe-
legten.
Der italienische Philosoph und Politi-
ker Antonio Gramsci (1891-1937) setzte
dem Konzept der ideologiekritischen Ent-
larvungen „falschen Bewusstseins” – das
später vor allem von Lukács, Horkheimer
und Adorno vertreten wurde – die Analyse
des Alltagsverstands sowie der materi-
ellen Existenzformen (Bräuche, Rituale,
Sitten, kollektive Symbole und Organisa-
tionsformen) des Ideologischen entgegen:
Er analysierte die „Apparate, Intellek-
tuellen und Praxisformen, die bestimm-
te ideologische Effekte auf Handlungs-
und Denkweisen erzeugen” (Rehmann 2008).
Ideologien werden also weder als bloße
Illusionen, noch als passive „Widerspie-
gelungen” einer entfremdeten Welt ver-
standen, sondern als Kräfte mit einer
eigenständigen Wirksamkeit und Dynamik.
Gramsci kombinierte die Ideologietheorie
weiters mit einer Hegemonietheorie: Die
Zustimmung der Subalternen1 könne nicht
alleine ideologisch erzeugt werden, es
muss zugleich auch ihren Interessen teil-
weise Rechnung getragen werden. Louis
Althusser (1918-1990) knüpfte an diese
materialistischen Bestimmungen von Ideo-
logie an und erweiterte sie sowohl sub-
jekt- als auch staatstheoretisch. Er be-
zog sich zentral auch auf die Philosophie
Spinozas sowie die Psychoanalyse Jacques
Lacans. Die Wirkungsweise von Ideologie
beschrieb Althusser in Anlehnung an La-
can als Konstitution von Subjektivität
durch die „Anrufung” (das französische
Wort interpellation bedeutet im Übrigen
auch Verhaftung) der Individuen als z.B.
vergeschlechtlichte, politische, reli-
giöse Subjekte. Michel Pêcheux (1982),
der Althussers Ideologietheorie mit Fou-
caults Diskurstheorie kombinierte, zeig-
te, dass dieser Prozess von Beginn an
eine Kombination von widersprüchlichen
Anrufungen beinhaltet. Die Ideologien
1 Als „Subalterne” ist hier das hetero-gene Ensemble politisch beherrschter Klassen und gesellschaftlicher Gruppen gemeint.
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vermitteln den Menschen ein Verständnis
von sich selbst und bewirken gleichzeitig
ein Verkennen der gesellschaftlichen Ver-
hältnisse; Althusser spricht vom „geleb-
ten imaginären Verhältnis der Individuen
und gesellschaftlichen Gruppen zu ihren
Existenzbedingungen” (Althusser 2010 und
2011). Ideologie ist eine bestimmte Orga-
nisation sinngebender Praxis, die jedes
Individuum als gesellschaftliches Sub-
jekt überhaupt erst konstituiert (Barrett
1991; Eagleton 1993). Ideologie hat dabei
auch die Funktion, die Menschen dazu zu
veranlassen, ihr Handeln, das real zahl-
reichen gesellschaftlichen Determinanten
unterliegt, sowie ihr Selbst, das auch
von Widersprüchen und unbewussten Me-
chanismen bestimmt ist, als „frei” und
„autonom” gestaltet zu verstehen. Alt-
husser spielt hier mit der doppelten Be-
deutung von ‚Subjekt’: Einerseits „Sub-
jekt” als unterworfenes Wesen (z.B. dem
Staat untergeordnete_r, „subjizierte_r”,
Staatsbürger_in), andererseits als auto-
nomes, sich selbst durchsichtiges, ratio-
nal und geplant seine Zwecke verfolgendes
und freies Wesen. Die Anrufungen erfolgen
real durch die bzw. vermittelt über die
ideologischen (Staats-)Apparate. Nach
Althusser wird die Reproduktion einer auf
antagonistischen, ungleichen Verhältnis-
sen beruhenden Gesellschaft nicht alleine
durch „repressive Staatsapparate” (Mili-
tär, Polizei, Gefängnisse, Justiz), son-
dern immer zugleich durch „ideologische
Staatsapparate” (Schulsystem, Kirche,
Medien, Sport und andere) gesichert (u.a.
müssen ‚kompetente und fügsame’ Arbeits-
kräfte produziert werden). Diese ideo-
logischen Staatsapparate sind keineswegs
ILLUSTRATION: DAVID PUJADAS BOSCH
„Die allgemeinen Ursachen von Irrtum und falschem Bewusstsein sollten durch die theoretische
Erklärung der Mechanismen, die die Erkenntnisdes Wahren verhindern, aufgedeckt werden. ”
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homogen, vielmehr sind sie Ergebnis und
Schauplatz der Auseinandersetzungen und
Konflikte der verschiedenen gesellschaft-
lichen Gruppen. Nicos Poulantzas (2002)
entwickelte in seiner Staatstheorie die-
se Thesen weiter und vertiefte sie.
Verschiedene aktuelle diskurstheoreti-
sche Ansätze plädieren für eine prinzi-
pielle Aufgabe des Ideologie zugunsten
eines Diskursbegriffs wie auch für eine
Aufhebung der Unterscheidung zwischen
theoretischen Ideologien und (stets vor-
läufigen) wissenschaftlichen Erkenntnis-
sen. Mit Michel Pêcheux u.a. kann je-
doch zum einen gezeigt werden, dass viele
(poststrukturalistische) Erkenntnisse
über Subjektivierungsweisen, Selbsttech-
nologien (Michel Foucault) und diskur-
sive Hegemoniekämpfe (Ernesto Laclau,
Chantal Mouffe, Anna Marie Smith) mit
differenzierten materialistischen Ideo-
logiekonzeptionen kombinierbar sind. Zu-
gleich können wir durch eine Kombinati-
on von wissenschaftlicher Erkenntnis und
emanzipatorisch-solidarischem Engagement
temporär und partiell das ideologische
Verkennen überwinden. Wissenschaftliche
Erkenntnisse sind dabei ein ständig pro-
duzierter und permanent bedrohter epi-
stemologischer Bruch mit theoretischen
Ideologien und ein wichtiger Bestandteil
einer emanzipatorischen Gesellschafts-
theorie.
Althusser, louis (2007/1978): Marx in his Limits. In: ders.: Philosophy of the Encounter. Later Writings 1978-1987. Edited by Francois Matheron und Oliver Corpet. London: Verso, S. 7 – 162. Althusser, louis (2010/1969): Ideologie und Ideolo-gische Staatsapparate. Hamburg: VSA. Althusser, louis (2011/1965): Für Marx. Erweiterte Neuauflage. Berlin: Suhrkamp. BArrett, Michèle (1991): The Politics of Truth. From Marx to Foucault. Stanford: Stanford Univ. Press. eAgleton, terry (1993): Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar: Metzler. MArx, KArl/ Friedrich engels (1983/1845f.): Die Deutsche Ideologie. Berlin: Dietz (abgek. MEW 3 = Marx-Engels-Werke. Band 3). Pêcheux, Michel (1982/1975): Language, Semantics and Ideology. Stating the Obvious. London: Macmillan. PoulAntzAs, nicos (2002/1978): Staatstheorie. Poli-tischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus. Hamburg: VSA.rehMAnn, JAn (2008): Einführung in die Ideologiethe-orie. Hamburg: Argument.
hans Pühretmayer unterrichtet am institut der Po-litikwissenschaft der universität Wien. seine For-schungs- und interessenschwerpunkte sind: theorien des Politischen; Wissenschaftstheorien der sozial-wissenschaften; theorien über rassismus und Antiras-sismus; ideologietheorien.
BILD: GEORG JÄHNIG (JORGES)
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