Herkunftssprachen als
Ressource? Erfahrungen aus
dem Gesundheitswesen
Bernd Meyer
Fachbereich Translations-, Sprach- und
Kulturwissenschaft,
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Forschungsthemen
Umgang mit sprachlicher Vielfalt in Institutionen
Verständigung als Voraussetzung für institutionelles
Handeln
Barrierefreier Zugang, effektive Kommunikation
Schwerpunkt Krankenhaus, aber auch: Verwaltungen
oder Hilfswerke
Behauptungen
1. Arzt-Patienten-Kommunikation ist immer interkulturelle
Kommunikation
2. Vielfalt verschärft ohnehin bestehende Asymmetrien,
bietet aber auch Möglichkeiten der Vermittlung
3. Sprachliche Vielfalt ist für Kommunikation im
Krankenhaus eine größere Herausforderung als
kulturelle Vielfalt
Interkulturelle Kommunikation
Ein nicht-nationaler Kulturbegriff: “Culture is a fuzzy set
of attitudes, beliefs, behavioural conventions, and basic
assumptions and values that are shared by a group of
people, and that influence each members behaviour and
each members interpretations of the ‘meaning’ of other
people’s behaviour.”
(Spencer-Oatey 2005)
Interkulturelle und institutionelle
Kommunikation
In institutioneller Kommunikation treten verschiedene
Gruppen („Agenten“ und „Klienten“) systematisch
miteinander in Kontakt
Alltag ≠ Institution
Institutionsvertreter und ihre Klienten unterscheiden
sich:
In ihren Handlungsmöglichkeiten
In ihrem Wissen, Einstellungen, Annahmen, usw.
Institutionelle Kommunikation ist durch diese
unterschiedlichen Voraussetzungen geprägt
Sprechen über Risiken
A: • Äh • • Komplikationen ((1,5s)) bei/ wenn man Proben aus der Lunge
entnimmt, • • • kann es sein, • • dass ein Loch entsteht, • • und Luft in das
Rückenfell kommt. ((1,5s)) Das passiert bei zehn Prozent aller Patienten.
Sprechen über Risiken
A: Wenn wir Proben entnehmen und da richtig • viel spülen oder so, kann es
sein, dass Sie dann • nachmittags n bisschen Fieber bekommen. Das ist
aber innerhalb von zwei, drei Stunden weg. ‿Da kriegen Sie (n)
Fieberzäpfchen.
P: Hm˙
A: Das ist nichts Schlimmes.‿Das hat auch nichts Besonderes zu
bedeuten.
P: ((1s)) ((schnalzt)) Gut˙
Behauptungen
1. Arzt-Patienten-Kommunikation ist interkulturelle
Kommunikation
2. Vielfalt verschärft ohnehin bestehende
Asymmetrien, bietet aber auch Möglichkeiten der
Vermittlung
3. Sprachliche Vielfalt ist für Kommunikation im
Krankenhaus eine größere Herausforderung als
kulturelle Vielfalt
Verschärfung bestehender Asymmetrien
Keine systematische Lösung für ein häufig auftretendes
Problem
Ad-hoc-Dolmetschen als ad-hoc-Lösung
Komplexe Sprachenkonstellation
Unklarer Teilnehmerstatus der Dolmetscherin
Schwierige Wörter, Diskursstrukturen, Hintergründe,
Interaktionsformate
Kultur spielt nur eine untergeordnete Rolle
Verschärfung bestehender Asymmetrien
(1) A Es is ja so, dass Sie, ((1,2s)) Frau Silva, schon ein bisschen was über diese ((1,2s)) Untersuchung wissen, ((1,1s)) die wir da vorhaben mit Ihnen, • • • weil Sie das ja letzte Woche schon mal mitgemacht haben.
(2) A Wir wollen ((1,1s)) äähm • • versuchen die, • • • die Gallenwege noch ein bisschen besser darzustellen.
(3) A Vielleicht können Sie es noch n • • bisschen mit übersetzen, ne?
(4) A Ob sie das alles verstanden hat.
(5) D Estás a perceber?
Verstehst du?
(6) P O qué?
Was?
(7) D Eles vão fazer a mesma coisa como fizeram da outra vez.
Sie werden die gleiche Sache machen wie sie das andere Mal gemacht haben.
Schwierige Wörter
Arzt:
„Wir wollen ein Kontrastmittel injizieren.“
Krankenschwester (auf Portugiesisch):
„Sie werden Ihnen etwas in den Fuß injizieren. Und das
heißt ‚Kontrastmittel‘, das Medikament, né?“
Interkulturelle Probleme?
Diät-Beratung für einen türkischen Diabetes-Patienten. Die Diät-
Beraterin erwähnt ‚Milchprodukte‘. Der erwachsene Sohn des
Patienten dolmetscht:
Sohn: Schau, du darfst gar kein Joghurt essen. Du isst sechs Liter
Joghurt!
Vater: Wie, wie „du sollst kein Joghurt essen“, Mensch?
Mutter: Schadet Joghurt?
Sohn: Du darfst gar kein Joghurt essen.
Vater: Wieso, wer sagt das?
Sohn: Ich sage das.
Sprachliche Vielfalt in Deutschland
„Deutsch ist die National- und Umgangssprache
hierzulande; darauf zu bestehen ist nicht
Assimilierungsdruck.“ (‚FAZ‘, November 2008)
Sprachliche Vielfalt in Deutschland
Proficiency in Germ an ( SOEP 2 0 0 7 , N= 1 9 7 0 )
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
no reply very good good it works relativelybad
not at all
%
Turkey
Ex-Jugoslavia
Ethnic Germans from EasternEurope
Sprachliche Vielfalt in Deutschland
In jeder Einwanderergruppe gibt es eine sprachlich
gut integrierte Mehrheit und eine nicht so gut
integrierte Minderheit.
Ca. 25% charakterisieren ihre Deutschkenntnisse
mit „es geht“, „relativ schlecht“, oder „gar nicht“.
Sprachliche Vielfalt in Deutschland
Beispiel Hamburg
Ca. 82.000 Einwohner mit türkischem
Migrationshintergrund.
Ca. 7.500 davon sind Frauen mit geringen
Deutschkenntnissen („es geht“, usw.), Altersgruppe
20 - 45.
Sprachliche Vielfalt in Deutschland
Wiener Krankenanstalten (Pöchhacker 2000)
Befragung von 500 Krankenhausangestellten
5 - 10 Patienten mit geringen Deutschkenntnissen pro Woche
Central Manchester and Manchester Children Hospital
(Khwaja, Scharma, Wong et al 2006)
Hausinterner Dolmetscherdienst
Anstieg der Dolmetscheinsätze von 3240 (1998) auf 5492 (2003)
Anforderungen an Krankenhäuser
Mehrsprachigkeit der Angestellten für sprachliche und
kulturelle Vermittlung nutzen!
Raum für Kommunikation in anderen Sprachen
Anerkennung und Aufwertung der SprachmittlerInnen
Regeln aufstellen
Fortbildung und Entwicklung von ethischen Leitlinien (‚Was
darf ich?‘, ‚Wo muss ich aufpassen?‘)
Gegenseitiges Feedback und Unterstützung
Voraussetzungen schaffen für den Einsatz von externen
Dolmetschern
Literatur
Meyer, Bernd. 2011. Herkunftssprachen als
kommunikative Ressource? In: L. M. Eichinger, A.
Plewnia & M. Steinle (Hg.) Sprache und Integration.
Über Mehrsprachigkeit und Integration. Tübingen: Narr,
189-214.
Meyer, Bernd. 2010. Ethische Aspekte sprachlicher
Vielfalt - nicht nur im Krankenhaus. In: J. Schreiber, J.
Förster & S. Westermann (Hg.): Auf der Suche nach
Antworten: 20 Jahre Forum Medizin & Ethik. Berlin: LIT
Verlag, 95-108.