Geschichte der Soziologie
EmpirischeSozialforschung
Zur Geschichte der empirischen Sozialforschung
in Europa
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
2
Motive der empirischen Sozialforschung in der entstehenden Moderne
1. Herrschaftstechnik: Zahlenmäßige Erfassung der Bevölkerung und ihrer Lebenslagen als Grundlage des Regierens.
2. Sozialpolitik: Erforschung der Lebenslagen der unteren Schichten als Grundlage der Lösung sozialer Probleme und Armutsbekämpfung
3. Wissenschaft:
a) Fundierte Theoriebildung anhand empirischer „Soziographie“
b) Methodenentwicklung
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
3
Zwei Wege der Methodenentwicklung im 19. Jahrhundert
• Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung
Quetélet, Adolphe (1796 - 1874) Belgischer Astronom und Statistiker, Präsident des
Societé internationale de statistique, 1869 – La physique sociale
Le Play, Fréderic (1806 – 1882)
• Monographische Methode anhand der Erfassung von Familienbudgets
Geschichte der Soziologie
EmpirischeSozialforschung
Entwicklung in England
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
5
Entwicklung in England
• Anfänge der Soziographie durch William Pettys „Political Anatomy of Irland“ 1641
• Untersuchungen des Parlaments zur Arbeiterfrage (seit 1824)
• Friedrich Engels’ Darstellung der Lage der Arbeiterklasse anhand dieser Berichte (1845)
– 1845 – Die Lage der arbeitenden Klasse in England
• Resultat: einerseits: Verelendung, Slum-Bildung, Zerfall der Familie, Kinderarbeit, Kriminalität, Prostitution; andererseits: Arbeiterhilfsorganisationen, Trade Unions
Engels, Friedrich (1820 – 1895)Unternehmer, Sozialwissenschaftler,
Mitarbeiter und Unterstützer von Karl Marx
Petty, William (1623 – 1687)
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
6
Entwicklung in England
4. Charles Booths Untersuchung zur Lage der Arbeiter Londons (1882-1897)
• Erfolgreicher Geschäftsmann, Philanthrop, Sozialpolitiker,• 1882 – 97 - Life and Labor of the People of London, 9 Volumes• 1892 - President der Royal Statistic Society • Ziel: Systematische Erfassung aller Londoner Haushalte• Methode: Belege, Interviews, Beobachtung
Booth, Charles J. (1840 – 1916)
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
7
Charles Booths Untersuchung zur Lage der Arbeiter Londons
Resultate
• Gliederung in 8 Schichten
A. the lowest class occasional labourers, loafers, and semi-
criminals
B. casual earnings — “very poor”the very poor — casual labour, hand-to-mouth existence, chronic want
C. intermittent earnings the Poor — including alike those whose earnings are small, because of irregularity of employment, and those whose work, though regular, is ill-paid
D. small regular earnings
E. regular standard earnings —
above the line of poverty the regularly employed and fairly paid working class of all grades
F. higher class labour
G. lower middle class lower and upper middle class and above this levelH. upper middle class
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
8
Charles Booths Untersuchung zur Lage der Arbeiter Londons
Resultate
• 30% der Haushalte unter Armutsgrenze
A.
(lowest)37.610 0,9%
B.
(very poor)361.834 7,5%
C. and D.
(poor)938.293 22,3%
E. and F.
(working class,
comfortable)
2.166.503 51,5%
G. and H.
(middle class and
above)
749.930 17,8%
Inmates of
institutions
4.209.17
0
99.830
100%
Total4.309.00
0
G & H; 18%
E & F; 52%
C & D; 22%
A; 1%B; 8%In poverty
30,7%
In comfort 69,3%
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
9
Charles Booths Untersuchung zur Lage der Arbeiter Londons
Resultate
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
10
Charles Booths Untersuchung zur Lage der Arbeiter Londons
Resultate:
• untere Arbeiter- und Mittelschichten bedroht
• Folgerung: Notwendigkeit staatlicher Hilfen:
„socialism in arms of individualism“
Geschichte der Soziologie
EmpirischeSozialforschung
Entwicklung in Frankreich
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
12
Entwicklung in Frankreich
Le Plays monographische Methode
• 1825 – 1830 Studium an der Ecole
polytechnique und an der Ecole
royale des Mines – Bergbauingenieur
• 1855 – Les ouvriers européens
• 1856 – Gründer der Societé
internationale des Etudes pratiques
d’Economie sociale
• 1864 – La réforme sociale
• 1870 - L’organisation du travail
Le Play, Fréderic (1806 – 1882)
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
13
Entwicklung in FrankreichLe Plays monographische Methode
• Ziel: Monographische Fallstudien als „soziale Photographie einer
Familie“, ihrer Lebensführung und moralischer Haltung, Suche
nach Möglichkeiten, den sozialen Friede herzustellen, um
Revolutionen und sozialistischen Alternativen vorzubeugen.
• Methode: Systematische Darstellung des Jahreshaushalts,
Beobachtung, Interviews, internationaler Vergleich
unterschiedlicher Familientypen anhand der Untersuchung von 51
Familien in Frankreich, Russland, Schweiz, England, Spanien .
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
14
Entwicklung in FrankreichLe Plays monographische Methode
Guideline for the Collection of Data in Part I of the Family MonographA. Description of the place, the work organization, and the family
1. state of the soil, industries and population2. civilian status of the family (age, names, sex, kinship relations)3. religious and moral habits4. hygiene and medical service5. the family’s rank among the seven types of workers
B. Means of subsistence6. property7. subsidies (additional benefits, aside from wages)8. work and domestic industries
C. The family’s style of life9. diet and meals10. lodging, furnishing, and clothing (inventory of all furniture)11. recreation
D. History of the family12. principal phases of its existence13. customs and institutions assuring the family’s physical and moral well-beings
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
15
Entwicklung in FrankreichLe Plays monographische Methode
Resultat: 3 Familientypen:
a) Patriarchale Familie (Nomaden in Sibirien): Großfamilie, Familienoberhaupt bestimmend
b) Stamm-Familien (Westeuropa, Bauern)Eltern, unverheiratete Kinder, 1 verheiratetes Kind als ErbePflicht zum Unterhalt der Eltern und der Geschwister(Le Plays „vormoderne“ Präferenz)
c) instabile Familie: moderne 2-Genrationen - Kernfamilie,ohne Solidarität zwischen Generationen
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
16
Entwicklung in FrankreichLe Plays monographische Methode
Konservative Schlussfolgerung:
• Modernisierung, Bildung, liberale Markwirtschaft und abhängige Beschäftigung erzwingen Mobilität, die den Familienzusammenhalt (Grundlage der sozialen Stabilität) sprengen.
• Nötig: Sozialpolitik, die die wirtschaftliche Selbstständigkeit von Arbeitern ermöglicht. Dann sozialer Frieden möglich.
Geschichte der Soziologie
EmpirischeSozialforschung
Entwicklung in Deutschland und Österreich
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
18
Entwicklung in Deutschland und Österreich
Virchows epidemiologische Untersuchungen
• Arzt, Pathologe, Politiker, Mitbegründer der liberalen Fortschittspartei
• 1848 – Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie
• 1852 – Die Noth im Spessart• Ziel: Soziale Ursachen von Epidemien zu
beleuchten• Methoden: Statistiken, Zeugen, Beobachtung• Resultate: Hunger, schlechte Ernährung,
unfähige Verwaltung, mangelnde Bildung infolge des Einflusses von Kirchen als Mitverursacher von Erkrankungen und hoher Sterblichkeit.
Virchow, Rudolf (1821 – 1902)
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
19
Entwicklung in Deutschland und Österreich
Synthese der statistischen und der „monographischen“ Forschung
• Sachsen: Ernst Engel• Statistiker• 1957 – Die Produktions- und
Konsumtionsverhältnisse des Königreichs• „Budgetgesetz“ (1857) als Indikator von
Armut: Je höher der Anteil der Lebensmittel am Budget, desto kleiner das Volumen des Budgets selbst. Engel, Ernst
(1821 – 1896)
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
20
Entwicklung in Deutschland und Österreich
Soziographische Untersuchungen von Ferdinand Tönnies zu Kriminalität und Selbstmord
• Professor für Staatswissenschaft und Soziologie in Kiel, Mitbegründer und Geschäftsführer der DGS, 1933 von den Nationalsozialisten entlassen
• 1887- Gemeinschaft und Gesellschaft. Kommunismus und Sozialismus als empirische Kulturformen, 2. Auflage: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 1912
• 1895- Verbrechen als soziale Erscheinung, • 1896- Der Hamburger Strike, • 1926- Entwicklung der Sozialen Frage in
Deutschland bis zum Weltkrieg, • Ziel: Statistische Indikatoren für die Erklärung der
Phänomene zu finden• Methode: Aufstellung von Korrelationsreihen• Resultate: Probleme der Interpretation von
Korrelationen. (z.B.. Selbstmord in Städten häufiger; aber warum?)
Tönnies, Ferdinand (1855 – 1936)
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
21
Entwicklung in Deutschland und Österreich
Untersuchungen des „Vereins für Sozialpolitik“ (seit 1872)
• Max Weber u. a.: Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland (1897)
• 1892 – Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland
• 1910 – Ziel: Die Lebenssituation der Landarbeiter zu ermitteln
• Methode: Auswertung von Statistiken, Befragung der Gutsherren, Versuch, Interpretation mit quantitativen Daten zu verbinden
• Resultate: Modernisierung der Arbeitsverhältnisse sprengt die patriarchalen sozialen Beziehungen zwischen Gutsherr und Arbeiter. Daher Verschlechterung der Lebenschancen, Abwanderung der Arbeiter gen Westen in die Industrie. Zuwanderung polnischer und russischer Arbeitskräfte. Bedrohung der Wehrfähigkeit Deutschlands.
Max Weber (1864 – 1920)
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
22
Entwicklung in Deutschland und Österreich
M. Weber u.a.: Erhebung über Arbeiterschaft in Grissindustriebetrieben („Erhebung über Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufswechsel) der Arbeiterschaft in der geschlossenen Großindustrie“ 1910)
• Ziel: Feststellung des Einflusses der Großindustrie auf die Lebensführung der Arbeiter
• Methoden: Interviews mit Arbeitern, teilnehmende Beobachtung, Dokumentauswertung (Lohnzettel etc.)
• Resultate: Durch informelle soziale Beziehungen zwischen Arbeitern wird die Arbeitsleistung kontrolliert.
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
23
Entwicklung in Deutschland und Österreich
Theodor Geiger (1891 – 1952)
Die soziale Schichtung des deutschen Volkes (1932).
• 1928-1933 - Professor der Soziologie in Braunschweig
• 1932 - Die soziale Schichtung des Deutschen Volkes
• 1933 - Emigration nach Dänemark
• 1938 - Professor in Arhus
• 1943 - Emigration nach Schweden
• 1945 - Professor in Arhus
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
24
Entwicklung in Deutschland und Österreich
• Ziel: Beschreibung der Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft und der Mentalitäten der einzelnen Schichten in Hinsicht auf das Aufkommen des Nationalsozialismus
• Methode: Sekundärauswertung statistischer Daten
Schema der sozialen Schichtung
• Resultat: Die Mittelschichten fühlen ihre soziale Position bedroht und fürchten das Absinken in die Arbeiterklasse. Sie wenden sich daher gegen das „Großkapital“ (Verursacher von Systemkrisen) einerseits und die international organisierte linke Arbeiterschaft (Revolutionsgefahr) andererseits, die sie als Gründe für diese Bedrohung wahrnehmen. Daher bilden sie ein Wählerpotential für die NSDAP.
A. Rohgliederung B. Tiefengliederung
I. Kapitalistische Lage.
II. Mittlere Lage.
III. Proletarische Lage.
I. „Kapitalisten“.
II. Mittlere und kleinere Unternehmer
III. Tagewerker für eigene Rechnung
IV. Lohn- und Gehaltsbezieher höherer Qualifikation
V. Lohn- und Gehaltsbezieher minderer Qualifikation
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
25
Entwicklung in Deutschland und Österreich
Paul Lazarsfeld u.a: Die Arbeitslosen von Marienthal (1934).
• 1927 - Leiter der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle an der Universität Wien
• 1933 - Emigration nach den USA• 1934 - (mit Maria Jahoda und Hans Zeisel) Die
Arbeitslosen von Marienthal• 1937 - Direktor der „Forschungsstelle für
Rundfunkforschung“ in Princeton und später an der Columbia University, New York
• 1941-43 – Radio Research• 1944 – The Peoples Choice • 1945 – Professor für Soziologie an der
Columbia University
Lazarsfeld, Paul F. (1901 – 1976)
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
26
Entwicklung in Deutschland und Österreich
• Ziel: Die Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit auf die
Lebensführung und- haltung der Betroffenen.
• Methode: Fallstudie (Sozialethnographie) über ein Arbeiterdorf:
Interviews, Dokumentauswertung, teilnehmende Beobachtung,
Budgeterhebung, Analyse persönlicher Dokumente
(Aufzeichnungen, Schulaufsätze etc.)
• Tagesablauf Frauen und Männer
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
27
Entwicklung in Deutschland und Österreich
Tagesablauf der
Frauen6-7 ankleiden, einheizen, Frühstück herrichten
7-8 waschen, frisieren, Kinder ankleiden und zur Schule begleiten
8-9 Geschirr abwaschen und einkaufen gehen
9-10 Zimmer aufräumen10-11 Kochen herrichten11-12 fertig kochen und essen12-13 Geschirr abwaschen, Küche
zusammenräumen13-14 Kinder in das Heim begleiten14-15 stopfen und nähen15-16 stopfen und nähen16-17 stopfen und nähen17-18 Kinder abholen18-19 Nachtmahl essen19-20 Kinder auskleiden und waschen und
schlafen legen20-21 nähen21-22 nähen22-23 schlafen gehen
Hauptbeschäftigung Vor-mitta
g
Nach-mitta
gNichtstun (zu Hause sitzen, spazieren, auf der Straße stehen usw.)
35% 41%
Arbeiterheim (im Winter Schach- oder Kartenspielen, bei schönem Wetter herumsitzen, plaudern usw.
14% 16%
Wenig Haushaltshilfe und Nichtstun (Wasserholen, Einkaufen usw.)
31% 21%
Viel Haushaltshilfe (Holzsammeln und -hacken, Kinder beaufsichtigen, Schrebergarten, Schuhflicken)
12% 15%
Beschäftigung mit Kindern
6% 5%
Kleine Beschäftigungen (Radio, Basteln usw.)
2% 2%
und der Männer
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
28
Entwicklung in Deutschland und Österreich
• Haushalttypen
• Resultat: Durch den Ausfall der Strukturierung des Lebensablaufs durch die Arbeit, bewirkt Arbeitslosigkeit zunehmende Orientierungslosigkeit, Zeitgefühlverlust, Wirklichkeitsverlust. Die wesentlichen Lebenskompetenzen werden geschädigt.
ungebrochen25%
resigniert 11%
apathisch 16%
verzweifelt 48%
Empirische SozialforschungGeschichte der Soziologie
29
Summa
1. In Europa entwickeln sich im 19. Jhd. 2 Traditionen der Sozialforschung in Anschluss an Quételet (statistische Verfahren) und le Play (monographische Methode). Ursprünglicher Ziel der Forschung ist die Ermittlung der Lage von Unterschichten zwecks sozialpolitischer Maßnahmen.
2. Zur Interpretation dieser Daten sind Informationen über die Werthaltungen der Betroffenen nötig. Daher Bedarf an Erhebungen über „Selbstdefinitionen“ der Befragten und an „verstehenden Verfahren“ (z.B.: Max Weber)
3. Die europäische Entwicklung wird von US-amerikanischen Wissenschaftlern wahrgenommen, die in Europa studieren (Chicago school). Sie wird jedoch durch den Nationalsozialismus unterbrochen. (Soziologische Forschung bleibt zwar als Datenbeschaffung möglich wird aber abhängig von den NS-Machthabern). Es findet ein erneuter „Export“ soziologischen Wissens gen USA durch die Emigranten statt.
4. Empirisch zeigt es sich, dass europäische Gesellschaften bis in die 30-er Jahre des 20. Jhds. hin Probleme hatten, den Hunger und die Armut in den unteren Schichten abzustellen. Erst nach 1945 wird diese Gefahr durch das Modell des Wohlfahrtstaats beseitigt.
Geschichte der Soziologie
EmpirischeSozialforschung