7/23/2019 Ergos sind eine Art MacGyver - ergopraxis vom Januar 2016
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INTERVIEW MIT RAL KRAUTHAUSEN
Ergos sind eineArt MacGyver
VALIDATION NACH NAOMI FEIL
Zu Besuch in der
Erlebniswelt alter
Menschen
KOGNITIV-THERAPEUTISCHE BUNGEN
Damit der Arm wieder
dazugehrt
TOP-DOWN VERSUS BOTTOM-UP
Was tun, wenn der
Klient nicht so will
wie ich?
Januar 2016 |9. JahrgangISSN 1439-2283www.thieme.de/ergopraxis
Ergotherapie fr Alltagsknner
ergopraxis
Lese-
probe
7/23/2019 Ergos sind eine Art MacGyver - ergopraxis vom Januar 2016
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Fasziale Behandlung
Die therapeutischen Techniken zur Behand-
lung des faszialen Systems reichen von sanft
bis schmerzhaft. Was genau hinter der
Faszientherapie steckt und was Faszien mit
Ergotherapie zu tun haben, lesen Sie
auf Seite 26
Neurokognitive Rehabilitation nach Perfetti
Das zentrale Nervensystem neu organisie-
ren vor dieser Herausforderung stehen
Ergotherapeuten bei Klienten mit Hemiplegie.
Kognitiv-therapeutische bungen eignen
sich besonders, um eine alltagsgerechtere
Wahrnehmung wiederzuerlangen. 20
Top-down versus Bottom-up
Franka hat gelernt, im Erstgesprch Top-down
vorzugehen und die Ziele und Anliegen des
Klienten zu klren. Was aber, wenn der Klient
davon nichts hlt und direkt mit bungen
loslegen will? Franka sucht Rat und ruft ihren
ehemaligen Kommilitonen Joe an. 34
Leserforum
6 10 Jahre ergotag
Highlights zum Jubilum
7 Briefe an die Redaktion
Gesprchsstof
8 Aktuelles
10 Titelthema:Interview mit
Ral Krauthausen
Ergos sind eine Art MacGyver
Wissenschaft
14 Theorien in der ErgotherapieVon wegen grau
16 Internationale Studienergebnisse
19 kurz & bndig
Refresher
20 Neurokognitive Rehabilitation
nach Perfetti
Damit der Arm wieder dazugehrt
25 Fragen zur Neurokognitiven
Rehabilitation nach Perfetti
Ergotherapie
26 Fasziale Behandlung
Sanft bis schmerzhaft
30 Validation nach Naomi Feil
Zu Besuch in der Erlebnisweltalter Menschen
Perspektiven
34 Top-down versus Bottom-up
Was tun, wenn der Klient nicht so willwie ich?
36 Als Ergotherapeutin bei der
Rheumaliga Schweiz
Da prallen manchmal zwei Weltenaufeinander
39 Klientenkolumne
Der Ergotherapierte
40 Auswirkungen von Lrm
Zu viel um die Ohren
42 Ergonomische Mbel fr Kinder
Bewegte Schulstunden
45 Gemeinsam zu neuen Zielen
Sie sind nicht allein
48 Die RechtsfrageWas tun bei Verdacht auf Missbrauch?
49 Schwarzes Brett
52 Rezensionen Vier im Visier
Info
54 Produktforum
55 Fortbildungskalender
56 Fortbildungsmarkt
58 Stellenmarkt
59 Ausblick
59 Impressum
ergopraxis | Inhalt
7/23/2019 Ergos sind eine Art MacGyver - ergopraxis vom Januar 2016
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Herr Krauthausen, der Titel Ihres
Buches lautet Dachdecker wollte ich
eh nicht werden. Welchen Berufswunsch
hatten Sie als Kind?
Ich glaube, in der Kindheitsphase all die Berufe,
die Kinder werden wollen: Mllmann, Polizist,
Pilot. Je lter ich dann wurde, desto mehr inte-
ressierte ich mich fr Politik und Medien. Mein
Traum war es, beim Radio zu arbeiten und was
mit Medien zu machen. Nach meinem Abitur
studierte ich Gesellschafts- und Wirtschafts-
kommunikation und arbeitete auch in dem
Feld. Nebenbei hatte ich immer das Bedrfnis,
mich zu engagieren, wie auch immer geartet.
Ergos sind
eine ArtMacGyver
Ich kann nicht jedes Ehrenamt ausben, aber
meine Stimme kann ich benutzen. So ent-
schied ich mich fr eine Ausbildung zum Tele-
fonseelsorger. Das habe ich dann ein Jahr lang
gemacht. Nebenbei habe ich mir mit Freunden
Projekte ausgedacht. Daraus ist dann mein
jetziger Beruf geworden.
Was ist Ihr Beruf heute?
Ich habe gemeinsam mit Freunden vor elf
Jahren einen Verein gegrndet, der sich Sozial-
helden nennt. Wir machen seit fnf Jahren
Projekte zum Thema Inklusion. Dazu zhlt
unter anderem die Wheelmap eine Online-
Karte, um rollstuhlgerechte Orte zu suchen und
zu finden. Das ist in der Form zum grten
Projekt der Welt geworden. Ein weiteres Projekt
ist Leidmedien, ein Online-Portal fr Journa-
listen, die sich darber informieren wollen, wie
man urteilsfrei ber Menschen mit Behin-
derung schreibt oder spricht. Aber alles in
allem wrde ich sagen, mein Beruf ist Aktivist.
Das steht zumindest auf meiner Visitenkarte.
Denn ein Aktivist kmpft fr eine Idee. Und die
Idee ist die Inklusion. Als Aktivist erklrt man
sich dazu bereit, so lange zu kmpfen, bis das
Ziel erreicht ist und nicht, um seine Miete
bezahlen zu knnen.
INTERVIEW MIT RAL KRAUTHAUSEN Wir treen in Berlin den Autor und Ideengeber Ral
Krauthausen, der fr die Rechte von Menschen mit Behinderung kmpft. Er selbst hat Osteogenesis
Imperfecta, im Volksmund Glasknochen. Der 35-Jhrige erzhlt von Schlsselmomenten aus seinem
Leben, die aus ihm den engagierten Menschen gemacht haben, der er heute ist.
Gesprchsstof| Ral Krauthausen
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Wrden Sie sich als Berufsbehinderter
bezeichnen?
Ich glaube, das ist so ein bisschen passiert. Ich
wollte bis zu meinem 27. Lebensjahr nichts mit
dem Thema zu tun haben und habe das auch
weit von mir ferngehalten. Beim Schreiben
meines Diploms, wo ich zur Darstellung von
Menschen mit Behinderung im Fernsehen ge-
forscht habe, merkte ich, das knnte ja doch
ein spannendes Thema sein. Also habe ich
begonnen, mich mehr oder weniger ernsthaft
damit zu beschftigen. Dabei entdeckte ich
sehr viele Parallelen zu meinem Leben, was
mich sehr bewegt und berhrt hat.
Welche Parallelen haben Sie entdeckt?
Zum Beispiel, dass man als Mensch mit Behin-
derung sehr oft als Diagnose gesehen wird
ein Mensch, der normalisiert werden muss,anstatt ihn so zu nehmen, wie er ist. Gerade in
Deutschland haben wir noch eine sehr starke
medizinische Perspektive auf das Thema. Dabei
ist Behinderung gesellschaftlich-kulturell
geprgt, und die Grenzen sind verhandelbar.
Frher hatten wir den Zappelphilipp in der
Klasse, heute haben diese Kinder alle ADHS.
Das ist etwas typisch Deutsches. Gerade im
Inklusionsdialog habe ich das Gefhl, der
Schrei nach Fachkrften ist so gro, dass die
Frage des gesunden Menschenverstandes viel
zu kurz kommt. Eine Mutter, die ein behinder-
tes Kind auf die Welt bringt, war vorher auchkeine Fachkraft. Warum mssen wir vorher alle
Fachkrfte sein, um uns dem Thema Inklusion
zu stellen?
In Ihrem Buch bekommen die Leser Einblick,
wie Sie aufgewachsen sind. Sie haben von
Ihrer Mutter keine Sonderbehandlung erfah-
ren. Heit das, Sie wurden inklusiv erzogen?
Ich glaube, dass meine Eltern gar kein Konzept
von Erziehung hatten. Das Wort Inklusion
kannten die auch gar nicht. Der Begri wurde
ja auch erst viel spter deniert. Vieles hatte inmeinem Leben mit Zufllen zu tun: Die Wahl
des Kindergartens und der Schule kam nur
deswegen zustande, weil wir dem Faden einer
anderen Familie gefolgt sind, aber nicht weil
meine Mutter besessen davon war, dass ich
unbedingt integrativ aufwachse. Solche Schu-
len gab es damals auch noch gar nicht. Das war
viel Glck und gesunder Menschenverstand.
Ich bin ein Einzelkind und wurde unglaublich
verwhnt. Ich wrde schon sagen, ich habe
eine Sonderbehandlung bekommen, allein auf-
grund meiner Behinderung. Aber es war auch
nie die Frage, ob irgendetwas wegen meiner
Behinderung nicht geht. Sondern: Das geht
schon irgendwie! Das habe ich sehr stark mei-
ner Mutter zu verdanken. Sie konnte Gelassen-
heit entwickeln, da das Umfeld dies zulie und
sie darin bestrkte.
Welches Umfeldes bedarf es denn, dass Inklu-
sion berhaupt funktionieren kann?
Also ich glaube, ganz viel hat mit dem Thema
Wahlfreiheit und Begegnung zu tun. Ich habe
das Glck gehabt, dass ich im Westberlin der
80er Jahre aufgewachsen bin. Da gab es Initia-
tiven von links-alternativen Eltern, die wollten,
dass auch ihr behindertes Kind dorthin geht.
Ein Umfeld von Das geht schon irgendwie,
das braucht man.
Das Thema Inklusion begegnet einem zuneh-
mend. Freut Sie das?
Ja, natrlich. Aber das Wort Inklusion, das ich
sehr mag, wird gerade an allen Enden ver-
wssert. Da gibt es Frderschulen fr Kinder
mit Behinderung, die sich Inklusionsschulen
nennen. Inklusion ist aber etwas anderes! Es
hat nichts mit verschiedenen Behinderungs-
formen in einem Raum zu tun. Deswegen
bezeichnen sich viel mehr Menschen als Inklu-
sionisten, als es sollten. Die Idee der Inklusion
ist, die Vielfalt von Menschen anzunehmenund zu bewltigen.
Sehen Sie Schnittstellen zwischen Ergothera-
peuten und Inklusion?
Ergotherapeuten sind in meinen Augen eine
Art MacGyver, die ernderisch versuchen, das
Individuum in die Lage zu versetzen, teilzu-
haben. Das ist eine individuelle Geschichte.
Aber Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche
Sache. Menschen mit Behinderung mchten
nicht zwangslug repariert werden. Es sollte
nie darum gehen, den Menschen der Umwelt
anzupassen. Egal ob der Mensch eine Behin-
derung hat oder nicht, oder einen Migrations-
hintergrund. Wir sollten daran arbeiten, eine
Gesellschaft zu bauen, die Vielfalt zulsst.
Haben Sie Berhrungspunkte zum Berufsbild
Ergotherapie?
Ich muss ganz ehrlich sagen, das Wort Thera-
pie ist in meinen Augen auch schon so medizi-
nisch geprgt, dass es einen sofort in eine
Schublade steckt. Das schreckt mich ab. Ein
Beispiel aus meiner Kindheit: Ich kann mich
erinnern, dass ich nie Krankengymnastik
machen wollte, denn ich fhlte mich nie krank.
Und Gymnastik machten die lteren Menschen
im Fernsehen. Ich habe mich nie damit assozi-
iert. Htte man das Sport genannt, wre ich
wahrscheinlich hingegangen. So hie es
immer: Ral ist der andere. hnlich ist es mit
der Ergotherapie. Ich habe halt ein Problem
Menschen mit Behinderung
werden sehr oft alsDiagnose gesehen. A
bb.:
AndiWeiland/SOZIALHELDENe.V.
Gesprchsstof | Ral Krauthausen
7/23/2019 Ergos sind eine Art MacGyver - ergopraxis vom Januar 2016
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mit der Bezeichnung Ergotherapie als Wort.
Ich wrde lieber sagen, MacGyver oder Daniel
Dsentrieb!
Sie setzen sich fr Ihre Rechte ein. Menschen
mit geistiger Behinderung haben nicht die
gleichen Mglichkeiten, sich zu wehren. Sie
sind einer greren Gefahr ausgesetzt, isoliert
zu werden. Kann man Menschen mit geistiger
Behinderung dieselbe Untersttzung geben
wie Menschen mit krperlicher Behinderung?
Das Thema ist sehr komplex. Das kann man
nicht mit einem Ja oder Nein beantworten.
Wovor ich aber wirklich warne, ist, dass wir
eine neue Trennlinie ziehen: Krperliche Behin-
derung ist okay, aber geistige Behinderung ist
schwierig. Das wre zu einfach und fhrt nurdazu, dass sich nicht behinderte Menschen von
der Verantwortung entlasten knnen, sich
dem Thema zu stellen. Es ist wichtig, ber den
Gedanken der Begegnung noch mal nach-
zudenken. Woher kommen denn diese ngste
und Vorurteile? Wer sagt denn, dass Menschen
mit geistiger Behinderung einer Gefahr ausge-
setzt sind? Oder ist es nicht andersherum, dass
nicht behinderte Menschen Angst davor haben
und deshalb so argumentieren? Das mssen
wir herausfordern, herausfinden und auch
lsen. Natrlich hilft einem Menschen mitgeistiger Behinderung weder eine Rampe noch
ein Aufzug. Deshalb knnen es nicht die glei-
chen Mittel sein, die man benutzt. Aber die
Idee dahinter ist dieselbe. Ein Mensch mit geis-
tiger Behinderung braucht vielleicht leichte
Sprache oder sollte ein Recht auf Assistenz
haben oder das Recht auf Kinder. Anstatt alles
immer gleich zu verteufeln, sollten wir das
gesellschaftlich diskutieren.
Wo sehen Sie die grte Gefahr fr Menschen
mit geistiger Behinderung?
Ich beobachte bei Menschen mit geistiger
Behinderung zwei Phnomene: 1. Sie tauchen
immer in Gruppen auf. Das macht es schwierig
zu sehen, was der Einzelne braucht. Man redet
immer von den geistig Behinderten. Dabei
sind sie genauso vielfltig wie Menschen ohneBehinderung. 2. Wir machen den Fehler, ihnen
zu unterstellen, dass sie lebensfroh und nah an
ihren Emotionen sind. Das sind alles Vorurteile.
Das macht es schwer, erwachsene Menschen
mit Trisomie 21 wirklich als Erwachsene zu
behandeln. Stattdessen behandeln wir sie wie
Kinder und ziehen ihnen einen Mickey-Mouse-
Pulli an. Da gibt es noch viel zu tun. Was vllig
unterschtzt ist, und das erlebe ich brigens
auch bei mir selbst, dass ich ganz oft hre:
Naja, die wollen das ja so. Aber wenn Men-
schen mit geistiger Behinderung oder allge-
mein mit Behinderung oder generell Menschenin einem Umfeld aufwachsen, das erwartet,
dass sie so sind, dann internalisiert man das
natrlich auch und bernimmt diese Denkmo-
delle. Das betrit jeden. Es fngt schon damit
an, dass wir erwachsene Menschen mit Triso-
mie 21 duzen. Normalerweise wrden wir
fremde Menschen schlielich auch nicht du-
zen. Oder wir nennen sie liebevoll Downies.
Das ist eine Reduktion von Menschen auf eine
ihrer Eigenschaften. Das muss durchbrochen
werden. Das ist nur zu schaen durch echte
Begegnung und durch ressourcenorientierte
Perspektiven.
Was knnen Ergotherapeuten tun, um zum
Prozess der Inklusion beizutragen?
Toll wre es, wenn sie eine Art Anwalt sein
knnten. Wenn Ergotherapeuten jemanden im
Alltag begleiten, knnten sie weniger als Assis-
tenten ttig sein, sondern vielmehr als Berater.
Es wre schn, wenn sie ein Mandat fr die
Rechte des Menschen mit Behinderung htten,den sie begleiten, und gegen die diskriminie-
rende Umwelt kmpfen, anstatt den vermeint-
lich kaputten Menschen zu reparieren. Ein
Ergebnis knnte sein, dass die ausgebildeten
Ergotherapeuten die richtigen Argumente
haben, um Verantwortliche davon zu ber-
zeugen, dass hier gerade eine Diskriminierung
stattndet und dass das Problem strukturell ist
und weniger mit dem Individuum zu tun hat.
Aber ich wei nicht, ob das Ergotherapeuten
machen. Das wrde jedoch dem Begri des
Inklusionisten am nhesten kommen.
Wie sieht die Diskriminierung konkret aus, die
Sie erfahren?
Menschen mit Behinderung unterliegen einem
permanenten Nachweiswahn. Bei mir ist es
zum Beispiel so: Ich bekomme tglich zwlf
Stunden Assistenz und darf monatlich nicht
mehr verdienen als den doppelten Hartz-IV-
Satz. Ich darf auch nicht mehr sparen als 2.600
Euro, und das, obwohl ich zwei Studiengnge
abgeschlossen und inzwischen zwlf Arbeits-
pltze geschaen habe. Ich verdiene weniger
als meine Angestellten. Das ist ein Wider-spruch zur Idee der Inklusion. Ich habe viel-
leicht eine Karriere in der Bildungslaufbahn
hingelegt, die eigentlich der Prototyp fr inklu-
sive Bildung ist, aber wenn sich das dann sp-
ter so sehr aurisst, kann man sich schon die
Frage stellen, warum soll ich arbeiten gehen?
Ich knnte auch einfach nur Hilfe beantragen,
und die Assistenz wre die gleiche, die ich
brauche. Ich wrde gar nichts zur Gesellschaft
beitragen. Das ist eindeutig diskriminierend. Es
gibt noch viel mehr Flle, die in sich wider-
sprchlich sind.
Was meinen Sie mit Nachweiswahn?
Ich muss alle drei Monate meine Assistenz neu
beantragen und nachweisen, dass ich immer
noch meine Behinderung habe. Das ist vllig
absurd. Es gibt niemanden, der bei der Behin-
derungsform, wie ich sie habe, jemals sprin-
gend aus dem Rollstuhl aufgestanden ist und
pltzlich zwei Meter gro war. Insofern muss
man das auch nicht prfen. Und das ist etwas,
was 700.000 Menschen betrifft. Alle haben
versucht, etwas daran zu ndern. Das Gesetz
ist eindeutig. Eindeutig diskriminierend, seit
Menschen mit Behinderungsollten durch ihr Umfeld
in die Lage versetzt werden,ihre eigenen Grenzen
zu testen.
ZU GEWINNEN
Das Leben aus der RollstuhlperspektiveGewinnen Sie ein Exemplar des Buches Dachdecker wollte
ich eh nicht werden aus dem Rowohlt Verlag (www.rowohlt.de).
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Gesprchsstof| Ral Krauthausen
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ber 20 Jahren. Da muss sich eine Bundes-
regierung schon die Frage stellen, warum
sehen wir Menschen mit Behinderung immer
als Belastung anstatt als Bereicherung? Ich willja auch nichts schnreden. Natrlich ist Inklu-
sion Arbeit, genauso wie die Flchtlingspro-
blematik.
Hren Sie Argumente gegen Inklusion?
Argumente dagegen, hre ich nicht so oft. Ich
habe nun mal eine Behinderung, und die Leute
halten damit vielleicht mehr hinter dem Berg.
Die Argumente, die ich aber hinter den Kulissen
hre, sind primitiv. Die gab es 1920 schon, als
wir diskutiert haben, ob wir Jungen und Md-
chen in gemeinsame Schulen schicken. Das
sind die gleichen Vorurteile. Eine krperlicheoder geistige Behinderung muss nicht zwangs-
lug eine Klasse aufhalten. Neulich hat mir
ein Schulpsychologe erzhlt, dass die Kinder,
die zu ihm kommen, meistens ohne Behinde-
rung sind, sondern aus verlassenen oder zer-
rtteten Elternhusern kommen. Das ist im
Zweifel behindernd, und das kann alle betref-
fen. Es hat nichts damit zu tun, ob jemand
nicht sehen kann oder nur einen Arm hat.
Sie sind Paradebeispiel dafr, was sich fr ein
Potenzial entwickeln kann, wenn ein Menschmit Behinderung die Chance bekommt, inklu-
siv aufzuwachsen. Sehen Sie sich als Vorbild?
Das hre ich manchmal. Die Verantwortung
nde ich ein bisschen bengstigend. Denn es
gibt garantiert auch Menschen mit Behin-
derung, die bei inklusiver Erziehung nicht diese
Entwicklung machen. Das ist auch okay. Es
muss auch nicht jeder Mensch, der quer-
schnittgelhmt ist, paralympischer Sportler
werden. Diese Vorbildfunktion mchte ich gar
nicht so sehr fr mich annehmen. Jeder macht
es so, wie er es fr richtig hlt, und vielleicht
bin ich einfach schon besessen.
Was treibt Sie in Ihrer Arbeit an?
Ich mchte viel mehr Menschen mit Behin-
derung motivieren, zur Inklusionsdebatte bei-
zutragen. Denn wenn wir die Zeitung aufschla-
gen metaphorisch gesprochen und ber
Inklusion lesen, dann reden immer nicht
behinderte, heterosexuelle Mnner darber.
Das verzerrt die Debatte. Wir sind schlielich
gesellschaftlich auch noch nicht so weit, dass
wir mnnliche Frauenbeauftragte haben. Des-
halb ist es eigentlich eine Anmaung, wenn
nicht behinderte Vorstnde von karitativen
Einrichtungen von Inklusion reden. Sie sind die
Letzten, die das sollten.
Sie sind sehr kritisch in Ihren uerungen.
Wir mssen kritisch bleiben, gerade bei karita-
tiven Einrichtungen, inwieweit es Existenz-
sicherung und Bestandswahrung in einer Welt
hin zur Inklusion ist. Natrlich mssen Wohn-
heime voll bleiben, und eine Werkstatt fr
Menschen mit Behinderung muss protabel
sein. Eine Werkstatt wre bld, wenn sie ihre
besten Mitarbeiter in den ersten Arbeitsmarkt
freigibt. Dann wren sie nicht mehr wirtschaft-
lich. Man sieht, das Anreizmodell ist kaputt.
Der Anreiz msste eher darin bestehen, dass
man so viele Menschen wie mglich dem ers-
ten Arbeitsmarkt freigibt und nicht, dass sie
untereinander im Wettbewerb stehen und um
die Auftrge von Volkswagen buhlen. Das sind
Widersprche, die man aufdecken muss. Ich
nde es sehr bezeichnend, wer diesen Inklu-sionsbegri gerade deniert und wie wenig
Menschen mit Behinderung in diesem Diskurs
berhaupt angehrt werden. Wenn, dann wird
ber sie gesprochen und in den seltensten
Fllen mit ihnen. Inklusion bedeutet auch, dass
es Ergotherapeuten mit Behinderung gibt oder
man mit dem Elektrorollstuhl im Doppel-
deckerbus oben sitzen kann. Aber davon sind
wir weit entfernt.
Was wnschen Sie sich an Vernderung in den
nchsten Jahren?
Ich wnsche mir, dass Menschen mit Behin-
derung durch ihr Umfeld in die Lage versetztwerden, ihre eigenen Grenzen zu testen. Es
sind sicherlich andere Grenzen als bei Men-
schen ohne Behinderung. Aber jeder hat ein
Recht, Niederlagen zu erleben, wieder aufzu-
stehen und weiterzumachen. Genauso wie ein
Recht darauf, sich in verschiedenen Berufen
auszuprobieren und zu reisen. Alles, was nicht
behinderte Menschen als selbstverstndlich
erachten, wird Menschen mit Behinderung
verwehrt.
Wenn Sie Knig von Deutschland wren, was
wrden Sie als Erstes ndern?Als Erstes wrde ich anerkennen, dass Men-
schen mit Behinderung berproportional
bereit sind, sich ehrenamtlich fr ihre eigenen
Belange zu engagieren. Ich wrde versuchen,
das wertzuschtzen und nanziell zu unter-
sttzen. Dann wrde ich gucken, wo es struk-
turelle Diskriminierung gibt und wo sich die
Idee der Inklusion in den eigenen Schwanz
beit. Da ich ja Knig bin, gibt es wahrschein-
lich keine fderale Struktur. Also wrde ich
Gesetze erlassen, die dann zu gelten haben.
Ich wrde Kindergrten und Schulen dazuanimieren, etwas fr die Inklusion zu tun. Das
mssten wir auch weiterdenken und auf die
Arbeitswelt beziehen. Eine Quotierung von
Arbeitspltzen fr Menschen mit Behinderung
wre die Folge. Und das fhrt dann zwangs-
lug zu der Akzeptanz bzw. Feststellung, dass
Assistenz etwas ist, was die Solidargemein-
schaft zu nanzieren hat.
Das Interview fhrte Bettina M. Heinrich.
Bettina M. Heinrich
arbeitet in der Redaktion
der ergopraxis.
Sie traf Ral Krauthausen
zum Interview in der
gemtlichen Kantine des
Vereins Sozialhelden in
Berlin-Friedrichshain.
Toll wre es, wenn Ergo-therapeuten fr Menschenmit Behinderung eine Art
Anwalt sein knnten.
Abb.:BettinaM.Hein
rich
Gesprchsstof | Ral Krauthausen
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