Die vier Tiger
unter besonderer Berücksichtigung Singapurs
Entwicklungspolitische Modellfälle für Neoliberalismus, Keynesianismus oder
Autoritarismus?
Vier Tiger
• Newly Industrialized Countries (NICs)
• Newly Industrialized Economies (NIEs)
• Vier Drachen • Flying Geese-Modell
(Japan als „Leitgans“ – 4 Tiger – Thailand, Philippinen, Malaysia ... – China – Vietnam ...)
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Fläche Einwohner BIP pro Kopf DL-Sektor
(US-$, PPP 2005) (in %)
Südkorea 98.490 km² 49 Mio 20.400 56,3
Taiwan 35.980 km² 23 Mio. 26.700 69,0
Hongkong 1.092 km² 6,9 Mio. 37.400 89,9
Singapur 693 km² 4,5 Mio. 29.900 66,4
- Existenzielle externe Bedrohungen – Notwendigkeit des umfassenden wirt-schaftlichen Wideraufbaus nach dem Krieg und des Nation-buildings
- Anlehnung an die USA während des Kalten Krieges (direkte Hilfe für Südkorea und Taiwan; indirekte für Singapur und Hongkong). Aber Ablehnung des westlichen Demokratie-Modells:
- Singapur und Hongkong: semi-demokratische bzw. semi-autoritäre Systeme
- Südkorea und Taiwan: Militärdiktaturen
Die vier Tiger nach 1945 • Singapur: Kleiner Stadtstaat – Zweifel an Überlebensfä-
higkeit. Ethnische und soziale Konflikte, hohe Arbeits-losigkeit. Etablierung des PAP-Regimes (People‘s Action Party) unter Lee Kuan Yew
• Hongkong: Britische Kronkolonie bis 1997, seitdem chinesische Sonderverwaltungszone. Wie Singapur ohne natürliche Ressourcen und ohne Hinterland.
• Taiwan: Kuomintang-Truppen (1,3 Mio.) flüchten 1949 nach Formosa. Errichtung einer prowestlichen Militär-diktatur unter Tschiang Kai-shek. Beschränkte Ressourcen bei hoher Bevölkerungsdichte.
• Korea: Von 1905-45 von Japan besetzt, nach Befreiung durch Alliierte und Korea-Krieg 1950-53 Teilung in Nord und Süd. Militärregime unter General Park.
Gemeinsamkeiten • Billige, aber gut ausgebildete Arbeitskräfte • Importsubstitution (ISI) in Südkorea, Taiwan und Singapur
(elektronische und Textil-Produkte); Hongkong immer freihändlerisches Handelszentrum
• Mitte 1960er: als weltweit erste Staaten Export-orientierte Entwicklung – arbeitsintensive Leichtindustrie
• 1970er Jahre: Aufbau Schwerindustrie (Stahl, Schiffbau, Autos), Telekommunikation und Computer; Finanzdienst-leistungen (SG, HK); Petrochemie, Öl (SG)
• 1980er Jahre: Weitere Diversifizierung wegen Konkurrenz von Billiglohnländern. Freihandelsabkommen, Liberalisierungen.
• Staat als zentraler Akteur des Entwicklungsprozesses: Rahmenplanung. Kontrolle von Handelspolitik, Wechselkur-sen, Lohnentwicklung; tw. Protektionismus. Enge Verzahnung öffentlicher - privater Sektor. Soziale Kontrolle.
Unterschiede
• Grad der Regulierung der nationalen Wirtschaft • Grad (des Zeitpunkts) der Öffnung des eigenen
Marktes für Importe • Wertschätzung des Wettbewerbs • Offenheit gegenüber FDI (Kapital, Technologie-
Transfer) • Industriestruktur (Groß- vs. Klein- und
Mittelunternehmen) • Demokratisierungsprozess, gesellschaftliche
Offenheit
Die Entwicklungsprozesse 1 • Südkorea: Ab 1960er Jahre Export-
Orientierung, Aufbau der Leicht-industrie. Forcierung arbeitsinten-siverer Produktionen auf Kosten der Landwirtschaft (Textilien, Elektronik). Exportweltmeister. Staatliche Kontrolle von Handel und FDI. Präferenz auf Kredite.
1970er Jahre: Aufbau der Schwer-industrie (Stahl, Schiffbau, Autos), Haushaltselektronik, Telekommu-nikation, Computer.
1980er: politischer Aufruhr (Studen-ten-Demos) – Sturz des Militär-regimes, Demokratisierung unter General Roh Tae Woo.
2006: zwölftgrößte Wirtschaftsmacht
• Singapur: 1950er Jahre Import-substitution – Aufbau einer arbeitsintensiven Leichtindustrie (Konsumerelektronik), Zwischen-handel (Öl), militär. Stützpunkte
Ende 1960er: Diversifikation – Export-Orientierung: technologieintensi-vere Elektronik, Petrochemie
1970er: FDI und Technologietransfers v.a. bei Telekommunikation, Com-puter; Finanzdienstleistungen
1980er: Verlagerung der arbeitsinten-siven Industrie in die Nachbarlän-der, Upgrade und Diversifikation
1990er: Regionales Finanz- und Service-Zentrum, Globalisierung der Staatsunternehmen, tw. Priva-tisierung. – Ziel: Wissensbasierter regionaler Hub.
Die Entwicklungsprozesse 2 • Hongkong: traditionell marktliberal
und außenhandelsorientiert. Flüchtlinge aus Shanghai (Händler-
Familien) Arbeitsintensive Leichtindustrie
(Konsumerelektronik, Textilien, Plastik, Spielzeug), sukzessives Upgrade und Spezialisierung
Regionales Hafen-, Handels- und Finanzzentrum
• Taiwan: Bis Anfang 1960er Jahre Landwirtschaft wichtigster Wachstumsmotor. Kaum Rohstoffe
Danach arbeitsintensive Industrieali-sierung, Lohnveredelung und Handel (verarbeitete Rohstoffe, Textilien, Plastik, Elektronik). Spezielle Exportzonen. KMU dominant.
4-Jahrespläne (ökonomische und soziale Modernisierung, Infra-struktur, Ausbildung)
1952-80: 9,2% Wachstum p.a. bei hoher Beschäftigung; ca. 25% Exportwachstum p.a.
1970er: Upgrade – Förderung kapital-intensiver Industrien (Stahl, Petro-chemie, Maschinen, Autos), tw. staatliche Unternehmen
1980er: High-Tech-Produkte (Compu-ter, Halbleiter) – staatliche Förder-ung von R&D, Technologie-Parks und FDI
1990er: Verlagerung arbeitsintensiver Produktionen ins Ausland – v.a. China, das größter Exportmarkt und drittgrößter Importpartner ist
Ziel: Wissensbasierter, umweltbe-wusster High-Tech-Standort
Die Industriestrukturen • Südkorea: Chaebols (Hyundai, Samsung, LG), meist in
Familienbesitz. Enge Verzahnung Politik - Wirtschaft (ähnlich japanischen keiretsu, aber ohne firmeneigene Banken) – Problem der Korruption.
• Singapur: Staatlich kontrollierte Konzerne (Temasek, PSA, SingTel, Singapore Airlines) dominieren. Regierung lenkt mittels Fiskalpolitik und Economic Development Board Investitionen des Privatsektors in die „richtigen“ Branchen.
• Hongkong: KMU, Handelsunternehmen; chinesisches Hinterland als verlängerte Werkbank
• Taiwan: Großkonzerne forschen und entwickeln, lagern ihre Produktion aber an die dominierenden KMU aus. Keine Brands (BenQ - Siemens).
Beitrag zum Regionalismus
• Alle vier sind freihan-delsorientiert und direkt wie indirekt Förderer des Regionalismus in Ostasien (APEC, ASEAN+3, Bilateralis-mus)
• Singapur: Indonesien, Malaysia, Indochina (Growth Triangles); Handelszentrum
• Hongkong: chinesisches Hinterland; Handels-zentrum
• Taiwan: Handelspartner China
• Südkorea: Sonder-wirtschaftszonen in Nordkorea; Handelsmacht, Frei-handelsabkommen mit Washington
Developmental States • Chalmer Johnson (1981): Untersuchung des
japanischen MITI. – Vgl. Friedrich Lists (1789–1846) Schutzzoll-Politik
• Kriterien für einen „Entwicklungsstaat “: - Mobilisierung und Allokation der Ressourcen - Generalsteuerung Wirtschaft, Arbeitsmarkt,
(Aus-)Bildungssektor - gute Beziehungen staatlicher - privater Sektor;
politische und soziale Stabilität • Technokratie, politische und ökonomische Eliten
=> Korruption?
Conclusio: Gründe für den Erfolg
• Ideologiefreiheit bei prin-zipieller Anerkennung des Marktprinzips
• Pragmatismus und Flexibilität
• Export-Orientierung
• Prinzipielle Offenheit gegenüber FDI und Technologietransfers
• Kooperation öffentlicher - privater Sektor
• Hohe Sparraten • (Anfänglich) staatliche
Kontrolle des politischen und sozialen Systems
• Anlehnung an die USA • Staatslicher Interventio-
nismus • Glück • Asiatische Werte? • Autoritäre Systeme? • Wiederholbarkeit? • Good Governance
Conclusio
• Die vier Tiger verfügten über starke, effiziente, technokratische und wenig korrupte Regierungen, die mittels marktkonformer Instrumente oder ihrer Überredungskunst fähig waren, die Ressourcen meist richtig auf die Wachstumsbranchen zu verteilen.
• Die Wirtschaftsstandorte wurden dadurch konsequent aufgewertet, und die nationalen Unternehmen können heute auf dem geöffneten Heimmarkt wie auf dem Weltmarkt internationaler Konkurrenz erfolgreich begegnen.
Literaturtipp
• World Bank (ed.) (1993): The East Asian Miracle. Economic Growth and Public Po-licy. New York: Oxford University Press.
Singapur 1 • 4,4 Mio. Einwohner (2005) – 76,8% Chinesen,
13,9% Malayen und 7,9% Inder • 1819 von Sir Stamford Raffles gegründet • 1941 von Japan besetzt • 1950er Jahre: Ethnische und soziale Konflikte • 1963-65 Föderation mit Malaya – Unabhängigkeit • 1965 Ideology of survival – PAP-Hegemonie
unter Lee Kuan Yew in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.
• Zielsetzung: Politische und soziale Stabilität als Voraussetzung für ökonomischen Erfolg.
Singapur 2 • Beng-Huat Chua (1995: 18): “(…) if Singapore were to
survive, the population must be transformed into a tightly organised and highly disciplined citizenry all pulling in the same direction with a sense of public spiritedness and self-sacrifice in the national interest”.
• PAP-Ideologie: Mischung aus Konfuzianismus und Kommunitarismus („5 Shared Values“). – Werte wie: Gemeinschaftsorientierung, konsensuale Entscheidungs-findung, Technokratie, Autoritarismus, Paternalismus.
• „Nanny state“ • „Farben-blinde“ Gesellschaftspolitk • Housing Scheme
Singapur 3
• Rapide sozioökonomische Entwicklung bei (langer Zeit) relativ gleichmäßiger Einkommensverteilung
• Krisen als Chance (z.B. Abzug des britischen Militärs 1971, Ölpreisschocks 1973 und 1979)
• Künstliche Krisen: Anfang 1970er Jahre Abschaffung zahlreicher Schutzzölle. 1979-81 „zweite industrielle Revolution“: Lohnsteigerung von 40% durchgesetzt – Firmen zu Investitionen in Tech-nologie und Ausbildung gezwungen, um wettbewerbs-fähig zu bleiben
Singapur 4
• Eingeschränkte Pressefreiheit
• Auflagen für politische Betätigung
• Gerichtsklagen • Mehrheitswahlrecht,
Wahlpflicht, 10-tägiger Wahlkampf
• Wahl 6.5.2006: PAP 82 Mandate – 66,6% Workers Party 2 Mandate
Singapur 5: Herausforderungen
• Output-Legitimation • Limitierter Heimmarkt • Mangel an unternehmerischen
und technologischen Fähigkei-ten
• Ungleicher werdende Einkommensverteilung
• Politische Apathie – Brain drain, v.a. bei der Jugend
• Geburtenrückgang – Zuwanderung
• Nepotismus: Lee Inc. • Ökonomische Konkurrenz
durch Hongkong, China
• Globale Aktivitäten von Temasek, PSA, Singapore Airlines, SingTel ...
• Motor der ökonomischen und (sicherheits)politischen Regionalisierung
• Von Nachbarn kritisch gesehen – Initiativen von ISEAS oder Thailand vorangetrieben
• Lokal-regionale Integration: Growth Triangles (Malaysia, Indonesien: Johor-Riau)
• Bilaterale Abkommen mit USA, Australien, Neuseeland ...
Exkurs: Asiatische Werte 1 • Gemeinschaftsorientierung
vor Individualismus • Gesellschaftskritik:
Westliche Gesellschaft un-solidarisch, „kalt“, dekadent usw.
• Asiatische Gesellschaft soli-darisch, achtet Ältere und Autoritäten, Disziplin und Gehorsam
• Konsensuale Entscheidungs-findung besser als demokra-tischer Mehrheitsentscheid
• Menschenrechte: Westliche Erfindung
• Menschenrechte gelten in Asien als all-inklusiv, d.h. sie beinhalten gleichermaßen politische wie soziale und ökonomische Rechte
• Soziale und ökonomische Rechte sollen als erstes gewährleistet werden, da sie überlebenswichtig sind. Politische sollen dagegen erst in einer Phase fortge-schrittener sozioökonomi-scher Entwicklung verwirk-licht werden.
Exkurs: Asiatische Werte 2
• Unterschiedliches Freiheitsverständnis im „Osten“ (negative vs. posi-tive Freiheit – z.B. Freiheit vom Staat).
• Balance Rechte - Pflichten • Im Westen Trennung
staatliche - gesellschaftliche, gesellschaftliche - private Sphäre
• Stellung des Einzelnen gegenüber Staat und Gesellschaft schwach
• „Asiatische“ Werte werden primär von Politikern propagiert (Lee, Mahatir Mohammad, China)
• Asiatische NGOs teilen „westliche“ Sichtweise der Menschenrechte
• Vielzahl von Kulturen und Religionen in Ostasien
• Keine spezifisch asiatischen Werte, sondern Legitimation für Paternalismus und Autoritarismus