Wo ist Claudia Roth? Warum lässtsie nichts von sich hören, jetzt,da ihr Hang zu moralischer Em
pörung am Platze wäre? Der DeutschtürkeAkif Pirincci, der mit Katzenkrimis vonsich reden machte, hat ein Buch geschrieben über „Deutschland von Sinnen“. Offenbar selber von Sinnen, betätigt er sich alsUltrawutbürger und lässt kein gutes Haaran einer Demokratie, die er für deformierthält. Man müsste darüber nicht reden, wäre da nicht das Phänomen, dass dieser hemmungslose Text breiten Anklang im Netzund Auflage um Auflage findet. Der Schreiber, der gegen das politisch Korrekte wettert, stört sich „an den Grünen und ihr imLaufe von dreißig Jahren installiertes Gutmenschentum, dessen Fundament ausnichts als Lügen besteht“. All das werde gefördert von einer „linksversifften Presse“.
Mit dem Hass auf Quotenfrauen, Homosexuelle und Zuwanderer lässt sich, wie man sieht, leicht Geld verdienen, weil einBodensatz da ist, der das hören und lesen will. Man muss Ressentiments bedienen,und schon stellt sich der Erfolg ein. Im Vergleich zu diesem Rabaukenwerk sind ThiloSarrazins Bücher ein lindes Säuseln. GegenSarrazin hat Claudia Roth deutlich ihreStimme erhoben, aber nun schweigt sie.Nur deshalb, weil Pirincci einen Migrationshintergrund hat? Werner Birkenmaier
Von Sinnen
Unten rechts
Abwarten wäre fahrlässig
Politiker sind Angestellte des Volkes.Für sie gilt das gleiche Prinzip, demalle Angestellten unterliegen: sie
werden nicht fürs Nichtstun bezahlt. Nachdem Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur Vorratsdatenspeicherung ist dieVersuchung groß, in politische Lethargie zuverfallen. Die große Koalition sollte dieser Versuchung nicht nachgeben. Der Richterspruch aus Luxemburg verurteilt sie keineswegs zur Tatenlosigkeit. Er ist entgegenlandläufiger Deutungen auch nicht als pauschales Veto gegen Vorratsdatenspeicherung zu verstehen. Im Gegenteil. Es ließe sich als Gebrauchsanleitung für eine Novelle der einschlägigen Vorschriften lesen.
Insofern gibt es keinen Grund, die brisante Angelegenheit einfach zu den Aktenzu legen und abzuwarten, bis Brüssel eineneue Richtlinie entworfen hat. DieserHaltung neigt das rote Drittel der schwarzroten Koalition zu. Das hieße indes, Terroristen, Mafiosi und Kinderpornohändlern kampflos das Feld zu überlassen. OhneVorratsdatenspeicherung riskieren dieseHerrschaften wenig, wenn sie via Handyoder Internet Verbrechen organisieren.Die Richter in Luxemburg und Karlsruhe haben aufgezeigt, in welchen Grenzen dievirtuelle Kommunikation überwacht werden könnte. Unter strikten Auflagen wäredas möglich – und geboten. Wer Politik mitAbwarten verwechselt, handelt fahrlässig.
Vorratsdatenspeicherung Die Politik ist
bei dem heiklen Thema keineswegs zur
Tatenlosigkeit verurteilt. Von Armin Käfer
Am Mount Everest prallen zwei völligverschiedene Lebenswelten aufeinander. Wohlhabende Touristen
lassen sich von armen Bergführern auf das„Dach der Welt“ führen. Die einen suchendas Abenteuer ihres Lebens und bezahlendafür sehr viel Geld, für die anderen istdie Plackerei ein oft lebensgefährlicher,schlecht bezahlter Job. Aus diesem Grundkam es in der Vergangenheit immer wiederzu Spannungen. Nun, nach dem Lawinenunglück mit 16 Toten verlangen die Sherpasnicht nur eine Verbesserung ihrer harten Arbeitsbedingungen. Sie haben aus Protestfür dieses Jahr alle Expeditionen zum Gipfel des Mount Everest abgesagt.
Die Regierung hat den Trägern nunmehr Geld für die Krankenversorgung und die Lebensversicherung angeboten. Sie istan einer schnellen Lösung des Konfliktes interessiert, schließlich ist der Tourismusam Mount Everest ein Millionengeschäft.Jahr für Jahr erteilt sie deshalb mehr Lizenzen für den Gipfelsturm. Das heißt, dassdie Sherpas immer häufiger schlecht trainierte Touristen auf den Berg führen müssen – und sich dabei selbst in Lebensgefahrbringen. Doch die Bergführer sind auf dasGeld dringend angewiesen. Die Einsicht muss in den Köpfen der Touristen geschehen: nicht jedes sogenannte Abenteuermuss bestanden werden – auch wenn wirdas Geld haben, es uns zu erkaufen.
MillionengeschäftMount Everest Auf der Suche nach dem
Abenteuer bringen Touristen die Sherpas
unnötig in Lebensgefahr. Von Knut Krohn
Das hallische Dorf
Sie seien aber keine Sekte. Dasstellen sie klar, bevor man fragt.Allmählich haben sie davon sogar die Bewohner der umliegenden Dörfer überzeugt. Auch
wenn hier einiges ein bisschen anders läuft:Heute sind es etwa vierzig Menschen ausder Gemeinschaft, die im Kreis stehen, sichan den Händen fassen und die Augen schließen. Durch die großen Fenster desSpeisesaals fallen die ersten Sonnenstrahlen. Das Klappern von Geschirr und Besteck ebbt ab. Noch einmal ächzt die Tür,eine Frau schleicht herein, huscht zu den anderen. Dann aber: Stille. Zehn lange Minuten. Das morgendliche Besinnungsritual. Willkommen in Tempelhof, LandkreisSchwäbisch Hall.
Bis dato haben sich rund neunzig Erwachsene samt Kindern zusammengetan,um ein besseres Leben zu führen. Bewusst.Ökologisch. Solidarisch. Sie lehnen politische und religiöse Dogmen ab, wollen offensein für alle Weisheitstraditionen und jeden Glauben. Entscheidungen werden imKonsens getroffen. Jeder darf mitreden, alle müssen einverstanden sein. Gemüse undGetreide bauen sie selbst an, auf Feldern, die das Dorf umgeben. Die Kinder lernen inder Schule nur das, was sie wollen. Es gibtZiegen und Hühner. Und große Bleche mitKuchen für alle, wenn mal wieder jemand Geburtstag hat. Weil das alles zu schönklingt, um wahr zu sein, können sie sich angeblich kaum retten vor Menschen, die zuihnen aufs Land ziehen wollen. „Ankommen“, sagen sie hier.
Roman Huber führt in seine Einzimmerwohnung. Aufgeräumte fünfundzwanzig Quadratmeter, nur das Nötigste. Die Gemeinschaft hat viel Raum, der Einzelne gerade genug. Auf dem weißen Teppich liegenBücher zum Finanzsystem und dessen bevorstehenden Untergang. „Im Prinzip sind wir eine Großfamilie. Aber statt einer Blutlinie verbindet uns gemeinsamer Sinn“, sagt Huber. Weil die Tempelhofer wirtschaftlich als Genossenschaft organisiertsind, gibt es kein Eigentum von Grund undBoden. Jegliche Spekulationen mit denImmobilien sind damit ausgeschlossen. „Keinem gehört etwas, jedem gehört alles.“Nur eine Gefahr sehe er im familiärenGemeinschaftsleben: Dass man es sich abseits der Gesellschaft zu gemütlich macht.„Ich will aktiv in die Welt hineinwirken,nicht nur die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen.“
Huber ist Bundesvorsitzender von„Mehr Demokratie e. V.“, einem Verein, dersich für stärkere Bürgerbeteiligung in der Politik einsetzt. Tempelhof passt zu seinemBeruf. „Es hat mir immer Spaß gemacht,gesellschaftliche Strukturen neu zu denken. Irgendwann wollte ich es darauf ankommen lassen, statt nur durch die rosarote Brille zu gucken.“ Ein Schlüsselmomentsei gewesen, als er einmal seine Altersvorsorge kalkulierte. Ihm sei klar geworden,dass er mit dem ungeliebten Zinseszinswirtschaften müsste, um über die Runden zu kommen. Die Lösung: Gemeinschaft.
„Du stirbst, wie du altwirst, und wirst alt, wiedu lebst.“ Der Generationenvertrag in Tempelhof basiert auf Vertrauen. Einer für alleund alle für einen. Biszum Schluss.
Alles begann miteiner Reihe von Enttäuschungen. ZwanzigLeute aus dem RaumMünchen, darunterRoman Huber, wolltenzusammen eine kleine
Gemeinschaft aufbauen. Sie suchten einbrachliegendes Grundstück in der Stadt.Dann im Umkreis von achtzig Kilometern.Acht Jahre lang. Sie fanden nichts, was geeignet und zugleich bezahlbar gewesen wäre. In der Zwischenzeit hatten sie Gemeinschaften auf der ganzen Welt besucht, immer gefragt: „Was hat bei euch funktioniert? Was nicht?“ Sie lernten den sogenannten WirProzess des amerikanischenPsychologen Scott Peck kennen. Seine Methode soll helfen, eine starke und friedlicheGemeinschaft zu schaffen – ganz ohneeinen Anführer. Als sie ihren Traum mangels Grundstück schon fast aufgegeben hatten, gab einer von ihnen bei Google die allesentscheidenden Worte ein: „Dorf kaufen“.Das war 2010.
Hundert Jahre lang war in Tempelhofein Kinderheim, es folgten Werkstätten fürBehinderte. Als der Haufen Sinnsucher ausdem entfernten München zur Besichtigunganrückte, standen die Häuser seit Jahren leer. Ziemlich heruntergekommen. Das sollte ihre Zukunft sein? Immerhin gab esviel Platz, eine kleine Turnhalle und eineGroßküche mit einer Einrichtung aus Edelstahl. Das Dorf könnte irgendwann Heimatfür dreihundert Menschen sein. Sie handelten den Besitzer von vier auf anderthalb
Millionen herunter, fanden Mitbewohnerund Unterstützer, die für ihren Kredit keine Zinsen verlangten. Tempelhof finanziert sich ohne Hilfe von Banken. Wer hierleben will, zahlt 30 000 Euro an die Genossenschaft und wohnt ein Jahr lang auf Probe. Den WirProzess haben sie beibehalten.In der Großküche bereiten fünf hauptamtliche Köche drei Mahlzeiten täglich zu. Genug zu renovieren gibt es noch immer.
„Wir haben das schönste Haus amPlatz“, sagt Rüdiger Bachmann. Er betrachtet es wie ein Kunstwerk, die Holzverkleidung, die blauen Fensterrahmen. Einer seiner Schützlinge hat geholfen, es herzurichten. Die beiden Jugendlichen, die er betreut, nennt er „schwer betroffen“. Das ist ihm wichtig. Er sagt nicht: „hyperaktiv“,
„lernbehindert“ oder „schwer erziehbar“.Sie leben in Bachmanns Familie. Als die voranderthalb Jahren nach Tempelhof zog, kamen die Jugendlichen einfach mit. „Wirhätten sie auch mit in die Antarktis nehmen können, da hätte keiner was dagegengehabt.“ Zu ihm, so Bachmann, kämen dieganz harten Fälle. Jene, an denen Familie, Jugendamt und Streetworker gescheitertseien. Bachmann lächelt düster. „DerDruck, der auf der Gesellschaft und denJungs lastet, muss irgendwohin.“ Die einzige Zukunftsperspektive, die sie da draußenhätten, sei der Knast.
Alles, was Bachmann über Pädagogikweiß, hat er sich selbst beigebracht. DasWissen wuchs mit den eigenen Kindern.Zuerst eröffnete er einen Waldkindergar
ten, dann eine freie Schule. Als sein Sohn und seine Tochter Teenager waren, nahmer sein heutiges Projekt auf. Getragen undkontrolliert wird es von „Wellenbrecher“, einem Verein für Jugendhilfe. An Tempelhof habe ihn begeistert, dass die Menschengemeinsam etwas schaffen wollen. „Anderswo zieht man nur an einem Strang, wenn nebenan ein Atomkraftwerk gebaut werden soll“, sagt Bachmann. Für die Jugendlichen sei das Dorf heilsam. „Weil es das echte Leben ist.“ Keine therapeutischen Sondergruppen. Keine Nachhilfe. Siekönnen tun, was ihnen liegt. Und sei es, einfach stundenlang mit den Ziegen am Waldrand spazieren zu gehen.
Tempelhof ist ein gesellschaftliches Experimentierfeld. Ein Sammelplatz vonIdeen, bei denen man sich zunächst fragt: Kann das gutgehen? Einige Tempelhofersind nicht krankenversichert. Sie sind Teil eines bundesweiten Netzwerks von Menschen, die sich im Falle eines Gebrechensprivat unterstützen. Das Prinzip Vertrauen. Keine Angst. Zwölf Leute aus dem Dorf haben sich spontan zu einer Vermögensgemeinschaft zusammengetan. Den Impuls gab ein Vortrag in der Turnhalle. Von nunan liegt ihr Erspartes samt Monatslöhnenauf einem gemeinsamen Konto. Jedernimmt sich, was er braucht. Die Schule ist auch so ein Thema. Sie ist im Erdgeschossdes blauen Hauses, in dem auch RüdigerBachmann mit seinen Jugendlichenwohnt. Am Gartenzaun tänzeln schräg ausgesägte, bunt bemalte Buchstaben: „Schulefür freie Entfaltung Schloss Tempelhof“.
Drinnen herrscht Tumult. Zwei Jungsfetzen sich mit Kissen, begleitet vonSchlachtrufen der anderen. Im Regal,neben vielen Büchern und stapelweise Gesellschaftsspielen, gluckert ein Aquarium mit Goldfischen. Einige Kinder fläzen auf einer Spielwiese, diezugleich ihr Klassenraum ist. So sieht alsoder typische Unterrichtstag an einerfreien Schule aus.
Nein, sagt MarieLuise Stiefel und lächelt milde, das sei dieMittagspause. Die 63Jährige ist Geschäftsführerin der Schule.Früher hat sie in leitender Position imStuttgarter Jugendamt gearbeitet. „Dabeihabe ich gemerkt, dassKinder, die nicht systemkonform sind, aussortiert werden. Aber das System selbstmuss sich infrage stellen.“ Die Welt brauche mehr kreative Köpfe, die Zusammenhänge verstehen, anstatt nur Fakten auswendig zu lernen. Deshalb hat sie sich mitihrem planerischen Knowhow für dieSchullizenz eingesetzt.
Vierundzwanzig Schüler im Alter zwischen fünf und siebzehn Jahren lernenhier. Wer einen staatlichen Abschlussmöchte, muss zumindest die Prüfungen woanders machen. Aber mal ehrlich: Welches Kind paukt schon freiwillig Mathe?„Lesen, Schreiben, Rechnen“, sagt die Lehrerin Susanne Drothler, „das wollen eigentlich alle können.“ Doch dürfe man es nichtallen auf die gleiche Weise anerziehen. Manmüsse fragen: Was braucht dieses Kindwirklich? „Es kommt vor, dass jemand erstin der dritten Klasse anfängt zu lesen, dafüraber ein ganzes Buch von vorne bis hinten.“An der Wand hängt eine selbst gemalteLandkarte des Dorfes. Große Punkte markieren die Orte, an denen Schüler an praktischen Projekten arbeiten. Ein Junge etwalernt, in einer Werkstatt Mopeds zu reparieren, ein Mädchen ist gerade in der Näherei. Ab nächstem Jahr ist die Schule auchfür Kinder von außerhalb geöffnet.
Natürlich hat das Gemeinschaftslebenauch Schattenseiten. Für viele ist es wie amAnfang einer neuen Beziehung: Nachdem die erste Euphorie verflogen ist, muss man zusammen im Alltag bestehen. Die Gemeinschaft hat nie Feierabend. Viele müssen erst wieder lernen, sich nicht die ganzeZeit für alles zuständig zu fühlen. Dann dieendlosen Diskussionen im Plenum. Dürfenwir Mutter Erde mit noch mehr Gebäudenversiegeln? Wollten wir nicht umweltbewusst leben und den Boden aufbereiten?Irgendwann wird jedem klar, dass das Leben in Tempelhof mindestens so anstrengend ist wie anderswo. Immerhin: es istihre eigene Vision, für die sie arbeiten.
Das Interesse an der Gemeinschaft istgroß, nicht zuletzt, weil Medien immer wieder darüber berichten. Die regelmäßigenInfoveranstaltungen sind ausgebucht. Amhäufigsten kommen ältere Menschen zwischen fünfzig und sechzig, die eine neue Lebensaufgabe suchen. Zurzeit kann die Gemeinschaft niemanden mehr aufnehmen. Zu viele wollen ins gemachte Nest. Zu wenige wollen selbst einen kleinen Fleckendieser Welt verändern.
Hohenlohe Die Gemeinschaft von Schloss Tempelhof will ein besseres Leben führen. Ökologisch. Solidarisch. Und ganz ohne religiöse Dogmen. Ein genossenschaftliches Experiment, bei dem jeder mitreden darf und keiner weiß, wie lange das gutgeht. Von Martin Theis
Idyllisch gelegen in der Nähe von Crailsheim: die Gebäude gehören der Genossenschaft.
Engagiert: Lehrerin Susanne Drothler und Schulgeschäftsführerin Marie Luise Stiefel
„Dorf kaufen“ haben die Gründer im Internet eingegeben und wurden fündig.
Wenig Druck, viel Spielerisches – so sieht das Erziehungskonzept aus. Fotos: Tempelhof (3), Theis
„Im Prinzip sind wir eine Großfamilie. Statt einer Blutlinie verbindet uns gemeinsamer Sinn.“ Der Tempelhofer Roman Huber
„Kinder, die nicht systemkonform sind, werden aussortiert. Aber das System selbst muss sich in frage stellen.“Marie Luise Stiefel, Geschäftsführerin der Schule
Mittwoch, 23. April 2014 | Nr. 93STUTTGARTER ZEITUNG DIE DRITTE SEITE