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Bettina Lange, Nina Weller, Georg Witte (Hrsg.)

Die nicht mehr neuen MenschenRussische Filme und Romane der Jahrtausendwende

Wiener Slawistischer Almanach · Sonderband 79

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ISBN: 978-3-86688-251-5ISBN (eBook): 978-3-86688-252-2 Worldwide Distributor:

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Serving libraries since 1947KUBON & SAGNER

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Die nicht mehr neuen Menschen

Russische Filme und Romane der Jahrtausendwende

Herausgegeben vonBettina Lange, Nina Weller

und Georg Witte

Wiener Slawistischer AlmanachSonderband 79

München – Berlin – Wien 2012

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wiener slawistischer almanachliteraturwissenschaftliche reihesonderband 79Herausgegeben von Aage A. Hansen-Löve

lektoratTarek Münch (Zürich)

anfertigung der druckvorlageFlorian Ruppenstein (Berlin)

redaktionsadresse der reiheInstitut für Slavische Philologie, Universität München,Geschwister-Scholl-Platz 1, D-80539 MünchenTel. 49/89/2180 2373, Fax 49/89/2180 6263

Die Publikation und das Forschungsprojekt „Die nicht mehr neuen Menschen. Fiktionalisierung von Individualität im postsowjetischen russischen Film und Roman“ wurden gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Umschlagabbildungen: aus Rusalka (Anna Melikjan, 2008) © www.trigon-fi lm.org

eigentümerGesellschaft zur Förderung slawistischer Studien (Wien)Liechtensteinstraße 45A/10, A-1090 WienTel/Fax +43/1/94 67 232

verlagVerlag Otto Sagner, c/o Kubon & SagnerHeßstrasse 39-41, D-80798 Mü[email protected], Fax +49/89/54 218 226

druckDifo-Druck GmBHLaubanger 15, D-96052 Bamberg

© Gesellschaft zur Förderung slawistischer Studien Alle Rechte vorbehalten

isbn 978-3-86688-251-5isbn (eBook) 978-3-86688-252-2

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inhalt

Bettina Lange, Nina Weller, Georg WitteChancen, Taktiken, Umwege. Lebensentwürfe im russischen Film und Roman der Jahrtausendwende ..................................................5

Ellen RuttenPost-Communist Sincerity and Sorokin’s Thrilogy ..............................27

Henrike SchmidtEin Jahr im Leben des Evgenij Griškovec. Inszenierte Authentitzität und die Rückkehr der Aura ...........................................57

Christine GölzErnst als Spiel oder Helden der Nuller Jahre: Evgenij Griškovec’ Rubaška (Das Hemd) ..............................................................................85

Svetlana Sirotinina und Nina WellerHeimatsuche und Raumaneignung bei Aleksandr Iličevskij und Aleksej Ivanov .........................................................................................111

Eva BinderAmbivalente Akte der Selbstbefreiung: Jur’ev den’ (Yuri’s Day) von Jurij Arabov und Kirill Serebrennikov .......................................... 143

Matthias Meindl»Wenn der Wind erzählt«. Der ›Raum‹ und die nicht mehr neuen Menschen in Julija Kolesniks Nižnjaja Kaledonija (Unteres Kaledonien) .........................169

Miriam Finkelstein und Nina WellerEin Schiff wird kommen! Mythopoetische Dekonstruktionen und Neukonstruktionen russisch-jüdischer Identität in Oleg Jur’evs Roman Vineta (Die Russische Fracht) ....................................... 187

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Inhalt4

Eva HausbacherSeelenoptik: Marija Rybakovas Briefroman Anna Grom i ee prizrak (Die Reise der Anna Grom) ................................................ 223

Barbara WurmSimulanten des Zauderns. Verweigerungs-Figuren in Aleksej Popogrebskijs Prostye vešči (Simple things) und Kak ja provel ėtim letom (How I Ended this Summer) ............................................... 245

Bettina LangeNeue Russen zweiter Klasse: Genre und Identität in Kira Muratovas Vtorostepennye ljudi (Menschen zweiter Klasse) ................. 265

Irina Schulzki and Raoul EshelmanContingency, Anthropology and Space in Muratova’s Later Films ............................................................................................. 293

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wiener slawistischer almanach, sonderband 79 (2012) 5–25

Bettina Lange, Nina Weller, Georg Witte

CHANCEN, TAKTIKEN, UMWEGE. LEBENSENTWÜRFE IM RUSSISCHEN FILM UND ROMAN DER JAHRTAUSENDWENDE

Die Helden russischer Filme und Romane sind um die Jahrtausendwende in Bewegung geraten. In Auseinandersetzung mit den Lebensbedingun-gen und Befi ndlichkeiten des postsozialistischen Russland sind sie auf der Suche nach neuen Lebensentwürfen – in einem ganz anderen Sinne als die Helden sozialistisch-realistischer Entwicklungsutopien oder de-ren postmoderner Dekonstruktionen in den 1980er und 1990er Jahren.

Da ist beispielsweise der russische Migrant Erik in Sergej Bolmats Ro-man V vozduche (2004, dt.: In der Luft), weltläufi ger Repräsentant einer sprichwörtlich gewordenen »in der Luft hängenden« postsowjetischen Generation, dem die offene Zugluft von Airport-Lounges und die Kon-sumwelt des globalen Kapitalismus vertrauter ist als die Atmosphäre bodenständiger Mittelklasse-Existenzen. So mag sich Erik, nachdem er unzählige Jobs, Studiengänge und Wohnorte ausprobiert hat, selbst in seinem New Yorker Leben weder auf eine feste Beziehung noch auf ei-nen routinierten Arbeitsalltag einlassen. Zurück in seine alte, nun frem-de Heimat Moskau treibt ihn schließlich das undefi nierbare Bedürfnis, inmitten der ihm im Moskauer Turbokapitalismus begegnenden Viel-zahl von Weltanschauungen und Lebensmodellen etwas Neues zu be-ginnen und seinen eigenen Weg zu fi nden…

Auch der gutmütige und sensible Petersburger Student Nikita in Natal’ja Ključarevas Kurzroman Rossija: Obščij vagon (2008, dt.: End-station Russland) macht die Unbeständigkeit des Unterwegs-Seins zu seinem persönlichen Lebensexperiment. Er entzieht sich dem Dünkel intellektueller Snobs und markenfetischistischer Neureicher, indem er kreuz und quer durch die desolate postsowjetische Welt reist und, meist wenig glückliche, Lebensgeschichten ›sammelt‹. Auf den einfachen

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Holzbänken in den Waggons der Vorortzüge, auf Provinzbahnhöfen und in Petersburger Absteigen begegnen ihm die trostlosen Schicksale jener, die in der Putin-Ära im sozialen Abseits gestrandet sind. Sie alle träumen vom Glück, ohne dass ihr Alltagsleben auch nur ansatzweise glücklich wäre. Nikita begegnet diesem fremden Glück und Unglück mit Anteilnahme, bis er, der ideale Zuhörer, zum Hauptakteur einer kollektiven Rebellion wird.

Ein frei fl ottierender Protagonist ist auch der junge Arbeiter Lenja aus Boris Chlebnikovs Film Svobodnoe plavanie (2006, engl. intern. Verleihtitel: Free Floating). Seine Arbeit an der Werkbank verrichtet Lenja ohne Worte. Als die Fabrik schließt, fi ndet er sich als Markt-verkäufer an einem Schuhstand wieder, wo er stumm wie ein Fisch die Kunden vorüberziehen lässt. Auch der nächste Job im Straßenbau ist schnell wieder weg, da Lenja bei den Betrügereien des Vorarbeiters nicht mitspielt. In der freien Marktwirtschaft muss sich jeder irgendwie über Wasser halten; einzig die Frau vom Arbeitsamt sitzt noch am alten Platz. Die Stellenangebote, die sie überreicht, nimmt Lenja gleichmütig an, doch eine Perspektive ist nicht in Sicht. Rettung naht erst, als auf dem Fluss ein geheimnisvoller Raddampfer auftaucht. Der Mississippi wird zur Wolga und der amerikanische Traum zum russischen Märchen.

Alisa in Anna Melikjans Film Rusalka (2007, dt.: Alisa, das Meer-mädchen) wächst in der Provinz auf. Die Kindheit ohne Vater ist trist und Zukunftsträume zerplatzen wie Seifenblasen. Vom Umzug nach Moskau erhofft Alisa sich ein neues Leben, doch vorläufi g besteht die-ses darin, im Werbekostüm als Handy oder Bierkrug durch die Straßen zu laufen. Die Reklametafeln locken: Alles scheint möglich im glamou-rösen Moskau. Als der smarte Saša auftaucht, rückt die Erfüllung von Alisas Träumen in greifbare Nähe – bis sie versteht, dass Saša die blon-dierte Rita mit ihren künstlichen Fingernägeln liebt. In letzter Sekunde steuert der Film doch noch auf eine schicksalhafte Begegnung Alisas mit ihrem Traumprinzen zu und stellt das Versprechen von Werbung und Märchen auf die Probe: »Träume erfüllen sich – mit Garantie«.

Dies sind nur vier Beispiele aus Filmen und Romanen der so genannten »Nuller Jahre«, die ein Bild davon abgeben, was die fi ktionalen Helden

1 Die Bezeichnung »Nuller Jahre« wurde innerhalb der russischen Literaturkritik vor

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der russischen Gegenwart ausmacht, wo und wohin sie sich bewegen – und was sie bewegt. Auffallend ist, dass neuere russische Filme und Romane, anders als die postmoderne Literatur der vorangegangenen Dekade, nicht mehr primär den Verlust eines kollektiv verbindlichen Sinndachs der sowjetischen Ära thematisieren. Auch wird die postsow-jetische Situation nicht länger als Ausnahmezustand dramatisiert, wie das in den 1990er Jahren angesichts der teils euphorisierenden, teils schockierenden Erfahrungen mit Demokratisierung und wilder Kapi-talisierung noch nahe lag. Wir haben es mit Darstellungen eines neuen Selbstbewusstseins zu tun, das sich mit den gesellschaftlichen Realia und den Optionen der persönlichen Lebensgestaltung im postsowjetischen Kapitalismus relativ unaufgeregt auseinandersetzt. Jenseits der in jüngs-ter Zeit boomenden fantastischen antiutopischen Szenarien Russlands oder kollektiver Selbstversicherungen über religiös und nationalistisch aufgeladene Narrative zeigen sie, dass die reale Person, als singuläre und nicht als ›typische‹ Figur, als situativ fl exibles Handlungssubjekt und nicht als Füllmasse narrativer Gussformen, wieder ins Zentrum des Interesses gerückt ist. Introspektionen, Selbstthematisierungen und Suchbewegungen sind so präsent wie Refl exionen über ein glückliches Leben oder Zukunftsoptionen einer individuellen Lebensplanung.

Die Beispiele zeigen, dass seit dem Ende der 1990er Jahre eine mög-lichkeitsoffene Dynamik kennzeichnend wird für die Sujets fi ktionaler Lebensgeschichten. Die auf den unterschiedlichsten literarischen und fi lmischen Schauplätzen ausgetragene Auseinandersetzung mit den veränderten politischen Befi ndlichkeiten, sozialen Lebenswirklichkei-ten und in Unordnung geratenen Koordinaten persönlicher Lebens-geschichten ist dabei vor einer zweifachen historischen Kontrastfolie zu sehen: sowohl vor dem fernen Hintergrund sowjetischer Lebensge-schichten als auch vor deren Desillusionierung in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Zum einen sind die Helden »nicht mehr neu«,

allem durch Sergej Čuprinin geprägt, der seit Beginn des neuen Jahrtausends den Beginn einer Ära des »Kompromisses« konstatiert (Čuprinin 2003, 2009a). Vgl. auch Čuprinins Internet-Projekt »Russkaja literatura segodnja« (Čuprinin 2007, 2009b).

2 Zur antiutopischen russischen Literatur der letzten Jahre vgl. Čancev 2007, Pustovaja 2007, Schwartz/Weller 2011, sowie für den Film Binder 2006. Zum neuen Realismus in der russischen Literatur vgl. Kasper 2007, zu nationalen und religiösen Narrativen im Film vgl. Binder 2004, de Keghel 2009.

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weil sie die sowjetische Utopie des »neuen Menschen« längst hinter sich gelassen haben. In der fi ktionalen Umsetzung dieser Utopie war der vom Ballast der alten Welt befreite, positive Held zum »Herzstück der sowjetischen Mythologie« (Günther 1993, Günther/Dobrenko 2000) gemacht worden. Der »neue Mensch« war Verkörperung eines radikalen Fortschrittsglaubens, dem das Individuum zum Objekt kollektivisti-scher Erziehung und Disziplinierung wurde. Entzauberte Reste dieses Phantasmas sind in manchen heutigen Romanen und Filmen noch anzu-treffen. So ist etwa in Chlebnikovs Svobodnoe plavanie die deterministi-sche Entwicklungsgeschichte des sowjetischen Helden, der unter dem Einfl uss von Arbeit und Kollektiv zum »neuen Menschen« heranreift, noch in ironischen Anspielungen vorhanden, aber die unbestimmte und unübersichtliche Situation der neu implementierten Marktmechanis-men hat die alten Handlungs- und Planungsgewissheiten abgelöst. Der Protagonist Lenja sieht den neuen Freiheiten unentschlossen entgegen. Ein Happy End wird im Abspann des Films als Möglichkeit zwar ange-deutet – es könnte aber auch anders ausgehen. Unabhängig davon, ob die denkbaren anderen Handlungsausgänge glücklich oder unglücklich verlaufen, ist dies die eigentliche, die prinzipiellere ›Botschaft‹ solcher Narrative: Es könnte auch anders sein. Eine Geschichte zu erzählen, heißt deren mögliche Alternativen, explizit oder implizit, mit zu erzäh-len.

Zum anderen entfernt sich die Darstellung der Protagonisten heu-tiger Filme und Romane von der postmodernen Skepsis gegenüber Kategorien der Identität und Individualität. Eine solche Skepsis hatte angesichts der Krisenerfahrung nationaler und persönlicher Identitäts-konzepte die spät- und postsowjetische Kultur wesentlich geprägt. Das Individuum konnte in dieser Zeit, wenn überhaupt, nur ex negativo – als Figur auf dem Spielfeld der Texte, als monströs deformierter Körper, als Objekt disziplinarischer oder exzessiver Gewalt – erzählt werden. Es

3 Zum Topos des »neuen Menschen« in der russischen Geistesgeschichte vgl. u.a. Mül-ler 1998, zur Utopie des »neuen Menschen« in der russischen Avantgarde und im Stalinismus vgl. u.a. Rüting 2002, Groys/Hagemeister 2005 sowie zur Heldenfi gur im sozialistischen Realismus insbes. Günther 1993 und Günther/Dobrenko 2000.

4 Vgl. z.B. Eshelman 1997. Zur Frage von Persönlichkeits- und Individualitätskonzep-ten in Russland vgl. Charchordin 1999/2002 sowie die Sammelbände von Engelstein/Sandler 2000 und Ebert 2002.

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war in gewissem Sinne ›entwicklungslos‹, befand sich in einem Zustand sinnloser Rotation am Ende der Geschichte bzw. einer Wiederkehr der immer gleichen Geschichte (Groys 2005).

Literatur- und fi lmwissenschaftliche Versuche der Charakterisierung fi ktionaler Erzählformen in Russland nach den Selbstzerstörungspro-zessen postmoderner Poetiken setzen bei der Identifi zierung eines Kompromisses zwischen realistischen und postmodernen Erzählver-fahren an (vgl. Lipoveckij [Lipovetsky] 1997, 1999, 2008, Ėpštejn [Ep-stein] 1996a, 1999, 2001a, Ivanova 1998, 2000, 2007). Sie konstatieren die Aufl ösung lange vorherrschender Dichotomien: des Offi ziellen (Sowjetischen) gegenüber dem Inoffi ziellen (Nichtsowjetischen), des Kommerziellen gegenüber dem Nicht-Kommerziellen, des Intellektu-ellen gegenüber dem Unterhaltenden. Eine Tendenz zu erzählerischem Realismus im Zeichen »authentischer« Darstellung wird im Zusammen-hang damit gesehen, dass in den letzten Jahren menschliche Einzel-schicksale und persönliche Befi ndlichkeiten wieder stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken (vgl. u.a. Davydov 2000, Lipoveckij 2008, Čuprinin 2009).

Filme und Romane der Dekade Null haben ein markantes Zeitprofi l. Die Vergangenheit hat – als Tradition, als genealogischer Rückhalt, als Gegenstand kollektiver oder individueller Erinnerung – eine geringere Bedeutung als in der vorangegangenen Dekade. Stattdessen dominiert eine ›aktuale‹ Zeit der Gegenwart, nicht im engen Sinne tagespoliti-scher Aktualität, sondern im Sinne einer situativen Handlungsgegen-wart. Deren Modalität bestimmt sich durch das Verhältnis okkasionel-ler Möglichkeiten und Zwänge, durch eine Erfahrung der Dinge und Situationen hinsichtlich ihrer jeweiligen Disponibilität, durch Sinn für den kairos: für das, was aktuell getan werden kann, für die kleine-ren oder größeren Handlungsalternativen. Aus einer so verstandenen Aktualitätserfahrung leitet sich zugleich ein spezifi scher Hang zur Zukunft ab, der weit entfernt ist von teleologischen und utopischen Zukunftsemphasen. Die Zukunft der Roman- und Filmprotagonis-ten ist kein Projektionsfeld für Antizipationen, sondern ein Nahziel

5 Zur Debatte über ein ›Ende der Postmoderne‹ sowie zum Paradigmenwechsel in der russischen Fiktion seit Ende der 1990er Jahre vgl. auch Marsh 2003, Eshelman 2009 und Čuprinin 2003, 2009.

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für approximative Suchbewegungen. Sie ist nicht in dramatischen Di-mensionen zu erobern, zu erkämpfen, zu ertrotzen, zu prophezeien, vorauszuentwerfen. Dieses entdramatisierte ›Neue‹ zeigt sich in einem »gewaltlosen Verhältnis zum Künftigen im Modus eines ›es kann sein‹ anstatt des vorangegangenen ›es muss sein‹ oder ›es wird sein‹« (Ėpštejn 1996a, 207). Auch in diesem Sinne stellen die Protagonisten der De-kade Null Gegenentwürfe zur Utopie des »neuen Menschen« dar. So wie Lenja in Svobodnoe plavanie und Erik in V vozduche schlagen sich viele andere Protagonisten – freiwillig oder unfreiwillig – durch die Vielzahl neuer Lebensmöglichkeiten, welche die zeitgenössische Ge-sellschaft offeriert. Ihre Geschichten lassen sich nicht nur im Zeichen postsowjetischer Freiheiten und kultureller Entgrenzungen sehen. Die Roman- und Filmhelden prallen gegen neu errichtete politische Barri-eren und adaptieren sich an die brutalen ökonomischen Überlebens-zwänge. Eine instabile Verteilung von Chancen und Beschränkungen, wie sie für die neue soziale Ordnung in Russland kennzeichnend ist, bildet den Hintergrund für realistische Erzählformen in Gestalt eines neuen »Alltagskinos« und literarischer Alltagssujets. Die Kontrastfolie der älteren, sowjetischen Erzählformate bleibt dabei spürbar. Echos der sowjetischen Zeit klingen nicht nur thematisch in den Biographien und Erinnerungen der Protagonisten nach, sondern auch in den narrativen Strukturen, die auf die Muster von Großerzählungen des Lebensplans und der Entwicklungsgeschichte anspielen. Diese geraten in Konkur-renz zu Erzählformen, die ein situatives und pragmatisches Agieren in den Mittelpunkt rücken. Deren Protagonisten sind mit Aufmerksam-keit für spontane Gelegenheiten und okkasionelle Handlungsoptionen, für die kleinen Taktiken abseits der überwölbenden strategischen Pers-pektiven begabt. Statt der lebensgestalterischen Megafrage »Was tun?« bemisst sich Potenzialität in dem, was gerade »zu machen ist«. In sol-chen Sujets wird der Zufall vom Störfaktor im Lebensplan zur Chance.

Auch Residuen postmoderner Textpraktiken bestehen in indivi-duellen Erzählverfahren fort. Diese schließen Erfahrungen von den pathosbefreienden Effekten der Postmoderne ebenso mit ein wie das

6 Vgl. hierzu auch Ėpštejns Thesen zum »Proto-Postmodernismus« (Ėpštejn 1996a, 2001a) sowie seine Thesen zu einer Philosophie des »Möglichen« (Ėpštejn 2001b).

7 Zum neuen russischen »Alltagskino« vgl. u.a. Nemchenko 2011 und Šilova 2008, 5–48.

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Wissen um die Konstruiertheit von Vorstellungen der Person und ih-rer Geschichte. Der Einzelne ist nach der Postmoderne weder eine rein textuelle Verfasstheit noch eine unhintergehbare Instanz, sondern er erobert oder erwählt sich wie Alisa in Rusalka, Nikita in Rossija: Obščij vagon oder Erik in V vozduche mehr oder minder erfolgreich eine eigene Geschichte und Perspektive aus einer Vielzahl narrativer und perspekti-vischer Möglichkeiten.

Die »transzendentale Obdachlosigkeit«, die Georg Lukács 1916 in seiner Theorie des Romans konstatierte, ist für die russischen Autoren von heute eine Potenzialität, die es auszuschöpfen gilt. Während Lukács die Romane von Tolstoj und Dostoevskij als möglichen Ausweg aus der weltanschaulichen Krise exponiert und darin »Anzeichen eines Kom-menden«, einer neu erlebbaren »Einheit von Persönlichkeit und Welt« auffi ndet (Lukács 1994, 114, 138), forcieren die russischen Romane und Filme der Dekade Null eine Überwindung der Krise durch eine Orien-tierungssuche, die den Verlust von »Lebenstotalitäten« in Kauf nimmt. Gerade das Fehlen weltanschaulicher Synthese und Sinnstiftung stimu-liert den Möglichkeitssinn ihrer Helden. Die Erfahrungen alltäglicher und lebensgeschichtlicher Kontingenz stellen individuelles Handeln in einen doppelseitig unbestimmten Zusammenhang. Dieser ist »sowohl Zufalls- und Unsicherheitsbereich als auch Handlungs- und Freiheits-bereich« (Makropoulos 2004). Hier manifestiert sich ein verändertes Kontingenzbewusstsein, das sich von der Auffassung einer dominant defi zitären Qualität der Kontingenz in der Moderne – Verlust lebens-geschichtlicher Kontinuität, Verlust der Handlungs-, Sprach- und Re-fl exionsautonomie des Subjekts – unterscheidet. Unsicherheit und Unbestimmtheit des Lebens stehen nicht mehr im Zeichen der Ori-entierungs- und Sinnlosigkeit, angesichts derer man nur die Wahl hat zwischen fatalistischer Hinnahme und existentiellem Trotz. Eher wird registriert, dass sie offene und kreative Momente des Möglichen – der Chancen, der Tests, der Umwege – ins Spiel bringen, die nicht per se ei-ner Zielorientierung unterliegen. Kontingenz wird von einer Bedingung des Richtungsverlusts zu einer Bedingung der Flexibilität.

Prosa- und Filmerzählungen der Gegenwart zeichnen Szenarien nicht-teleologischer Lebensmodelle, in denen Kontinuitätssuche und Kontingenzerfahrung sich nicht ausschließen, sondern wechselseitig bedingen. Dem Erzählen kommt dabei einerseits eine sinn- und kon-

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tinuitätsstiftende Funktion zu, andererseits können die ihm inhärenten Kontingenzen auch zum Auslöser neuer narrativer Formen des Episo-dischen, der Abwege und des Unbestimmten werden. So scheint der Protagonist Erik in Bolmats V vozduche zwar in der Beliebigkeit der Weltanschauungen und ihm begegnenden Lebensgeschichten seine Orientierung zu verlieren. Doch seine undefi nierte Suche nach einem persönlichen Neuanfang, sein Nachspüren verfehlter und sein Auspro-bieren neuer Möglichkeiten bilden weniger ein Dispositiv der Beschrän-kung als eines der Potenzialität. Nicht, dass sein Leben ziellos verläuft, sondern dass alle Optionen für seinen weiteren Weg offen bleiben, ist die Grundsituation dieses Protagonisten. In Ključarevas Rossija: Obščij vagon werden zwar die Unsicherheiten des Lebens in der Ohnmacht der Protagonisten gegenüber scheiternden Lebensentwürfen erfahren. Zugleich werden durch die Figur des ›Geschichtensammlers‹ Nikita mögliche, wenn auch nur selten realisierte Narrative von Lebensver-läufen im Kontrast zu fatalistischen Einstellungen denkbar gemacht. Es ist gerade die Potenzialität solcher Gegenromane, die zur inneren Spannung des Texts beiträgt. In Rusalka wiederum wird Kontingenz als märchenhafte Manipulation des Schicksals verhandelt, die immer auch die Möglichkeit einer anderen Perspektive auf die Ereignisse offen lässt. Lebensgeschichte und individuelle Handlungssouveränität der Protago-nistin stehen hier in einem Spannungsfeld von Schicksalslenkung durch Einsatz übernatürlicher Fähigkeiten und Einbruch des nichtlenkbaren Zufalls. Der Protagonist von Svobodnoe plavanie verlässt zwar den vor-gezeichneten Lebensweg nur unfreiwillig, entdeckt dadurch aber erst Entscheidungsspielräume zwischen Mitmachen und Verweigerung. Die Reaktionen der Figuren auf unerwartet hereinbrechende Ereignisse schwanken zwischen Aktionismus und Apathie, agentialem Selbstver-trauen und Schicksalsergebenheit. Was zählt, ist die ubiquitäre Spür-barkeit von Möglichkeitsräumen – gleichviel, ob sie durchmessen oder ignoriert werden.

8 Zu den perspektivischen und sujetkompositorischen Verfahren alternativer Hand-lungsoptionen im russischen Realismus des 19. Jahrhunderts vgl. Gary Saul Morsons Theorie des »side-shadowing« (Morson 1998, 599–624; ders. 2003. 59–73) und Georg Witte über »aktuales« Erzählen bei Lev Tolstoj (Witte 2010).

9 Vgl. dazu Drubek-Meyer, Lange, Meindl/Sirotinina, Gölz, Schmidt in Artmargins Online 2009.

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Die Thematisierung der Erfahrung biographischer Brüche und Neuanfänge, der Möglichkeiten der Gestaltung des eigenen Lebens zwischen neuen Zwängen und unerwarteten Optionen, zwischen Rol-lenvorgaben und individuellen Entscheidungen schreibt sich in eine allgemein zu beobachtende Tendenz der russischen Gegenwartskultur ein. Es können nun solche existentiellen Grundfragen wieder verhan-delt werden, die bislang sowohl von ideologischen Narrativen tabuisiert als auch durch postmoderne Diskurse vom Tod des Subjekts unter Ver-dacht gestellt waren. Mit einer Rückkehr der ›persönlichen Rede‹ rückt eine existentielle Erfahrungsdimension wieder stärker ins Licht, die sich in Sujets der Identitäts- und Glückssuche, in Diskursen des Authenti-schen und Wahrhaftigen sowie in Erfahrungshorizonten von Heimat und Entfremdung, Flucht und Migration artikulieren.

Die Wiederentdeckung der agentialen Begabung des Individuums ist jedoch nicht mit dem Pathos eines »Aufstands der Person« (von Ssachno 1965), wie es für die »Tauwetter«-Literatur der 1950er und 1960er Jahre kennzeichnend war, zu verwechseln. Das zeigt sich nicht nur an der bereits skizzierten Akzeptanz von Kontingenz. Auch, was die ehemals sehr emphatischen und idealistischen Begriffe von Persönlichkeit und Individualität betrifft, hat das reinigende und pathosentschlackende Fegefeuer der Postmoderne seine Spuren hinterlassen. Wenn sich heu-te, nach seiner postmodernen Austreibung, das Individuum in seinem sprachlichen, emotionalen und volationalen Eigensinn wiederfi ndet, so doch nicht im naiven Sinne seiner Autonomie oder Irreduzibilität. Dem entsprechend ist auch der neue Realismus nicht als Rückkehr zu einem schlichten Konzept ›unmittelbarer‹ Darstellung zu verstehen. Vielmehr werden die Lebensszenarien der Protagonisten immer auch in Bezug zu präfi gurierten Figurentypiken und Erzählformen gesetzt. Da-bei treten Praktiken der Inszenierung, der fi guralen und erzählerischen Rollenspiele in den Vordergrund, seien es die Autorinszenierungen auf Bloggerplattformen des russischen LiveJournals (Živoj Žurnal) oder die Stilisierung als ›Retro‹-Helden. Protagonisten treten als moderne Mär-chenhelden auf, als Reaktualisierungen des in der realistischen Literatur

10 Wie es etwa bei einer jüngeren Autorengeneration, die sich, wie beispielsweise Sergej Šargunov, Michail Senčin, Zachar Prilepin u.a. selbst als »neue Realisten« defi niert, tendenziell durchaus der Fall ist. Zum Phänomen eines »neuen Realismus« in der russischen Literatur der Jahrtausendwende vgl. z.B. Kasper 2007, Pustovaja 2005.

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des 19. Jahrhunderts etablierten Typus des ›kleinen Mannes‹, als Vari-anten literarisch tradierter Archetypen des Wanderers, Pilgers, Flücht-lings oder Doppelgängers. Im gehobenen Unterhaltungssektor der »Middle-Literatura« (vgl. Čuprinin 2007, 2009) und ihrem fi lmischen Pendant, das die junge, urbane, erfolgreiche Mittelschicht porträtiert, orientieren sich neureiche Großstädter, ›Biznesmeny‹ und Medienleute beiderlei Geschlechts an Image-Strategien der weitgehend apolitischen Welt des russischen Glamour. Das Verhältnis der Protagonisten zu ihren Präfi gurationen ist häufi g durch eine Spannung zwischen Akzeptanz und Diskrepanz geprägt (Griškovec’ und Muratovas ›kleine‹ Helden). Es gibt aber auch Konstellationen, in denen gerade das Ablegen sozia-ler Rollen zum Movens der Selbstsuche wird. Die Überwindung eines als oberfl ächlich entlarvten nationalen und individuellen Identitätsver-ständnisses kann die Erkenntnis eines in der Gemeinschaft begründe-ten ›wahren Selbst‹ mit sich bringen (Serebrennikov, Jur’ev den’) oder, vermittelt über literarische Vorbilder des Unterwegsseins (strannik/stranničestvo), die Helden der Erzählungen auf einen asketischen Weg der Selbst- und Welterkenntnis führen (Iličevskij, Matiss).

Viele Werke stellen die Selbstsuche der Protagonisten ins Zentrum. Der Verlust einer festen Zugehörigkeit wird als Orientierungslosigkeit der Helden inszeniert, die aber zu neuen transitorischen Formen des Unterwegsseins führt. Fluchtbewegungen aus den urbanen Metropo-len in die russische Provinz werden zum Anlass einer Suche nach Au-thentizität. Die Protagonisten reisen innerhalb Russlands und ebenso ins Ausland, oder sie kehren in die alte/fremde Heimat zurück. Auch hier werden unterschiedliche Gattungs- und Motivtraditionen, Chro-notopoi von Wanderungen und Fahrten, von Verirrungen und Umwe-gen aktualisiert. In einer Literatur der Migration werden beispielsweise Konzepte beweglicher, transitorischer Identitäten entworfen, wie Eva Hausbacher unlängst in ihrer Studie dargelegt hat (Hausbacher 2009). Die zuvor genannten Chronotopoi der Bewegung werden hier unter den Bedingungen globalisierter Mobilitätserfahrungen entfaltet, etwa bei Autoren wie Sergej Bolmat, Anna Rybakova oder Michail Šiškin.

Die ersten Beiträge dieses Bandes beschäftigen sich aus unterschiedli-chen Blickwinkeln mit der Literatur der »neuen Aufrichtigkeit«. Sie zeigen, wie sich eine Rhetorik der Authentizität sowohl auf Ebene der

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Autorinszenierungen als auch auf Ebene der Figuren in der Aufwertung von Kategorien des Selbst, der Seele, des Gefühls und der Wirklichkeit artikulieren und sich explizit in Sujets der Wahrheitssuche und der Sehnsucht nach individueller wie kollektiver Glückserfüllung nieder-schlagen.

Ellen Rutten diagnostiziert im medien- und kunstformübergreifen-den Diskurs der »neuen Aufrichtigkeit« eine Distanzierung gegenüber obsolet gewordenen postmodernen Denk- und Textpraktiken. Aus-gerechnet bei Vladimir Sorokin, dem Star der russischen literarischen Postmoderne, bemerkt sie einen neuen, verbal artikulierten und medial inszenierten Aufrichtigkeitsgestus. Anstatt weiter die bekannte Pose des Postmodernisten zu bedienen, der seine Person hinter metafi kti-onalen Autorenmasken versteckt, bemühe Sorokin in den letzten Jah-ren verstärkt das Bild eines emotional involvierten Autors. In seiner fantastisch-apokalyptischen Trilogie Led, Put’ Bro, 23 000 (2005–2010, dt.: LJOD. Das Eis, Bro, 23000) über eine »Bruderschaft des Lichts« konstatiert Rutten das Motiv der »Selbsttreue«, dem die von Sorokin dargestellten gewaltsamen Rituale des »Aufhämmerns der Herzen« als monströse Refl exe einer »alles durchdringenden Aufrichtigkeit« ent-sprechen.

Die Beiträge von Henrike Schmidt und Christine Gölz sind den emotional aufgeladenen Autorinszenierungen des neuen »Innerlich-keits-Stars« (Gölz) Evgenij Griškovec gewidmet. Schmidt beschreibt eine »Auratisierung« des erfolgreichen Internetautors Griškovec. Sie zeigt auf, wie sich Griškovec in seinen Blog-Tagebüchern God Žžizni (2008, dt.: Ein Jahr LLeben) die Hybridität des Internet-Mediums zur Inszenierung einer ›authentischen‹ Autor-Persona zu eigen macht, in-dem er ein privates Text-Territorium innerhalb des öffentlichen Raums des Internets schafft und in emotionaler Ansprache an die Leserge-meinde des Blogs die Atmosphäre eines kollektiv geteilten Privaten zu suggerieren sucht. Im Unterschied zu verbreiteten Praktiken der russischen literarischen »Blogosphäre«, die ihre jeweilige Gruppenzu-gehörigkeit meist über Verwendung eines nicht literarisch normierten, bewusst fehlerhaften Sprachduktus rechtfertigt, inszeniere Griškovec

11 Zur kulturtheoretischen Debatte um Diskurse und Phänomene einer »neuen Auf-richtigkeit« vgl. etwa Ėpštejn 1996b, 2001a; Boym 1994, 102; Lipovetsky 1999, 247 und Lipoveckij 2008, 575 ff., Yurchak 2008.

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seinen Blog jedoch als Versuch, einen Bereich literarisch ›reiner Spra-che‹ zu schaffen. Darüber hinaus versuche Griškovec, in der Engschal-tung von Autor und Held und im übertrieben inszenierten Gestus des ›Provinzlers‹ und ›Menschen aus dem Volke‹ einen postsowjetischen Nostalgieraum gemeinsam geteilter Lebenserfahrung zu erzeugen, wel-cher der individuellen Erfahrung von Kontingenz als identitätsstiften-dem Ordnungsprinzip entgegengesetzt sei.

Christine Gölz beschäftigt sich mit der Dimension einer »emotio-nalen Innerlichkeit« und »inszenierten Natürlichkeit« im Prosaschrei-ben Griškovec’, die sie als beispielhaft für das russische Phänomen der »Middle-Literatura« ansieht. Deren Besonderheit liege u.a. in der paradoxen Mischform zwischen naivem und unironischem Umgang mit der Ernsthaftigkeit der Hochkultur und den unterhaltenden und spielerischen Verfahren der Populärkultur, einer Mixtur, die Michail Rat gauz zufolge den Effekt einer »Ernsthaftigkeit light« hervorbrin-ge. Der Aufrichtigkeitsgestus in Griškovec’ Roman Rubaška (2004, dt.: Das Hemd) basiere auf dem Identitätsspiel eines auf authentische Gefühle und Innerlichkeit ausgerichteten urbanen Helden, des Archi-tekten Saša, der sich als Großstadtdandy durch einen Tag seines Mos-kauer Mittelklasselebens spielt und zudem durch die Identifi zierung mit unterschiedlichen sowjetischen Helden eine Strategie sozialer Dis-tinktion und Signalisierung von Exklusivität betreibt. Retroorientierte Handlungsschemata fungieren als »Gebrauchsanleitung« für das eigene Leben. Gölz sieht aber gerade im Hang des Protagonisten zur Kon-formität den eigentlichen Grund seines Scheiterns: Es gehe weniger darum, Regeln zu brechen und sich damit auf das Risiko des Neuen einzulassen, als um Sicherheit bietende Orientierung an bereits vorhan-denen Regeln. Die Einhaltung festgelegter Spiel- und Verhaltensregeln katapultiere den Protagonisten jedoch immer wieder in die triviale Nor-malität der Durchschnittsexistenz zurück, nicht zuletzt weil die von ihm nicht kontrollierbaren Emotionen die Scheinrealität seines Spiels fortwährend einbrechen lassen.

Während bei den bisher behandelten Werken ein Pathos der »neu-en Aufrichtigkeit« in Strategien der Autorinszenierung und in einem Spektrum von Erzählweisen zwischen Parodierung, ironischen Über-identifi zierung und affi rmativer Aneignung entdeckt wurde, stehen in den nachfolgend besprochenen Filmen und Romanen die Plot-Struk-

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turen selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit. Svetlana Sirotinina und Nina Weller, Matthias Meindl und Eva Binder diskutieren Werke, in de-nen sich die Protagonisten ihren bisherigen Lebenswirklichkeiten in der konsumorientieren urbanen Welt des »Glamour« durch Flucht in den Natur- und Provinzraum als Orten des »Anderen«, »Authentischen« und »Mythischen« entziehen.

Svetlana Sirotinina und Nina Weller widmen sich Romanen der Au-toren Aleksej Ivanov und Aleksandr Iličevskij. Im Vergleich ihrer ganz unterschiedlichen Poetiken arbeiten sie heraus, wie die Protagonisten in Iličevskijs Matiss (2007, ›Matisse‹) und Ivanovs Geograf globus propil (2003, ›Der Geograph hat den Globus versoffen‹) durch Entfremdungs-erfahrungen innerhalb ihrer postsowjetischen Lebensrealitäten zu ge-sellschaftlichen und weltanschaulichen Außenseitern werden, deren Besonderheit durch die Übernahme von Verhaltensweisen literarischer Typen des strannik (Pilgers, Wanderers) oder des jurodivy (Narren) markiert ist. Die Auseinandersetzung mit ihren jeweiligen Lebensum-ständen und möglichen Auswegen aus sozialen und biographischen Prädeterminierungen vollzieht sich über Topoi der Reise und des Um-herwanderns, sei es innerhalb von Stadtlandschaften (Moskau, Perm), sei es durch Provinz- und Naturräume. Die Reise werde zu einer Trans-formation des Individuums, welcher Suchbewegungen des Umherstrei-fens und Situationen der Obdachlosigkeit als zentrale Topoi inhärent sind. Die Suche nach Selbst- und Welterkenntnis, nach einer »inneren« oder »kleinen« Heimat werde so zum Anlass individueller ästhetischer (Iličevskij) und kultureller (Ivanov) Landschafts- und Raumerfahrun-gen, was vor allem bei Iličevskijs Protagonisten Prozesse der eskapis-tischen Überhöhung von Innenwelten der Gefühle, Wahrnehmungen und Gedanken impliziere.

Auch im von Eva Binder besprochenen Film Jur’ev den’ (2008, engl.: Yuri’s Day) von Kirill Serebrennikov wird die Reise vom ur-banen Moskau in die russische Provinz zum Weg der Ablösung und Transformation. Die nationalrussische und religiöse Identität, die die Protagonistin in der Provinzstadt Jur’ev-Pol’ski zu fi nden und ihrem Sohn nahe zu bringen hofft, entpuppt sich jedoch als oberfl ächliches Konstrukt, das sich mit der neuglänzenden Kirchenfassade oder den ›typisch russischen‹ Gummistiefeln begnügt. Die trügerische Identi-tätssuche thematisiert Serebrennikov im Sujet der Suche der Mutter

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nach dem verlorenen Sohn. Sie endet mit einer, so Binder, »performatis-tischen« Aneignung einer überindividuellen Identität der Protagonistin, die die Attribute ihres sozialen Status’ und ihrer westlich konnotierten Künstlerindividualität als Opernsolistin ablegt und schließlich in eine Gemeinschaft des »gelebten Glaubens« im örtlichen Frauenchor ein-geht. Sowohl das Narrativ der Selbstsuche des in der globalisierten Welt entwurzelten Menschen als auch die Vorsehung einer teleologischen Heilsgeschichte sind in Jur’ev den’ durch den selbstgewählten Verzicht der Protagonistin auf individuelle Attribute und ihre Aufnahme in die Dorf- und Glaubensgemeinschaft ersetzt.

Im von Matthias Meindl besprochenen Film Nižnjaja Kaledonija (2007, Unteres Kaledonien), dem zweiten Film der jungen Regisseu-rin Julija Kolesnik, nimmt sich der Mittzwanziger Nikolaj eine Aus-zeit vom Moskauer Partyleben und begleitet seine Schwester auf ihre Forschungsreise ins Wolga-Delta. Anders als bei Iličevskij, Ivanov und Serebrennikov bleibt der eigentliche Zweck der Reise hier offen: Moti-visch wird eine tiefschürfende Sinn- und Selbstsuche des Protagonisten in der Tradition Tarkovskijs angedeutet, die im nächsten Moment wie-der in das banale Sujet der Sommerfrische eines urbanen ›Taugenichts‹ kippt. Wie Meindl feststellt, erlangt keines der im Film evozierten my-thischen, psychoanalytischen oder kulturgeschichtlichen Raummodelle eine defi nitive Gültigkeit als Interpretationsschlüssel für das Reisenar-rativ. Er kommt zu dem Schluss, dass sich der Film vom klassischen Ent-wicklungssujet wie auch von der mythischen Aufl adung der russischen Provinz spielerisch distanziert, sich aber der angedeuteten kritischen Position letztlich auch wieder entzieht. Die Position der Unentschie-denheit des Protagonisten wird somit in der Narration reproduziert.

In den Beiträgen von Miriam Finkelstein/Nina Weller und Eva Haus-bacher wird die Reise als Transformationssujet einer Entgrenzungsbe-wegung thematisiert. In den besprochenen Romanen bildet das Motiv der Emigration von Russland nach Deutschland nur den Ausgangspunkt von fantastischen oder metaphysischen Seitenwechseln zwischen Leben und Tod, Bewusstem und Unbewusstem, Mythos und Realität, Traum und Wirklichkeit. Die Protagonisten bewegen sich in Heterotopoi der Zwischen- und Schwellenbereiche, die die Grenzen national, kulturell und personal fi xierbarer Identitäten durchlässig machen.

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Miriam Finkelstein und Nina Weller untersuchen den Roman Vi-neta (2009, dt.: Die russische Fracht), den letzten Teil einer Trilogie des russisch-jüdischen, gegenwärtig in Frankfurt lebenden Autors Oleg Jur’ev. Das zentrale Motiv des Totenschiffs, auf dem der Protagonist des Romans kurz vor der Jahrtausendwende von St. Petersburg Rich-tung Lübeck in See sticht, interpretieren sie als allegorische Verwen-dung des Schiffsheterotops. Sie sehen darin sowohl Sinnbild als auch Austragungsort einer mythopoetisch aufgeladenen Zwischen- und Doppelweltlichkeit, in welcher der Petersburgmythos und die Sage vom untergegangenen Vineta miteinander verschmelzen. Jur’evs intertextu-ell überbordende Erzählweise evoziere eine verwirrende, zwischen un-terschiedlichen Realitätsebenen oszillierende Imagination des Schiffes, in der postmoderne Denk- und Textpraktiken fortleben. Doch seien diese Verfahren durch ein Entwicklungssujet überlagert, in dem sich der Wandel des Protagonisten vom desorientierten Flüchtling und geschei-terten Wissenschaftler zum aktiven Gestalter seines Lebens vollziehe. Die dergestalt gewonnene Kontrolle über die eigene Geschichte befreie den Helden aus einem mythischen Mechanismus der Doppelungen und Reproduktionen.

Eva Hausbacher befasst sich mit Anna Rybakovas Roman Anna Grom i ee prizrak (1999, dt.: Die Reise der Anna Grom), den sie zwei sich überschneidenden Diskurssträngen zuordnet. Zum einen betrifft das den Diskurs eines transnationalen Kulturwechsels, der über das Reise-sujet und die Thematik von Migration und interkultureller Kommuni-kation entfaltet wird und narrativ im Briefverkehr der Migrantin Anna mit ihrem Geliebten umgesetzt ist. Zum anderen weise der Roman den Diskurs eines metaphysischen Seitenwechsels zwischen Diesseits und Jenseits auf, des Wechsels zwischen Heimlichem und Unheimlichem, der sich im Verfahren eines unzuverlässigen »phantomischen« Erzählens durch eine nach ihrem Selbstmord aus dem Jenseits sprechende Stimme realisiere. Die gleichermaßen abwesende wie gegenwärtige Stimme ver-steht Hausbacher als »Totenrede« und Medium der Erinnerungspoetik des Textes. Darüber hinaus werde die Stimme der Toten aber auch als »anagrammatische«, unbewusste weibliche Stimme ihres männlichen Gegenparts fassbar. Sie artikuliere das verdrängte Andere seiner Person und setze ihm das gebrochene, aber sich in seiner dynamischen Vielheit akzeptierende Ich Annas entgegen.

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Im Spannungsfeld zwischen der Offenheit der Lebens- und Hand-lungsmöglichkeiten im postsowjetischen Kapitalismus und alten oder neuen Rollen- und Handlungsvorgaben sehen Barbara Wurm, Bettina Lange und Irina Schulzki/Raoul Eshelman neuere Filme der auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Regisseure Aleksej Popogrebskij und Kira Muratova.

Barbara Wurm verfolgt anhand der Filme Prostye vešči (2007, engl.: Simple Things) und Kak ja provel ėtim letom (2010, engl.: How I Ended this Summer) von Aleksej Popogrebskij, wie ein realistisches, kontin-genzgesättigtes Erzählen zeitgenössischer Alltagssituationen mit gen-rekonventionellen Erzählmustern der Komödie, der Tragödie und der Tragikomödie in Konfl ikt gerät. In beiden Filmen setzen genre bedingte Handlungsketten zwar immer wieder aus, bleiben aber in letzter In-stanz intakt. Sie suggerieren, so Wurm, eine nur scheinbare Vielfalt der Möglichkeiten, die der Lebensrealität der Protagonisten mit ihren ma-teriellen und gesellschaftlichen Zwängen nicht entspricht. In Prostye vešči werde dieser Konfl ikt auch in der Handlung durchgespielt: Der Protagonist, ein Anästhesist, kann sich den äußeren Anforderungen an sein Leben und seine Person immer nur so lange entziehen, bis ihm die Entscheidungen schließlich von anderen oder von den Umständen abgenommen werden. Offen bleibt die Frage, ob solche Sujets der »In-konsequenz« als gelungene Versuche eines neuen Realismus zu sehen sind oder ob man es doch eher mit missglückten Versuchen der Anlage weiter gespannter Handlungsbögen zu tun hat.

Auch der von Bettina Lange besprochene Film Vtorostepennye lju-di (2001, Menschen zweiter Klasse) von Kira Muratova bewegt sich im Spannungsfeld von dysfunktionalen Genre- und Handlungsresten und einer episodischen Erzählstruktur. Die Protagonistin Vera irrt mit einer vermeintlichen Leiche im Koffer durch die Peripherie Odessas. Das cor-pus delicti muss verschwinden, wobei Vera übersieht, dass es weder eine Tat noch einen Täter gibt. In der zitathaft angedeuteten Kriminalkomö-dienhandlung insistiert Lange zufolge ein dem Genre zu Grunde liegen-des Narrativ der Suche nach Identität und der Wiederherstellung einer kohärenten Ordnung, das sich aber als der disparaten postsowjetischen Lebensrealität nicht mehr adäquat erweise. Anders als im realistisch er-zählten Film Popogrebskijs sei die narrative Schließung im Happy End hier nur als Farce möglich.

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Irina Schulzki und Raoul Eshelman sehen in den späten Filmen Kira Muratovas ein Konzept von Kontingenz nach der Postmoderne reali-siert. Den wechselnden Kontexten und Bedeutungsverschiebungen, wie sie von der Postmoderne favorisiert wurden, werde die Ordnung von Archivräumen entgegengesetzt, geschlossene Ordnungen, deren Wert-systeme und Handlungsradien von den auf ihren medialen Oberfl ächen ausgesetzten Individuen als durch unbestimmbare, schicksalsgleiche Mächte verwaltet und manipuliert erfahren werden. Fiktionale Werke bieten in dieser Sichtweise Gelegenheiten, der Kontingenzerfahrung solche Hintergrundinstanzen anzudichten und diese fi gurativ auszu-statten. Das veranschaulichen Schulzki und Eshelman am Beispiel ei-niger Filmfi guren Muratovas, die gleichsam mit auktorialer Großmacht ausgestattet sind und sich als Personifi kationen »submedialer« Gewal-ten gerieren. Im Lichte medientheoretischer Philosophie wird hier eine moderne Version deterministischer Kontingenzerfahrung entworfen. Im Spannungsfeld eines solchen ›Hangs zur Bestimmung‹ und eines ›Hangs zur Möglichkeit‹ lassen sich wohl die konkurrierenden Pro-gramme postsowjetischen Erzählens am besten verorten.

Der vorliegende Sammelband entstand im Rahmen des medienverglei-chenden Projekts »Die nicht mehr neuen Menschen. Fiktionalisierung von Individualität im postsowjetischen russischen Film und Roman«, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 2006 bis 2009 am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwis-senschaft unter der Leitung von Prof. Dr. Georg Witte an der Freien Universität Berlin gefördert wurde. Der Großteil der Beiträge geht auf drei im Rahmen des Projektes durchgeführte Workshops zurück, in de-nen wir Annäherungen an Themen, Motive und Erzählverfahren zeitge-nössischer russischer Werke unternahmen.

Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die fi nanzi-elle Förderung des Projektes und den Publikationszuschuss für diesen Sammelband, Prof. Dr. Aage Hansen-Löve für die Aufnahme des Sam-melbands als Sonderband des Wiener Slawistischen Almanachs, Tarek Münch für das Lektorat, Florian Ruppenstein für Satzlegung und Lay-out sowie den Teilnehmern der drei Workshops für die Beiträge und zahlreiche Anregungen.

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Witte, Georg. 2010. »›Einmal‹. Aktualität als literarische Erfahrungs-form. Am Beispiel von Lev Tolstojs ›Kreutzer-Sonate‹«, Hennig, Anke et al. (Hg.). Jetzt und dann. Zeiterfahrung in Film, Literatur und Philosophie. München, 186–204.

Yurchak, Alexei. 2008. »Post-Post-Communist Sincerity: Pioneers, Cosmonauts, and Other Soviet Heroes Born Today«, Lahusen, Thomas / Solomon, Peter H. (Hg.). What is Soviet now?: Identities, Legacies, Memories. Münster, 258–259.

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wiener slawistischer almanach, sonderband 79 (2012) 27–55

Ellen Rutten

POST-COMMUNIST SINCERITY AND SOROKIN’S ›THRILOGY‹

According to a popular cultural myth, late twentieth and 21st-century Russia ooze a new Zeitgeist – one embodied in the slogan »new sincer-ity«. »Post-postmodern«, »new sincerity«, or novaja iskrennost’, has been embraced as a philosophy of life by Russians from a variety of social and professional backgrounds – from bloggers to curators, scholars to poets, philosophers to PR assistants, and fi lm reviewers to artists. »New sincerity to the bone«, »that’s really new sincerity«: as we speak, these and similar qualifi cations jostle the pages of daily newspapers, highbrow as well as popular journals, webblogs, and chatfora. Without coinciding in a concrete »new sincere« movement, the different conceptualizations of a renewed sincerity do overlap: as a rule, all refer to a disagreement with features which the speaker considers postmodern – think excessive relativism, cynicism, or ethical indifference (»anything goes«). They are superimposed on a surprisingly wide range of cultural practices: art works, literary texts, fi lms, and theatre plays, but also political move-ments, cartoon fi gures, classical concerts, pop songs, blogs, fashion boutiques, and tv programs. The below blog post shows that even ran-dom young girls at a coffee bar can morph into representatives of »the new sincerity« (fi g. 1).

1 Representative sources include Bavil’skij 2005, Koreckij 2007, Metelica 2004, Michaj-lovskaja 2007, Petrovskaja 2002, Pospelov 2003, Semënov 2006, Radzievskij 2005, Savčuk 1999, and Setevaja poėzija 2004. Emblematic for a trend among certain young Russians to defi ne a »new sincerity« as typical for their generation is Obščežitie’s video »Novaja iskrennost’«, posted on Youtube on January 21, 2010, <http://www.youtube.com/watch?v=4HPekA1KiE>.

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A »fl ourishing of sincerity« is marked as emblematic of contempo-rary culture, too, by theoretical commentators of perestroika-era and post-Soviet Russia. Alexei Yurchak brands sincerity the prime aesthetic mode of »post-post-Communist« art and music (Yurchak 2008, 258). In the literary sphere, »new sincerity« has been singled out as a salient »postconceptualist«, »late postmodern« or »post-postmodern« trend by such leading commentators of perestroika-era and post-Soviet culture as Michail Ėpštejn, Svetlana Boym, and Mark Lipoveckij. And they are not alone: in, among other countries, the US, France, the UK, Germany, the Netherlands, and China, the phrase »new sincerity« similarly fl ags an alleged turn from postmodernism to a new cultural mentality. »In Search of a New Sincerity«: thus a workshop on contemporary Chi-

2 Among other sources, see Ėpštejn 2002, 138–141, 274–295; Boym 1994, 102; Li-povetsky 1999, 247, and 2008, 575 ff.

3 For a transnational perspective, see Van Alphen et al. 2009; for the US, UK and France, Korthals Altes 2001 and 2008; on the US and the Netherlands, Vaessens

Fig. 1. Russian-speaking L J user fl ippi754, »Girls«, pictures of girls at Starbucks posted on 9 March 2009, followed by the comment: »[t]his is the new sincerity, little drops of spring

rain on your cheeks, a n d hot coffee in your mouth« (fl ippi754 2009).

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Post-Communist Sincerity and Sorokin’s ›Thrilogy‹ 29

nese art at London’s Tate Modern was titled in 2007 (Chung and Jacobi 2007).

Sincerity & Sorokin

The below pages home in on Vladimir Sorokin’s Thrilogy (Trilogija) and the metaliterary debates it spurred. A set of three novels – Ice (Led, 2002), Bro’s Way (Put’ Bro, 2004), and 23.000 (2005) –, the Thrilogy follows the pseudo-gnostic Brothers of Light sect. The Brothers, to whom ordinary men are mere »meat machines«, »awaken the hearts« of new sectarians by striking their chests with magic ice hammers. Once all chosen Brothers are awake – thus goes the sect’s founding myth – the earth dissolves, and the members turn into »Eternal Rays of Light«.

The Brotherhood narrative and the discussions it elicited, I believe, merit the attention of more than the Sorokin specialist only. They de-serve exploration from a wider perspective: as a crucial stage in the »new sincerity« rhetorics that have thrived in public culture from the mid-1980s onwards. In this article, I unpack the Russian pendant of these rhetorics not in order to establish what novaja iskrennost’ »really« is, or to argue that it is the leading cultural trend following postmodernism (and even less to demonstrate whether or not Sorokin »actually is« a »new sincere« writer). They do attract my attention as a cultural-his-torical artefact – as a discourse that deepens our understanding of con-temporary (Russian) culture. »New sincerity« talk forms a departure point for current thinking, in Russia and elsewhere, on such varying but elementary social categories as selfhood, reality, identity, language, cul-tural memory, and commodifi cation. As such, »sincerity discussions« are prime markers of a larger polemic: the debate revolving around the question »in what cultural era do we live today?«

2009; for the US, see also Den Dulk 2004 and 2004b; for China, Chung and Jacobi 2007; and for Germany, Kirchmaier 2001.

4 Formally, only Led and 23.000 are called novels. On their generic status see Ober-mayr 2007, 538.


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