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MONOTHEMATISCHES MAGAZIN FÜR FAHRRADINDUZIERTE EMOTION
Issue 01, Fokus:
PUT ME BACK ON THE BLOODY BIKE!Eine bewegte Geschichte der Tour de France
VOM MINIMALISMUSWas das Fixie mit Malewitsch zu tun hat
VOM FACH Von denen, die Mechanik am Laufen halten
WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT!Wie das Freeriden seinen Lauf nahm
Bewegung
bewegung
Alan und Elizabeth West, Hovel in the hills, 1977
DAS FAHRRAD BEDEUTET MECHANISCHE VOLLKOMMENHEIT.— ALS DER MENSCH DAS FAHRRAD ERFAND, ERLANGTE ER DEN GIPFEL SEINER ERRUNGENSCHAFTEN.“
achtung
Diese Seite dient zum Säubern der Hände von Dreck, Öl und allem anderen, was uns da draußen auf unseren Fahrrädern anhaftet.
„
danke an:
Monika Blank, Claudia Sussmann-Hanf und Michael Hanf, Manfred und Rosemarie Sussmann, Michael Herbig, Waldemar Salesski, Philipp Hartung, Rolf Eggers, Benjamin Asher, Moritz Horn,
Felix Volkheimer, Ben Gordon, Taulan Dernbach, Alex Dalke, Stefan Gandl von NeubauBerlin, Prof. Carl Frech, Prof. Christoph Barth, Elmar Schenkel, Ümit Yurdagul, Brenton Salo, Thomas Selsam,
Baster.nl, Uwe Ulrich, Sven Hartmann, Martin Endres, Laura Etherington von Rapha, Sascha Köglmeier von Freitag, Genheimer Druck Lohr, u.v.a
80 Die minimalistischste Form des Radfahrens Foto: Benjamin Asher
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bewegung
AUS EIGENER KRAFTKommentar
PUT ME BACK ON THE BLOODY BIKEEine bewegte Geschichte der Tour de France
VOM FACHVon denen, die Mechanik am Laufen halten
MUTTERGEFÜHLEÜber die innere Bewegtheit einer Mutter
NARBEN IN ALUMINIUMBewegung hinterlässt Spuren —
nicht nur am Menschen
MORGENS, MITTAGS, ABENDSDas Fahrrad in modernen Gesellschaftsformen
WIESO EIGENTLICH SCHAUFELN?Über den Wahn der Erdbewegung und dessen
ästhetische sowie ökologische Folgen
MEDIA: FAHRRADDIEBE
ABONNEMENT
I [HEART] MY VELO
ICH HAB‘ GEDACHT, ES IST VORBEIEine aufstrebende Bewegung gefährdet
den gemeinen Fussgänger
VOM MINIMALISMUSWas das Fixie mit Malewitsch zu tun hat
PERFEKTIONIERTEPROTHESEInterview
ANDERE LÄNDER —GLEICHE SITTENBewegungen hier und dort
WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT! Wie das Freeriden seinen Lauf nahm
regulär
EQUIPE — IMPRESSUM
WERTE
KENNEN SIE DEN?
issue 01
66 Erst bauen, dann spielen – Lego im Wald Foto: Thomas Selsam
Marius Hanf, Herausgeber
Mountainbiker und Urban RiderBen Gordon, Redaktion
Mountainbiker
Vladimir Salesski, Bild
Urban Rider Benjamin Asher, Bild
Urban Rider
Philipp Hartung, Redaktion
Road Racer und Urban RiderClaudia Sussmann, Redaktion
Mountainbikerin
bar magazine
SPERANGLEWIDEOPEN PUBLISHING
Lessingstr. 1, D–97072 Würzburg
HERAUSGEBER, CHEFREDAKTION & ARTDIRECTION:
Marius Hanf <[email protected]>
REDAKTIONELLE MITARBEIT (DIESE AUSGABE):
Ben Gordon, Philipp Hartung, Claudia Sussmann-Hanf,
Elmar Schenkel
BILDREDAKTION (DIESE AUSGABE):
Vladimir Salesski, Benjamin Asher, Felix Volkheimer,
Thomas Selsam, Brenton Salo
1. Auflage 2010
Alle Rechte vorbehalten
DRUCK UND BINDUNG
Genheimer Druck GmbH, D–97816 Lohr
gedruckt auf Recystar 100g Papier –
hergestellt aus 100% Altpapier
FONT
Neubau Grotesk, Stefan Gandl
zu beziehen via www.neubauladen.com
Electra LH Cursive
Einzelheftpreis: 8 EUR (12SFR)
entstanden im Sommersemester 2010
Diplomarbeit bei Prof. C. Frech und Prof. C. Barth
www.facebook.com/BARMAGAZINE
impressum
equipe
zu Fuß
mit dem Fahrrad
Wie stark interessieren Sie sich für Sport?
keine bzw. wenig Zeit
schlechtes Wetter
hohe Gefahr
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30,0stark interessiert
WERTEGründe, die gegen regelmäßiges Fahrradfahren sprechen:
Wahrscheinlichkeit, im Straßenverkehr in einen tödlichen Unfall verwickelt zu werden:
BAR MAGAZINE 20 21
Welcher Aktivität gehen Sie am häufigsten in ihrer Freizeit nach?
Wie stark interessieren Sie sich für Outdoorbekleidung?
Wie häufig fahren Sie Fahrrad?
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Angaben in Prozent, via Statista.
Fernsehen und Multimedia
stark interessiert
sehr höufig
nie
WERTE
Foto: BAR
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Menschen auf Fahrrädern, mit denen Sie sicher schon zu tun hatten
Ein schwieriges Thema ist das mit der Post. Es ist ein Reizthema bei den
Menschen, ähnlich der Deutschen Bahn oder der Telekom. Es gilt jedoch zu
differenzieren. Zwischen den Verantwortlichen im Großen und denen, die Tag
für Tag, bei Wind und Wetter dafür sorgen, dass uns Postkarten von Freun-
den, Liebesbriefe und Rechnungen erreichen.
Die Arbeit als Briefträger ist hart und nichts für jeden. Der durchschnittli-
che Verdienst eines „Briefzustellers zu Fahrrad“ beträgt zwischen 1800 und
2300 Euro brutto, Gefahrenzulage ausgeschlossen. Und ungefährlich ist ein
Tag auf dem Fahrrad wirklich nicht, das wissen wir. Eine 6-Tage-Woche ist
keine Ausnahme, Arbeitsbeginn ist nicht selten nach 7 Uhr morgens. Jeder,
der schon einmal Morgens mit trägen und steifen Oberschenkeln im Halb-
schlaf aufs Rad gestiegen ist, weiß, wie mühselig ein Ausritt in aller Hergotts-
frühe sein kann.
Berücksichtigt man die Flut an Werbung, die jeden Tag in deutschen Brief-
kästen deponiert wird, und addiert man die eigentlichen Zustellungen, kommt
ein Briefträger an manchen Tagen auf bis zu 700 Kilogramm Material, das er
von Haus zu Haus, von Briefkasten zu Briefkasten fahren muss. Natürlich
nicht alles auf einmal, er sattelt mehrmals täglich neu auf, belädt sein Rad,
um seine Tour dann fortzusetzen.
19.000 Briefträger waren laut Statistik im Jahr 2009 mit dem Zweirad
unterwegs – damit zählt das Postrad zum meist verbreiteten Transportrad
auf deutschen Straßen. Neben der Deutschen Post nutzen auch andere
Zustellunternehmen wie PIN und TNT das Fahrrad, ist es doch im Vergleich
zum Zusteller zu Fuß eine schnellere und verglichen mit dem Kraftfahrzeug,
die ökologischere und in der Stadt auch flexiblere Variante. Da Fortschritt
und Entwicklung auch an der Post nicht spurlos vorübergehen, sind seit
kurzer Zeit auch Fahrräder mit elektrischer Tretunterstützung im Einsatz.
Gegen schlechtes Wetter hilft dies aber nicht. Vielleicht sollten wir uns diese
Umstände beim nächsten Mal vor Augen halten wenn wir unseren Brief-
träger treffen, auch wenn er uns wieder eine Rechnung einwirft und der
sehnsüchtig erwartete Liebesbrief wieder nicht dabei ist.
KENNEN SIE DEN?
KENNEN SIE DEN?
FAHRRADDIEBELadri di biciclette (1948)Regisseur: Vittorio de SicaHauptdarsteller: Lamberto Maggiorani, Enzo Staiola, Lianella Carell
Rom in der Nachkriegszeit: Der Tagelöhner Antonio Ricci erhält eine Arbeit
als Plakatkleber. Um seiner Tätigkeit nachzugehen, benötigt er ein Fahr-
rad, das er bei einem Pfandleiher auslöst. Während der Arbeit wird es ihm
gestohlen und Ricci begibt sich mit seinem Sohn auf die Suche nach dem
Dieb, den er schließlich in ähnlichen sozialen Verhältnissen vorfindet, aus
denen er auch selbst kommt. Aus dieser moralischen Zwickmühle heraus
entschließt sich Ricci, den Fahrraddieb nicht zu stellen und stattdessen
wiederum selbst ein Rad zu stehlen.
Das ist der grobe Zusammenschnitt von Vittorio de Sicas Klassiker
der Filmgeschichte, der an Aktualität nichts eingebüßt, sondern eher
hinzugewonnen hat. Denn nach einer Degression des Zweirades Anfang
der 60er Jahre im Zuge des Wirtschaftswunders und der damit verbun-
denen Motorisierung der Gesellschaft, folgte zu Beginn der 70er Jahre
die Renaissance des Rades. Grund dafür war die Erkenntnis, dass mit
der zunehmenden Urbanisierung das Auto den Mythos vom freien, immer
schnelleren und privilegierten Fahren nicht mehr aufrechterhalten konnte.
Wie in Zeiten Antonio Riccis ist das Rad heute wieder ein unverzichtbares
Glied in der Logistikkette des täglichen Lebens. War es damals noch als
einziger Zugang zur Mobilität die Existenzgrundlage in einem Milieu aus
Armut und Kleinkriminalität, so ist es heute ein unverzichtbares Medium
unserer Zeit: Der Fahrradkurier bringt sein eigenes Rad als Arbeitgerät
mit, ohne wäre seine Tätigkeit nicht möglich.
De Sicas Film jedoch „menschelt“ mehr, verzichtet doch der Haupt-
darsteller auf das Recht an seinem Fahrrad. Gegenwärtig sind solche
Konflikte stark von Gewalt geprägt – stellt ein New Yorker Radkurier einen
Fahrraddieb, endet das Zusammentreffen meist gewaltsam. So gesehen
könnte man der damaligen Zeit ein höheres Maß an Verständnis und Mit-
gefühl zuschreiben. Doch der Wert eines Rades lag mehr in seinem Nut-
zen. Fahrräder heute haben Persönlichkeit, sind stärker auf ihren Nutzer
zugeschnitten. Der Diebstahl ist ein Angriff auf die Person selbst, sei er
nun existenziell oder nicht.
Das Fahrrad und die Medien
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Foto: Baster.nl
FAHRRADDIEBE
MEDIA: FAHRRADDIEBE
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ISSUE 01
FOKUS: BEWEGUNG
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Der größte Teil der kulturellenProduktion wäre durch einfaches Turnen und zweck-mäßiger Bewegung im Freien mit großer Leichtigkeit zu verhindern gewesen. Bertold Brecht
FOKUS: BEWEGUNG
Text und Grafik: BAR
An sich ist es schon ganz praktikabel – keine Flecken unter den Achseln bei
der Ankunft. Keine klamme, leicht angeschwitzte Jeans. Keine leicht feuch-
ten Haare, die im Laufe des Tages einen glänzenden Schimmer annehmen
und für ein latentes Unwohlsein sorgen. Ja, diese Entwicklung, die momentan
vonstatten geht, hat durchaus ihre positiven Aspekte. Pedelecs, oder ein-
fach Elektrofahrräder, boomen wie nie zuvor. In den Niederlanden ist bereits
jedes zehnte verkaufte Fahrrad eines mit Elektroantrieb, deutsche Hersteller
rechnen auch in Deutschland mit steigenden Umsatzzahlen, ja gar mit ei-
ner Verfünffachung des Absatzes in den nächsten drei bis vier Jahren. Gab
es 1992 nur knapp drei Fahrradmodelle mit integriertem Elektroantrieb, hat
heute jeder mehr oder weniger große Hersteller ein Fahrrad mit „integriertem
Rückenwind“ im Portfolio.
Der Rückenwind aus der Steckdose funktioniert folgendermaßen: Der
Großteil an Elektrofahrrädern, die auf deutschen Straßen surren, sind soge-
nannte „Fahrräder mit limitierter Tretunterstützung“, was bedeutet, dass ein
Elektromotor die Pedalkraft unterstützt. Er arbeitet also nur, wenn getreten
wird. Ausnahmen sind solche Räder mit einer sogenannten „Anfahrhilfe“, die
durch Drehen des Gasgriffs aus dem Stand beschleunigen, um so besser
vom Fleck zu kommen. Nun, die eigentliche Frage, die sich dem ambitionierten
Radfahrer stellt, ist: Kann man noch von Fahrradfahren sprechen, wenn der
Vortrieb nicht aus meinen eigenen Beinen kommt?
Wir leben in einem Zeitalter der Konvergenz von Transportmitteln. Der Einsatz
von Elektromotoren spielt ebenso wie in der Fahrradindustrie auch in der
Automobilbranche eine große Rolle. Mit der Endlichkeit der Ressource Öl hat
auch der klassische Verbrennungsmotor nur noch eine absehbare Lebens-
dauer. Die Entwicklung alternativer Antriebe und deren Transformation in den
Alltag sind beim Auto also mehr als nur ein notwendiges Übel – sie sind un-
umgänglich. Gleiches gilt für motorisierte Zweiräder, auch sie werden sich über
kurz oder lang an ein neues Zeitalter des Antriebs anpassen müssen.
Das Fahrrad jedoch befindet sich nicht in dieser Zwickmühle. Geht das Öl
irgendwann zu Ende, quietschen allenfalls unsere Ketten. Den Vortrieb haben
wir bisher immer selbst erzeugt. Ehrlicherweise muss man sagen, hat es die
technische Entwicklung hierbei gut mit uns gemeint. Ein modernes Fahrrad
lässt sich mit einer Prothese vergleichen. Die Geschwindigkeit eines Renn-
radfahrers kann kein Sprinter der Welt erzielen, kein Alpinist könnte schweres
Gelände in einem solchen Fluss bewältigen, wie es ein Mountainbiker tut.
Das Fahrrad ist unsere optimierte Prothese. Gangschaltungen mit bis zu
27 Gängen, Federung vorne und hinten, bei professionellen Freeridern und
Downhillbikes mit bis zu 22 cm. Leichtbau der bis zum Exzess betrieben wird,
renntaugliche Mountainbikes wiegen heute keine 8 Kilogramm mehr. Das er-
möglicht es uns, auch die steilsten Berge zu bezwingen, das gröbste Gelände
zu durchqueren – kurz: Wege zu beschreiten, die uns ohne unsere zweirädri-
ge Prothese verschlossen blieben. Trotzdem: Die Bewegung kommt einzig und
allein aus unseren Beinen. Die Optimierung der Prothese bewirkt allenfalls
einen höheren Wirkungsgrad.
Velo steht für vélocipède, was wiederum
für „Schnellfuß“ steht.
Fahrrad fahren ist und bleibt ein Statement. Der Kollege im Büro, der jeden
Tag, egal bei welchem Wetter, mit dem Fahrrad zur Arbeit kommt, genießt eine
besondere Art des Respekts, vielleicht sogar der Bewunderung. Eine letzte
Bastion des starken Ur-Mannes, der bei Unwetter und unter Feindbeschuss
(Autofahrer) mit eigener Muskelkraft seinen Weg geht/fährt. Drahtig sind sie
oft, gerne auch mit Vollbart und Jack Wolfskin Jacke, Junggesellen, die Urlaub
in den Bergen machen. Diese Spezies der letzten echten Abenteurer im
Die elektrische Gefahr für die Bewegung der Radfahrer. Ein Kommentar.
AUS EIGENER KRAFT
BAR MAGAZINE 30 31
Pedelec Produktion in China: China ist Hauptproduzent von elektrisch angetriebenen Fahrrädern und somit auch der Hauptnachfrager nach Blei. Die Gewinnung dieser endlichen Resource dient zu 91% der Produktion von Akkus. Blei selbst gilt als ökologischer Risikofaktor – für die Entsorgung der Akkus ist bis heute noch kein befriedigender Lösungsansatz gefunden worden. Es drängt jedoch: Eine ähnlich explosive Marktentwicklung wie bei Pedelecs konnte zuletzt in der Mobilfunkbranche verzeichnet werden.
1997 2007
150TSD. 23,7MIO.
BEWEGUNG: AUS EIGENER KRAFT
Leistungszugewinn: erzielbare Höchstgeschwindigkeiten in km/h ohne und mit einer elektrischen Unterstüzung von 1000 Watt.
untrainierter Radfahrer
trainierter Radfahrer
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Großstadtdschungel wird nun durch einen 250-Watt-Akku gefährdet. Bisher
drohte keine Gefahr, denn Elektrobikes waren lange Zeit nur eine akzeptable
Option für Rentner und Menschen mit Handicap. Ungelenkes Omarad, so sah
das Zweirad mit Gasgriff lange aus. Die ästhetische Revolution und Evolution
eröffnet nun aber auch Menschen mit visuellem Bewusstsein diesen Markt.
Als ökologische Alternative zum Auto, oder einfach nur als „nice to have“ für
trendgestresste Yuppies, denen echtes Radfahren eigentlich immer zu an-
strengend war.
Womit wir beim ökologischen Aspekt wären. Bisher war es ein Alleinstellungs-
merkmal der strampelnden Bevölkerung, für nachhaltigen Transport solche
Unwägbarkeiten wie Wetter und persönliche Konstitution bei Ankunft am Ziel-
ort, in Kauf zu nehmen. Alles für die lupenreine Ökobilanz, denn, lässt man die
Produktion eines herkömmlichen Fahrrads selbst außer Acht, fällt für unser
Ökosystem keine weitere Belastung an. Der Trendforscher Matthias Horx be-
zeichnet das Fahrrad als „ersten evolutionären Gewinner des Klimawandels“.
Nur der Strom für den Antrieb muss auch erst produziert und in Lithiumakkus
gespeichert werden. Der erste Teil des Prozesses entfacht die Diskussion
über nachhaltige Energiewirtschaft im Allgemeinen. Wie ökologisch ist mein
Fahrrad, wenn der Strom für den Antrieb aus Kernenergie oder Kohlekraft-
werken bezogen wird? Wenn ohne diese Energiebeschaffung die eigentliche
Intention des Elektrobikes hinfällig ist? Diese Frage ist von großer Bedeu-
tung, hält man sich die Absatzexplosion der Pedelecs innerhalb des letzten
Jahrzehnts vor Augen. Seit dem Aufkommen der ersten Modelle im China der
90er Jahre, ist der Produktionszweig der elektrischen Antriebe bei Fahrrädern
weltweit zu einer 11-Milliarden-Dollar Industrie angewachsen. Eine Industrie,
die flächendeckender agiert als es die klassische Fahrradproduktion benö-
tigt. Zum einfachen OEM, also Original Equipment Manufacturer, mit seinen
Zulieferern aus der Komponentenindustrie, kommt bei der Produktion des
Elektroantriebs noch die Speichertechnik in Form der Lithium-Ionen-Akkus
hinzu. Ein durchschnittliches in China produziertes Elektrobike benötigt im
Lauf seiner Nutzungsdauer durchschnittlich fünf Speichermedien, also Ak-
kus, von denen jeder aus ca.. 20-30 Pfund Blei besteht. Die Entsorgung der
ausgedienten Akkus stellt uns bei steigendem Bedarf vor große Probleme.
Aus dem Lateinischen übersetzt lautet es:
„Antrieb durch Muskelkraft“.
Aber zurück zum Kern der Fragestellung, was ein solches Pedelec mit dem
klassischen Fahrrad und damit der klassischen Fahrradkultur zu tun hat.
„Für das Herz des echten Radfahrers ist es Betrug“, so Loren Mooney, Chef-
redakteur des amerikanischen „Bicycling Magazine“. Die Qualität und damit
gerade der Nutzeffekt des Rades lag bisher in der Konvergenz von Fortbe-
wegung und sportlicher Aktivität, im Ausdruck der Bereitschaft, sich aktiv zu
bewegen. Das Fahrrad erhob sich über die reine Trivialität des Ankommens,
der Weg war das Ziel und erfüllte uns mit der tiefen Befriedigung, etwas für
sich und seinen Körper getan zu haben, gepaart mit der leichten Bewunde-
rung derer, die sich der körperlichen Betätigung verweigern.
Ökologisch und verkehrstechnisch gesehen ist das Pedelec sicher dem
Automobil vorzuziehen. Aber ist es deswegen auf eine Stufe zu stellen mit
seinem Urtyp, dem muskelbetriebenen Fahrrad?
BEWEGUNG: AUS EIGENER KRAFT
Text: Elmar Schenkel Grafik: BAR
Seit 1903 nimmt das Fahrrad einmal im Jahr eine geographische Gestalt an.
Das Rad wird Frankreich. Es ist nicht jedes Jahr dasselbe, denn mal geht die
Tour, auch die große Quälerei oder Tortour genannt, durch Holland, mal streift
sie Deutschland, Spanien oder die Schweiz. Seit jeher kämpfen Kommunen
darum, wenigstens einmal auf dieser gigantischen Radstrecke durchfahren
zu werden.
Von Anfang an war die Tour de France ein literarisches Ereignis. Wie so
vieles in dieser Welt entstand sie aus dem Wettstreit zweier Rivalen. Es klingt
zunächst wie eine Geschichte von Jules Verne, in denen oft eine Wette am An-
fang einer Handlung steht, die letztlich von Medien gesteuert wird. Man muss
sich fragen, ob nicht überhaupt Literatur aus einer Wette hervorgeht, der Wet-
warum nicht ein bisschen experimentieren mit Fingerhut und Strychnin? Oder
die Luftwege verbessern mit Nitroglycerin? Vom legendären Tour-Sieger 1949
Fausto Coppi war zu hören, wie er sich mit dem chemischen Mephisto verstand.
Als man ihn fragte, ob er denn leistungsteigernde Mittel nähme, antwortete
er: Wenn es sein muss. Und wann muss es sein? Fast immer. Sein Gegenspie-
ler Bartali, auch der Fromme genannt, wenn gar nicht „Gott“, soll der letzte
unberührte Held gewesen sein. Bartalis einziges leistungssteigerndes Mittel
war sein Glaube an die Heilige Jungfrau. Immerhin verschrieb ihm sein Arzt
drei Zigaretten am Tag, um seinen niedrigen Puls zu korrigieren. Die Tour ist
eine der Fronten des Weltbewusstseins, und dort herrscht hohe Anspannung
– wie in der Welt der Promis und Stars, der Hochleistungsgesellschaft und
te nämlich, die ein Erzähler mit seinen Lesern eingehen
muss. Wer zu erzählen beginnt, tut es mit der uneinge-
standenen Behauptung: Ich wette, das ist so spannend,
dass ihr mir bis zum Ende zuhören werdet. Es sei auch
daran erinnert, dass die erste Frau, die die Welt umradel-
te, Annie Londonderry, dies aufgrund einer Wette tat.
In Paris entwickelte sich folgende Rivalität: Auf der ei-
nen Seite stand der bereits erwähnte Pierre Giffard, der
sich mit dem Ende des Pferdes beschäftigt hatte, und
seine sehr erfolgreiche Sportzeitung „Le Vélo“. Unter an-
derem hatte er auch das Radrennen Bordeaux-Paris initi-
iert. Giffard nutzte seine Popularität für politische Zwecke
ihrer Manager, wie im Krieg. Auch Betrug herrschte von
Anfang an. Der Sieger in den ersten Jahren, Garin, wurde
überführt: Er habe sich an Autos gehängt, Abkürzungen
gesucht, sei lange Strecken schlicht mit der Eisenbahn
gefahren. Ein Sieg wurde ihm nachher aberkannt. Garin
war im späteren Leben als Tankstellenbesitzer tätig und
erklärte noch in hohen Jahren stolz seine kleinen faulen
Tricks. Die frühe Radliteratur beschäftigte sich gern mit
den Hindernissen beim Radfahren. Bestens fündig könn-
te man in diesen ersten Jahren der Tour werden, denn
es geschah so manche Merkwürdigkeit. Der ungekrönte
Held der Tour ist wohl Eugène Christophe, der „alte Gal-
und setzte sich für den von antisemitischen Beschuldigungen attackierten
Kapitän Dreyfus ein. Auf der anderen Seite taten sich Giffards Gegner zusam-
men und gründeten eine Gegenzeitung, „L’Auto–Velo“. Der Herausgeber Henri
Desgranges gewann schließlich den Wettlauf, weil er mit seinem Assisten-
ten Lefèvre eine jährliche Tour durch ganz Frankreich organisierte. Dadurch
konnte er, wenn auch mit Unterbrechungen, die Auflage seines Blattes enorm
steigern.
Von Anfang an waren also die Medien im Spiel bei diesem Wettkampf, und
es gelang ihnen, diesen zu einem Mythos hochzustilisieren. Noch das Gelbe
Trikot soll eine Erfindung der Zeitung sein, die auf gelbem Papier gedruckt
war, aber dies ist wohl eher eine Legende. Kommerz und Doping waren eben-
falls von Anfang an im Spiel. Vor dem Pulk der Sportler fuhr und fährt immer
eine riesige Werbekolonne, meist im Abstand von zwei Stunden voraus. Auch
sie gehört zum Ritual. An Grenzen werden Drogen angeboten, und wenn der
Radfahrer eine solche Grenze seiner Fähigkeiten erreicht, wird er nicht selten
Gebrauch davon machen. Von Anfang an versuchten alle Radler, sich mit wel-
chen Mitteln auch immer in die beste Form zu bringen. Man ließ Kokainflocken
oder äthergesättigte Zuckerwürfel auf der Zunge zergehen oder rieb sich mit
Kokain in Kakaobutter ein. Heroin- und Kokainkügelchen, warum nicht? Und
lier“. Eine Zeichnung zeigt ihn in einer geradezu mythischen Szene, wie er
in einer Schmiede mit seinem Hammer auf sein Rad klopft, beobachtet von
drei Kommissaren. Auf der Tour 1913 hatte Christophe einen Gabelbruch und
musste mit seinem Rad zu Fuß 14 Kilometer gehen, bis er eine Schmiede fand.
Nach den Reglements musste er das Fahrrad selbst reparieren. Er wurde
unterstützt von einem Schmiedejungen, der den Blasebalg betätigte. Das gab
nochmal eine Strafminute für fremde Hilfe. Christophe belegte in der Gesamt-
wertung dennoch den 7. Platz. 1919 schlägt noch einmal die Stunde des alten
Galliers, als die Tour, die vom Krieg mehrere Jahre unterbrochen wurde, wieder
ausgetragen wird. Und wie zuvor hat er wieder einen Gabelbruch.
Die Tour hatte viele Feinde, aber auch eine empörte Volksseele gegen sich,
wenn gemogelt wurde. Dann wurden Steine geworfen, bösartige Nägel aus-
gelegt und Straßenblockaden errichtet. Die Fahrer ließen ebenfalls nichts
anbrennen: Man streute Juckpulver ins Hemd des Rivalen, mischte etwas ins
Getränk, verdrehte Straßenschilder oder machte sich nachts an den Rädern
des anderen zu schaffen. 1911 wurde der führende Duboc von einem Un-
bekannten vergiftet. Aus Angst vor solchen Manipulationen und Diebstahl
nahmen die früheren Tourteilnehmer ihre Räder meist mit ins Schlafzim-
Eine bewegte Geschichte der Tour de France
Bartalis einziges
leistungssteigerndes
Mittel war sein
Glaube an die
Heilige Jungfrau.
PUT ME BACKON THE BLOODY BIKE!
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BEWEGUNG: PUT ME BACK ON THE BLOODY BIKE
BAR MAGAZINE 36 37
mer. Vielleicht hat dies den Schweizer Autor Charles-Albert Cingria inspiriert.
Nachdem ihm einmal das Fahrrad gestohlen worden war, so berichtet der
Verleger Peter Schifferli, soll er nur noch Einladungen unter der Bedingung
angenommen haben, dass sein Rad die ganze Zeit in Sichtweite vom Tisch
stehen durfte. In Paris soll man in der Rue Bonaparte noch lange nach Cin-
grias Tod die beiden Eisenhaken gesehen haben, an denen er sein Fahrrad
nachts über dem Bett aufzuhängen pflegte. Spätestens hier muss das Wort
vom Fahrrad als Junggesellenmaschine fallen. Auch in Flann O’Brians radge-
steuertem Roman ist es nichts anderes: Ersatz für die Frau, den Partner, der
einzige Freund, die einzige Freundin, Symbol der Einsamkeit und Verlorenheit
in diesem Universum.
Gaul der Rimbaud der Tour, Lauredi der Verräter, Molineris der Mann des letz-
ten Kilometers und Rolland das Opfertier.
Das besondere an der Tour de France, und das macht ihren literarisch-my-
thischen Charakter aus, ist zum einen die alljährliche Wiederholung. Dadurch
wird sie Teil eines Rituals. Zum anderen spielt sich hier in aller Öffentlichkeit,
und zwar weltweit zu verfolgen, ein gigantischer Kampf ab zwischen den Hel-
den sowie zwischen Held und Landschaft. Dabei wird das ganze Frankreich
zu einem mythischen Land, zu einer geradezu mittelalterlichen Topographie,
in denen die modernen Ritter der Tafelrunde ausreiten, um ihre Prüfungen zu
bestehen. König Artus ist das allmächtige und omnipräsente Auge der Medien,
die gnadenlos alle Taten und Untaten der Ritter verfolgen und in Hofgespräch
Die Tour gewann schnell mythische Dimensionen. Ro-
land Barthes hat sie nicht ohne Grund in seine Samm-
lung moderner Mythen aufgenommen. Darunter versteht
er Zeichensysteme, die Dingen oder Menschen überge-
stülpt werden, um sie zu mystifizieren, ihre Macht zu stei-
gern und die es letztlich dem Kleinbürger ermöglichen,
seinen Stand, sein Weltbild und seine Gesellschaftsform
als von der Natur gegeben zu erfahren. So erlebt der
sportbegeisterte Bürger die Tour als großes Epos, als
würdige Nachfahrin (im doppelten Sinne) der mythischen
Ereignisse am Olymp. Schon die Namen der Rennfahrer
scheinen ihm aus einer archaischen Welt zu stammen, ei-
verwandeln. Immer ist auch Tragödie im Spiel: seien es die
zahlreichen Unfälle oder auch Böswilligkeiten, die dazu
führen, sei es der unweigerliche Niedergang des Helden,
der, nachdem er fünfmal gewonnen hat, das Handtuch
werfen muss oder des Dopings überführt wird.
Tim Moore, ein englischer Reiseschriftsteller, ist die
Tour mit seinem Fahrrad einige Wochen vor Beginn des
Rennens abgefahren und hat darüber ein kurzweiliges,
gelegentlich in die historische Tiefe zielendes Buch ge-
schrieben. Interessanterweise verwechselt er auf seiner
Fahrt immer den Artikel für Tour, wie er später scham-
haft-ironisch feststellt. Le Tour de France, aber la Tour
ner Welt der Stämme aus dunklen Zeiten: Brankart der Franke, Robic der Kelte,
Darigade der Gascogner oder Ruiz der Iberer. Auf der anderen Seite verklei-
nert der Bürger als Voyeur auch gerne seine Götter: Aus Raphael wir Raph und
aus Gemiami Gem, derweil sie Poulidor zu Poupou machen. Die Landschaft
wird episch, indem man sie personifiziert, denn mit ihr müssen sich die Helden
wie mit Ungeheuern und Feinden messen.
Jede Etappe entspricht einem Romankapitel, in dem ein neuer Gegner auf-
taucht und besiegt werden muss. Das größte Ungeheuer wartet mit der Etap-
pe am Mont Ventoux, der spätestens seit Petrarcas Besteigung ein Berg mit
mythischen Dimensionen ist. Dort, so Barthes, residiert ein Gott des Bösen,
der Geist der Trockenheit. Man kann die Tour auch mit der Odyssee verglei-
chen; sie folgt einer homerischen Geographie. Noch das Doping ist Teil der
epischen Schlachten, denn mit unlauteren Mitteln versuchen die Radler, den
Göttern gleich zu werden, ihnen sozusagen den Nektar rauben, den göttli-
chen Funken oder das Feuer. Mythische Gestalten wie Prometheus oder Si-
syphos drängen sich auf. 1955 fügte Roland Barthes seinem Essay über die
Tour noch ein kleines Lexikon bei, in dem er einzelne Radfahrer den Mythen
zuordnet: Darrigade ist ein undankbarer Zerberus, Coppi der perfekte Held,
Eiffel, zweimal der Inbegriff Frankreichs. Tour und Turm haben ja auch etwas
gemeinsam, nämlich Steig- und Fallhöhe. Der Titel seines Buches French
Revolutions spielt mit der Möglichkeit, dass die französische Revolution im
Untergrund weiterwirkt, auch wenn es sich bei der Tour zunächst nur um
Umdrehungen handelt. Das deutsche Wort Umdrehung zeigt, je nach Akzent-
setzung, eine ähnliche Doppeldeutigkeit, ganz zu schweigen von den Umdre-
hungen auf einem Flaschenetikett.
Auf seiner Radtour versucht Moore, diesem Ausritt aus der Zeit, den die
Tour de France für das Land bedeutet, nach zu spüren. Er geht in die An-
fänge zurück, stößt irgendwo in den Alpen auf eine Statue des Gründers
Desgranges und erzählt Lebensgeschichten von berühmten Radlern. Als
Engländer geht im das Schicksal des Briten Tom Simpson besonders nah. Der
wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf und trug schon früh den Spitzna-
men Four-Stone Coppi, weil er solch hohle Wangen hatte wie der Superstar
Fausto. 1956 gewinnt er eine Bronzemedaille auf der Olympiade, er ist der
erste britische Weltmeister 1965. Dann kommt die Tour 1967, und er ist sieb-
ter auf der 13. Etappe, am Ventoux. Da beginnt er zu taumeln und stürzt, er
will weitermachen, nein, mach es nicht, Tom, das reicht, sagt sein Mechaniker,
doch Tom ruft einen Satz, der wie ein Nachruf klingt: „Put me back on the
Denn mit
unlauteren Mitteln
versuchen die
Radler, den Göttern
gleich zu werden.
BEWEGUNG: PUT ME BACK ON THE BLOODY BIKE
bloody bike“, setzt mich wieder auf das verdammte Fahrrad! Er rast weiter,
gegen alle Vernunft, ist eigentlich am Ende, er fährt wie ein Gespenst, völlig
automatisch. Man muss ihn halten und legt ihn auf den Felsen. Belebungs-
versuche, Hubschrauber, Erste Hilfe, die Ärzte kommen. Doch zu spät, er ist
schon tot, ein Dopingopfer, man kann ihn kaum von der Lenkstange lösen.
Moore widmet sich allen körperlichen Malaisen, die die Fahrer begleiten: der
Hitze, den steilen Auffahrten und der Schwierigkeit, unterwegs Wasser zu las-
sen. Bis 1957 herrscht ein Gentleman-Reglement: wenn einer austritt, fahren
die anderen etwas langsamer. Das gilt nicht mehr, nachdem Charlie Gaule das
mobile Pinkeln erfunden hat. Seither ist auch dies erlaubt, allerdings nur in
unbewohnten Gebieten. Moore nickt zu den großen historischen und kul-
er gefälschte Pässe in den Gestängen des Rades versteckte, vielen Juden bei
ihrer Flucht vor den Faschisten. Curzio Malaparte hat den epischen Gegen-
satz von Bartali und Coppi einmal so in Worte gefasst:
Bartali ist ein Mann der Tradition. Er ist ein metaphysischer, von den Heiligen geschützter Mensch. Coppi hat im Himmel keinen, der sich um in kümmert. Weder sein Manager noch sein Masseur haben Flügel. Er sitzt allein auf seinem Rad, hat keinen Engel auf der Schulter, der mittritt. Er denkt rational, nüchtern und glaubt nur an den Motor, der ihm gegeben wurde, das heißt, an seinen Körper. (In: Blickensdörfer, 108)
turellen Sehenswürdigkeiten hinüber, die Teil der Tour
sind: die Höhen von Lascaux, der Wallfahrtsort Lourdes,
ja, noch zu Jan Ullrich winkt er hinüber, als er durch den
Schwarzwald und Freiburg fährt. Aber in erster Linie ist
sein Unternehmen, in bester britischer Tradition, eine
Übung in Selbstironie.
Der französische Romancier Louis Nucera, der im Jah-
re 2000 von einem Autofahrer beim Radeln in den Alpes
Maritimes getötet wurde, holt literarisch weiter aus. Für
Nucera (geb. 1928) waren Radfahren und Schreiben zwei
Seiten der selben Medaille. Wenn der Sommer zu Ende
ging, pflegt man ihn zu fragen: Wieviele Seiten und wie-
Und so erfüllt sich Nucera in den 80er Jahren einen al-
ten Jugendtraum: Er möchte die legendäre Tour von 1949
nachfahren, aus der Coppi als der große Sieger hervor-
ging. Diese Tour beschreibt er mit Poesie, Geschichtsge-
fühl und stilistischem Schwung in Mes rayons de soleil
(1987). Rayons? Das sind die Strahlen der Sonne, aber es
sind auch die Speichen des Rades, das insofern die Son-
ne auf Erden ist. Dem Herz des Radlers sind Sonne und
Rad eins, und wo kann man dies intensiver erfahren als
im Hochsommer der Tour de France? Das Buch erfüllt ei-
nen alten Traum, aber es zeigt auch, woher dieser Traum
vom Fahren eigentlich stammt, nämlich von den Vorfahren.
viele Kilometer waren es diesmal? Er war ein Stilist von höchsten Gnaden. In
seiner Autobiographie erinnert er sich an Freunde wie Picasso, Brassens oder
Cioran; ebenso daran, wie Vladimir Nabokov und Henry Miller mit dem Fahrrad
umherfuhren. Henry Miller verdanken wir ja auch eine große Liebeserklärung
an das Fahrrad. Dem Rennkönig René Vietto widmete Nucera seinen vielleicht
wichtigsten Roman: Le Roi René. Sein großer Held aber war der Campionissimo
Fausto Coppi. Er wusste alles über ihn, er hatte seit frühester Jugend jedes
Detail seines Lebens studiert. Der linke Coppi gegen den katholisch-frommen
Bartali, das war im Rennwesen der Nachkriegszeit die Parallele zum Zwei-
kampf zwischen Don Camillo und Peppone. Auch dort sind bekanntlich Fahr-
räder im Spiel. Italiens Renngemeinde teilte sich von nun an auf in Coppisten
und Bartalisten. Coppi, der Meister der größten Rennen seiner Zeit, mehrerer
Giro d‘Italia und mehrerer Tours de France, Inhaber aller wichtiger Trophäen
– und doch von moralisierenden Heuchlern sowie der katholischen Kirche
geschmäht wegen seiner Liebesaffären. Am Ende findet ihn der Tod in Afrika,
und zwar in Gestalt von Malaria. Bartali, der im Jahre 2000 starb, ließ es sich
auf keiner Tour nehmen, einen Abstecher zu Wallfahrtsort Lourdes zu machen,
auch wenn die anderen weiter rasten. Kein Sportler wurde häufiger vom Papst
empfangen als er. Im Krieg verhalf er durch geheime Kurierfahrten, bei denen
Als er zur Welt kam, erblickte Nucera als erstes den Schatten eines Fahrrads,
das zwischen Himmel und Erde hing. Im Zeichen des Fahrrads entfaltete sich
sein Leben, vom Großvater sanft gesteuert. So legte ihm dieser zu Weihnach-
ten statt Hirten und Bauern kleine Radfahrer in die Krippe; nicht minder zu
Rad kamen die Heiligen Drei Könige, und sie trugen die Namen der großen
Radrennfahrer. Dem Großvater folgte er in seiner fieberhaften bis religiösen
Verehrung des Fahrrads. In der Schule wurden seine Zensuren schlechter,
weil er sich zumeist mit dem Alten auf Radrennen herumtrieb. Als der Lehrer
ihn einmal nach Karl dem Großen und Torquemada ausfragte, glaubte er, dass
es sich bei dem einen um einen Verwandten des Weltmeister von 1936, bei
dem anderen vielleicht um einen spanischen oder italienischen Radrennfahrer
handelte. Geographie interessierte ihn nur soweit, als sie die Grundlage der
Tour de France bildete. Auf dem Sterbebett verkündete der Großvater, er wolle
die Heiligen Drei Könige zu Rad mit hinüber nehmen. Und er gab dem Jungen
zum letzen Mal seine Philosophie auf den Weg: „Allen, die genesen, wünsche
ich große, lange Fahrten. Weiß der Mensch, was ihm gut tut? Man hat den
Fahrradsinn genauso wie man ein musikalisches Gehör hat. Ein Radrennfah-
rer ist ein Künstler.“
Und deren größter war Coppi. Nucera stimmt mit seinem Buch in einen
Man hat den
Fahrradsinn
—
ein Radrennfahrer
ist ein Künstler.
BAR MAGAZINE 38 39
Hymnus ein; er wetteifert mit zwei großen italienischen Schriftstellern, die
Coppi besungen haben: Curzio Malaparte, den wir schon hörten, und Dino
Buzzati. Buzzati, der Meister des Abgründigen, den man zu seinem Unwillen
oft mit Kafka verglichen hat, war auch ein Kenner des Radsports und radelte
selbst. Den Giro d‘Italia hat er als Reporter verfolgt und regelmäßig Bulletins
geschrieben. Es passt zu seinem Werk, seinem Denk- und Traumstil, dass er
eine Figur wie Coppi, der noch dazu Fausto heißt, verehrte, so wie es ihn wohl
auch schauderte angesichts der unmenschlichen Höhen, die dieser erklom-
men hatte, und angesichts der Rolle, die er als Sündenbock der Gesellschaft
schließlich antreten musste. Als Bewunderer von Coppi befindet sich Nucera
also in bester Gesellschaft. Wie kein anderer Fahrer scheint Coppi die Litera-
er endlos um einen Platz herum, auf der Suche nach der besten Methode,
um anzuhalten und abzusteigen. Schließlich trifft Nucera den großen Jaques
Anquetil in Sere-Chevalier-Chantemerle, und der fünffache Sieger der Tour
erzählt ihm diese letzte Geschichte:
1959 war ich mit Coppi in Ober-Volta. Eines Tages, als ich mit ihm alleine war, sagte er einen Satz, der mich überraschte und der mir erst wirklich im Nachhinein auffiel. „Ich habe gerade einen Löwen gesehen; jetzt kann ich sterben.“ Das war am Vorabend des Rennes von Ouagadougou, also der 14. Dezember. Nach der Rück-kehr nach Italien am 2. Januar 1960 starb Fausto bekanntlich im Krankenhaus von Tortona. (Nucera, 272)
tur inspiriert zu haben.
So machte sich Nucera eines Sommermorgens in Paris auf, die Tour nach-
zuradeln, 4.813 km, mit Ausfahrten durch Belgien, Italien und die Schweiz.
Morgens tritt er die Pedale, nachmittags schaut er sich in den Städten und
Dörfern um und erkundet ihre historischen Schwingungen. Er stößt auf
Friedhöfe der Weltkriege, erinnert sich an den Hundertjährigen Krieg des
ausgehenden Mittelalters, fährt auf einer Straße, die sich Napoleon verdankt,
passiert den magischen Wald Broceliande, in dem Merlin begraben liegt, und
schaut in die kosmischen Abgründe des Isenheimer Altars in Colmar. Zwischen
diese Betrachtungen eingeschaltet finden sich Reportagen von 1949. In der
Normandie stößt er auf Flauberts Spuren, Flaubert, der von einem anderen
Autor sprach als „Adler, der nur eine Gans“ sei. Nucera zitiert daraufhin die
Auszug aus:
Elmar Schenkel, CYCLOMANIE – Das Fahrrad und die Literatur
Edition Isele, Eggingen 2008, ISBN 978-3-86142-448-2
Adler der Straße: Kint, der schwarze Adler, Kübler, der Adler von Adliswile, oder
Bahamontes, der Adler von Toledo. Die Rennheroen verdienen einen Platz ne-
ben den Autoren, sie alle sind Künstler vor Gott, so hat es ihn sein Großvater
gelehrt. Ein geheimes Vorbild mag ihm Maurice Leblanc sein, an den er sich
bei Rouen erinnert. Der war nämlich auch Cyclist und fuhr so manches Ren-
nen. Als er die Tour de Bretagne gewann, überreichte man ihm als Preis ein
Tandem. Aber er sollte es nie benutzen, weil er der Meinung war, dass der
Radsport ein einsamer Sport sei. Auch Leblanc ging mit seinem Rad auf die
Suche nach literarischen Orten. Sie waren ihm Zugang zu erträumten Aben-
teuern. Er glaubte auch daran, dass das Fahrrad fliegen könne: Es ist unser
Flugzeug; dies kann man in seinem Roman Voici des ailes! nachlesen.
Nucera lässt sie alle auferstehen, die Literadler: Émile Ciorans Radtouren
durch Frankreich in den frühen Jahren nach seiner Emigration aus Rumänien,
Marcel Pagnol in der Provence, den jungen Arthur Rimbaud, den Léon Bloy
als einen „mörderischen Radfahrer“ bezeichnete, obwohl er vielleicht nie auf
dem Fahrrad saß; den heiteren Faizant und seine Albina ebenso wie Nabo-
kov. Bei Cannes kommt die Erinnerung an den Polen Gombrowicz, der sich
beim Radfahren einmal so mit Wein erfrischte, dass er bei der Ankunft nicht
mehr wusste, wie er von seinem Rad wieder herunterkommen sollte. So kreiste
Le Tour de France Die große Schleife
Jahr der ersten Rundfahrt durchschnittlicher Kalorienverbrauch beim 13,8km langen Anstieg nach L’Alpe d’Huez
Anzahl der Bananen, die diesen Verbrauch decken
1903
10 000 kcal
76
BEWEGUNG: PUT ME BACK ON THE BLOODY BIKE
Fahrradmechaniker hassen zwei Dinge: dreckige Fahrräder und Fahrer, die ihnen über die Schulter schauen wollen.
Text: Marius Hanf Bild: BAR
Die meisten Dinge gehen irgendwann kaputt. Fahrräder sind da keine Ausnahme, im Gegenteil: Ein
mehr oder weniger modernes Rad besteht mittlerweile aus so vielen Teilen, dass es nur eine Frage
der Zeit ist, bis das erste seinen Dienst aufgibt. Aufgrund der, mit der Anzahl der Teile proportional
ansteigenden Komplexität des Fahrrads, braucht es solche, die es wieder richten können. Solche
vom Fach, nämlich die Spezies der Zweiradmechaniker, ist eine sehr eigene.
Der erste, mir bewusste Kontakt mit denen vom Fach, liegt in meiner Erinnerung etwa 13 Jahre
zurück. Hierzu sollte man wissen, dass sich die Umstände des ersten Kontakts innerhalb eines
Rahmens bewegen, der vielen Menschen, die in jungen Jahren mit dem ambitionierten Fahrradfah-
ren begonnen haben, bekannt ist. Mit starker Überzeugungskraft, untermauert durch körperliche
Versehrtheit in fahrradspezifischer Form (aufgeschürfte Knie, Ellbogen, von Pedalen malträtierte
Schienbeine), hatte ich meine Eltern von der Wichtigkeit des Strampelns überzeugt. Nach Plün-
derung eines, eher auf die ferne Zukunft ausgerichteten Sparkontos, war es da: ein gebrauchtes,
aber dennoch gut dastehendes Cannondale SuperV. Ein für damalige Verhältnisse hochgezüchte-
tes Rennpferd, ein Ferrari in den Händen eines 18jährigen, der die Führerscheinprüfung zwei Wo-
chen zuvor bestanden hatte, ein Steinway unter den Fingern eines Klavierschülers in der ersten
Unterrichtsstunde. Kurz gesagt: zuviel Maschine für damals zu wenig Ahnung, aber unermesslich
viel Ambition und Tatendrang.
An einer Tatsache hat sich in der Geschichte des modernen Rades nichts geändert: Beim Kauf
funktioniert alles tadellos. Die Kette wandert präzise über die unverbraucht glänzenden Ritzel, die
Tauchrohre der Gabe gleiten bei kleinsten Erschütterungen in die Standrohre und federn ebenso
geschmeidig wieder aus. Kein Knacken, kein Rattern, nur das monotone Surren des Freilaufs in
Einklang mit dem Rauschen des Untergrunds, auf dem die tiefschwarzen, noch weichen Stol-
len des Reifens ihre Zeichnung hinterlasssen. Es läuft einfach, nichts erinnert an die komplexe
und anfällige Mechanik der Maschine – zunächst. Veränderungen kommen meist unvorbereitet,
besonders wenn man im jugendlichen Leichtsinn keinen Gedanken an Kundendienst oder gar
Verschleiß verschwendet. Bis, ja bis es passiert.
Bei mir war es das Schaltwerk. Jenes insektenhaft anmutende Gebilde, das am hintersten un-
teren Ende des Rahmens hängt, und von dessen Funktion das Schalten und Walten maßgeblich
abhängt. Aufgrund ihrer exponierten Lage brechen Schaltwerke bei Stürzen gerne ab oder treten
in Streik und wickeln sich um die Ritzel, um dann sogartig in den Drehpunkt des hinteren Lauf-
rades gezogen zu werden. Egal wie – es ist immer schlecht, wenn ein Schaltwerk seinen Dienst
aufgibt..
So geschehen, trat ich meinen ersten eigenverantwortlichen Gang in eine Fahrradwerkstatt an.
Und da traf ich sie, die Spezies Mechaniker. Grundskeptisch, verständlicherweise. Nie hat der
Fahrer irgendwas gemacht, das Rad stellt seine Funktion grundsätzlich eigenmächtig ein, ge-
stürzt wird nicht, falsch behandelt auch nicht und selbst Hand angelegt schon gar nicht („an der
Schraube war doch jemand dran, so sieht das normalerweise nicht aus“ – „nein, ich hab‘ da nicht
rumgeschraubt, ein solches Werkzeug besitze ich gar nicht!“). Keine Überraschung dass sich auf
der Stirn des Mechanikers tiefe Falten der Skepsis abzeichneten, als der 12-jährige Halbstarke
Von denen, die Mechanik am Laufen halten
mit der Venus der Fahrräder die Werkstatt betrat. Ebensogut hätte ihm ein 12-jähriger Kate
VOM FACH
BEWEGUNG: VOM FACH
Moss als seine neue Freundin vorstellen können. Dieses Rad war zu jenem Zeitpunkt überdimen-
sioniert für mich. Und das ließ er mich spüren. Ein Gefühl der ahnungslosen Beklommenheit, das
ich heute noch in Autowerkstätten empfinde, da sich hier meine Kompetenz, im Gegensatz zu der
gegenüber Zweirädern, in den letzten Jahren meines Daseins als Autofahrer nicht weiterentwickelt
hat. Weil es bei den meisten Menschen Verunsicherung hervorruft, wenn Ahnungslosigkeit und
Kosten aufeinandertreffen.
Er entsprach dem Typ Harley-Davidson-Fahrer. Mit großen, rissigen und ölverschmierten Hän-
den, die von vielen Jahren der Schrauberei zeugten, packte er die Patientin und hob sie in seinen
Arbeitsständer, umringt von Werkzeugen die mit chirurgischer Präzision nach Größe, Funktion
und Bedarf an der Wand angebracht waren. Nachdem er das nicht mehr zu rettende Schaltwerk
vom Träger, dem Schaltauge, entfernt hatte und mich aus seinem Aktionsradius ausgeschlos-
sen hatte (Fahrradmechaniker hassen zwei Dinge: dreckige Fahrräder und Fahrer die „über die
Schulter schauen wollen“, dabei aber nichts anderes Sinnvolles tun, als im Weg zu stehen), griff
er zu einem seltsam anmutenden Werkzeug – der renommierte Werkzeughersteller Park Tool führt
es unter „Derailleur Hanger Alignment Gauge“ auf – und schraubte es in das Gewinde, in dem
vorher das Schaltwerk verschraubt war. Das Derailleur Hanger Alignment Gauge, oder einfacher:
Schaltaugerichtwerkzeug, oder noch einfacher: das lange Ding um das Schaltauge wieder gerade
zu biegen. Das lange Ding besitzt am Ende ein Gewinde, mit dem es in das Schaltauge geschraubt
wird, um das es sich dann in einer Kreisbahn frei drehen lässt - Am anderen Ende sitzt eine ver-
schiebbare Messlehre. Erst wenn diese an jedem Punkt auf der Kreisbahn den gleichen Abstand
zur Felge hat, ist das Schaltauge wieder gerade. Der lange Hebel vereinfacht zudem das Biegen
des Metalls.
Diese Kombination aus feiner Messung und groben Richten scheint auf den Mechaniker eine
ungeheuerliche Faszination auszuüben, denn er führt diesen kurzen Handgriff in einer Art Kon-
templation aus, die ich zu diesem Zeitpunkt nicht nachvollziehen konnte. Nach getaner Arbeit
wanderte das Werkzeug zurück an seinen dafür vorgesehenen Platz an der Wand, umgeben von
einem mehr als würdigen Weissraum zu den umliegenden Operationsinstrumenten. Für das Rich-
ten von gebrochenen Schaltwerken gibt es bis heute leider keine Werkzeug und hier tritt nun die
berufsbedingte Gelassenheit des Mechanikers zutage. Meiner damaligen Unsicherheit und vor
allem Unwissenheit auflaufend, hatte ich keine konkrete Vorstellung davon, in welchem Preisseg-
ment sich ein Schaltwerk so grob bewegt. „Wenn‘s kaputt ist, muss man es austauschen“, damit
hatte er natürlich völlig Recht, und wenn man schon Ferrari fährt, sollte man bei der Wahl eines
Ersatzteils auch nicht allzu knickrig sein, man fährt ihn (oder in diesem Falle sie – Fahrräder sind
weiblich, das ist eine Tatsache und von daher auch nicht Ausgangsbasis einer Diskussion) wegen
der Performance. Und diese wiederum ist eine Summe der Einzelkomponenten.
Meine Entscheidung fiel damals auf ein Sram Schaltwerk, nicht auf ein Shimano, was auf-
grund von Übersetzungsverhältnissen sowie Kompatibilität vorhandener Teile und gewissen,
ungeschriebenen ethischen Grundsätzen in der Wahl von Komponenten (Fahrradfahren ist die
fundamentalistische Ausprägung einer Religion), geschuldet war. Der Mechaniker bedenkt, nein,
weiß das einfach und ebenso wusste ich es von diesem Zeitpunkt an.
BAR MAGAZINE 42 43
Nach getaner Arbeit wanderte das Wekzeug zurück an seinen dafür vorgesehenen Platz an der Wand, umgeben von einem mehr als würdigen Weissraum zu den umliegenden Operationsinstrumenten.
Uwe Ulrich, 43 – Bike World Brand –
ParkTool Bottom Bracket Tapping & Facing Set BTS–1
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BEWEGUNG: VOM FACH
BAR MAGAZINE 46 47
Martin Endres, 34 – Bikestore –
ParkTool Rotor Truing Fork DT–2C
BEWEGUNG: VOM FACH
Sven Hartmann, 29 – Bike World Brand –
ParkTool Bottom Bracket Tool BBT–4
BAR MAGAZINE 48 49
BEWEGUNG: VOM FACH
BAR MAGAZINE 50 51
Michael Herbig, 26 – FX Sports –
ParkTool 3 Way Hex Wrench AWS–3
BEWEGUNG: VOM FACH
Text: Claudia Sussmann Illustration: BAR
ton übergeht, um sich – auf dem Hintergrund von Blau (Bluterguss) oder
Schwarz (Fäden, in der Regel 4 bis 5 Stiche) in ein warmes Karmesinrot zu
verwandeln - wie ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert (vgl. dazu J. M. W.
Turner : Schneesturm – ein Dampfer vor einer Hafeneinfahrt gibt Signale
in der Untiefe und bewegt sich nach Lot. Tate Gallery, London). Merfen
Orange – Desinfektionsmittel (Hausapotheke). Ein befriedigendes Wasch-
ergebnis für Kopfkissenbezüge konnte nie erzielt werden.
Es herrscht eine erdrückende Stille im Raum, ehe das Telefon klingelt.
Das leichte Zittern in den Händen, wenn ich die Gesprächstaste drücke.
Das tiefe Atmen am Ende der Leitung. „Mama, ich bin’s, wir sind in der
Notaufnahme.“ Der Moment, in dem das Herz einen Takt lang aussetzt – er
kann sprechen, weiß noch, dass ich seine Mutter bin – keine temporäre
Amnesie, ist doch was! Aber wenn nicht er, wer dann?
Die Zeitverschiebung Kanada-Europa beträgt 9 Stunden. Es klingelt
nachts um Zwei......Andere Eltern verschenken zum Abitur einen Bauspar-
vertrag.
Was für ein Drama bis zum Abschrauben der Stützräder. Und jetzt bin ich
stolz auf ihn.
Es gibt Menschen, die den Regen nicht mögen. Ich mochte den Regen
schon damals – mag ihn immer noch – obwohl ich, seitdem er ausgezogen
ist, nicht immer weiß, was mein Sohn bei diesem Wetter macht. Regen ver-
ursacht ein ausgeglichenes Muttergefühl. Starker Regen. Mehr noch als
ein selbst gebasteltes Herz zum Muttertag.
An den besten Wochenenden, an denen gerade kein Muttertag war, bin
ich morgens von einem beruhigenden Plätschern geweckt worden. Nicht
dieses leise, sanfte Prasseln, das Regentropfen verursachen, wenn sie
auf Blätter fallen – das konnte ihn niemals abhalten. Es musste dieses
gewisse Rauschen sein, ein kraftvoll anschwellendes Geräusch wie es
kleine Gebirgsbäche in den Bergen machen, so blau vor Kälte. Denn dann
wurde nicht gefahren, dann wurde nur gegraben.
Nur Graben bedeutete nicht mehr tragbare Turnschuhe, bis zur Un-
kenntlichkeit entstellte Klamotten und eine weitläufige Schlammspur (Kü-
che – Kühlschrank – Fernsehzeitung - Badezimmer). Keine große Prüfung
für echte Muttergefühle. Auch dann nicht, wenn man gerade gewischt
hatte. Was willst du, er lebt!
Es gibt ganz intensive Nuancen der Farbe Orange. Ein changierendes
Farbspiel, das von einem leuchtenden Gelb sanft in einen leichten Violett-
Über die innere Bewegtheit einer Mutter
MUTTERGEFÜHLE
BAR MAGAZINE 52 53
MUTTERGEFÜHLE
Bild: Benjamin Asher & Felix Volkheimer & BAR
Bewegung hinterlässt Spuren – nicht nur am Menschen
NARBEN INALUMINIUM
BAR MAGAZINE 54 55
BEWEGUNG: NARBEN IN ALUMINIUM
56 57BAR MAGAZINE
FU N F M ET R D RO P, VO LL E I N G SCH LAG EN , F D RU N G D U CH G SCH LAG E .U B ER D N LEN KR ABG ESTI EN .BAM M – H RTERI M PACT.
BEWEGUNG: NARBEN IN ALUMINIUM
Z SCH N LL RAUS A S D ER K RVE U N D D N N V LL A F D ENBAU M ZU ESTEU E T U N DAN NPAM M — VO N 4 0 KM/ AU F N LL .
58 59BAR MAGAZINE
BEWEGUNG: NARBEN IN ALUMINIUM
ZU K RZ G EFL G EN U N D:
PENGH I NTEN V LL
HAEN G N G B LI EB N .
60 61BAR MAGAZINE
BEWEGUNG: NARBEN IN ALUMINIUM
Text: Philipp Hartung Illustration: BAR
Das Fahrrad in modernen Gesellschaftsformen
MORGENS, MITTAGS, ABENDS
Der Wind ist noch kühl, die Sonnenstrahlen tauchen die Baumkronen und
Palmspitzen in ein warmes Gelb, leichter Nebel zieht über den feuchten Teer.
Erst wenn die Sonne lange Schatten zwischen die Häuser und Straßen
zeichnet und die ruhigen Wellen ein funkelndes Band entlang der Küste ziehen
beginnt der Tag. Es verbreitet sich milder Teegeruch, es wird Kaffee gemahlen
und spätestens die Einbildung lässt selbst das Zerschlagen frischer Eier in
der Ferne erklingen. Es wird für einen Moment in Ruhe gefrühstückt. Vor
dem Haus an der nächsten Straßenecke, für gewöhnlich immer gleich, ein
Nicken zur Bestellung genügt. Licht und Luft werden langsam klarer. Es
muss ein angeborener Instinkt sein, den Vereinzelte auf natürliche Weise mit
sich tragen. Sie nehmen die Veränderung als erste wahr, reagieren gelassen
und steuern so ohne für Aufruhr zu sorgen. Sie werfen einen Blick zum Meer
und verschwinden dann in die Gasse, aus der sie gekommen waren und
geben so das Signal. Es wird ihnen unaufgeregt gefolgt, es wimmelt gehörig
in alle Richtungen. Die Region ist hügelig, sanfte Berge schmiegen sich um
die große Stadt. Zur einen Seite liegt ein endloser Strand unterbrochen von
vereinzelten Buchten und felsigen Landzungen. Das Herz der Stadt ist eine
immer geschäftige Hafenanlage.
Nun beginnt ein Surren. Wachsende Ströme ziehen sich durch die
Straßenzüge. Der Moment scheint der richtige gewesen zu sein. Kaum
treffen immer größere Gruppen an den Mündungen der Küstenstraße ein,
frischt der Wind auf. An der Spitze vertraute Gesichter. Sie kennen ihre Insel,
wissen um die Kraft des Meeres, welches sie umgibt und den Einfluss der
großen Gemeinschaft, die nun mit ihnen fährt. Es sind Hunderte, die sich bei
gleichbleibender Geschwindigkeit formieren und den Rückenwind bis in die
Spitze passieren lassen.
Sie sind sich des einzigartigen Phänomens bewusst. Aus der Legende von
den Winden, die über Jahrhunderte nicht zu verstehen und nicht zu nutzen
schienen und nun durch eine einfache Technik zum Lebensmittelpunkt der
Menschen wurden. Die Bewohner beginnen mit Fahrrädern ihre Insel zu
umrunden, getrieben von einem Wind, der ihnen folgt, sie beflügelt und alle
Regeln der Gezeiten und Gestirne auszusetzen scheint. Der Schwarm löst
einen Impuls aus und beeinflusst während der Rundfahrt den gesamten
Kreislauf. Nahezu geräuschlos treten die Inselbewohner unangestrengt in
die Pedale, fahren die gleiche Übersetzung, die Umwerfer ruhen, es wird
nicht geschaltet, nicht gebremst und nicht im Leerlauf gerollt. Der dumpfe
Rhythmus einer Massenbewegung, die nicht stampft, sondern tritt und nur
über rollende Räder in einer Verbindung zur Erde steht, zieht den Wind an
und die Strömung des Meeres mit sich. Sie genießen die positive Energie
ihrer morgendlichen Ausfahrt, lächeln sich zu, werfen einen Blick in die
vorbeiziehenden Täler oder lassen die Gedanken übers Meer schweifen. Es
geht in die immer gleiche Richtung um die Insel herum, das bestimmt der
morgendliche Wind, den es im richtigen Moment zu erwischen gilt. Doch die
Gesichter um sie herum wechseln stetig neben bekannten Konstanten. Die
erfahrenen Fahrer haben das Gespür im exakten Moment aufzubrechen,
sich aufs Rad zu schwingen und die Bewegung zu kanalisieren.
Die Insel ist umrundet bevor der Wind wieder nachlässt und die Sonne
ihre ganze Wärme entfaltet. Der Hafen ist erreicht und die Rundfahrt klingt
langsam aus. Ein weiterer Tag im Gleichgewicht des Energiehaushalts
beginnt für die Insel und ihre Stadt. Die Menschen klinken sich langsam aus
der großen Gruppe, verschwinden in ihre Straßen und Gassen, ändern das
Tempo im Anstieg oder bergab. Für die Meisten bleibt noch Zeit für eine kurze
Ruhepause vor dem Start in den weiteren Tag.
Der neue Alltag entspricht einer
Mischung aus den Dingen, die wir
aus unserem Privatleben gewohnt
sind und aus all jenen, die uns an
den verschiedenen Arbeitsplätzen
prägen. Wir sind stetig gewachsen,
aus dem damaligen Familienbetrieb
wurde eine Firma aus Dorfbewohnern,
dann ein angesehenes Unternehmen
mit immer größerem Kundenstamm
und einer zunehmenden Zahl an
Zeitarbeitern aus der Region. Doch
es gab immer mehr zu tun, die
Nachfrage war damals enorm, die
Arbeiter kamen von weit her, blieben
über Nacht oder zogen schon bald
mit ihren Familien zu uns. Unser
Gelände verlegten wir nicht weit
BAR MAGAZINE 62 63
BEWEGUNG: MORGENS, MITTAGS, ABENDS
vom Stadtkern in ein ruhiges Tal. Die Arbeiter folgten uns und erbauten rings
um unsere Produktionshallen ihre Häuser, Hütten und auch Gärten. Alles
nah beieinander. Es entstand ein Kindergarten, dann eine Schule. Bauern
verkauften ihre Waren direkt aus ihren herangekarrten Kisten. Jeder kam und
ging pünktlich. Doch mit der neuen Lebensweise, der Enge zwischen privatem,
und öffentlichem Lebensraum unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaften,
musste eine neue Ordnung entstehen, ein neuer Alltag. Wir erinnerten uns an
einfache Beispiele der Gruppe, der Demut und des Gleichgewichts.
Während der Regenzeit teilen sich die Menschen die Regenschirme.
Verlässt man sein Haus, greift man zum Schirm. Betritt man die Firma, einen
Laden oder ein Cafe, steckt man den Schirm in einen der Ständer vor den
Türen und Toren. Ein Schirm ist kein persönlicher Gegenstand, sondern
“draußen” abstellen muss. Es macht viel Freude zu beobachten wie geschickt
alle Generationen mit den Rädern umgehen. Spielerisch und unangestrengt,
manchmal in engem Körperkontakt, Schulter an Schulter in ganzen Gruppen.
Die Älteren legen den Jungen ihre Besorgungen auf die Gepäckträger, wenn
sie sie aus der Nachbarschaft kennen. Der temporäre Besitz eines Rades
wird durch Gepäck markiert.
Um diesen Alltag des Öffentlichen und Privaten der Menschen in unser
Unternehmen weiterzuleiten, begannen wir einfach nur das was uns
vorgelebt wurde in eine wirtschaftliche Sprache zu übersetzen. In alter
Tradition durchwandern wir in unserem Arbeitsleben alle Stationen, die es
im jeweiligen Betrieb gibt. Der gelernte Buchhalter arbeitet für eine gewisse
Zeit an den Maschinen in der Produktion, dann an der Packstation im
Teil der Gemeinschaft, und für den
nächsten bestimmt, der hinaus auf
die Straße geht. So taucht man sich
mal in den trockenen Schatten eines
Pink, mal in ein Gelb oder Blau. Ein
kleines Beispiel, welches uns dabei
half, Ideen für die Ordnung neuer
Strukturen zu entwickeln. Es galt
unser Tal in Umsicht und Einklang
zu halten, das Unternehmen tiefer
in unseren Organismus einzubinden
und den Gemeinsinn beizubehalten.
Fahrräder begleiten die Men-
schen auf nahezu all ihren Wegen.
Sie gehen nicht neutral damit um,
sondern behutsam, denn wie sie das
eine Rad hier abstellen, wollen sie
das andere auch dort vorfinden. Das
Fahrrad als unkomplizierter Freund
Versand. Der Manager fährt eine Zeit
lang Waren aus oder teilt sich die
Lasten mit anderen am Band in der
Mengenanfertigung. Selbst der Koch
wird zum Gärtner und umgekehrt. Wir
lernen dabei viel und bleiben unserem
Arbeitgeber gerne lange verbunden.
Bei einem großen Unternehmen hat
man ein Leben lang eine spannende
Reise vor sich. Zum Großteil üben
wir unsere spezialisierten Berufe
aus. Die Mischung aus unserem
Privatleben und der Arbeit, die
eine neue Alltagswelt in unser Tal
brachte, führte uns ganz von selbst
zu der Idee, dieses Mischen als
stetige Bewegung wahrzunehmen.
Das wechselnde Arbeiten in der
Gemeinschaft und die pünktlichen
hat uns gelehrt, dass es die Menschen um uns herum und an ihren und
unseren Arbeitsplätzen in Fortbewegung und Fortschweifen, Erreichen und
Entspannen vereint. So haben wir begonnen, die Tore zu öffnen, luftigere
Gebäude zu bauen und Straßen und Gassen alternativ erlebbar zu formen.
Es gibt eigentlich keinen konstanten Autoverkehr. Ein paar Transport-
fahrzeuge, keine Motorräder oder Roller. Es wäre uns zu laut und würde
unser Unternehmen unnötig Energie kosten und wir müssten uns Gedanken
zur Verbesserung der Luft machen. Wir haben den Regenschirm weit
aufgespannt und große Segel über den Straßenzügen angebracht. Es gibt
viele offene Gebäude, sodass man nicht immer gleich eines seiner Räder
Wechsel von Arbeit und Freizeit, legen wir mit Fahrrädern zurück. Schnell
und flexibel bevorzugen wir den persönlichen Kontakt, treffen mit dem Rad
aufeinander oder drehen unsere Runden. Ein paar Schrauben und Muttern,
etwas Schmiere und Luft in den Reifen. Wir sind ein Kollektiv und vereinen
Freizeit und Arbeit, Privates und Beruf. Wir sind eine Zweiradgesellschaft!
Nehmen Sie nach dem Mittagessen noch einen Kaffee oder Tee? Wir
haben noch etwas Zeit, ich glaube in unserer Gasse sind gerade alle Räder
ausgeflogen.
Es gibt eine Straßenverkehrsordnung, die erlaubt, ein kleines weißes und ein
kleines rotes LED-Lämpchen für Fahrräder unter 11 Kilo zu benutzen. Es
BAR MAGAZINE 64 65
geht nicht darum, die Stadt des Nachts mit fetten Strahlern um ein Weiteres
zu erhellen, sondern nur, um auf sich selbst aufmerksam zu machen. Es geht
darum, zu blinken, zu flimmern, aufzufallen, und nicht zu Fall gebracht zu
werden. Es geht darum, am Fluss teil zu nehmen und nicht zerteilt zu werden.
Es geht um viel Strecke in kurzer Zeit. Nachts. Es geht los.
Ein paar Meter Gehweg, Klamotten und Rucksack zurecht rütteln und
zuppeln, keine Brille, kein Helm, freie Sicht, uneingeschränkte Sinne. Rechts
ab, schmale Dreißigerzone, eine Bar zur Linken und jede Menge glitzernder
Glasscherben. Kurz ausgewichen, den Schwung aus dem Schlenker
mitnehmen, Geschwindigkeit weiter aufnehmen. Kleine Kreuzung, links. Weiter
eine ruhige Dreißiger. Am Ende rechts, Verkehr und Straßenbahnschienen.
Ein Traum. Rechts der Schienen zu fahren wäre zu gefährlich aufgrund
War da eine Seitenstraße mit Ampel...? Kreisel. Rein, erst dritte wieder raus,
Radweg außen am Rand, schnell nach innen ziehn, in die Kurve legen, aber
Tempo erhöhen, zwischen einfädelnden Autos ausfädeln, raus, Dreißigerzone,
zwei harmlose Ampeln, dann enge hochbelebte uneinsichtige Kreuzung, plus
viele Fußgänger. Rot. Aber rechts abbiegen, also in Autos von links kommend
einreihen, Fußgänger warten. Zebrastreifen, links an allen wartenden Autos
vorbei, vorne Schlenker nach rechts, größte Lücke zwischen zwei Gruppen.
Nächster Kreisel, mit Ampeln, U-Bahn-Trasse obendrüber, laut, also schneller
Rundumblick, einfädeln, dann: Rot. Auf die Kreiselinsel springen, Schwung
halten, jetzt: Rot für alle, weiter. Gerade, Radweg rechts, aber zweispurige
Straße in beide Richtungen. Zweimal angehupt auf 300 Metern. Schon
gut. Ampel. Grün! Weiter. Brücke, Ampel, Grün! Wahnsinn. Lange Gerade.
aufschnellender Türen parkender
Autos. Also zwischen den Schienen,
Autos im Nacken, Fünfzigerzone,
also bis zur nächsten Ampel Tempo
mitgehen. Noch Grün und rechts
vorbei mit den Linksabbiegern
die Linkskurve nehmen. Über die
entgegenkommenden Schienen.
Trocken, also nicht rutschig. Nur
ein paar Meter später springt
ein Fußgänger über die Straße,
Autos bremsen, Schlenker, Tempo
halten. Kleine Kreuzung, Rot, aber
kein kreuzender Verkehr, kurz
rollen, weiter. Große Kreuzung,
vierspurig, in der Mitte Busspuren,
drei Fußgängerampeln, wenn
die ersten beiden grün werden,
reicht ein schneller Antritt um
Unzählige Zweitereiheparker. Tempo.
Ausscheren, Einfädeln, Auss., Einf.,
A., E. Letzte Richtungsänderung.
Eigentlich. Großer Platz, Kreuzung
davor, eben rot geworden. Linke
Spur, Lücke für U-Turn, durch,
kein Gegenverkehr, schmale
Gasse zur Linken, knallhartes
Kopfsteinpflaster, Tempo lässt nach,
Motivation auch, Konzentration –
fast. Sehr knapp. Hund hat sich
mehr erschrocken. Rechts ab, kleine
Kopfsteine, Kreuzung umfahren,
jetzt nach links, von links kommt
nichts, schonmal in die Mitte und von
links nach rechts in den fließenden
Verkehr. Letzte Gerade. Eigentlich
zweispurig in beide Richtungen, aber
keine Fahrbahnmarkierungen. Immer.
die dritte rot zu nehmen, bevor dort die Autos Grün bekommen. Vorbei am
Taxistand, Zigarettenrauch und Langeweile. Baustelle mit Gehwegsanierung,
umgestürzte Absperrgitter, drüberspringen, schöner neuer Teer. Riesen
Kreuzung, extra Fahrradwege und Ampeln, irgendwie immer rot, übersichtlicher
sich kreuzender Autoverkehr, diagonal durch, lange Gerade, zwei Ampeln
in Wohnviertel, grün? Rot? Nächste Kreuzung, sollte nicht ausbremsen,
kurzer Anstieg direkt danach. Schmale Hauptverkehrsroute, Transporter
parkt entgegen links, Autos überholen, face to face, Fußgänger will von
rechts über die Straße, macht den ersten Schritt, Auto noch frontal beim
überholen. Knapp. Dazwischen durch. Unübersichtliche Kreuzung, Sirene,
Krankenwagen, alle bleiben stehen, demnach alles frei. Ewig lange Gerade.
Das macht’s interessant. Bäume vor Straßenlaternen, dunkler. Parkplätze in
der Straßenmitte, Ausparken rückwärts. Zweite Reihe rechts. Ausscherender
Bus rechts, Antritt zum Duell, Autos bremsen, Bus nimmt das Duell an,
die Lücke links vom Bus hat noch 60 Zentimeter. Im Stehen Gas geben,
Schwanken, still halten, vorbei gedrückt, Bus gibt Lichthupe, dazu süßlicher
Geruch der Wasserpfeifen vom Gehweg. Knapp. Schweiß. Grinsen. Jede Ampel:
hinrollen, im Stehen umschauen, neuer Antritt, weiter. Linksabbiegerspur,
Gegenverkehr, bremsen, auf dem Rad stehen bleiben, weiter, auf den Gehweg,
schwarze Hundeleine vor schwarzem Grund, Vollbremsung. Entschuldigender
Blick. Noch drei Meter rollen. 18 Minuten.
BEWEGUNG: MORGENS, MITTAGS, ABENDS
BAR MAGAZINE 66 67
Text: Ben Gordon Bild: BAR
WIESOEIGENTLICHSCHAUFELN?Über den Wahn der Erdbewegung und dessen ästhetische sowie ökologische Folgen
BEWEGUNG: WIESO EIGENTLICH SCHAUFELN?
Das Bewusstsein
Ich denke das Schaufeln zumindest bei abfahrtsorientiertem Mountainbiking
eine logische Konsequenz der Entwicklung des Sports ist. Der technische
Fortschritt der Fahrräder in den letzten 10-15 Jahren führt immer mehr dazu,
dass das Terrain der limitierende Faktor ist. Wenn man sich also fahrerisch
weiterentwickelt, kommt man irgendwann an den Punkt zu sagen: “Also hier
müsste doch ein Sprung hin und am besten auch gleich `ne Landung.“
Und schon steckt man drin im Kreislauf. Denn nach der Landung braucht
man natürlich auch eine vernünftige Kurve. Und bei der Gelegenheit baut man
gleich noch eine trickreiche Anfahrt für den Originalsprung, der ja mittlerweile
an Spannung verloren hat. So bedingen sich Fahrerlebnis und Schaufelak-
tivität gegenseitig. Man fährt plötzlich sämtliche Strecken mit einem anderen
Bewusstsein für die Details, geht mögliche Veränderungen im Kopf durch und
setzt sie (teilweise) dann auch um. Das Schaufeln wird zum Bestandteil des
Sports und die beiden Elemente verschmelzen.
1 2Die Stille
Genau wie Rad fahren kann auch Schaufeln meditativ wirken. Man geht einer
simplen, körperlich anstrengenden Tätigkeit nach und hat dabei einen engen
geistigen Fokus, der nichts mit irgendwelchen weltlichen Problemen zu tun
hat. Es gibt nur eine Richtung: Das nächste Projekt strebt der Vollendung
entgegen und jeder Spatenstich trägt dazu bei. Dazu noch Vogelzwitschern/
Regentropfen/blühende Bäume/manchmal auch nervige Moskitos. Eine vor-
treffliche Mischung.
Man kommt entspannt nach Hause, freut sich auf’s nächste Mal und kann
in der Zwischenzeit ein bisschen rumfantasieren über die zukünftigen Pro-
jekte, die noch anstehen.
Ein Erklärungsversuch
„Hätten nicht ab und zu halbwilde Mountainbiker [...] mit ihren supermodernen Geräten nichtsahnende Spaziergänger auf den Waldwegen fast über den Haufen gefahren, wäre der Parcours für Extremradfahrer [...] bis heute nicht entdeckt.“ eine fränkische Tageszeitung vom September 2009
Fahhradstrecken zu bauen ist sicher nicht die erste Aktivität, an die Außenstehende denken, wenn sie etwas über Mountainbiking hören. Die meisten denken eher
an Naturerlebnis, Lycraoutfits und ausgemergelte Fitness-Freaks. Wieso also verbringe ich mittlerweile einen Großteil meiner Freizeit alleine im Wald mit verschiedenen
Gartenbaugeräten und schaufle tonnenweise Erde hin und her?
Obwohl der Streckenbau natürlich eine ganzheitliche Aktivität ist, werde ich versuchen, die einzelnen Aspekte etwas auseinander zu halten:
BAR MAGAZINE 68 69
BEWEGUNG: WIESO EIGENTLICH SCHAUFELN?
BAR MAGAZINE 70 71
MANCHMAL UEBERLEGE ICH, OB ICH NICHT CARDIO-LANDSCAPING KURSE FUER GESTRESSTE BUEROMENSCHEN ANBIETEN SOLLTE, DIE DANN UNTER MEINER LEITUNG IN ERGONOMISCH KORREKTER HALTUNG AN STRECKEN SCHAUFELN KOENNTEN.
BEWEGUNG: WIESO EIGENTLICH SCHAUFELN?
~ Rat Für Formgebung ~
BAR MAGAZINE 72 73
3
5
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6
Die Leibesertüchtigung
Konsequentes Schaufeln ist schwere Arbeit. Der Puls ist über 120, die Mus-
keln schmerzen. Richtiger Sport also. Vielleicht von der Belastung etwas ein-
seitiger als ein Fitnessstudio, dafür aber auch ohne Augenbrauen-gezupfte
Debil-Hedonisten, die zu Techno-Musik abhampeln oder ihre Steroid-Akne-
übersähten Oberarme im Spiegel betrachten. Die Motivation ergibt sich aus
dem sichtbaren Ergebnis der Arbeit, die Zeit vergeht wie im Flug. Manchmal
überlege ich, ob ich nicht „Cardio-landscaping“ Kurse für gestresste Büro-
menschen anbieten sollte, die dann unter meiner Leitung in ergonomisch
korrekter Haltung an der Strecke schaufeln könnten. Die erste Lektion wäre
sinnvollerweise das Erlernen des sogenannten „Switch-Schaufelns“, also der
Handwechsel auf die schwache Seite. Der Rücken dankt es einem am Abend.
Ich würde natürlich attraktive Einsteigertarife anbieten.
Die eigene Entwicklung
Leider bringt nicht jede Region der Erde die geographischen und demographi-
schen Gegebenheiten der kanadischen Westküste mit sich. Falls es einen in
eine, sagen wir mal, strukturschwache Mountainbike-Region verschlägt hat
man verschiedene Möglichkeiten, damit umzugehen. Man kann sich endlos
darüber beschweren, wie mittelmäßig/unfahrbar/langweilig die örtlichen Trails
sind. Dann bleibt nur noch, die Sportart zu wechseln oder schnellstmöglich
umzuziehen (glaubt mir, ich habe alles versucht). Oder man wird aktiv, denn
Erde ist überall gleich beweglich. Wer hierzu bereit ist, kann überall seine
Fahrkünste und seine Umgebung verbessern. Ganz ohne Westalpen / Coast
Mountains / Hochschwarzwald, die müssen sich halt ein wenig gedulden.
Geheimhaltung vs. Service für die Szene
Beim Schaufeln merkt man schnell, wer es wie ernst meint. Oft kommen inte-
ressierte Mitschaufler ein bis zwei Mal mit und merken dann, was für Kno-
chenarbeit dahinter steckt und werden nie wieder gesehen. Daran kann man
natürlich nichts ändern, aber ich finde es immer ein bisschen schade, wenn
die Leute den offensichtlichen Benefiz dieser Tätigkeit nicht erkennen. Oder
begeisterte Kids wollen sich beteiligen und bauen irgendeinen Murks zu-
sammen, reißen ihrer Meinung nach zu schwere Hindernisse wieder ein und
lassen ihre Supernintendo-Hüllen (oder was auch immer die Jugend heute
so treibt) im Wald liegen. Das ist natürlich nervig, aber jeder war mal 15 und
vielleicht entwickeln sich ja einige später zu richtigen Streckenbauexperten,
also immer schön nett und geduldig sein.
Das Karma
Natürlich führt das eigenmächtige Bebauen zu Konflikten. Man zerstört un-
weigerlich einen 1,5m breiten Abschnitt Natur, um den Rest umso mehr zu
genießen. Ich denke, das ist ein akzeptables Verhältnis. Die Wälder werden
auch für andere Zwecke extensiv genutzt, warum nicht für die meiner An-
sicht nach wichtigste Aktivität überhaupt auf diesem Planeten (außer Was-
sersport vielleicht, aber das ist ein anderes Thema). Andere Waldnutzer oder
die zuständigen Behörden sehen das selbstverständlich nicht so locker, man
sollte sich also nicht erwischen lassen. Der Umgang mit der Problematik ist
übrigens äußerst uneinheitlich. Es gibt Gemeinden, die konsequent krimi-
nalisieren, während andere Kommunen Lösungen finden, die Nutzung des
Waldes für Mountainbiker in legale Bahnen zu lenken. Man sieht also: Es gibt
verschiedene Wege, das Phänomen Streckenbau anzugehen. Denn ob illegal
oder genehmigt: Aus dem Mountainbikesport sind künstlich gebaute Strecken
nicht mehr wegzudenken. Leider enden solche Streckenprojekte zu oft mit der
Zerstörung durch das jeweilige Gartenamt. Das ist natürlich traurig und aus
meiner Sicht auch komplett unverständlich (was machen diese Leute nur in
ihrer Freizeit, dass sie den Wert solcher Trails so sträflich verkennen), aber
gehört natürlich zum Geschäft. Denn woanders wartet schon die nächste
Strecke auf ihre Erschließung.
BEWEGUNG: WIESO EIGENTLICH SCHAUFELN?
Text: Claudia Stiefel Infografik: BAR
Werner K. sitzt mir gegenüber, der Witwer ist 68, pensionierter Beamter. Seine
Hände zittern leicht, als er über das glänzende Fell seines Dackels Sissi strei-
chelt. „Wissen Sie, die Sissi ist jetzt schon mein vierter Langhaardackel, aber
nach dem Tod meiner Frau vor sieben Jahren, da hab’ ich ja jetzt nur noch den
Hund - und die Sissi, die ist mein Ein und Alles, der beste Hund, den ich je ge-
habt habe.“ Die beiden gehen jeden Tag im benachbarten Wäldchen spazieren,
bei jedem Wetter. Ein vertrautes Ritual, immer die gleiche Zeit, der gleiche Weg, der
Hund weiß, wo er laufen muss.
„Es war im August, wir waren schon fast wieder daheim, mussten bloß noch
in den kleinen Waldweg nach links abbiegen, ich hab’ mich schon auf meinen
Nachmittagskaffee gefreut und die Sissi, die bekommt nach dem Gassi gehen
mit allen möglichen und doch nicht eingetretenen Folgen sein Vertrauen in die
Gerechtigkeit der Welt erschüttert hat. Der Witwer wird in Zukunft nur noch mit
seinem Spazierstock, den ihm seine Frau vor Jahren nach einer Hüftoperation
geschenkt hat, in den Wald gehen.
Laut Verkehrsstatistik des Jahres 2009 ist die Zahl der Todesopfer im Straßen-
verkehr auf dem niedrigsten Stand seit 1950. Die Zahl der tödlich verletzten
Radfahrer ist auf 456 gestiegen. Experten sehen bei steigender Konjunktur,
mehr Beschäftigung und einer damit verbundenen erhöhten Lebensqualität
eine grundlegende Veränderung im Freizeitverhalten. Das Umwelt- und Gesund-
heitsbewusstsein der Bevölkerung trägt zum steigenden Fahrradverkehr bei.
immer ein Kalbsknöchelchen.“ Der Hundebesitzer ist auf-
gebracht, er schenkt sich eine zweite Tasse ein, bietet
mir eine weitere an, doch ich lehne dankend ab. „Die Sis-
si ist ein Stückerl voraus gelaufen, wissen Sie, Sie ist ja
jetzt schon ein älteres Mädchen und mag gar nicht mehr
so lange laufen, da freut sie sich dann auch immer auf’s
Heimkommen. Und auf einmal ist es dann passiert! Raus-
geprescht kam der Kerl mit seinem Fahrrad, mitten aus dem
Dickicht, nicht mal ein Weg war da! Und um ein Haar hätt’
er meine Sissi erwischt, ganz laut aufgejault hat die vor
lauter Schreck! Ich hab’ geschrien. Ich hab’ gedacht, es ist
vorbei, jetzt hat er sie tot gefahren.“ Wie zur Bestätigung
Nicht zuletzt wegen der enorm gestiegenen Kraftstoffprei-
se wechseln Berufspendler vom Auto zum Fahrrad.
Mehr Fahrradfahrer, mehr Fahrradunfälle. Bis 2010
wird eine Steigerung von etwa 6 % der Fahrradunfälle pro-
gnostiziert. Und das, obwohl die Gesamtunfallzahlen eher
eine sinkende Tendenz aufweisen. Insbesondere die Ver-
letzungsfolgen verringern sich deutlich. Laut BASt-Unter-
suchung wird die Anzahl der Unfälle mit Personenschaden
insgesamt um 16 % abnehmen. Die Zahl der Unfälle mit Ge-
töteten vermindert sich dabei voraussichtlich um 42 %, die
mit Schwerverletzten um 34 %. wDie Zahl der Unfälle mit
Leichtverletzten wird um circa 10 % zurückgehen.
schaut Sissi ihr fassungsloses Herrchen mit traurigem Dackelblick an, stupst
mit der Nase seine Hand, die er vor Empörung zur Faust geballt hat. „Da hätt’
ja auch ein Kind stehen können! ‚Ich soll meinen Hund doch an die Leine neh-
men’, hat er mir noch zugerufen, bevor er sich davon gemacht hat. Ich geh’ seit
über zwanzig Jahren in dem Wald spazieren und hab’ meinen Hund noch nie an
die Leine nehmen müssen, wie käm’ ich denn dazu! In welchen Zeiten leben wir
denn, wo man als harmloser Spaziergänger ständig Gefahr läuft, von wild gewor-
denen Fahrradrowdies über den Haufen gefahren zu werden?“ Werner K. sieht
mich an, wartet auf Zustimmung. „Ich kann Ihnen die Stelle zeigen, wo es war,
da können Sie sich selbst überzeugen, dass ein Radler dort nichts verloren hat!
Ich sehe ihm an, dass ihn „die Geschichte“, wie er den Beinahe-Unfall zwischen
Biker und Hund mittlerweile nennt, nicht mehr loslässt, dass die Geschichte
Die attraktive Alternative zum Wandern und zum Rad fahren in der Stadt
ist Mountainbiken. Immer mehr Menschen begeistern sich für eine Sportart, die
neben Kondition vor allem Geschicklichkeit und Körperbeherrschung erfordert.
Doch ganz so ungefährlich ist das beliebte Freizeitvergnügen nicht und selbst
erfahrene Sportler verunglücken. „Rund 3.100 Menschen verletzten sich letztes
Jahr beim Mountainbiken so schwer, dass sie im Spital behandelt werden muss-
ten“, berichtet Dr. Rupert Kisser, Leiter des Instituts Sicher Leben in Österreich.
„Mountainbiken ist eine Sportart, bei der - wenn etwas passiert - die Verlet-
zungen oft sehr schwer sind.“ Männliche Mountainbiker sehen die Notaufnah-
men der Krankenhäuser besonders oft von innen: 76 Prozent der Verletzten im
vergangenen Jahr waren Männer. Das Durchschnittsalter betrug 40 Jahre. Mehr
In welchen Zeiten
leben wir denn?
Werner K.,
Spaziergänger
als die Hälfte aller Verunglückten trug nach dem Unfall einen Gips (51%).
Eine aufstrebende Bewegung gefährdet den gemeinen Fussgänger
ICH HAB’ GEDACHT,ES IST VORBEI.
BAR MAGAZINE 74 75
43.924km²
110.704km²
169.271km²
Urban
Wald
Landwirtschaft
Übermut
Hektik
Bodenbeschaffenheit
10,0%
25,0%
49,0%
Flächennutzung in der Bundesrepublik Deutschland
Deutschland – Agrarland: Schwer vorstellbar, aber gerade mal knapp 12% der Fläche des Landes sind urbanisierter Raum. Größtenteils wird die Fläche landwirtschaftlich genutzt. Rund 31% der 357.111,91 km² Fläche unseres Landes bestehen aus Wald. Eigentlich genung Platz für alle.
Hauptursache für Unfälle auf dem Mountainbike
Wo gehobelt wird, da fallen Spähne: Wechselnde Bodenbeläge im Gelände sind für fast die Hälfte aller Verletzungen auf dem Mountainbike verantwortlich. Laub, Erde, Gras und Kies wech-seln sich ab und verändern von einem Moment auf den anderen die Fahreigenschaften des Rads. Gerade mal 10% der Unfälle sind auf Selbstüberschätzung zurückzuführen. Beim Skifahren hingegen ist dies die Hauptursache für Unfälle.
Gebrochen waren beispielsweise Rippen, Schlüsselbeine, Schultern - und in den
schlimmsten Fällen die Wirbelsäule oder der Schädel. Fast jeder zweite Verletzte
gab an, beim Zeitpunkt des Unfalls keinen Helm getragen zu haben. 30 Prozent
der „Helmlosen“ mussten sich Kopfverletzungen behandeln lassen, die sie mit
einem Helm weitgehend hätten verhindern können. Weitere häufige Verletzun-
gen: Prellungen (18%) und Abschürfungen (8%). Unfallursache Nummer eins
war die Bodenbeschaffenheit (49 %). Die Radler rutschten oft auf nassem Gras,
Schnee oder Schlamm aus. Manchmal führten auch Steine, Wurzeln oder Schot-
ter zum unglücklichen Fall. „Ein Sturz bei der Abfahrt ins Tal ist die häufigste
Unfallart“, erläutert Kisser. „Der Bremsweg ist im Gelände deutlich länger als bei-
spielsweise auf der Straße, das kann auch für echte Könner zur Herausforde-
konzentriere mich auf das Wesentliche.“ Herr K. und Sissi fallen mir ein. „Es gibt
in jeder Sportart Dilettanten, die ihr Können maßlos überschätzen und die Sache
nicht mehr im Griff haben, schauen Sie sich doch nur auf den Skipisten um! Und
überhaupt – wir verpesten nicht die Luft und unterstützen dabei auch noch die
Freizeitindustrie.“
Hier geht Sabine E. mit einem Bericht von Focus-Money von April 2010 konform:
„Wenn es im Beruf schon angespannt zugeht, dann gönnt man sich im privaten
Bereich, in seinem Hobby, eher etwas mehr“, heißt es beim Bekleidungsherstel-
ler Assos. Radsport diene daher als Kompensation für Stress im Berufsleben.
Das stellt auch Siegfried Neuberger fest. „Die Fahrrad-Industrie konnte sich
rung werden. Außerdem ist von abrupten Bremsmanövern
abzuraten, will man nicht vom Rad geschleudert werden.“
Neben der Schwierigkeit des Geländes führten auch Über-
mut und Hektik (25%) sowie Selbstüberschätzung (10%)
einige zu ehrgeizige Radler ins Krankenhaus. Im Vergleich
zu Straßenradfahrern ist die Anzahl der verletzen Moun-
tainbiker zwar geringer, die Folgen des Unfalls sind aber
meist schwerwiegender.
Sabine E. sieht das anders. Die durchtrainierte 35-jährige
Stuttgarterin ist leitende Angestellte einer großen Versi-
cherungsfirma in München. Viel Stress, Personalverantwor-
auch 2009 trotz wirtschaftlich schwieriger Rahmenbedin-
gungen gut behaupten“, sagt der Geschäftsführer des
Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV). Das Rad biete nicht nur
eine „unschlagbar umweltfreundliche und flexible Form“ der
Mobilität, das Fahrradfahren sei auch noch gesund und
mache Spaß. Der Optimismus ist begründet: Die weltgröß-
te Fahrrad-Messe Eurobike platzt wegen des „außeror-
dentlich guten Buchungsstands“ aus allen Nähten. Nun
müssen weitere Hallen angemietet werden, um die 39000
Händler Anfang September in Friedrichshafen überhaupt
unterzubringen. Rolf Schmid wundert das nicht. „Unsere
Branche profitiert vom Wertewandel. Die Konsumenten in-
tung, harte Kämpfe um Absatzzahlen, wenig Freiraum für Entspannungsmög-
lichkeiten. „Ich brauche in meiner knappen Freizeit etwas, das mich abschalten
lässt, mich auspowert. Ich bin kein Typ, der sich beim Yoga auf der Matte ent-
spannt.“ Sie nippt an ihrem Latte Macchiato, ein kurzes Lächeln huscht über
ihr Gesicht, „außerdem - passieren kann immer etwas, Sie können sich beim
Nordic Walking den Fuß vertreten oder beim Golfen jemanden mit einem falschen
Abschlag treffen, Hauptsache Sie sind gut versichert.“ Zu unserem Interview ist
sie mit einem knallweißen Fully von Specialized erschienen, hat es im Blick, als
sie auf meine Fragen antwortet. Zeig’ mir dein Fahrrad und ich sag’ dir, wer du
bist! Die jungdynamisch aufstrebende Elite Deutschlands macht Karriere und
fährt im Sommer Mountainbike am Gardasee. „Biken ist für mich der Weg, alles
hinter mir zu lassen. Ich muss nicht reden, nicht denken, nichts verkaufen. Ich
vestieren ihr Geld in Lebensfreude, Gesundheit und Freizeit“, sagt der Präsident
der European Outdoor Group.
Das alles macht sich in den Zahlen der Fahrrad-Bauer Accell Group, Cube,
Corratec und Giant sowie des Komponentenherstellers Shimano bemerkbar.
„2009 hatten wir wegen der guten Absatzzahlen in Deutschland und Frankreich
erneut ein gutes Jahr“, sagt René Takens, Chef des niederländischen Fahrrad-
Konzerns Accell, der auch für 2010 Rekordzahlen anpeilt. Genauer wird Stephan
Geiger. „Wir planen 2010 für unser Bike-Geschäft ein Umsatzplus von 20 %“,
sagt der Chef der Radsparte bei Kettler. Den Umsatz der E-Bikes will er sogar
verdoppeln. Die Folge: Die Accell-Aktie erreicht den höchsten Stand seit dem
Börsengang 1998, das Papier des weltgrößten Fahrradherstellers Giant Manu-
Die jungdynamische
Elite macht Karriere
und fährt im Sommer
Mountainbike am
Gardasee.
facturing aus Taiwan notiert auf einem 17-Jahres-Hoch. Auf dem besten Weg
BEWEGUNG: ICH HAB’ GEDACHT, ES IST VORBEI
Jahreshöchststände Shimano Aktie SHM ISIN JP3358000002
Die japanische Shimano AG erwirtschaftet etwa vier Fünftel ih-res Umsatzes im Bereich der Fahrradkomponenten. Bereits 1921 begann das Unternehmen mit der Entwicklung eigener Freilauf-naaben. 1961 stellte Shimano die erste Dreigang-Nabenschal-tung der Welt vor und ist seit dieser Zeit mit einem Marktanteil von geschätzten 80% die maßgebliche Triebfeder für die Weiter-entwicklung des Fahrrads.
zu neuen Höchstständen sind auch die Aktien der Bike-Produzenten Merida
Industry (Taiwan) und Tsunoda (Japan) sowie des Tokioter Zubehörherstellers
Shimano. Ganz oben auf den Einkaufslisten der Banken stehen vor allem drei
Aktien: die Papiere der Accell Group sowie von Giant und Shimano. Ähnlich hohe
Erwartungen hat Bodo Lambertz. „Wir rechnen damit, dass das Fahrradgeschäft
auch 2010 wächst und deutlich höhere Umsätze verbuchen wird als 2009“, sagt
der Gründer des Textilherstellers X-Bionic („Wir machen aus Schweiß Energie“).
Deshalb habe „der Boom erst begonnen“. Lambertz ist davon überzeugt, dass
die Konsumenten keine Hemdchen und Hosen mit „Bullshit-Funktionen“ kaufen
wollen, sondern in qualitativ hochwertige Produkte investieren. „Innovationen
und moderne Designs machen die Produkte zu Must-Haves und werden die
Natur durch das Fahrrad trifft bei den Verteidigern der Waldeslust verständli-
cherweise auf wenig Gegenliebe. Neues erfordert nicht nur begeisterte Unter-
stützer, sondern ein hohes Maß an Akzeptanz seitens derer, die Veränderungen
nicht lieben. Doch das Rad rollt, ist nicht mehr aufzuhalten.
Bewegung ist der (aktuelle) Wechsel der Lage eines Körpers in Beziehung zu anderen Körpern oder zu einem gedachten Koordinatensystem. Alle Bewegung ist relativer Art, auch die sogenannte »absolute« Bewegung. Die scheinbare Bewegung ist die dem Au-genschein oder dem statischen Sinne unmittelbar sich darstellende Bewegung, sofern sie nicht mit der wahren, mathematisch-physikalisch bestimmten, konstanten, objektiven, notwendig zu denkenden Bewegung übereinstimmt. Die Bewegung gilt als ursprüngli-
Branche weiter voran treiben“, so Lambertz. Nur wenn der Kunde Premiumware
bekomme, sei er auch bereit, entsprechendes Geld auszugeben. In die gleiche
Kerbe schlägt der fränkische Helmproduzent Uvex – mit großem Erfolg. „In den
vergangenen Jahren haben wir den Umsatz jeweils zweistellig gesteigert“, sagt
Markus Winning, Marketingleiter bei Uvex Sport. „Dieses Ziel haben wir auch für
das laufende Geschäftsjahr.“
Zahlen interessieren Fabian L. weniger. Er ist Biker aus Leidenschaft. Über sei-
nem linken Auge prangt eine breite Schramme, die ihm wohl erhalten bleiben wird.
„Die Natur fordert manchmal eben ihren Preis“, witzelt er grinsend, nachdem er
mir von seinem Zusammenstoß mit einem Baum berichtet hat. „Macht mich bei
den Mädels interessanter.“ Seine freie Zeit verbringt der aufgeweckte 24-jährige
Lehramtsstudent für Hauptschule auf dem Rad oder beim Graben im Wäldchen,
che Eigenschaft der Materie. Man spricht auch von einer geistigen Bewegung, von einer Gemüts- und einer Denkbewegung).
Bewegung ist jetzt von beiden Seiten gefordert, aufeinander zu. Zu bedenken
gilt, wie man in den Wald hinein schreit, so schallt es wieder heraus, im wahrsten
Sinne des Wortes.
Bleibt zu wünschen, dass Herr K. und Sissi bei ihrem Spaziergang einmal auf
Fabian L. treffen. Fabian beherrscht sein Metier, er würde niemals einen Dackel
überfahren. Eine gute Basis für einen Gedankenaustausch.
an den Wochenenden verdient er sich als „Werkstattschrauber“ in einem Fahr-
radladen ein paar Euros dazu, die er dann gleich wieder in sein Bike investiert.
„Da schraub’ ich halt auch mal drei Stunden Pukys zusammen, ist auch o,k!“
Außer mit dem zuständigen Förster scheint er mit niemandem auf der Welt Prob-
leme zu haben. „Ich denke, wenn einige der Jungs und Mädels, auf die ich in der
Schule treffe, mehr Zeit auf dem Bike und im Wald verbringen würden, hätten sie
wesentlich weniger Stress mit ihrer Umwelt, aber das hat unsere Gesellschaft
leider noch nicht so ganz realisiert“ Wieder muss ich an Herrn K. und Sissi den-
ken. „In welchen Zeiten leben wir denn?“, hat er gefragt.
Wir leben im Umbruch: Sportbegeisterung trifft auf Tradition, Bewegung auf
Stillstand, die Wege der beiden Lager kreuzen sich im Grünen. Die Eroberung der
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2002
2006
2010
1.714¥
3.201¥
4.115¥
BAR MAGAZINE 80 81
Text: Marius Hanf Bild: BAR
Mit Trends verhält es sich ähnlich wie mit Stilen – sie
kommen und gehen – oder dominieren, doch kaum je-
mand weiß, worin sie wurzeln. Das macht eigentlich
nichts, denn Trends sind meist temporär, oder zumin-
dest erscheint es uns so. Hinterfragt man jedoch den
Ursprung solcher Erscheinungen, so tritt ein Kern zuta-
ge, der es möglich macht, Verknüpfungen herzustellen
und den Trend in einem neuen Kontext zu betrachten.
Ein Trend, der momentan zu beobachten ist, sind
Fahrräder mit nur einem Gang, keinem Freilauf und
fehlenden Bremsen. Das klingt zunächst töricht und
erscheint wenig sinnvoll, hat aber seine Berechtigung.
Wenn beim Fahrrad die Form der Funktion folgt, er-
übrigen sich einzelne technische Aspekte, das Zwei-
rad folgt dann den Prinzipien des Minimalismus: Diese
streben nach Objektivität, schematischer Klarheit und
Logik. Ein Fahrrad, das auf seine nötigsten Funkti-
onen heruntergebrochen wird, erscheint uns visu-
ell als klare Form, eine Kette, die über ein Ritzel ein
Rad antreibt, zudem auch logisch. Die zu verfolgende
Funktion ergibt sich aus dem Weglassen überflüs-
Was das Fixie mit Malewitsch zu tun hat
VOM MINIMALISMUS
BEWEGUNG: VOM MINIMALISMUS
Minimalismus strebt nach Objektivität, schematischer Klarheit und Logik.
BAR MAGAZINE 82 83
siger Teile: Wo keine Bremse ist, kann keine Bremse
kaputtgehen, müssen keine Bremsbeläge gewechselt
werden. Eine nicht vorhandene Schaltung kann nicht
kaputtgehen – weniger ist mehr Funktion, denn diese
(die Funktion) – und hier trifft der Trend den Ursprung
– liegt im harten und täglichen Einsatz auf der Stra-
ße. New Yorker Fahrradkuriere der 70er Jahre brachten
die Fixed Gear Bikes aus dem Velodrom auf den As-
phalt. Der Minimalismus am Rad war im urbanen Raum
angekommen. Tatlins Manifest des Konstruktivismus,
mit der Kinematik als Gestaltungsprinzip, ähnelt der
ständige Bewegung auf einem Fahrrad ohne Freilauf.
Die heruntergebrochene Formsprache des minimalisti-
schen Fahrrads wird zum Manifest für Purismus und
zur Konzentration auf das Wesentliche – das Fahren –
und ist gleichzeitig die physisch gewordene Ablehnung
des kubistischen Experiments, der Gangschaltung, der
Bremsanlage und der Federung und allem, das über
die reine Funktion der Fortbewegung hinausgeht.
Somit wird das Fixie zur Ikone unserer Zeit. Seine Wur-
zeln jedoch, liegen weiter zurück.
BEWEGUNG: VOM MINIMALISMUS
kermit würde abonnieren.
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Interview: BAR
Prof. Hans Werner L. ist Experte für Transportwesen und Logistik. Er hält das Fahrrad für die größte Errungenschaft der letzten hundert Jahre.
CyClIng IS anOTher favOurITe MeDIuM, an urban fOrM Of SurfIng, IT geTS InTO yOur blOOD, anD beCauSe ITS way Of uSIng The CITy IT affeCTS hOw yOu ThInk abOuT CITIeS generally, whICh MeanS ThaT whIle we happIly Take Our plaCe In The luMInOuS ChaIn Of reD, yellOw anD blue leD’S pulSIng ThrOugh The CheMICal MISTS Of [...] TraffIC, we’D STIll prefer TO CyCle aCrOSS a Safer anD Cleaner CITy”
“
perfekTIOnIerTe prOTheSe
Paul Elliman, Gestalter, Künstler und Autor
BAR MAGAZINE 86 87
BAR: Herr Professor Lang, Sie vertreten weitläufig die Meinung, das Fahrrad sei die wohl größte technische Errungenschaft des Transportwesens, die die Menschheit je her-vorgebracht hat.
Prof. Lang: Das ist meine These, ja.
Nun, für den Großteil der Menschen klingt das gelinde gesagt nicht wirklich plausibel. Denkt man beispielsweise an das Automobil, das Flugzeug, die Eisenbahn oder die Rolltreppe. Wahrscheinlich würden die meisten sagen, dass diese Dinge fortschrittlicher und innovativer sind als das Fahrrad.
Sicherlich ist das Automobil ein Meilenstein in der Geschichte der Menschheit.
Vordergründig zumindest. Denn überlegt man sich einmal, welche Entwicklung
das Auto in den letzten hundert Jahren durchgemacht hat, spricht das nicht
gerade für die Fortschrittlichkeit menschlicher Entwicklung.
Aber Autos vor hundert Jahren fuhren nur 50km/h, hatten keine Scheiben und waren meilenweit entfernt vom Komfort heutiger Mittelklasselimousinen.
Und sie fahren immer noch mit einem Verbrennungsmotor, der einen geradezu
lächerlichen Wirkungsgrad vorzeigen kann. Etwa 36% der in einem Otto-Mo-
tor erzeugten Energie verpuffen durch den Auspuff, weitere 33% gehen ein-
fach im Motor durch Hitze verloren. Nicht sehr fortschrittlich, würde ich sagen,
dafür, dass die Menschheit die letzten hundert Jahre sehr viel Energie darauf
verwendet hat, dieses Fortbewegungsmittel weiterzuentwickeln.
Das Fahrrad funktioniert aber auch noch mit derselben Technik wie damals, zwei Rä-der, eine Kette und der Fahrer erzeugen Vortrieb. Außer ein paar schaltbaren Gängen hat sich da auch nicht wirklich viel getan!
Musste es ja auch nicht. Sehen Sie: Bei keiner anderen Fortbewegungsart
wird ein ähnlich hoher Wirkungsgrad erzeugt wie bei einem Fahrrad. Die Ent-
wicklungen in der Vergangenheit haben dazu geführt, dass ein modernes
Fahrrad mit einer hochwertigen Kettenschaltung einen Wirkungsgrad von bis
zu 99% erreichen kann. Gezielte Entwicklung an ausschlaggebenden Bau-
teilen hat bewirkt, dass sich das Fahrrad der energietechnischen Perfektion
immer mehr annähert.
Den meisten Menschen dürfte diese Tatsache aber schlichtweg nicht bewusst sein.
Natürlich nicht, sie nehmen es als eine Selbstverständlichkeit hin. Das liegt
daran, dass wir es, also das Fahrradfahren, seit frühester Kindheit prakti-
zieren. Es geht uns dermaßen in Fleisch und Blut über, dass wir uns über die
Tatsache wie wir uns auf einem Rad bewegen keine Gedanken mehr machen.
Das ist auch gut so, denn würden wir auf einem Fahrrad sitzend ständig über
die Physik an sich nachdenken, würden wir wahrscheinlich so perplex sein
über diese Vorgänge, dass wir einfach vom Rad fallen.
Also ist das Fahrrad nun doch eine eher simple Erfindung, die es nicht einmal abver-langt, uns Gedanken über sie zu machen?
So simpel wie das Rad an sich – trotzdem hat es die Menschheit eine Weile
gekostet daran herumzufeilen, bis aus dem Eckigen das Runde wurde. Und
heute zerbricht sich kein Mensch mehr den Kopf darüber. Es ist da und funk-
tioniert einfach.
Kein Grund also, das Fahrrad überzubewerten, es ist einfach da!
Natürlich, im besten Falle machen wir uns keine Gedanken darüber. Mit dem
Fahrrad verhält es sich ähnlich wie mit einer guten Exoprothese: Sie ist ein
Ersatz für etwas Fehlendes oder nicht Vorhandenes, ersetzt also im bes-
ten Falle unauffällig eine Funktion. Das Rad ist eine Prothese für die Unzu-
länglichkeiten des menschlichen Daseins: Im Vergleich zur Tierwelt sind wir
langsam, wenig ausdauernd und verbrauchen für unsere eher mittelmäßige
körperliche Leistungsfähigkeit auch noch ein unverschämtes Pensum an
Energie. Auf einem Fahrrad sind wir jedoch mit geringerem Aufwand um ein
Vielfaches schneller und effektiver. Zudem ist ein Fahrrad jedem zugänglich,
oder zumindest einfacher zugänglich als das Auto oder das Flugzeug. Vom
ökologischen Faktor fangen wir gar nicht erst an, das wurde an anderer Stelle
schon ausgiebigst diskutiert.
O.K., aber Sie müssen zugeben, dass es bequemere Möglichkeiten gibt um von A nach B zu kommen.
Möglich, aber für die meisten Strecken, die regelmäßig von eben A nach B
gemacht werden, die schnellste! Seien Sie mal ganz ehrlich mit sich selbst, wie
oft sitzen Sie mal eben für 10 Minuten im Auto. Das ist reine Bequemlichkeit.
Komfortabel finde ich mein Fahrrad hingegen schon. Aber ich betrachte das
vielleicht auch etwas wissenschaftlicher, die Effizienz tröstet mich über den
minderen Komfort hinweg. Und selbst diese These vom minderen Komfort ist
ambivalent. Ist nicht der Fahrtwind um die Nase, der eine gewisse Leichtigkeit
des Lebens vermuten lässt, einer der letzten wahren Komforts in einer Welt
von Coffee-to-go, Multitask und flexiblen Lebensläufen?
FOKUS:PERFEKTIONIERTE PROTHESE
Bewegungen hier und dort – Fotografien von Vladimir Salesski
ANDERE LÄNDER—
GLE I CH E S ITTEN
BAR MAGAZINE 88 89
Stuttgart, D
Stuttgart, D
BAR MAGAZINE 90 91
Moskau, RU
BEWEGUNG: ANDERE LÄNDER – GLEICHE SITTEN
St. Petersburg, RU
BAR MAGAZINE 92 93
Stuttgart, D
VLADIMIR SALESSKI grainlight.net
1984 in Kasachstan geboren, studierte Kommunikationsdesign in Würzburg
und ist Gründer von GRAINLIGHT. Zudem ist Vladimir Weltmeister der Herzen im
Freihändigfahren. Die Bilder entstanden 2009/2010 in Stuttgart, St. Petersburg
und Moskau.
BAR MAGAZINE
Moskau, RU
Wie das Freeriden seinen Lauf nahm
wIe lange Der hype SChOn gehT!
BAR MAGAZINE 96 97
Text: Marius Hanf Bild: BAR
BEWEGUNG: WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT!
Die Geschichte, die nun erzäht wird, handelt von Fahrrädern und Menschen.
Von Menschen, die durch Fahrräder zusammengefunden haben und noch
immer zusammenfinden. Menschen, die über die Jahre unterschiedlichste Le-
benswege gegangen sind und gehen werden, die aber, egal wo und in welcher
Situation ihres Lebens sie sich gerade befinden, immer wieder zueinander
kommen. Wie ein gemeinsames Kind verbindet sie eine gemeinsame Leiden-
schaft, eine Lebenseinstellung: eine besondere Art Rad zu fahren, oder viel-
mehr, das „Auf-dem-Fahrrad-sitzen“ zu zelibrieren, auch wenn sie es gar
nicht mehr tun. Am Anfang dieser Geschichte hatten Räder noch Starrgabeln
und gerade Lenker, später mutierten sie zu schwergewichtigen Aluminium-
monstern mit 22 Zentimetern Federweg, um heute dem universalen Rad zu
weichen. Heute ist es egal, auf welchen Rädern man sitzt, wichtig ist, dass
man sitzt.
Wie die meisten erzählenswerten Geschichten vom Mountainbiken beginnt
diese in einem Wald. Zwei Jungs, die genug hatten von Lycrashorts, von Leis-
tung durch Strecke, vom Bergauffahren. Einer der beiden kann sein prögen-
des Erlebniss an einem Film festmachen, mit dem alles begann: Kranked 1
– Live to Ride. Ein Film, der die gesamte Welt des Mountainbikens revolu-
„Überlegt euch mal: Vor inzwischen 10 Jahren haben wir damit angefangen, und jetzt schaut euch mal die vielen Halbstarken an— wie lange derHype schon geht...“
tionieren sollte. Richie Schley und Wade Simmons, heute Ikonen einer zu
BAR MAGAZINE 98 99
BEWEGUNG: WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT!
vanCOuver
b.C.
Kanada
Fläche 9.984.670 km²
Bevölkerungsdichte3,4 EW pro km²
Eigenständigkeit herangewachsenen Disziplin, fuhren für damalige Verhält-
nisse unfahrbar steile Hänge hinunter, in Kamlops, British Columbia, der Ge-
burtsstätte des Freeridens.
Richie Schley (*1969) und Wade Simmons (*1974) sind die Gründungsmitglieder der legendären Rocky Mountain Froriders und Begründer des Freeridens, einer Ausprägung des Mountainbikens, die Ende der 90er Jahre aufkam. Ähnlich dem Big Mountain Skifahren geht es beim Freeriden um das Bezwingen steiler Hän-ge, um das Droppen, und überhaupt um Air Time. Die Schwierigkeit liegt im Verbinden unterschiedlichster Geländeformen innerhalb einer Abfahrt. Da die to-pologischen Voraussetzungen hierfür im Westen Kanadas, also British Columbia, optimal sind, gilt dieses Gebiet bis heute als das Mekka der Freerider. Die Region hat sich dies zunutze gemacht und die Infrastruktur für Mountainbiker in Form von liftunterstützten Bikeparks, Guided Tours und einem umfangreichen Wegnetz ausgebaut.
Es war wie Big Mountain Skifahren, nur eben auf dem Bike. Der Junge sah das
und wollte auch. Wollte auch so unfassbar schnell sein, uneingeschränkt von
den Hindernissen eines jeglichen Geländes. Es war die Vision des Unmögli-
chen. Nie mehr absteigen, alles fahren und das auch noch mit unglaublichem
Style. Die Problematik jedoch bestand im geopgraphischen Standpunkt: Die
deutschen Voralpenlandschaften sind nicht die staubigen Hänge von West-
kanada. Doch das war erstmal egal, ein Steinbruch im Umland tat es fürs
erste auch. So traf man sich, der eine den anderen, der auch diesen Film ge-
sehen hatte, und fing an. Der erste Absprung war, auch für damalige Verhält-
nisse, unterdimensioniert. Man schaute, wie weit man kam und baute dann die
Landung. Eine unkonventionelle Methode, sie tat es aber und jeder Externe,
der hinzukam, staunte über die Selbstsicherheit, mit der dieses erste Gap in
der Region überwunden wurde.
Im Lauf der Entwicklung des Freeridens kam bald die „go big or go home“ –Men-talität auf. Konnten anfangs noch geringere Höhen in flache Landungen gesprun-gen werden, wurden schnell Dimensionen erreicht, die schräge Landungen und eine hohe Geschwindigkeit zur Kompensation des Aufpralls erforderten. Die Ära der Gaps hatte begonnen. Ihren Höhepunkt der Superlative erlangte sie mit Josh Bender, der 2002 den 18m hohen Jaw Drop sprang, aber nicht stand. Ein Jahr später verewigte sich Wade Simmons in Kalifornien am Moreno Gap, einer 12m hohen und ebenso weiten Abrisskante, landete sauber und gilt seitdem als der „Godfather of Freeride“.
Eine jede Bewegung besteht aus einer Community, die stetig wächst. Und
so geschah es, dass zwei Typen aufeinandertrafen, in einem Bikeladen, in
BAR MAGAZINE 100 101
dem beide ständig rumhingen. Damals waren Fahrradläden für Freerider das,
was heute Facebook für Internetuser ist. Man sieht sich, registriert dasselbe
Ticken und geht in den Wald. Im Wald beginnt die Rekrutierung. Andere Jungs,
die ebenfalls genung haben von Lycrashorts und Bergauffahren, registrieren
das ungewöhnliche Treiben im Wald und schließen sich an. Die Bewegung
wächst und innerhalb kurzer Zeit entsteht eine eingeschworene Gruppierung
von Gleichgesinnten, vom Schüler bis zum Geschäftsmann, alles dabei. Bei
Facebook gibt es virtuelle Gruppen für dieselben Interessen. Unter Freeri-
dern sind diese Interessensgruppen gegliedert nach denen, die denselben
Film gesehen haben oder sehnlichst die Veröffentlichung des nächsten Films
herbeisehen, nach denen die dasselbe Material fahren oder fahren wollen.
Oder – und das sind die Gruppierungen die ein gemeinsamer Gedanke verbin-
det: Welche Herausforderung wartet im Wald auf mich? Der soziale Stand spielt
keine Rolle, nur wieviel Eier du hast. Die anfängliche Taktik, zuerst zu sehen
wie weit man springt, um dann die Landung zu bauen, war schnell hinfällig –
die Sprünge wurden zu groß, um sie ohne Landung zu testen. Also gab es
immer jemanden, der all seinen Mut zusammennehmen musste – Hände weg
von der Bremse, ein- zwei Testanfahrten. Und dann los! Es ging immer gut,
zumindest nie wirklich daneben. Die Kompetenzverhältnisse im Eierzusam-
menkneifen verschoben sich, irgendwer war zu irgendeinem Zeitpunkt immer
der Mann fürs erste Mal. Die Ansprüche wuchsen und mit ihnen die Qualität
des Materials. Es begann die Zeit der langen Federwege, Doppelbrückenga-
beln und Full-Face Helme. Freerider waren Gladiatoren, von Wanderern ge-
ächtet, von „normalen“ Bikern bewundert und für verrückt erklärt. Man hatte
sein eigenes Revier abgesteckt, ein Waldgebiet von beachtlicher Größe. Das
Problem ist, Waldgebiete muss man sich teilen mit den eigentlichen Eigentü-
mern, die selten die gleiche Euphorie für das Freeriden aufbringen. Der Ärger
begann: Der in Kanada beheimatete North-Shore-Wahn schwappte langsam
nach Europa.
Die North Shore Mountains sind eine Region nördlich der kanadischen Haupt-stadt Vancouver. Der Wald am North Shore ist, bedingt durch den häufigen Nie-derschlag, äußerst feucht und zudem topographisch schwer zugänglich. Um dieses Gebiet trotzdem zum Mountainbiken nutzen zu können, baute man Hühnerleitern, sogenannte North Shore-Trails. Diese waagerechten Leitern auf Stelzen können bis zu 5 Meter hoch, kurvig und gelegentlich nur eine Hand breit sein.
Meterhohe Holzgerüste, manche davon nur eine Handbreit schlängeln sich
durch dichte Nadelwälder und enden in 4 Meter hohen Absprungkanten. Es
war die Vision des Gleichgewichts in schwindelerregender Höhe, die Kom-
bination: technisch, schnell, halsbrecherisch. Überall in deutschen Wäldern
wuchsen Gerüste aus dem Boden und das Kräftemessen zwischen Behörden
und Wahnsinnigen begann, ausgetragen im Wald mit Absperrband, Schau-
fel, Hammer, Nägeln und Forstgesetzbuch. Was abgerissen wurde, stand am
nächsten Tag wieder da, um dann wieder abgerissen zu werden. Eine Sisy-
phosarbeit für diesen kurzen Moment des freien Falls am Ende und dem Ge-
räusch kurz vorher, wenn Stollenreifen über in kurzen Abständen genagelte
Holzleisten rattern. Dann stoppt das Rattern, nur das Rauschen der Luft,
dann der Bodenkontakt: Ein kurzer Einschlag, das Pumpgeräusch von Gabel
und Dämpfer, die abrupt einfedern und das Öl-Luft-Gemisch verdrängen, das
Schaltwerk, das durch die Wucht des Aufpralls gegen den Rahmen schlägt,
die Reifen, die wieder Waldboden unter sich haben. Das Pochen am Hals, das
sich unter dem wuchtigen Full-Face Helm ausbreitet und das Schreien der
Anderen kaum durchdringen lassen.
Anfänglich waren Freeridebikes gewöhnliche Mountainbikes von der Stange, die im Wesentlichen nur leicht modifiziert waren. So fuhr man bereits am Anfang gekröpfte Lenker und das Maximale an Federweg, was der Markt hergab. Die Industrie erkann-te jedoch recht schnell das Potenzial dieser neuen Facette des Fahrradfahrens.
„Du warst immer so ein ängstlicher Bub — aber als du dann das Fahrradfahrenbegonnen hast...“
BEWEGUNG: WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT!
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Zunächst ging die Entwicklung stark in Richtung der sog. „Big Bikes“, also schwere, stabile Räder mit unendlich viel Federweg. Faktisch ließen diese sich nicht den Berg hochbewegen, um zu einem Spot zu kommen. Auch war das hohe Gewicht in der Luft und beim Ausführen von Tricks eher hinderlich. Da dieser Faktor im Verlauf aber immer wichtiger und zeitgleich das Material leichter und trotzdem stabiler wurde, änderte sich auch der Fokus der Industrie drastisch: Massive Doppelbrückengabeln wichen Einfachbrückengabeln, die den Bewegungsradius der Räder erweiterten. Der Federweg wurde weniger aber effektiver nutzbar. Reduce to the max am gesamten Rad. Heute sind Freeridebikes kompakte, bewegliche und leichte Allzweckwaffen für unterschiedlichstes Terrain und im Programm nahezu aller Hersteller zu finden.
Es ist das Verlangen nach eben diesem Gefühl des Sich-selbst-Überwindens.
Angst und Respekt, die sich in einem kurzen Moment zu totaler Konzentration
verdichten, um dann in ein Gemisch aus Erleichterung, Hochgefühl und Erha-
benheit zu münden. Das Fußballspiel gewinnen 11 Männer gemeinsam – auf
dem Fahrrad bist nur du allein verantwortlich. Und trotzdem entstehen daraus
innige Freundschaften. Vielleicht gerade deswegen. Denn alle, die bei großen
Dingen dabei sind, wissen selbst wie es ist, dazustehen und zu fokussieren,
die Entscheidung zu treffen, den Finger von der Bremse zu lösen und los-
zurollen – Tunnelblick. Das verschafft Respekt. Nicht blindes Handeln, son-
dern die absolute Konzentration auf einen kurzen Augenblick, der entweder
erfolgreich oder im Krankenhaus endet. Manche konnten das besser, andere
weniger.
Arbeite hart, dann wirst du Erfolg haben. Das klingt borniert, trifft aber auf
das Radfahren zu. Probiert man etwas Neues, einen Trick, eine schnellere
Linie, die höhere Kante, wird man früher oder später Dreck fressen. Anders
geht es nicht. Entweder du isst auf und bestellst das Gleiche nochmal, oder
du kannst daheim bei Mutti essen. Der Reiter muss nach dem Sturz auch
wieder zurück auf das Pferd. Der Großteil macht dieses Spiel nicht mit, lang-
sam trennt sich die Spreu vom Weizen, und irgendwo ist immer einer dabei,
der wegen der Art und Weise, wie er Rad fährt, hervorsticht. In dem mittlerweile
eingeschworenen und exklusiven Kreis der Lokalpioniere war es der Jüngs-
te, der mit so beleidigender Leichtigkeit alles sprang und fuhr, dass selbst
jahrelange harte Arbeit und viele leergegessene Teller für alle anderen nie zu
ähnlichen Leistungen geführt hätten. Das machte aber nichts. Denn auf die
Leistungen des Einzelnen wurde am Abend immer zusammen getrunken.
Mit der wachsenden Zahl an Anhängern der Freeridebewegung wuchs ein neuer Markt, nicht nur für die Produzenten von Mountainbikes selbst. Spezielle, stabile, aber „stylische“ Bekleidung, löste das geliehene Equipment des Motocross ab. Die „Mountainbike Downhill“ als einziges Magazin für abfahrtsorientiertes Mountain-biken auf dem deutschen Magazinmarkt, benannte sich 2001 in „Mountainbike Rider“ um und wurde von da an das Magazin der Bewegung. Die Contest-Ära nahm ihren Lauf. Das Crankworx–Festival in Whistler B.C., Die „Rampage“ in der Wüste Utahs oder die ersten Wettkämpfe auf künstlich angelegten Strecken in euro-päischen Großstädten. Dutzende Videoproduktionen wurden veröffentlicht. Immer anspruchsvolleres Material, gedreht in 16mm auf dem gesamten Globus mit gespon-sorten Teamfahrern. Und die Topproduktionen (New World Disorder, Kranked oder The Collective) legen bis heute fest, was für die kommende Saison die Messlatte in Sachen höher, schneller und weiter ist. Neben den Wettkämpfen bieten diese Videos die besten Chancen, um auf sich aufmerksam zu machen.
Talente schossen plötzlich wie Pilze aus dem Boden. Und es waren, bis auf
wenige Ausnahmen, immer die jungen Wilden. Die „Young Guns“ sprengten
Contests auf geliehenen Rädern, bekamen einen Top-Part im nächsten Video,
wo sie mit noch verrückteren Sachen auffuhren und so zu den „Big Names“
im Freeridesport wurden. Wie im kleineren Rahmen in der deutschen Voralpen-
„Hast du gesehen:Die Downhill heißt jetzt Rider!“landschaft, wo sich einige Beständige behaupten konnten, während andere
früher oder später die Flinte ins Korn warfen, mit dem BMXen anfingen oder
sich verletzten: Fahrer kamen und gingen und gruppierten sich meistens um
die „Evergreens“ der Szene. Auch ein paar deutsche Namen tauchten in den
Starterlisten der großen Events auf, unter ihnen auch der Name des Jun-
gen mit der beleidigenden Leichtigkeit. Auf einmal war er da drüben, auf der
anderen Seite — gesponsortes Material, Helme mit dem eigenen Namen als
Aufdruck, Bahn- und Flugtickets zu den Orten des Geschehens, auf die die
ganze Freeridewelt zu diesem Zeitpunkt blickte. Aber auch Leistungsdruck
und die Erkenntnis: Ohne Verletzungen geht es nicht. Um im auserwählten
Kreis der Topathleten bestehen zu können muss man gewisse Standards er-
füllen. Einer haut eine verrückte Trickkombination raus, alle sehen es, bei der
nächsten großen Veranstaltung machen bereits fünf andere Fahrer densel-
ben Trick – und als wäre es schon immer Gang und Gäbe gewesen, müssen
irgendwann alle das Risiko eingehen und diese Kombination springen. Das
Fahren ist dann nicht mehr nur Leidenschaft, die im engen Kreis von Freun-
den geteilt wird, sondern harte Arbeit, ein Beruf.
Was auf einem Fahrrad möglich ist und gezeigt wurde, entfernte sich nun
mit immer größeren Schritten von dem, was der durchschnittlich ambitionierte
Fahrer aus dem Kreis der Lokalhelden bereit war zu tun. Setzte man anfangs
der Bewegung noch an jedem Video die eigene Messlatte, kippte später die
Stimmung in eine Art Unmut des „Wer will den so etwas noch sehen“, oder „das
hat doch nichts mehr mit Radfahren zu tun“. Kurz: Brot und Spiele waren ins
Utopische ausgeartet. Bemerken konnten diese Entwicklung aber nur die, die
von Beginn an dabei waren, ganz am Anfang des Hypes.
Für die, die nie einen Helm mit ihrem aufgedruckten Namen ihr Eigen nennen
konnten, dreht sich die Welt nicht nur um die Nabe. Der Geschäftsmann hatte
immer mehr Geschäfte zu erledigen, der Schüler wurde Student oder ging
in Ausbildung. Die Regelmäßigkeit des Waldes wich der Gesetzmäßigkeit des
eigenen Lebens, der Verantwortung für den eigenen Werdegang, der Familie
oder „weltlichen“ Dingen, die sich über das Radfahren erhoben. Dennoch ist
für alle Beteiligten dieses kleinen Kreises das Fahrrad fahren immer noch ein
großer Bestandteil des Lebens. Für den einen mehr, den anderen weniger.
Wenn auch seltener, so kommen doch alle auch heute noch immer wieder
zusammen. Nicht mehr, um sich von 5 Meter hohen Klippen zu stürzen, oder
während eines Sprungs in 4 Metern Höhe sämtliche noch heilen Gliedmaßen
vom Rad wegzunehmen, selbst wenn einige dazu noch in der Lage wären.
Wichtig ist, dass sie gemeinsam auf ihren Rädern sitzen, an die alten Zeiten
denken und erstaunt feststellen, wie lange dieser Hype nun schon geht.
Freeriden gilt heute als fester Bestandteil des Radsports, genauso wie das olympi-sche Cross-Country oder der Rennradsport. Aus einer anfänglich rebellischen Art des Radfahrens als Widerstand gegen Leistungsdruck und Lactatwerte, wurde ein Überbegriff für radikales Mountainbiken mit Unterdisziplinen wie Big Moun-tain, Slopestyle, Street, Enduro oder Dirtjumping. Sowohl die Industrie als auch MTB-spezifische Medien kommen am Freeriden nicht vorbei und tragen so seit nunmehr fast 10 Jahren ihren Teil zum Hype bei.
BEWEGUNG: WIE LANGE DER HYPE SCHON GEHT!
Est.2010since2010
440x300Qualität
since2010
MtM
BAR MAGAZINE 104 105
bar.Monothematisches Magazin
für fahrradinduzierte Emotion.
ISSUE 01
Interview: BAR
I [HEART] MY VELO: Ümit Yurdagul, 29
Jet Star Excellent Bonanza Rad —Baujahr 1976
VERKAUF’ MIRDAS FAHRRAD.bITTe!
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Wenn man mit so einer Liebe zum Detail an die Sache rangeht, jede Schraube oder Speiche einzeln in die Hand nimmt, baut man ja wahrscheinlich eine innige Beziehung zu den einzelnen Teilen auf. Was ist dein Lieblingsstück oder Teil an dem Fahrrad?
Da mag ich mich gar nicht so festlegen. Der Sattel ist natürlich schon sehr
speziell, bezogen mit Alcantara Leder aus einem Porsche und orangenen
Nähten, passend zur Lackfarbe des Bikes. Das hat mich eine Flasche feins-
ten 12jährigen Scotch gekostet. Der Scheinwerfer ist aber auch etwas be-
sonderes. Das Gehäuse ist original von einem 125cc Chopper, zusammenge-
bastelt mit dem Innenleben einer LED Taschenlampe. Ich möchte behaupten,
sowas hat keiner an seinem Rad. Der analoge Tacho freut mich aber auch
jedesmal wenn ich draufsitze, und an den Weisswandreiffen kann ich mich
auch nicht sattsehen. Als ich das Rad gekauft habe, waren normale schwarze
Reifen drauf. Aber ein Bonanzarad ohne Weisswandreifen ist kein echtes Bo-
nanzarad. Ich kann mich also nicht wirklich auf ein Lieblingsteil festlegen, ich
denke, der durch die Summe der Originalteile entstandene Charme, kombiniert
mit Spezialteilen wie Sattel und Lampe ist es, der das Rad ausmacht.
Und wohin fährst du am liebsten damit?
Sobald die Sonne rauskommt überall hin, alle kleinen Wege. Eigentlich brauchst
du auch jemanden der auch so ein Fahrrad hat, denn es dauert ewig um von A
nach B zu kommen. Aber darum geht es ja auch nicht. Man ist schließlich auf
einem Stuhl auf Rädern unterwegs. Trotzdem ist es mein Krafttraining. Wenn
man z.B. Berge hochfährt, ist das die „Stepper“ Technik, weil man auf dem Rad
steht wie Frauen im Fitnesscenter auf dem Stepper. Es hat also auch noch
einen gesundheitlichen Zusatznutzen. Und ausserdem sind alle Leute be-
geistert von dem Rad. Die Älteren weil es für sie einen gewissen Nostalgiewert
hat, und die Jüngeren weil es aussieht wie ein Moped. Mein Tabakhändler
hat mir letztens ein altes schwarz-weiß Bild von sich auf einem Bonanzarad
gezeigt, auf dem Foto war er zwölf Jahre alt. Und mein kleiner Neffe will immer
gar nicht mehr absteigen.
BAR: Woher hast du dieses Schmuckstück Ümit?
Ümit Yurdagul: Von einem ehemaligen Arbeitskollegen, ein Ex-Hippie mit einem
Faible für alte und schöne Fahrräder. Er kam eines Tages mit einem Trans-
porter voll mit Rädern an, und da war das Bonanza dabei. Ich wusste, dass er
bereits acht Stück besitzt, und so bin ich ihm 3 Stunden hinterhergelaufen,
und habe ihn beackert: Verkauf mir das Fahrrad, verkauf mir das Fahrrad,
bitte! Da er aber schlechte Erfahrungen im Verkauf mit Bonanza Rädern ge-
macht hat – das letzte das er verkauft hatte, nachdem er es mit viel Arbeit
und Schweiß restauriert hatte, wurde vom Käufer mit der dreifachen Summe
weiterverkauft – wollte er es mir nicht geben. „Nur an einen Liebhaber“ hat
er immer wieder gesagt. Irgendwann war er glaube ich so genervt, dass er
meinte: „Gib mir hundert Euro – das Rad war zu dem Zeitpunkt in einem nicht
allzu guten Zustand – und dann lass mich in Frieden.“ Das war vor gut 2 1/2
Jahren.
Das klingt nach einem fairen Preis!
Absolut! Die hundert Euro hatte ich glücklicherweise einstecken, und hab sie
ihm gleich in die Hand gedrückt, bevor er es sich anders überlegen konnte.
Ich musste ihm aber versprechen, das Rad „auf edelste Art und Weise“ zu
behandeln.
Und dann hat die eigentliche Arbeit wahrscheinlich erst richtig begonnen, oder?
Oh ja. Das erste dreiviertel Jahr stand die Kiste nur in der Garage, ich wollte
zuerst die ganzen Originalteile auftreiben. Das war aber nicht so einfach,
schließlich sprechen wir von einem Jet Star Bonanza Rad in der „Excellent“
Ausstattung, also die Sonderausstattung. Aber man lässt sich ja auch Zeit mit
so etwas, und befasst sich gerne mit jeder Speiche einzeln.
Wie lange hat es gedauert das Rad in den Zustand zu bringen, wie es jetzt dasteht?
Schwer zu sagen, vielleicht 50 bis 60 Arbeitsstunden. Oder lass es 80 bis 100
Stunden sein, das wäre auch nicht übertrieben. Aber wie gesagt, man hockt ja
gerne daran! Das Zusammenbauen gehört zur Aura des Rades. Nur wer sich
die Hände schmutzig macht, kann das Fahren später genießen!
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„Das hat mich eine Flasche feinsten 12jährigen Scotch gekostet.“
I [HEART] MY VELO