Angewandte Psychologie www.psychologie.zhaw.ch
Zürcher Fachhochschule
Bachelorarbeit
Selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte
Eine qualitative Studie aus motivationspsychologischer Sicht
Karin Lehmann Niederhäuser Vertiefungsrichtung Laufbahn- und Rehabilitationspsychologie
Referentin: Prof. Dr. phil. Ulrike Zöllner
Winterthur, Mai 2008
Diese Arbeit wurde im Rahmen des Bachelorstudienganges am Departement P der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW verfasst. Eine Publikation bedarf der vor-gängigen schriftlichen Bewilligung durch das Departement Angewandte Psychologie. ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Departement Angewandte Psy-chologie, Minervastrasse 30, Postfach, 8032 Zürich.
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Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 3 1.1 Problemstellung und Relevanz 3 1.2 Fragestellung, Hypothesen und Zielsetzung 3 1.3 Ein- und Abgrenzung des Themas 4 1.4 Methodik und Aufbau der Arbeit 5 2. Theoretische Grundlagen 5 2.1 Allgemeine Begriffsklärungen 6 2.1.1 Berufliche Neu-Orientierung 6 2.1.2 Lebensmitte 6 2.1.3 Selbst-Wahl 7 2.2 Der Begriff der Motivation und das Konstrukt des Motivs 7 2.3 Inhaltstheorien der Motivation 10 2.3.1 Die Hierarchie der Bedürfnisse nach Maslow (1954) 10 2.3.2 Die ERG-Theorie nach Alderfer (1972) 11 2.3.3 Die Motivtheorie nach McClelland (1985) 12 2.4 Prozesstheorien der Motivation 13 2.4.1 Das Risiko-Wahl-Modell nach Atkinson (1957) 13 2.4.2 Die Valenz-Instrumentalitäts-Erwartungs-(VIE)-Theorie
nach Vroom (1964) 14 2.4.3 Das Erweiterte Kognitive Motivationsmodell nach Heckhausen und
Rheinberg (1980) 15 3. Untersuchungsmethode 18 3.1 Qualitatives Interview und semiprojektives Verfahren als Untersuchungs-
instrumente 18 3.2 Stichprobe und Aufbau der Untersuchung 22 3.3 Vorgehen 24 3.3.1 Leitfaden und semiprojektiver Test 24 3.3.2 Pretest 25 3.3.3 Acht problemzentrierte Interviews und Multi-Motiv-Gitter (MMG) 25 4. Ergebnisse 26 4.1 Datenanalyse 26 4.2 Beschreibung der Ergebnisse 26 4.2.1 Fallspezifische Ergebnisse 27 4.2.1.1 Interview und MMG von Herrn A 27
4.2.1.2 Interview und MMG von Frau B 29 4.2.1.3 Interview und MMG von Frau C 32 4.2.1.4 Interview und MMG von Frau D 34 4.2.1.5 Interview und MMG von Herrn E 37 4.2.1.6 Interview und MMG von Herrn F 39 4.2.1.7 Interview und MMG von Herrn G 42 4.2.1.8 Interview und MMG von Frau H 44 4.2.2 Fallübergreifende Ergebnisse 47
4.2.2.1 Persönliche Motive 47 4.2.2.2 Situative Anreize (affektive Variablen) 49 4.2.2.3 Persönliche Erwartungen (kognitive Variablen) 52 4.2.2.4 Auslösendes Ereignis 54
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5. Diskussion 54 5.1 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse 55 5.2 Beantwortung der Fragestellung und Prüfung der Hypothesen 59 5.3 Kritische Betrachtung und einschränkende Bemerkungen 63 5.4 Schlussfolgerungen und weiterführende Gedanken 65 6. Abstract 67 7. Literaturverzeichnis 68 8. Anhang 71 8.1 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 71 8.1.1 Verzeichnis der Abbildungen 71 8.1.2 Verzeichnis der Tabellen 71 8.2 Brief an die Berufs- und Laufbahnberater und -beraterinnen 72 8.3 E-Mail an alle Studierenden der Angewandten Psychologie der ZHAW 73 8.4 Aushang zur Suche von sich selbst meldenden Personen 74 8.5 Interviewleitfaden 75 8.6 Transkriptionsregeln 78 8.7 Auswertungsleitfaden 79 8.8 Fallübergreifende Ergebnisse in Listen- oder Tabellenform 87
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1. Einleitung
1.1 Problemstellung und Relevanz
In der westlichen postindustriellen Gesellschaft zerbröckelt die klassische oder klassisch
geplante Laufbahn zusehends, die herkömmliche Dreiteilung Schule/Berufsbildung – Er-
werbsleben – Ruhestand hat sich aufgelöst, die „monogame Arbeit“ gehört der Vergangen-
heit an und die „Second Career“ wird zum Vorboten einer langfristigen Veränderung be-
stehender Arbeits- und Lebensformen (Gross & Rogger, 2000, S. 811 ff.). So organisieren
immer mehr Menschen im mittleren Erwachsenenalter ihr (Berufs-)leben neu, sei dies auf
freiwilliger oder unfreiwilliger Basis. Sie werden zu „Lebensunternehmern“, die ihr Ge-
samtkunstwerk Leben umfassend gestalten; dabei orientieren sie sich nicht bloss an mate-
riellen Massstäben, sondern schliessen Sinnfragen mit ein (z. B. weniger Geld versus mehr
Befriedigung). Karriere wird nicht mehr nur als vorgezeichneter Lebensweg verstanden,
sondern auch – im Sinne des französischen ‚la carrière’ - als Steinbruch mit vielen losen
Elementen (Rogger, 2001, S. 11). Damit nimmt die Relevanz beruflicher Neu-Orientierung
auf allen Stufen der sozialen Schichtung und der beruflichen Hierarchie zu. Die Gründe da-
für sind vielfältig und hängen zum grossen Teil mit den gesamtgesellschaftlichen Trends
zur Ökonomisierung des gesamten Lebens (Wertschöpfung als umspannendes Ziel), zur
Flexibilisierung (weichere, weniger fassbare Strukturen) und zur Individualisierung (Ver-
lust von Sicherheiten) zusammen (Rogger, 2001, S. 11).
Eine Literaturrecherche zu selbst gewählter beruflicher Neu-Orientierung in der Lebens-
mitte, die keinen beruflichen und/oder finanziellen Aufstieg darstellt, ergab in dieser Form
keine Treffer. Das mag einerseits an der relativ stark eingegrenzten Thematik liegen, ande-
rerseits könnte es ein Zeichen dafür sein, dass das Thema der freiwilligen beruflichen Neu-
Orientierung in der Lebensmitte erst langsam in den Blickpunkt des allgemeinen Interesses
rückt, als Folge der postindustriellen gesamtgesellschaftlichen Trends.
1.2 Fragestellung, Hypothesen und Zielsetzung
Im Zusammenhang mit der zuvor kurz erläuterten gesellschaftlichen Entwicklung konzent-
riert sich die vorliegende qualitative Arbeit auf die Frage, was Frauen und Männer in der
Lebensmitte veranlasst, sich aufgrund eigener Entscheidung beruflich neu zu orientieren
und zu diesem Zweck eventuell noch eine Zweitausbildung zu absolvieren. Die konkrete
Fragestellung lautet:
Welches sind die Motive für eine selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte, die keinen beruflichen und/oder finanziellen Aufstieg darstellt?
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Neben der Frage nach den persönlichen Beweggründen für eine berufliche Neu-
Orientierung in der Lebensmitte steht die Prüfung von vier thematisch damit verbundenen
Annahmen im Zentrum des Interesses. Die Verfasserin dieser Arbeit geht davon aus, dass
durch eine berufliche Neu-Orientierung primär der Wunsch zum Ausdruck gebracht wird,
bisher ungenutzte Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Tragen kommen zu lassen. Ausserdem
dürften äussere und/oder innere Ereignisse wie z. B. unerfüllte Karriereerwartungen oder
persönliche Erkenntnisse bei der Verwirklichung eines Berufswechsels eine Rolle spielen.
Bezüglich persönlicher Merkmale liegt die Annahme zugrunde, dass Personen, die sich be-
ruflich neu orientieren, von der Überzeugung geleitet werden, die angestrebte Neu-
Orientierung auch erfolgreich meistern zu können. Zudem werden jene Menschen, die eine
Zweitausbildung zur Ausübung des erwünschten zukünftigen Berufs absolvieren, wahr-
scheinlich stark von Situationen angezogen, in denen ihre Leistung gemessen und entspre-
chend gewürdigt wird. Insofern prüft die vorliegende Arbeit folgende Hypothesen:
Der Anreiz für eine selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung liegt primär im Wunsch nach der Verwirklichung bisher eher brach gelegener Fähigkeiten.
Äussere und/oder innere Ereignisse stossen die seit längerem vorhandene Motivation zu einer beruflichen Neu-Orientierung an.
Personen, die sich beruflich neu orientieren, weisen eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung auf.
Menschen, die eine Zweitausbildung zwecks beruflicher Neu-Orientierung vornehmen, sind überdurchschnittlich leistungsmo-tiviert.
Neben der Beantwortung der Fragestellung und Prüfung der Hypothesen verfolgt diese Ar-
beit ein weiteres Ziel, nämlich in explorativer Form weitere Komponenten zu beleuchten,
welche eine selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte beeinflussen
könnten.
1.3 Ein- und Abgrenzung des Themas
In der vorliegenden Arbeit wird das Thema der beruflichen Neu-Orientierung durch drei
Parameter eingegrenzt: (i) Es handelt sich um eine selbst gewählte Neu-Orientierung, d.h.
eine in eigener Person gefällte Entscheidung zu einem Berufswechsel. Somit entfallen be-
rufliche Neu-Orientierungen infolge teilweiser Invalidität, Um- oder Restrukturierung, Ent-
lassung, Freistellung, erzwungener Frühpensionierung, etc. (ii) Die berufliche Neu-
Orientierung findet in der Lebensmitte, zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr, statt. Neu-
Orientierungen aufgrund einer Korrektur bezüglich der ersten Berufswahl oder aufgrund
besserer Karrierechancen in einem anderen Berufsfeld fallen daher tendenziell eher weg.
(iii) Die Neu-Orientierung stellt keinen beruflichen und/oder finanziellen Aufstieg dar.
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Damit werden Berufswechsel, die aus berufshierarchischen und/oder monetären Gründen
vorgenommen werden, ausgeschlossen.
Das Thema der selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der Lebensmitte, die kei-
nen beruflichen und/oder finanziellen Aufstieg darstellt, wird in der vorliegenden Arbeit
hauptsächlich aus motivationspsychologischer Sicht betrachtet. Daher werden im theoreti-
schen Teil vor allem Begriffe, Theorien und Modelle aus der Motivationspsychologie er-
läutert.
1.4 Methodik und Aufbau der Arbeit
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine theoretische und empirische Arbeit,
wobei die theoretischen motivationspsychologischen Konzepte und Modelle den Bezugs-
rahmen der empirischen Untersuchung darstellen. Da die Motivation von Personen, die
sich in der Lebensmitte freiwillig beruflich neu orientieren, noch nicht untersucht wurde
und eine differenzierte Beschreibung der Motivationslage interessierte, lag eine qualitative
Untersuchungsmethode nahe. Als Erhebungsmethoden wurden deshalb das problemzent-
rierte Interview kombiniert mit dem semiprojektiven Verfahren des Multi-Motiv-Gitters
für Anschluss, Leistung und Macht (Schmalt, Sokolowski und Langens, 2000) gewählt.
In einem ersten theoretischen Teil werden in Kapitel 2 für die Fragestellung zentrale Be-
griffe (berufliche Neu-Orientierung, Lebensmitte und Selbst-Wahl) sowie theoretische
Grundlagen der Motivationspsychologie erarbeitet. Dabei werden zentrale motivationspsy-
chologische Konzepte definiert sowie ausgewählte, für den empirischen Teil relevante In-
halts- und Prozessmodelle aufgezeigt. In einem zweiten empirischen Teil werden in Kapi-
tel 3 zuerst die Untersuchungsinstrumente des halbstandardisierten problemzentrierten In-
terviews und des semiprojektiven Verfahrens des Multi-Motiv-Gitters, die Stichprobe be-
stehend aus 8 Personen, der Aufbau und das Vorgehen der Untersuchung vorgestellt. Da-
nach werden in Kapitel 4 die Daten analysiert und die Ergebnisse der Untersuchung be-
schrieben, sowohl fallspezifisch als auch fallübergreifend. Schliesslich folgt in Kapitel 5
die Diskussion der Ergebnisse, indem diese zusammengefasst und interpretiert, die Frage-
stellung beantwortet und die vier Hypothesen geprüft, kritische und einschränkende Be-
merkungen sowie weiterführende Gedanken dargelegt werden.
2. Theoretische Grundlagen Im Folgenden werden ausgewählte Begriffe sowie motivationspsychologische Definitionen
und Theorien, die einem vertieften Verständnis der nachfolgenden Untersuchung zugrunde
liegen, ausgeführt.
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2.1 Allgemeine Begriffsklärungen
Die Kernbegriffe der vorliegenden Arbeit werden zwecks einheitlichen Verständnisses der
Termini definiert.
2.1.1 Berufliche Neu-Orientierung
Gemäss Duden (2002a, S. 671) wird das reflexive Verb ‚sich orientieren’ unter anderem
wie folgt definiert: „sich nach jmdm./etwas richten“. Das Adjektiv ‚neu’ kann in einer sei-
ner Bedeutungen „bisher unbekannt, noch nicht da gewesen, noch nicht üblich“ (Duden
2002a, S. 652) heissen. Das Adjektiv ‚beruflich’ wird als „den Beruf betreffend“ (Duden
2002a, S. 199) definiert. Die mit zwei Adjektiven näher bezeichnete Nominalisierung ‚be-
rufliche Neu-Orientierung’ meint folglich eine den Beruf betreffende Ausrichtung, die bis-
her unbekannt, noch nicht da gewesen, noch nicht üblich war. Es wird eine Ausrichtung in
einen bisher weitgehend unbekannten Beruf vorgenommen.
Der zusammen gesetzte Begriff ‚berufliche Neu-Orientierung’ ist in der Literatur kaum
anzutreffen, insbesondere nicht im Zusammenhang mit einer selbst gewählten beruflichen
Neu-Orientierung, die unabhängig von zwingenden Faktoren verläuft. Die definitorischen
Grenzen sind daher nicht klar angegeben. Die Verfasserin bezeichnet damit jedoch einen
freiwilligen Wechsel in einen bisher weitgehend unbekannten Beruf oder in einen neuen
Beruf, der zwar ähnliche oder gleiche Inhalte aufweist, aber durch andere Tätigkeiten ge-
kennzeichnet ist. Der Berufswechsel kann dabei mit oder ohne vorhergehende Zweitaus-
bildung vorgenommen werden. Da der Wechsel indessen in ein bisher unbekanntes oder
mehrheitlich fremdes Berufsfeld führt, bedingt er meist eine weitere Ausbildung. Im mitt-
leren Erwachsenenalter betrifft dies vor allem höhere Fachschulen, Fachhochschulen oder
Universitäten.
2.1.2 Lebensmitte
Aus entwicklungspsychologischer Sicht gibt es keine einheitliche Definition des Begriffs
der ‚Lebensmitte’. Laut Faltermaier, Mayring, Saup und Strehmel (2002, S. 136) wird hin-
gegen das mittlere Erwachsenenalter zwischen das 40ste und 60ste Lebensjahr eines Men-
schen gelegt. In der vorliegenden Arbeit wird ‚Lebensmitte’ in diesem Sinn als die Zeit-
spanne zwischen dem Ende des frühen Erwachsenenalters im 40sten Lebensjahr und dem
Beginn des späten Erwachsenenalters im 60sten Lebensjahr bezeichnet. Wird die Zeit-
spanne der durchschnittlichen beruflichen Aktivität eines Menschen in der westlichen In-
dustrie- und Dienstleistungsgesellschaft jedoch zwischen das 18. und 65. Lebensjahr ge-
legt, befindet sich die beruflich definierte Lebensmitte um 41.5 Lebensjahre herum. Die
beruflich definierte Lebensmitte wird folglich von der in dieser Arbeit massgebenden Zeit-
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spanne des mittleren Erwachsenenalters zwischen dem 40sten und 60sten Lebensjahr ten-
denziell überschritten.
2.1.3 Selbst-Wahl
Das Nomen ‚Wahl’ wird im Duden als „das Sichentscheiden für eine von mehreren Mög-
lichkeiten“ (2002a, S. 1027) definiert. Das Demonstrativpronomen ‚selbst’ bedeutet ge-
mäss Duden (2002a, S. 812) „in eigener Person (und nicht ein anderer)“. Der zusammen
gesetzte Begriff der ‚Selbst-Wahl’ bezeichnet demnach eine in eigener Person gefällte Ent-
scheidung für eine von mehreren Möglichkeiten. In Bezug auf eine berufliche Neu-
Orientierung im mittleren Erwachsenenalter wird jedoch der Begriff der ‚Selbst-Wahl’ –
insbesondere die in eigener Person gefällte Entscheidung für eine von mehreren Möglich-
keiten – in der Realität durch sehr viele beeinflussende Faktoren eingeschränkt. Das beruf-
liche Umfeld, die private Situation in zwischenmenschlicher und wirtschaftlicher Hinsicht
und die individuelle physische und psychische Leistungsfähigkeit sind nur einige der Fak-
toren, die eine reine Selbst-Wahl im Alter zwischen 40 und 60 Jahren als eher illusorisch
erscheinen lassen: Die Entscheidung kann zwar in eigener Person gefällt werden, sie wird
indessen unweigerlich – bewusst oder unbewusst – von mehreren Faktoren mit beeinflusst.
Das gleiche gilt für die Wahl aus mehreren Möglichkeiten; die Möglichkeiten werden klar
durch Rahmenbedingungen eingeschränkt und begrenzt. Innerhalb dieser mitbedingenden
Faktoren, die mit zunehmendem Alter vielfältiger und gewichtiger werden, kann aber der
freie Wille noch spielen.
Selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte kann folglich definiert
werden als eine in eigener Person gefällte Entscheidung für einen Wechsel in einen bisher
unbekannten Beruf zwischen dem 40sten und 60sten Lebensjahr.
2.2 Der Begriff der Motivation und das Konstrukt des Motivs
Der Begriff der Motivation stammt ursprünglich aus dem lateinischen Verb ‚movere’
(= bewegen) und bezeichnet in der Alltagssprache die „Summe der Beweggründe, die das
menschliche Handeln auf den Inhalt, die Richtung und die Intensität hin beeinflussen“
(Duden, 2002b, S. 478). Motivation bezieht sich im Alltag also auf Dinge oder Ideen, die
einen Menschen in Bewegung versetzen. Diesem Alltagsverständnis entspricht jedoch
nicht der Gebrauch des Begriffs der Motivation in der Wissenschaft.
In der Psychologie umschreibt Motivation kein klar umgrenztes psychisches Feld, sondern
sie wird als heterogenes hypothetisches Konstrukt gesehen – als etwas gedanklich Kon-
struiertes – mit dem die Zielgerichtetheit menschlichen Handelns erklärt werden soll
(Rheinberg, 2004a, S. 13 ff.). Motivation bildet damit eine Sammelbezeichnung für eine
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Vielzahl von Phänomenen und Teilprozessen, die sich auf die Ausrichtung des momenta-
nen Lebensvollzugs auf einen positiv bewerteten Zielzustand beziehen. Zugleich wird auch
eine aktivierende Ausrichtung, weg von einem negativ bewerteten Zielzustand, mit einge-
schlossen. Motivation beinhaltet folglich diverse – bewusste und unbewusste – Phänomene
und Teilprozesse, die sich beim Erzeugen, Steuern und Aufrechterhalten von physischen
und psychischen Aktivitäten bezüglich eines angestrebten Ziels erkennen lassen. Motivati-
onspsychologie beschäftigt sich also mit der Erklärung von Richtung, Ausdauer und Inten-
sität von Verhalten, wobei dem angestrebten Zielzustand und seiner Attraktivität grosses
Gewicht zukommt.
In der Fachliteratur wird oft zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation unter-
schieden, obwohl keine übereinstimmende Meinung über die genaue Differenzierung
herrscht. Gemäss Heckhausen und Heckhausen (2006, S. 331 ff.) gibt es mindestens sechs
verschiedene Theorien über die Abgrenzung dieser zwei Motivationsarten. Aktuelle Gül-
tigkeit scheinen jedoch nur noch die folgenden drei Theorien zu haben, die je einen spezi-
fischen Aspekt einer Handlung und deren Ziel beleuchten:
(1) Im Zentrum der ersten Konzeption steht das persönliche Bedürfnis nach Bestätigung
bzw. Erweiterung der eigenen Tüchtigkeit (Kompetenzbedürfnis) und Selbstbestim-
mung (Autonomiebedürfnis). Je höher die Einschätzung der eigenen Tüchtigkeit
(White, 1959, S. 321-323) und der Selbstbestimmung (deCharms, 1968, S. 269-270)
ausfällt, desto ausgeprägter zeigt sich im Allgemeinen die intrinsische Motivation für
ein bestimmtes Verhalten. Wird das Handlungsziel eher nicht der eigenen Tüchtigkeit,
sondern externalen Ursachen zugeschrieben, und die Handlung nicht freiwillig, son-
dern aufgrund externaler Handlungsfolgen wie Belohnung oder Bestrafung unternom-
men, zeigt sich Verhalten tendenziell eher extrinsisch motiviert.
(2) Der zweite Ansatz setzt den Fokus auf das handlungsbegleitende emotionale Erleben.
Je ausgeprägter sich die freudige Hingabe an eine Sache, das persönliche Absorbiert-
sein durch eine Handlung zeigt, desto höher scheint die intrinsische Motivation zu sein.
Wird eine Handlung eher freudlos und ohne persönliches Interesse und Engagement
ausgeführt, scheint die extrinsische Motivation zu überwiegen. Csikszentmihalyi
(1975) hat im Zusammenhang mit der intrinsischen Motivation den Begriff des ‚Flow’
geprägt, der einen Zustand des (selbst-)reflexionsfreien gänzlichen Aufgehens in einer
Tätigkeit bezeichnet und damit den Idealzustand intrinsischer Motivation darstellt.
(3) Die dritte Konzeption fokussiert auf die thematische Übereinstimmung von Mittel
(Handlung) und Zweck (Handlungsziel). Je höher sich die thematische Übereinstim-
mung zwischen Mittel (Handlung) und Zweck (Handlungsziel) darstellt, desto ausge-
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prägter zeigt sich tendenziell die intrinsische Motivation (Heckhausen, 1980, S. 611).
Die höchste Übereinstimmung zwischen Handlung und Handlungsziel zeigt sich im
Sprichwort ‚Der Weg ist das Ziel’; die intrinsische Motivation würde sich auf einem
Höhepunkt befinden. Präsentieren sich Mittel (Handlung) und Zweck (Handlungsziel)
unterschiedlich, scheint die extrinsische Motivation zu überwiegen.
Der gemeinsame Nenner dieser drei Theorien – und somit Kern der intrinsischen Motivati-
on – besteht im Ausführen einer Handlung ohne äussere Veranlassung, sondern lediglich
um ihrer selbst willen.
Motive werden als „überdauernde Vorlieben“ (Rheinberg, 2004a, S. 20) und damit zeitsta-
bile Personenmerkmale definiert, die nicht direkt beobachtbar sind, sondern wiederum hilf-
reiche Gedankenkonstrukte darstellen, welche das Handeln von Personen besser verständ-
lich machen. Sie stellen eine Neigung dar, bestimmte Situationen positiv oder negativ zu
bewerten und sie dementsprechend eher aufzusuchen bzw. zu meiden (Vollmeyer und
Brunstein, 2005, S. 10). Motive sind also eine Art spezifisch eingefärbte Brillen, die ganz
bestimmte Aspekte von Situationen auffällig machen und als wichtig hervorheben (Rhein-
berg, 2004a, S. 63).
In der gegenwärtigen Forschung wird zwischen impliziten und expliziten Motiven unter-
schieden, welche innerhalb der gleichen Inhaltsdomänen (z. B. Leistung, Macht, Anschluss
oder Aggression) durch unterschiedliche Anreize angeregt werden und in verschiedenarti-
gen Formen des Verhaltens Ausdruck finden (Heckhausen & Heckhausen, 2006, S. 246 ff).
Implizite, zumeist unbewusste Motive bringen eher affektive Bedürfnisse zum Ausdruck,
die sich auf affektive Höhepunkte der eigenen Biografie beziehen. Auf neurophysiologi-
scher Ebene wird die Aktivierung impliziter Motive von der Ausschüttung eines spezifi-
schen Neurohormons begleitet. Explizite, mehrheitlich bewusste Motive bringen hingegen
kognitive Bedürfnisse zum Ausdruck, die sich auf den Aufbau und Erhalt eines stabilen
und positiven Selbstkonzepts beziehen und eher in Verhaltensroutinen als in den Höhe-
punkten des Alltags ihren Ausdruck finden. Weinberger und McClelland (1986, S. 581 ff.)
spekulierten, dass implizite Motive auf einem Anreizsystem beruhen, das sich in der Evo-
lution vergleichsweise früh entwickelte, später jedoch durch ein kognitives Motivations-
system ergänzt und überformt wurde. Entscheidend dafür war die Entwicklung der Sprache
und die damit verbundene Möglichkeit, das eigene Verhalten in Übereinstimmung mit kul-
turell vermittelten Regeln vorausschauend planen und reflektieren zu können. Da implizite
Motive einen hohen unbewussten Anteil besitzen, werden sie nicht anhand von Fragebögen
oder Interviews erhoben wie explizite Motive, sondern über projektive Verfahren, wo sie
ihren Niederschlag in freien Assoziationen und Gefühlen finden.
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Für die motivationale Erklärung menschlichen Verhaltens müssen sowohl Aspekte der Per-
son (Motive, Werte und Interessen) als auch solche der Situation (potenzielle Anreize) be-
trachtet werden. Motive müssen durch Situationsmerkmale angeregt werden, bevor sie
verhaltenswirksam werden können. Liegen in der Situation Anreize vor, so resultiert aus
der Interaktion von Motiv und Anreiz die aktuelle Motivation, die dann wiederum das
Verhalten beeinflusst. Motiv und Anreiz sind dabei eng miteinander verknüpft, denn wel-
cher Anreiz in einer Situation wahrgenommen wird, hängt von der Stärke des dazu passen-
den Motivs ab (Rheinberg, 2004b, S. 21). Neben den zentralen motivationspsychologi-
schen Komponenten der Person und Situation wird Verhalten zudem noch durch die sub-
jektive Einschätzung der Erreichbarkeit eines Handlungsziels gesteuert. Diese subjektive
Erfolgswahrscheinlichkeit wird als Erwartung bezeichnet (Rheinberg, 2004a, S. 71).
2.3 Inhaltstheorien der Motivation
Motivationstheorien werden im Wesentlichen in zwei grosse Gruppen unterteilt, in Inhalts-
theorien und – historisch gesehen – neuere Prozesstheorien (Welge & Junghanns, 2004/05,
Folie 3). Inhaltstheorien oder substanzielle Theorien gehen von Klassifikationen menschli-
cher Motive oder Bedürfnisse aus; sie beschäftigen sich mit dem Inhalt von Motiven und
zeigen auf, welche Motive einer Person Verhalten erzeugen, steuern, aufrechterhalten und/
oder beenden. Inhaltstheorien stützen ihre Verhaltenserklärung hauptsächlich auf die Mo-
tivdisposition einer Person; Situationsfaktoren werden kaum in die Analyse mit einbezogen
und kognitive Variablen werden als Verhaltensdeterminanten überhaupt nicht berücksich-
tigt (vgl. Brandstätter, 2002, S. 1).
2.3.1 Die Hierarchie der Bedürfnisse nach Maslow (1954)
Die Bedürfnishierarchie von Maslow (1954) stellt die wohl bekannteste Klassifikation von
Bedürfnisgruppen für menschliches Handeln dar. Gemäss Maslow (2002, S. 62 ff.) gibt es
fünf angeborene Bedürfnisgruppen, die in eine wertbezogene Hierarchie nach ihrer Rolle
in der Persönlichkeitsentwicklung geordnet werden:
Abb.1: Die Bedürfnispyramide nach Maslow (2002, S. 64)
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Dabei dienen hinreichend befriedigte Bedürfnisse dem Menschen nicht mehr als Motivati-
on, sondern aktivieren höhere Bedürfnisse, welche die treibende Rolle im Handeln des
Menschen einnehmen (Befriedigungs-Progressions-Hypothese). Die unteren drei Stufen
sowie Teile der vierten Stufe werden auch Defizitbedürfnisse genannt: Defizite und Män-
gel auf diesen Stufen sorgen für Unzufriedenheit und entsprechende Defizit- bzw. Hand-
lungsmotivation. Diese Bedürfnisse müssen zugunsten menschlicher Zufriedenheit (Ho-
möostase) befriedigt werden; sind sie jedoch erfüllt, gibt es keine weitere Motivation in
diese Richtung mehr. Teile der vierten Stufe sowie die fünfte Stufe stellen Wachstumsbe-
dürfnisse dar. Maslow nannte die oberste Stufe auch ‚Motivation, sich zu entwickeln’ oder
‚Bedürfnisse des Seins’. Diese Wachstumsbedürfnisse können im Gegensatz zu den Defi-
zitbedürfnissen nie wirklich befriedigt werden; sie schliessen keine Homöostase ein.
Selbstaktualisierung beinhaltet ein fortwährendes Drängen, die eigenen Potentiale auszu-
schöpfen; alles zu sein, was man sein kann; umfassend sich selbst zu werden. Die Beschäf-
tigung mit Aufgaben auf dieser Ebene ist Garant für tatsächliche und dauerhafte Lebenszu-
friedenheit. Selbstaktualisierung kann indessen erst verhaltensbestimmend werden, wenn
alle übrigen Bedürfnisse befriedigt sind. Insofern ist sie eine Folge von Bedürfnisbefriedi-
gung und kann als eine Befriedigungsfolge definiert werden. Der Grundgedanke Maslows
besteht darin, dass Menschen nicht nur von Bedürfnissen getrieben, sondern auch von all-
gemeinen Bedürfnisfolgen angezogen werden. Entwicklungspsychologisch gesehen ent-
sprechen die aufsteigenden Bedürfnisgruppen einer lebensgeschichtlichen Folge: Während
für den Säugling die Befriedigung existentieller, physiologischer Bedürfnisse im Vorder-
grund stehen, gewinnen Aspekte der Selbstaktualisierung erst im Erwachsenenalter an Be-
deutung (Heckhausen & Heckhausen, 2006, S. 59). Maslows Hierarchie der Bedürfnis-
gruppen impliziert dabei ein ganz bestimmtes, humanistisch geprägtes Menschenbild: der
nach Selbstaktualisierung strebende, kreative Mensch.
2.3.2 Die ERG-Theorie nach Alderfer (1972)
Alderfer (1972) lehnt sich in seiner ERG-Theorie an Maslow an. Er reduziert dessen Be-
dürfnishierarchie aufgrund inhaltlicher Überlappungen auf drei Bedürfnisklassen, die je-
doch nicht hierarchisch angeordnet sind, sondern gleichberechtigt nebeneinander stehen
(Alderfer, 1972, S. 9 ff.):
Existenzbedürfnisse (Existence needs): Sie beinhalten physiologische Bedürfnisse, mate-
rielle Bedürfnisse sowie Sicherheitsbedürfnisse. Im Wesentlichen umfassen die Existenz-
bedürfnisse Alderfers die ersten beiden Stufen von Maslows Bedürfnishierarchie, physio-
logische Bedürfnisse und Sicherheitsbedürfnisse.
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Beziehungsbedürfnisse (Relatedness needs): Sie umschliessen soziale Bedürfnisse der Zu-
gehörigkeit und Zuneigung sowie zwischenmenschliche Bedürfnisse wie Anerkennung,
Achtung und Wertschätzung. Diese Beziehungsbedürfnisse beinhalten mehrheitlich Mas-
lows Liebesbedürfnisse und Selbstachtung.
Wachstumsbedürfnisse (Growth needs): Sie umfassen Bedürfnisse nach Autonomie,
Kompetenz und Selbsterfüllung. Inhaltlich decken sie sich grösstenteils mit Maslows
Bedürfnis nach Selbstaktualisierung.
Bezüglich der drei Bedürfnisklassen postuliert Alderfer folgende Hypothesen (Hentze,
1990, S. 32):
Frustrations-Hypothese: Je weniger E- oder R-Bedürfnisse erfüllt werden, desto dominan-
ter werden sie. Unbefriedigte Bedürfnisse auf E- und R-Niveau nehmen folglich in ihrer
Intensität zu.
Frustrations-Regressions-Hypothese: Je weniger R- oder G-Bedürfnisse befriedigt werden,
desto stärker werden E- bzw. R-Bedürfnisse. Unbefriedigte Bedürfnisse auf R- und G-
Niveau führen zu nächst tieferen E- bzw. R-Bedürfnissen.
Befriedigungs-Progressions-Hypothese (ähnlich wie bei Maslow): Werden E- oder R-
Bedürfnisse befriedigt, werden nächst höhere R- bzw. G-Bedürfnisse bedeutsam. Je mehr
G-Bedürfnisse befriedigt werden, desto stärker werden sie. Erfolgserlebnisse auf G-Niveau
führen somit tendenziell zu einer Erhöhung des Anspruchsniveaus und entsprechenden
Verhaltensweisen.
2.3.3 Die Motivtheorie nach McClelland (1985)
In der Motivtheorie nach McClelland (1985) wird die affektive Komponente motivationa-
ler Prozesse betont. Motiviertes Handeln ist danach das durch die Sozialisation erlernte
Streben nach positiven Affekten, die sich einstellen, sobald eine motivierte Person auf ent-
sprechende situative Anreize trifft. Die individuelle Präferenz für eine bestimmte Affekt-
klasse wird als Motiv bezeichnet. Es werden drei Motivklassen unterschieden, denen je-
weils ein spezifischer Affekt zugeordnet wird und die jeder Mensch in unterschiedlicher
Ausprägung besitzt (McClelland, 1985, S. 221-372):
(1) Das Leistungsmotiv wird aktiviert, wenn Personen sich in Situationen befinden, in de-
nen ein Gütemassstab für eigene Leistungen vorliegt. Die affektiven Reaktionen des
Stolzes/der Befriedigung bei antizipiertem Erfolg bzw. der Betroffenheit/Scham bei an-
tizipiertem Misserfolg werden handlungsleitend und führen zu einem Aufsuchen bzw.
Vermeiden solcher situativer Anreize.
(2) Das Machtmotiv wird angeregt, wenn Personen mit Situationen konfrontiert werden, in
denen sie das Erleben und Verhalten anderer Personen beeinflussen können. Die affek-
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tiven Reaktionen der Stärke/Wichtigkeit/Macht bei antizipierter Einflussnahme bzw.
der Schwäche/Nichtigkeit/Unterlegenheit bei antizipiertem Kontrollverlust werden
verhaltensbestimmend und führen zu einem Aufsuchen bzw. Vermeiden solcher situa-
tiver Anreize.
(3) Das Anschlussmotiv wird aktiviert, wenn Personen sich in Situationen befinden, in de-
nen sie gesellige und vertraute Beziehungen herstellen können. Es stellen sich Affekte
der Zugehörigkeit und Geborgenheit bei antizipierten positiven Beziehungen bzw. der
Zurückweisung und des Ausgeschlossenseins bei antizipierten negativen Beziehungen
ein. Diese Affekte bestimmen die zukünftigen Handlungen und führen wiederum zu ei-
nem Aufsuchen bzw. Vermeiden entsprechender situativer Anreize.
Diese drei Motive und die dazugehörigen Anreize steuern bereits das Verhalten in den ers-
ten Lebensjahren, und abhängig von angeborenen Unterschieden und den Reaktionen der
sozialen Umwelt auf diese Verhaltensweisen (Sozialisation) bilden sich Unterschiede in
den Motivdispositionen für Leistung, Macht und Anschluss von Erwachsenen heraus. Zu
den drei aufsuchenden Motiven gehören ihre jeweils spezifischen Antagonisten: Furcht vor
Misserfolg, Furcht vor Kontrollverlust und Furcht vor Zurückweisung.
2.4 Prozesstheorien der Motivation
Prozesstheorien beschäftigen sich mit den Prozessen und deren vielfältigen Variablen, die
zur Entscheidung für ein bestimmtes Handlungsziel sowie zur Initiierung, Steuerung, Auf-
rechterhaltung und Beendigung einer Handlung führen. Sie untersuchen die Beziehungen
zwischen den Variablen, die das Verhalten beeinflussen, und erklären, wie eine Handlung
bis zu ihrem Ziel ausgeführt wird (Brandstätter, 2002, S. 1-2).
2.4.1 Das Risiko-Wahl-Modell nach Atkinson (1957)
Das formalisierte Modell der Leistungsmotivation nach Atkinson (1957, S. 359 ff.) berück-
sichtigt neben der Motivdisposition einer Person (hohes Leistungsmotiv) auch die situati-
ven Faktoren der Erfolgswahrscheinlichkeit und des Erfolgsanreizes:
Abb. 2: Das Grundmodell der ‚klassischen’ Motivationspsychologie (Rheinberg, 2004a, S. 70)
14
Somit hängt die Zielsetzung einer leistungsmotivierten Person von zwei Variablen ab, der
subjektiv eingeschätzten Erfolgswahrscheinlichkeit, d.h. der Wahrscheinlichkeit, ein ge-
setztes Ziel zu erreichen, sowie vom Erfolgsanreiz, d.h. der Anziehungskraft eines Erfolgs.
Hinter diesem Erwartung-mal-Wert-Modell steht die Grundannahme, dass eine leistungs-
motivierte Person ihre Handlungsziele bewusst wählt und dabei rational vorgeht, indem sie
die Erfolgswahrscheinlichkeit (Erwartung) mit der Attraktivität des jeweiligen Ziels (Wert)
verrechnet. Jene Alternative wird schliesslich gewählt, die den höchsten subjektiv erwarte-
ten Nutzen verspricht. Das vor allem in laborexperimenteller Forschung überprüfte Risiko-
Wahl-Modell sagt voraus, für welche Aufgabe sich eine leistungsmotivierte Person ent-
scheiden wird, wenn ihr mehrere Aufgaben unterschiedlicher Schwierigkeit zur Auswahl
stehen. Die subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit wird dabei durch die wahrgenommene
Aufgabenschwierigkeit bestimmt, der Erfolgsanreiz wird über die antizipierten Gefühle bei
Erfolg (Stolz, positive Selbstbewertung) bzw. Misserfolg (Betroffenheit, negative Selbst-
bewertung) vermittelt. Die resultierende Handlungstendenz wird schliesslich als eine mul-
tiplikative Verknüpfung von subjektiver Erfolgswahrscheinlichkeit und Erfolgsanreiz be-
rechnet, die mit der individuellen Ausprägung des Leistungsmotivs (Hoffnung auf Erfolg,
Furcht vor Misserfolg) gewichtet wird. Erfolgsmotivierte Personen, die gerne leistungsbe-
tonte Situationen aufsuchen, wählen dabei häufig Aufgaben mittlerer Schwierigkeit, wäh-
rend misserfolgsmeidende Personen, die leistungsbetonten Situationen eher aus dem Weg
gehen, tendenziell Aufgaben tiefer oder hoher Schwierigkeit aussuchen (Rheinberg, 2004a,
S. 72 ff.). Atkinson hat somit den Nachweis erbracht, dass die bevorzugte Höhe des An-
spruchsniveaus motivabhängig (erfolgsmotiviert bzw. misserfolgsmeidend) ist.
2.4.2 Die Valenz-Instrumentalitäts-Erwartungs-(VIE-)-Theorie nach Vroom (1964)
Die VIE-Theorie nach Vroom (1964) stellt ein weiteres formalisiertes Erwartung-mal-
Wert-Modell dar (Rheinberg, 2004a, S. 130-131). Ein gewähltes Handlungsergebnis zieht
meist mehrere Folgen nach sich, die für die handelnde Person mit je einer verschieden ho-
hen Valenz (Wert, Anreiz) besetzt sind. Dabei gibt die Instrumentalität die je subjektiv
eingeschätzte Wahrscheinlichkeit an, mit der das Handlungsergebnis zu den einzelnen Fol-
gen führen wird (Erwartung). Für jede Folge eines Handlungsergebnisses bzw. Verhaltens
kann nun das Produkt aus der Enge der subjektiv eingeschätzten Instrumentalitätsverknüp-
fung und der persönlich eingestuften Höhe der Valenz gebildet werden. Je enger sich der
angenommene Zusammenhang zwischen Handlungsergebnis und Folge und je wichtiger
sich die betroffene Folge zeigen, umso stärker sind die motivationalen Auswirkungen der
entsprechenden Folge auf die Aufrechterhaltung der Handlung bzw. erneute Erreichung
des Handlungsergebnisses. Die Aufsummierung aller Produkte bezeichnet die Gesamt-
15
attraktivität eines Handlungsergebnisses. Ist diese Summe negativ, zeigt sich das Hand-
lungsergebnis abschreckend, ist sie positiv, so ist es anziehend – beides umso stärker, je
höher die Produktsummen ausfallen. Auf diese Weise können thematisch sehr unterschied-
liche Anreize einer Handlung in ihrer subjektiven Gewichtung zugleich berücksichtigt
werden. Im Unterschied zum Risiko-Wahl-Modell nach Atkinson differenziert die VIE-
Theorie die Konzepte des Werts und der Erwartung. Somit liegt der Wert (Valenz) eines
Handlungsziels in der VIE-Theorie nicht mehr nur in einer positiven Selbstbewertung wie
bei Atkinson, sondern in vielfältigen subjektiv bewerteten Folgen. Die Durchführung einer
Handlung hängt nicht mehr allein von der subjektiven Erfolgseinschätzung ab (Ergebnis-
erwartung), sondern die erwartete Enge des Zusammenhangs zwischen dem Handlungs-
ergebnis und den Folgen (Instrumentalitätserwartung) spielt auch eine Rolle; ein wichtiges
Faktum, denn das Eintreten von Folgen liegt oft nicht in der eigenen Verfügungsgewalt.
Trotz der Differenzierung der Wert- und Erwartungskomponente berücksichtigt das VIE-
Modell jedoch nur extrinsische Anreize und vernachlässigt die in der Tätigkeit selbst lie-
genden Anreize (intrinsische Motivation), die gerade bei interessengeleitetem Handeln von
zentraler Bedeutung sind (Brandstätter, 2002, S. 1).
2.4.3 Das Erweiterte Kognitive Motivationsmodell nach Heckhausen und Rheinberg (1980) Die Grundstruktur des Erweiterten Kognitiven Motivationsmodells nach Heckhausen und
Rheinberg (1980, S. 16 ff.) besteht aus der von einer Person wahrgenommenen Situation,
einer möglichen Handlung, dem Ergebnis dieser Handlung und den Folgen, welche das
Handlungsergebnis mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit nach sich ziehen wird. Die
Autoren unterscheiden dabei drei Arten von Erwartungen und verknüpfen diese je mit der
Wirkung auf die Motivation einer Person:
Abb. 3: Das Erweiterte Kognitive Motivationsmodell in handlungstheoretischer Darstellung (Heckhausen & Rheinberg, 1980, S. 16)
(1) Die Situations-Ergebnis-Erwartung bezeichnet die Höhe der Erwartung einer Person,
dass aus der aktuellen Situation das Ergebnis resultiert, ohne dass die Person handelnd ein-
16
greift. Je höher die Situations-Ergebnis-Erwartung wird, umso schwächer zeigt sich die
Motivation einer Person, handelnd einzugreifen.
(2) Die Handlungs-Ergebnis-Erwartung stellt die Höhe der Erwartung einer Person dar,
dass die eigene Handlung zum angestrebten Ergebnis führt. Sie entspricht der subjektiven
Erfolgswahrscheinlichkeit nach Atkinson (vgl. Kapitel 2.4.1). Je höher die Handlungs-
Ergebnis-Erwartung wird, desto stärker zeigt sich die Motivation einer Person zu handeln.
(3) Die Ergebnis-Folge-Erwartung(en) bezeichnen je die Höhe der Erwartung einer Per-
son, dass das Ergebnis zu den angestrebten Folgen führt. Vroom nennt dies Instrumentali-
tät (vgl. Kapitel 2.4.2). Je höher die Ergebnis-Folge-Erwartung(en) sind, desto stärker fällt
die Handlungsmotivation aus.
Neben den drei Erwartungstypen spielt der Anreiz eine weitere Rolle. Wie bei Vroom (vgl.
Kapitel 2.4.2) wird der Anreiz (Wert) jeder einzelnen Folge mit der Wahrscheinlichkeit
gewichtet, dass das Ergebnis diese Folge auch tatsächlich herbeiführt (Ergebnis-Folge-
Erwartung, Instrumentalität). Hat eine Folge z. B. einen hohen Anreiz, jedoch eine tiefe
Ergebnis-Folge-Erwartung, wird der Einfluss der anreizstarken Folge aufgrund der niedri-
gen Ergebnis-Folge-Erwartung auf die Handlungsmotivation eher gering sein. Fazit: Die
Motivation zu handeln wird umso stärker, je sicherer das Handlungsergebnis Folgen mit
hohem Anreizwert nach sich zieht, und umso eher dieses Ergebnis vom eigenen Handeln
abhängt.
Bei genauer Betrachtung verbergen sich hinter der Handlungs-Ergebnis-Erwartung zwei
Komponenten: Um eine hinreichend hohe Erfolgswahrscheinlichkeit haben zu können,
muss (i) eine Person sich sicher sein, dass sie eine bestimmte Handlung ausführen kann
und (ii) sich recht sicher sein, dass diese Handlung auch zum gewünschten Ergebnis führt
(Rheinberg, 2004a, S. 137). Diese beiden Erwartungskomponenten werden von Bandura
(1977, S. 193) als Selbstwirksamkeitserwartung und Handlungsergebniserwartung unter-
schieden:
Abb. 4: Die Unterscheidung von Wirksamkeits- und Ergebniserwartung nach Bandura (1977, S. 193)
Gemäss Straub, Werbik und Kochinka (2002, S. 516 ff.) erweist sich die Erfahrung der ei-
genen Selbstwirksamkeit während der Entwicklung im Kindes- und Jugendalter von zent-
17
raler Bedeutung: Selbstwirksamkeit bildet die Grundlage von Handlungskompetenzen, so-
zial angepasstem Verhalten und einem soliden Selbstbewusstsein. Im Gegensatz dazu kön-
nen dauernde Erfahrungen der eigenen Unwirksamkeit zum Syndrom der gelernten Hilflo-
sigkeit (Seligman, 1975) führen. Selbstwirksamkeit wird durch eigene und beobachtete
Lernerfahrungen, verbale Überzeugungen und die Wahrnehmung von körperlichen und ge-
fühlsmässigen Zuständen geprägt. Der höchste Einfluss wird indessen relevanten eigenen
Erfahrungen zugeschrieben. Dabei nimmt die betroffene Person subjektive Beurteilungen
über die Erfahrungen vor, die nicht mit objektiv eingeschätzten Fertigkeiten identisch sein
müssen, sondern von spezifischen Lernerfahrungen abhängen: Erfolgs- und Misserfolgser-
fahrungen werden sich selbst zugeschrieben und generalisiert. Bandura (1997; zit. nach
Stief, 2001, S. 14) geht bezüglich Zielauswahl, Zielbindung und der Anstrengung, ein ge-
setztes Ziel zu erreichen, von folgenden drei Verknüpfungsmechanismen aus:
(1) Die Selbstwirksamkeitserwartung wirkt sich auf die Zielwahl aus: Je höher die
Einschätzung der Selbstwirksamkeit, desto herausfordernder das Ziel.
(2) Die Selbstwirksamkeitserwartung wirkt sich auch auf die Bindung an das Ziel aus: Je
höher das subjektive Empfinden der Selbstwirksamkeit, desto stärker die Zielbindung.
Die Realisierung des Ziels wird als persönliches Anliegen betrachtet.
(3) Die Zielbindung wirkt sich wiederum auf die Anstrengung, das Ziel zu erreichen, aus:
Je höher die Zielbindung, desto stärker die Anstrengung, das Ziel zu erreichen. Die
Persistenz der Zielverfolgung steigt folglich mit zunehmender Selbstwirksamkeit.
Eine subjektiv eingeschätzte Selbstwirksamkeit korreliert also positiv mit der Höhe des
Anforderungsniveaus eines gewählten Ziels, der Stärke der persönlichen Zielbindung so-
wie der Persistenz der Zielverfolgung. Die bis anhin beschriebenen motivationalen Variab-
len, die in ihrem Zusammenspiel eine Handlung beeinflussen und erklären, wie eine Hand-
lung bis zu ihrem Ziel ausgeführt wird, werden in folgendem Schema wiedergegeben:
Abb. 5: Das Drei-Ebenen-Modell zur Motivationsanalyse nach Rheinberg (1989, S. 104)
18
Die subjektive Episodenstruktur beschreibt dabei die antizipierte Handlungskette von der
anfänglichen Situation bis zu den Folgen eines Handlungsergebnisses. Auf der Erwar-
tungsebene finden sich die kognitiven Variablen in Form von Erwartungen als Verhaltens-
determinanten, während auf der Anreizebene die affektiven Variablen in Form von tätig-
keits- und zweckzentrierten Anreizen als Verhaltensdeterminanten dargestellt sind. Aus ei-
ner persönlichen Verrechnung dieser kognitiven und affektiven Variablen folgt schliesslich
die resultierende Motivation und daraus wiederum die Handlungstendenz.
3. Untersuchungsmethode
Der folgende methodische Teil erläutert die Instrumente der Untersuchung und stellt die
Stichprobe, den Aufbau und das Vorgehen von der Datenerhebung bis zur Datenauswer-
tung vor. Dabei werden auch die Gründe und Überlegungen, die hinter den gewählten For-
schungsmethoden stecken, dargelegt.
Die vorliegende Untersuchung hat mehrheitlich qualitativen Charakter. Aufgrund der
Stichprobe, die kein verkleinertes Abbild der Population darstellt, sowie der niedrigen
Fallzahl von 8 Personen kann die Studie nicht als repräsentativ angesehen werden.
3.1 Qualitatives Interview und semiprojektives Verfahren als Untersu-chungsinstrumente
Die folgende Untersuchung hat drei Ziele (vgl. Kapitel 1.2): Erstens soll die Fragestellung
bezüglich der Motive, die zu einer selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der
Lebensmitte führen, die keinen beruflichen und/oder finanziellen Aufstieg darstellt, beant-
wortet werden. Zweitens sollen die vier Hypothesen der beruflichen Neu-Orientierung in
Bezug (i) auf bisher eher brach gelegene Fähigkeiten, (ii) auf Ausschlag gebende äussere
und/oder innere Ereignisse, (iii) auf hohe Selbstwirksamkeit und (iv) auf überdurchschnitt-
liche Leistungsmotivation im Falle einer erforderlichen Zweitausbildung untersucht wer-
den. Drittens sollen in explorativer Form weitere Gesichtspunkte betrachtet werden, die
sich aus dem Gesprächsverlauf ergeben und welche eine berufliche Neu-Orientierung be-
einflussen könnten. Diese neuen Informationen könnten zur Aufstellung weiterer Hypothe-
sen führen. Auf dem Hintergrund dieser Zielsetzungen schienen das qualitative problem-
zentrierte Interview kombiniert mit dem semiprojektiven Verfahren des Multi-Motiv-
Gitters (MMG) für Anschluss, Leistung und Macht (Schmalt et al., 2000) als geeignete Un-
tersuchungsinstrumente. Die betroffenen Personen sollten selbst zur Sprache kommen
können, denn nur sie selbst sind Experten für ihre eigenen Bedeutungsgehalte. Die teilwei-
se implizite Motivdisposition, über das MMG ermittelt, sollte Aufschluss über die Höhe
der vorhandenen Leistungsmotivation geben.
19
Mit dem halbstandardisierten, problemzentrierten Befragungsverfahren werden explizite
Daten – bewusst repräsentierte Aspekte des Selbstkonzepts – anhand eines persönlichen
Interviews erhoben, das auf einem Gesprächsleitfaden (vgl. Anhang 8.5) basiert. In der
vorliegenden Untersuchung betrifft dies die Fragestellung bezüglich der expliziten Motive
für eine berufliche Neu-Orientierung, die Hypothesen der beruflichen Neu-Orientierung in
Bezug auf brach gelegene Fähigkeiten, auf Ausschlag gebende äussere und/oder innere
Ereignisse und auf hohe Selbstwirksamkeit, sowie das Generieren weiterer Faktoren, die
eine Neu-Orientierung beeinflussen könnten.
Mit dem semiprojektiven Verfahren des Multi-Motiv-Gitters (MMG) für Anschluss, Leis-
tung und Macht (Schmalt et al., 2000) werden explizite wie implizite Motive – bewusst
wie unbewusst repräsentierte Motive des Selbstkonzepts – erfasst. Im Motiv-Gitter wird zu
14 mehrdeutigen Bildern je eine Reihe von Aussagen vorgegeben, in denen relevante Nie-
derschläge von Motiven in ihrer Hoffnungs- und Furchtkomponente dargestellt sind. Die
Personen geben an, ob eine Aussage zum entsprechenden Bild ‚passt’ oder nicht. Da durch
die bildhafte Vorgabe der Motivbezug nicht bewusst wird, kann hier von einem impliziten
Vorgang gesprochen werden; die Antwortproduktion dagegen stellt einen expliziten Vor-
gang dar, weil auf bewusst repräsentierte motivthematische Inhalte zurückgegriffen wird.
Das Verfahren stellt somit eine Verbindung von impliziten und expliziten Motiven her, da-
her wird die Gitter-Technik auch als semiprojektiv bezeichnet (Schmalt, 1999; zit. nach
Schmalt et al., 2000, S. 7). In der vorliegenden Untersuchung gibt die resultierende Motiv-
disposition somit Aufschluss über die Hypothese der selbst gewählten beruflichen Neu-
Orientierung, kombiniert mit einer Zweitausbildung, in Bezug auf überdurchschnittliche
Leistungsmotivation. Mit der gleichzeitigen Erfassung expliziter und halb-impliziter Moti-
ve des Selbstkonzepts kann eine allfällige (In)Kongruenz zwischen den bewusst gefassten
Zielen, die eine Person verfolgt, und den unwillkürlich angeregten Motivationstendenzen
ausgemacht werden. Im Fall einer Inkongruenz wären Konflikte bei der Zielverfolgung
wahrscheinlich – insbesondere bei einer zeit- und energieintensiven Zielverfolgung – und
willentliche Steuerungsprozesse (Volitionsprozesse) würden zur Handlungsdurchführung
nötig werden.
Das problemzentrierte Interview als Methode der qualitativen Sozialforschung fasst alle
Formen der offenen, halbstandardisierten Befragung zusammen (Mayring, 2002, S. 67 ff.).
Es lässt den Befragten möglichst frei zu Wort kommen, ist jedoch auf eine bestimmte
Problemstellung zentriert, die von der Interviewerin vorgängig theoretisch analysiert wor-
den ist. Das Ziel besteht darin, dass die Befragten ihre Einstellungen und Meinungen offen,
20
also ohne vorgegebene Antwortalternativen, formulieren können. Das problemzentrierte
Interview zeichnet sich durch folgende sechs Kriterien aus (Keuneke, 2005, S. 254-257):
(1) Offenheit: Das qualitative Interview basiert auf offenen Fragen. Dabei werden kleine Fallzahlen in der Tiefe untersucht, es wird weniger Informationsbreite mittels einer grossen Stichprobe erreicht. Ausserdem können in explorativer Form bis anhin unbeachtete Kom-ponenten bezüglich der Fragestellung auftauchen. (2) Forschung als Kommunikation: Eine distanzierte Beobachtungshaltung der Forscherin ist nicht erwünscht, da lebendige Kommunikation zwischen Forscherin und Interviewten entstehen soll. Dadurch zeigt sich der Forschungsprozess von der Forscherin abhängig und nicht objektiv. (3) Prozessorientierung: Sowohl der untersuchte Gegenstand als auch die Forschung wer-den als Prozess angesehen. Es werden keine statischen Repräsentationen eines unveränder-lichen Wirkungszusammenhangs erfasst, sondern prozesshafte Ausschnitte der Reproduk-tion und Konstruktion sozialer Realität. (4) Reflexivität: Trotz kleiner Fallzahlen lassen sich anhand der untersuchten Einzelfälle Aussagen von allgemeinem Wert über den untersuchten Bereich ableiten, denn die Aussa-gen der Befragten geben Aufschluss über übergeordnete Relevanzsysteme. In einem refle-xiven Prozess hat die Forscherin die Aufgabe, die Sinnkonstitution der Interviewten unter Rückgriff auf deren eigene Sinnsysteme zu dechiffrieren. (5) Explikation: Das Vorgehen der Forscherin muss offen gelegt werden. Erst die Kenntnis der angewandten Regeln ermöglicht es, die Güte der Daten zu beurteilen, die Interpretatio-nen intersubjektiv nachzuvollziehen und ein Bild von ihrer Stichhaltigkeit zu erhalten. (6) Flexibilität: Der Gesprächsleitfaden ist gegebenenfalls noch während des qualitativen Interviews anzupassen, um den Befragten Raum für eigene Themen zu geben. Die Ge-sprächssteuerung liegt daher sowohl bei der Forscherin als auch bei den Interviewten.
Aufgrund der Kriterien der Offenheit, der Forschung als Kommunikation, der Reflexivität
und der Flexibilität bietet sich das problemzentrierte Interview für den Forschungsbereich
der selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der Lebensmitte aus motivationspsy-
chologischer Sicht an: Einzelfälle werden mittels offener Fragen, die Raum für persönliche
Themen lassen, mit hohem Interesse seitens der Forscherin und in eingehender Tiefe unter-
sucht, so dass Aussagen von allgemeinem Wert abgeleitet werden können. Ausserdem bie-
tet sich das problemzentrierte Interview mit seinem eher explorativen Charakter bei For-
schungsbereichen an, die noch wenig untersucht sind, wie dies bei der vorliegenden Unter-
suchung der Fall ist. Auch können in einer problemzentrierten Befragung komplexe per-
sönliche Zusammenhänge in grösserer Tiefe erfasst werden als in einer standardisierten
quantitativen Befragung. Bezeichnenderweise wird für das problemzentrierte Interview in
der Fachliteratur oft auch der Begriff des Tiefeninterviews (Mayring, 2002, S. 66) verwen-
det. Allerdings ist das problemzentrierte Interview aufgrund seiner Tiefenschärfe mit ei-
nem hohen Arbeitsaufwand pro Fall verbunden, weshalb meist ein kleinerer Praxisaus-
schnitt untersucht wird als dies im gleichen Zeitraum mittels einer quantitativen Studie
möglich wäre. Schliesslich erfüllt die Methode des problemzentrierten Interviews die bei-
21
den Gütekriterien der Objektivität (Unabhängigkeit der Ergebnisse von der forschenden
Person) und Reliabilität (Reproduzierbarkeit der Ergebnisse) der empirischen Forschung
nur unzureichend (vgl. Diekmann, 2005, S. 216 f.). Trotzdem können Tendenzen und so-
mit gültige Aussagen über den Einzelfall hinaus abgeleitet werden, denn im Exemplari-
schen kann sich das Generelle spiegeln (vgl. Keuneke 2005, S. 256).
Das semiprojektive Verfahren des Multi-Motiv-Gitters für Anschluss, Leistung und Macht
(Schmalt et al., 2000) erfasst die drei impliziten Motive des Anschlusses/der Affiliation,
der Leistung und der Macht jeweils in ihrer Hoffnungs- und Furchtkomponente. Es werden
also insgesamt sechs Motivkomponenten gemessen: Hoffnung auf Anschluss und Furcht
vor Zurückweisung, Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg, Hoffnung auf Kon-
trolle und Furcht vor Kontrollverlust (vgl. Kapitel 2.3.3). Dabei bezieht sich die Interpreta-
tion der Werte des MMG nur auf überdurchschnittliche Werte, jeweils in der Hoffnungs-
oder Furchtkomponente oder in beiden Komponenten desselben Motivs. Um die Beschrei-
bung dieser überdurchschnittlichen Werte bei den fallspezifischen Ergebnissen in Kapitel
4.2.1 nicht bei jeder Person wiederholen zu müssen, werden sie im Folgenden kurz wie-
dergegeben (Schmalt et al., 2000, S. 31-33):
Personen mit einer überdurchschnittlichen Hoffnung auf Anschluss (HA) suchen den Kon-takt mit fremden oder wenig bekannten Menschen. Sie fühlen sich sicher in deren Gegen-wart und können Interaktionen für beide Seiten angenehm gestalten. Auf andere Menschen hinterlassen sie meist einen sehr guten Eindruck. Ihr Spass am Umgang mit Menschen kann jedoch dazu führen, dass sie andere wichtige Ziele zugunsten ihres Bemühens um ei-nen freundschaftlichen Umgang schlicht vergessen. Menschen mit einer starken Furcht vor Zurückweisung (FZ) werden in sozialen Situationen, in denen sie auf fremde Menschen treffen, unsicher und nervös. Sie fürchten, die anderen Personen könnten sie nicht mögen und werden den Kontakt rasch wieder abbrechen wollen. Ihre Unsicherheit wirkt häufig ansteckend, so dass es tatsächlich zu einer für beide Seiten unbefriedigenden und oft auch sehr kurzen Interaktion kommt, die sie am liebsten vermeiden würden. Wenn sie aber feste Freundschaften aufbauen, dann kann man auf ihre Hilfe und Loyalität zählen. Menschen mit einer überdurchschnittlichen Hoffnung auf Erfolg (HE) suchen die Ausein-andersetzung mit Gütemassstäben: Sie haben Spass daran, etwas besser zu machen, sich selbst oder andere zu übertreffen und neue Wege zu gehen. Als Perfektionisten arbeiten sie dafür, alles ihnen Wichtige so gut wie möglich zu machen. Am liebsten suchen sie sich Aufgaben, die eigenverantwortliches Handeln verlangen und ihnen eine Leistungsrück-meldung garantieren. Meist setzen sie sich realistische Ziele, und sie sind zu einer Unter-drückung momentaner Impulse zugunsten langfristiger Ziele fähig. Ihre Neigung zu Ein-zelarbeit und Sorgfalt lässt sie zuweilen eigenbrötlerisch und leicht zwanghaft erscheinen. Zudem leidet die Effizienz ihrer Arbeit manchmal unter Anstrengungen, die nur zu mini-malen Verbesserungen führen und sich vielleicht auch nicht auszahlen. Eine starke Furcht vor Misserfolg (FM) zeigt sich in Situationen, in denen die Leistung einer Person hinsicht-lich ihrer Güte bewertet wird. Personen mit einer starken Furcht im Leistungsbereich ha-ben häufig Angst zu versagen, insbesondere wenn ihre Leistung mit der Leistung anderer Personen verglichen werden kann. Furcht vor Misserfolg kann deshalb zu einer besonderen Gründlichkeit und Sorgfalt führen und einem permanenten Bemühen, keinen Fehler zu machen. Wird die Furcht zu stark, kann sie bei komplexen Aufgaben, die hohe Anforde-
22
rungen an das Denken in Zusammenhängen fordern, dysfunktional werden und zu einem blinden Aktionismus führen. Menschen mit einer überdurchschnittlichen Hoffnung auf Kontrolle (HK) fühlen sich zu Si-tuationen hingezogen, in denen sie das Verhalten anderer Menschen beeinflussen und kon-trollieren können. Sie demonstrieren gerne ihre Kompetenzen und stehen gerne im Mittel-punkt der Aufmerksamkeit anderer. Manchmal sind sie charismatisch und haben die Fä-higkeit, andere Menschen zu begeistern, für ihre Zwecke einzuspannen und zu führen. Die Neigung, immer das Heft in die Hand zu nehmen und Kontrolle auszuüben, kann auch schaden, z. B. wenn hierarchische Strukturen stören oder explizit nicht erwünscht sind. Furcht vor Kontrollverlust (FK) äussert sich in Situationen, die sich durch Dominanzstruk-turen auszeichnen. Sie richtet sich vor allem darauf, den Verlust von Einfluss, Kontrolle und Prestige zu vermeiden. Gelingt dies nicht, fliehen sie in die Fantasie, in der sie ihre Kontrollinteressen befriedigen können. Menschen mit einer starken Furcht vor Kontroll-verlust befürchten oft, ein Kontrahent könnte sie ihrer Machtposition berauben, sie ausste-chen oder zum Trottel machen. Daher verwenden sie viel Zeit auf die Absicherung ihrer Machtposition. Im Zweifelsfall sichern sie lieber ihre Position, als dass sie an das Wohl der ganzen Gruppe denken, und in Mitarbeitern sehen sie eher künftige Gegner als gleichbe-rechtigte Kollegen. Ihr Verhalten konvergiert darauf, den Status Quo zu sichern.
Gemäss Schmalt et al. (2000, S. 15-26) wurde das MMG zwischen 1994 und 1998 an einer
Gesamtstichprobe von 1919 Personen (44,8% Frauen und 55,2% Männer) normiert, wel-
che vorwiegend aus Studierenden und Lehrpersonen mit einem Durchschnittsalter von un-
gefähr 30 Jahren bestand. Das Gütekriterium der Objektivität kann aufgrund einer Stan-
dardinstruktion, einer Auswertungsschablone sowie der Förderung der Interpretationsob-
jektivität durch vorliegende verbale Umschreibungen für die Ausprägungen der einzelnen
Motivkomponenten als erfüllt betrachtet werden. Die Retest-Reliabilität mit Koeffizienten
der einzelnen Motivkomponenten zwischen 0,77 und 0,92 darf als zufrieden stellend be-
zeichnet werden. Die internen Konsistenzen (Cronbachs Alpha findet sich zwischen 0,61
und 0,72) sind mässig bis befriedigend (Rheinberg, 2004b, S. 97). Befunde zur Bestätigung
der Validität liegen schliesslich sowohl aus der laborexperimentellen Forschung als auch
aus der Feldforschung vor. Rheinberg (2004b, S. 98) bezeichnet das MMG als hoch öko-
nomisches, normiertes und gut dokumentiertes Routineverfahren zur Messung der drei
Motive.
3.2 Stichprobe und Aufbau der Untersuchung
Für die vorliegende Untersuchung wurde eine Stichprobe von acht Probanden und Proban-
dinnen gesucht, welche die folgenden Kriterien erfüllten: Sie befanden sich als Personen
des mittleren Lebensalters (40 - 60 Altersjahre) im Prozess einer beruflichen Neu-
Orientierung oder hatten eine berufliche Neu-Orientierung innerhalb der letzten 5 Jahre
abgeschlossen. Dabei musste die Neu-Orientierung aus freier Wahl geschehen sein und
durfte keinen beruflichen und/oder finanziellen Aufstieg im Vergleich zum vorherigen Be-
ruf darstellen. Als Zugangswege zu möglichen Probanden und Probandinnen wurden das
23
„Türwächter“-System, das Schneeballsystem sowie ein Aushang benutzt (Helfferich, 2005,
S. 155-156). Der stellvertretende Geschäftsstellenleiter des Laufbahnzentrums Zürich leite-
te anfangs Januar 2008 den im Anhang 8.2 dokumentierten Brief an die Berufs- und Lauf-
bahnberaterinnen der Erwachsenenbildung weiter. Diese dienten als „Türwächter“ und
meldeten mögliche Personen. Ausserdem wurden alle Studierenden der Angewandten Psy-
chologie an der ZHAW per E-Mail (vgl. Anhang 8.3) angeschrieben und gefragt, ob sie
Personen kennen würden, welche die Kriterien für die Interviewteilnahme erfüllten.
Schlussendlich wurden mögliche Personen über einen Aushang (vgl. Anhang 8.4) im Fo-
yer des Gebäudes der Angewandten Psychologie der ZHAW gesucht. Auf der Basis von
Informationen bezüglich Geschlecht, Alter, Zivilstand, Anzahl Kinder, Alter der Kinder
sowie ursprünglichem und neuem Beruf wurde anfangs Februar 2008 eine Stichprobe zu-
sammengestellt, die soweit möglich dem Prinzip „maximal unterschiedlich und trotzdem
typisch“ folgte (Helfferich, 2005, S. 153-154). Mit der ausgewählten Stichprobe und der
Stichprobengrösse von n = 8 wird kein Anspruch auf Repräsentativität erhoben (vgl. Kapi-
tel 3). Qualitative Forschung zielt mehr auf das Besondere und damit verbunden auf die
Rekonstruktion typischer Muster (Helfferich, 2005, S. 153). Nachfolgend findet sich ein
tabellarischer Überblick über die Stichprobe:
Herr A Frau B Frau C Frau D Herr E Herr F Herr G Frau H
Alter 43 53 48 42 42 41 54 45
Zivilstand/ Anzahl Kinder
verheiratet/ 1
verheiratet/ 2
geschieden/ 2
ledig/ 1
ledig/ keine
verheiratet/ 1
verheiratet/ 3
ledig/ keine
Alter der Kinder (Jahre)
6 25/28 16/18 2 Monate - 2 24/26/28 -
Erstausbil-dung/ur- sprüngli-cher Beruf
Lic. phil. I mit eidg. Di-plom als PR-Berater/ PR-Berater
Lehrerinnen- seminar/Pri- marlehrerin
1. Kinder-gärtnerin- nensemi-nar/Kinder-gärtnerin 2. Heilpäda-gogik/schu- lische Heil- pädagogin
Höhere Kaufmänni-sche Fach-schule (Hö-here Bundes-lehranstalt)/ Abteilungs-leiterin im Ausländer- und Passamt
Einige Stu-diensemester an der Uni Zürich/Infor-matiker
Lehre als Se-rigraf mit Höherer Fachschule als Diplom-techniker in Poygrafie/In-haber und Geschäfts-führer einer Druckerei
Lehrer- seminar/ 1. Heimlei-ter 2. Mitarbei-ter Suchtprä-vention 3. Projekt-manager beim HEKS
1. Zahnarzt-gehilfinnen-schule/Zahn-arztgehilfin 2. Eidg. Be-rufsprüfung zur Flight Attendant/ Flight Atten-dant
Zweitausbil-dung/neuer Beruf
keine/ Fachhoch-schuldozent und Leiter eines Nach-diplomstu-diengangs
ZHAW -Angewandte Medienwis- senschaft/ Journalistin
ZHAW - AngewandteMedienwis-senschaft/ Organisa-tionskommu-nikatorin
ZHAW - AngewandtePsycholo-gie/klinische Psychologin oder A & O - Psychologin
ZHAW - AngewandtePsychologie/klinischer Psychologe oder A & O -Psychologe oder Infor-matiker
ZHAW - Angewandte Psychologie/ A & O - Psychologe
keine/ Beruf in der Kommunika-tion oder im Sozialbe-reich
Höhere Tou-rismusfach-schule/Tou- rismusfach-frau
Tab. 1: Übersicht über die Stichprobe
24
3.3 Vorgehen
Die vorliegende Untersuchung wird durch ein zweistufiges Vorgehen charakterisiert. In ei-
nem ersten Schritt wurden mittels eines halbstandardisierten, problemzentrierten Inter-
views die expliziten Motive und Anreize für eine berufliche Neu-Orientierung, allfällige
Ereignisse, welche die seit längerem vorhandene Motivation anstiessen, sowie die selbst
eingeschätzte Selbstwirksamkeitserwartung zu erfassen versucht. In einem zweiten Schritt
wurden die Probanden und Probandinnen gebeten, den Fragebogen des Multi-Motiv-
Gitters (MMG) auszufüllen, um die Hypothese der selbst gewählten beruflichen Neu-
Orientierung, kombiniert mit einer Zweitausbildung, bezüglich überdurchschnittlicher Lei-
stungsmotivation eher implizit zu prüfen.
3.3.1 Leitfaden und semiprojektiver Test
Basierend auf der Fragestellung und den vier Hypothesen wurde der in Anhang 8.5 doku-
mentierte Interviewleitfaden erstellt. Dieser enthält alle wichtigen thematischen Gesichts-
punkte, die im Verlauf des Interviews angesprochen werden sollten. Durch diese Art der
Standardisierung wird eine gewisse Vergleichbarkeit der Antwortreaktionen verschiedener
befragter Personen ermöglicht (Diekmann, 2005, S. 446). Konkret handelt es sich um sechs
Hauptfragen mit je einer entsprechenden Nebenfrage und um eine Abschlussfrage. Ziel
war es, alle Hauptfragen zu stellen, die Nebenfragen konnten je nach Bedarf zwecks De-
taillierung bereits genannter Aspekte, Einführung noch nicht erwähnter Faktoren, etc. ge-
stellt werden. Für allfällige schwierige Interviews lagen ausserdem Aufrechterhaltungs-
und Steuerungsfragen vor (Helfferich, 2005, S. 91-92), die jedoch kaum zur Anwendung
kamen. Vor Beginn der eigentlichen Interviews wurden die Probanden und Probandinnen
über den garantierten Datenschutz, den Ablauf der Befragung, die Aufnahme des MMG
und die Weiterverarbeitung des erfragten Materials informiert; zudem wurden einige so-
ziodemografische Daten wie Alter, Zivilstand, Anzahl Kinder, Alter der Kinder, Erstaus-
bildung/ursprünglicher Beruf und Zweitausbildung/neuer Beruf erhoben. Sämtliche Inter-
views wurden entsprechend der Fokussierung von problemzentrierten Interviews auf die
Inhaltsebene auf Minidisc aufgenommen.
Im Anschluss an das problemzentrierte Interview wurde den Befragten das semiprojektive
Multi-Motiv-Gitter (MMG) für Anschluss, Leistung und Macht (vgl. Kapitel 3.1) vorge-
legt. Die Testresultate sollten Aufschluss über die Hypothese der selbst gewählten berufli-
chen Neu-Orientierung, kombiniert mit einer Zweitausbildung, in Bezug auf überdurch-
schnittliche Leistungsmotivation geben. Auch konnten somit allfällige (In)kongruenzen
zwischen eher unbewussten, impliziten Motiven und bewussten, expliziten Motiven aufge-
deckt werden.
25
Die Interviews und Tests fanden zwischen Anfang und Ende Februar 2008 teils in den
Räumlichkeiten des Departements Angewandte Psychologie der ZHAW, teils am jeweili-
gen Wohn- oder Arbeitsort der Befragten statt. Sie dauerten zwischen 60 und 90 Minuten.
3.3.2 Pretest
Zur vorgängigen Überprüfung des Leitfadens sowie zur Schulung der Rolle als Interviewe-
rin wurde in einer Pilotphase ein konsultativer Pretest mit einer 40-jährigen Studienkolle-
gin des 4. Semesters des Departements Angewandte Psychologie der ZHAW durchgeführt.
Die Probandin befindet sich in einem Prozess der selbst gewählten beruflichen Neu-
Orientierung: Als promovierte Molekularbiologin und ehemalige Delegierte des IKRK
möchte sie sich beruflich neu in Richtung Entwicklungspsychologie bewegen. Der Leitfa-
den stellte sich dabei als grundsätzlich geeignet heraus und liess auch genügend Freiraum
für eigene Aspekte der Probandin. Allerdings bedingte der relativ offene Rahmen hohe Ge-
sprächsbereitschaft seitens der interviewten Person. Aufgrund des Pretests wurde eine Fra-
ge der besseren Verständlichkeit wegen umformuliert und ein Zeitraster erarbeitet, um die
Dauer der einzelnen Hauptfragen und des gesamten Interviews besser steuern zu können.
3.3.3 Acht problemzentrierte Interviews und Multi-Motiv-Gitter (MMG)
Die auf Minidisc aufgezeichneten acht Interviews wurden in einem ersten Schritt durch
wörtliche Transkription vom Schweizerdeutschen ins Schriftdeutsche übertragen und somit
in eine schriftliche Form gebracht. Dabei wurde der Dialekt bereinigt und Satzbaufehler
wurden behoben (Mayring, 2002, S. 89 ff.). Ein Wortprotokoll hat den Vorteil, dass die
einzelnen Aussagen in ihrem Kontext gesehen werden und somit eine Basis für ausführli-
che Interpretationen geschaffen wird. Wichtige Informationen (Mundartausdrücke, Beto-
nungen, Pausen, etc.) wurden durch Sonderzeichen festgehalten (vgl. Anhang 8.6). Daraus
resultierte eine Datenmenge von 55 DIN-A4-Seiten mit einfachem Zeilenabstand. Die ur-
sprünglichen Interviewprotokolle finden sich aus Daten- und Personenschutzgründen nicht
im Anhang, sie können jedoch bei Bedarf bei der Verfasserin eingesehen werden.
Die im Multi-Motiv-Gitter (MMG) angekreuzten Gedanken, Gefühle und Erlebnisweisen,
die durch 14 alltägliche Bildsituationen angeregt werden können, wurden bezüglich der
drei Motive Anschluss, Leistung und Macht je in ihrer Hoffnungs- und Furchtkomponente
erfasst. Somit ergaben sich für jede Person sechs Motivkennwerte (Rohwerte, T-Werte und
Prozentränge), die mit Hilfe geschlechtsspezifischer Normtabellen (Schmalt et al., 2000, S.
43-45) ausgewertet wurden. Die Ergebnisse des MMG werden in der vorliegenden Arbeit
jedoch nur in einem deskriptiven Sinne verwendet, auf weiterführende statistische Auswer-
tungen der Resultate wird aufgrund der kleinen Stichprobe von 8 Personen verzichtet.
26
4. Ergebnisse Im Folgenden werden das Vorgehen bei der Datenanalyse und die Ergebnisse, fallspezi-
fisch und fallübergreifend, beschrieben.
4.1 Datenanalyse
Die Transkripte der acht Interviews wurden mittels strukturierender Inhaltsanalyse (May-
ring, 2002, S. 115) ausgewertet. Gemäss Mayring (2002, S. 118) hat diese Form der Aus-
wertung das Ziel, das vorliegende Material anhand eines durch die Theorie bestimmten
Kategoriensystems zu strukturieren. Bei der Bestimmung der Kategorien wurde darauf ge-
achtet, sämtliche theoretischen Aspekte mit der entsprechenden Fachterminologie zu be-
nennen, um einen direkten und transparenten Vergleich mit den theoretischen Grundlagen
(vgl. Kapitel 2) zu ermöglichen. In Anlehnung an Mayring (2003, S. 83) wurde dabei in
vier Arbeitsschritten vorgegangen:
(1) Definition der Kategorien: Auf dem theoretischen Hintergrund basierend wurden die
einzelnen Kategorien explizit definiert.
(2) Ankerbeispiele: Zu jeder Kategorie wurden konkrete Textstellen angeführt, die unter
eine Kategorie fielen und als Beispiele für diese Kategorie gelten sollten. Diese Ankerbei-
spiele hatten prototypische Funktion für die Kategorie.
(3) Kodierregeln: Um eindeutige Zuordnungen zu ermöglichen, wurden bei Abgrenzungs-
problemen zwischen einzelnen Kategorien Kodierregeln entwickelt. Nach der Auswertung
von vier Interviews hatten sich die Kodierregeln soweit bewährt, dass sie nicht mehr revi-
diert werden mussten. In der Folge wurden alle acht Interviews mit dem in Anhang 8.7
vorliegenden Auswertungsleitfaden durchgearbeitet. Die einzelnen Textausschnitte wurden
farbig markiert und damit den entsprechenden Kategorien zugeordnet.
(4) Qualitative Zusammenfassung und Reduktion der Aussagen innerhalb der einzelnen
Kategorien: In einem ersten Schritt wurden die Aussagen der einzelnen Befragten fallwei-
se paraphrasiert, generalisiert und ein erstes Mal reduziert (Mayring, 2003, S. 59-63). Die
so generierten Aussagen dienten als Grundlage für die Darstellung der fallspezifischen Er-
gebnisse. In einem zweiten Schritt wurden die Inhalte der einzelnen Kategorien fallüber-
greifend nochmals reduziert; sie dienten als Grundlage für die Beschreibung der fallüber-
greifenden Ergebnisse.
4.2 Beschreibung der Ergebnisse
Qualitatives Forschen zeichnet sich durch die Orientierung am Subjekt aus (Mayring,
2002, S. 24-25). Die Ganzheit, das Gewordensein (Historizität) und die praktischen Prob-
leme der befragten Personen stehen dabei im Zentrum. Daher werden die Ergebnisse der
27
Befragungen in einem ersten Schritt fallspezifisch dargestellt. In einem zweiten Schritt fol-
gen dann die fallübergreifenden Ergebnisse, wie sie sich aus der methodisch kontrollierten,
schrittweisen Verallgemeinerung des gesamten Materials ergaben.
4.2.1 Fallspezifische Ergebnisse
Die Ergebnisse der Interviews und Multi-Motiv-Gitter (MMG) werden im Folgenden ent-
sprechend den im Auswertungsleitfaden definierten Kategorien dargestellt.
4.2.1.1 Interview und MMG von Herrn A
Herr A ist 43 Jahre alt, verheiratet und hat ein Kind im Alter von 6 Jahren. Er studierte
ursprünglich Geschichte und Deutsch an der Universität Zürich und absolvierte danach be-
rufsbegleitend den 2-jährigen Lehrgang als eidgenössisch diplomierter PR-Berater. Er stieg
die Karriereleiter bis zur Position eines Kommunikationschefs eines grösseren Konzerns
hoch. Mit 40 Jahren wechselte er freiwillig und ohne eine weitere Ausbildung zu absolvie-
ren an eine Fachhochschule, wo er als Dozent und Leiter eines Nachdiplomstudiengangs
arbeitet.
Als explizite Motive nannte Herr A den Wunsch nach einer neuen beruflichen Herausfor-
derung und nach persönlicher Weiterentwicklung, nachdem er in der Kommunikations-
branche die höchste berufliche Karrierestufe erklommen hatte. Zudem wurden die Bedürf-
nisse nach mehr Selbstbestimmung, vor allem zeitlicher Art, sowie nach einer angemesse-
nen Arbeitsbelastung mit der Geburt der Tochter verhaltenswirksam.
Im MMG zeigten sich die folgenden Werte impliziter Motive:
Anschluss Leistung Macht
PR
HA
23
FZ
99
HE
27
FM
100
HK
19
FK
98 Erläuterung: HA: Hoffnung auf Anschluss; FZ: Furcht vor Zurückweisung
HE: Hoffnung auf Erfolg; FM: Furcht vor Misserfolg HK: Hoffnung auf Kontrolle; FK: Furcht vor Kontrollverlust PR: Prozentrang (Normbereich zwischen 16% und 84%) Fettschrift: Werte über bzw. unter der Norm
Herr A scheint von Situationen, welche je die Motivklassen Anschluss, Leistung oder
Macht anregen, stark angezogen zu sein. Während jedoch die Hoffnungskomponenten der
drei Motive alle im Normbereich liegen, zeigen die jeweiligen Furchtkomponenten weit
überdurchschnittliche Werte an, deren Interpretation in Kapitel 3.1 gegeben wird. Den
höchsten Wert erzielt Herr A im Bereich des Leistungsmotivs mit einem Prozentrang von
100 auf der Skala ‚Furcht vor Misserfolg’. Hinsichtlich des Anschlussmotivs liegt der Wert
für die Furcht vor Zurückweisung mit Prozentrang 99 ebenfalls weit über dem Durch-
28
schnitt. In Bezug auf das Machtmotiv dominiert ebenfalls die Furcht vor Kontrollverlust
mit einem Prozentrang von 98.
Als aversive Seiten des alten Berufs eines Kommunikationschefs erwähnte Herr A die
starke Fremdbestimmtheit in zeitlicher Hinsicht, letztendlich seine Verfügbarkeit rund um
die Uhr, insbesondere in Krisenzeiten: „Das ist etwas ganz Mühsames, vor allem wenn
man Familie hat und auch älter wird; man akzeptiert immer weniger, dass einem andere
Leute bestimmen, bis in die Freizeit hinein.“ Dies wirkte sich wiederum auf die generelle
Arbeitsbelastung aus. Zudem nannte Herr A als aversive Seite die Tatsache, dass er als
Kommunikationschef im Alltag sehr oft Machtkämpfe durchführen musste, sich im sozia-
len Netzwerk einer Unternehmung gegenüber den andern Leuten positionieren und durch-
setzen musste. Schlussendlich führte Herr A noch die negative Seite der beruflichen Routi-
ne an, nämlich das Einschleichen von Déjà-vu-Effekten, die zu einer gewissen inhaltlichen
Langeweile führten. Innerhalb der Kommunikationsarbeit würden sich sehr viele Ereignis-
se mehr oder weniger zu den gleichen Zeitpunkten innerhalb eines Jahres wiederholen, von
denen man das Gefühl hätte, sie müssten von Neuem abgelöst werden.
Als tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs als Fachhochschuldozent und
Leiter eines Nachdiplomstudiengangs bezeichnete Herr A auf der positiven Seite die tägli-
che Arbeit mit sehr vielen verschiedenartigen Leuten, die aus ähnlichen, aber auch aus an-
dern Berufsfeldern kommen und somit einen unheimlichen Fundus an spannenden Leuten,
an guten Geschichten, an Unternehmungen, die im Hintergrund stehen, an Organisationen,
darstellen. Er würde sehr viel von diesen Leuten über deren Arbeit lernen. Ausserdem hätte
er Zeit, sich hin und wieder vertieft mit irgendwelchen Kommunikationsthemen zu befas-
sen, sich thematisch zu fokussieren. Auf der negativen Seite erwähnte Herr A die administ-
rative Arbeit, welche Tätigkeiten beinhalten würde, die nicht besonders attraktiv erschein-
ten.
Positive Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände waren das Ausüben einer völ-
lig anderen Tätigkeit, für welche jedoch sehr viele Inhalte aus dem alten Beruf übernom-
men werden konnten, die hohe zeitliche Flexibilität, die starke Selbstbestimmung sowie
die Möglichkeit, in den nächsten paar Jahren wieder in den alten Beruf wechseln zu kön-
nen. Als negative Anreize nannte Herr A die deutliche Lohneinbusse, welche in der Wahr-
nehmung auch mit Wertschätzung für eine Arbeit zu tun hat, die vom Renommee her
schlechtere Position eines vom Kanton angestellten Beamten im Gegensatz zu einem An-
gestellten in der Privatwirtschaft, die Starrheit der Rahmenbedingungen eines grossen
Verwaltungsapparats sowie das fehlende Anreizsystem für gute Leistung und die dadurch
bedingte, bis zu einem gewissen Grad, fehlende Leistungsorientierung.
29
Als positiver fremd kontrollierter Anreiz bezüglich des neuen Berufs wurde von Herrn A
das schnelle Einverständnis seiner Frau genannt, die selber 50% arbeitet. Sie hätte es wert-
voll gefunden, dass die Tochter ihren Vater auch erleben konnte. Zudem würden die Steu-
ern mit dem Berufswechsel sinken.
Bezüglich Selbstwirksamkeitserwartung war sich Herr A im Klaren darüber, dass er den
Wechsel, nachdem er die konkreten Bedingungen des neuen Berufs kannte, durchziehen
und den neuen Beruf für drei bis fünf Jahre ausüben würde, um danach wieder einen
Schritt zu machen, in irgendeine Richtung. Schwierigkeiten hätte es beim Wechsel nicht
wirklich gegeben, er hätte sich einfach ein paar Überlegungen machen müssen. Herr A
schätzte auch die Chancen als durchaus realistisch ein, in den nächsten paar Jahren wieder
in die Position eines Kommunikationschefs zu gelangen.
Die Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung von Herrn A zeigt folgendes Bild: Inhaltliche Befriedigung (7) x Auftretenswahrscheinlichkeit (6) = 42 Zeitliche Flexibilität (9) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8) = 72 Selbstbestimmung (9) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8) = 72 Angemessener Arbeitsaufwand (7) x Auftretenswahrscheinlichkeit (7) = 49 Die motivationalen Auswirkungen der beiden erhofften Ziele zeitliche Flexibilität und
Selbstbestimmung wirkten somit am stärksten von den vier Zielen auf die berufliche Neu-
Orientierung.
Als auslösendes Ereignis, das letztlich den Anstoss zur beruflichen Neu-Orientierung gab,
bezeichnete Herr A eine Reorganisation in der Unternehmung, in deren Verlauf er nicht
diejenige Position bekommen hätte, die für ihn klar gewesen wäre, dass er sie bekommen
würde: „Ich hätte zwar in der Unternehmung bleiben können, hätte immer noch den glei-
chen Lohn gehabt, ich hätte also in diesem Sinne keinen finanziellen Abstieg gemacht,
aber von der Position her war es nicht mehr das, was für mich tragbar gewesen wäre. Zu
diesem Zeitpunkt wurde es mir klar, dass ein Wechsel passieren musste, wobei dann im-
mer noch nicht klar war, in welche Richtung er gehen sollte.“
4.2.1.2 Interview und MMG von Frau B
Frau B ist 53 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder im Alter von 25 und 28 Jahren. Sie
absolvierte ursprünglich das Primarlehrerinnenseminar und arbeitete danach, mit einer da-
zwischen liegenden Kinderpause, 21 Jahre im Schuldienst. Nach einer Ausbildung zur
Schulleiterin führte sie neben dem Unterrichten eine gewisse Zeit lang eine Primarschule.
Mit 51 Jahren gab sie ihren Beruf als Primarlehrerin auf und nahm eine Ausbildung in
Journalismus und Organisationskommunikation am Institut für Angewandte Medienwis-
senschaft an der ZHAW auf. Nach dem Bachelor-Studiengang würde sie gerne als (freie)
Journalistin arbeiten.
30
Als explizites Motiv bezeichnete Frau B den Wunsch nach einer Beschäftigung mit neuen,
interessanten Inhalten. Sie wollte in ihrem Leben noch einmal etwas anderes machen als
Kinder zu unterrichten. Sie wäre nicht eine der Ausgebrannten gewesen, sondern als neu-
gieriger Mensch hätte sie mit gut 50 Jahren gedacht, dass es das wie noch nicht gewesen
sein könnte. Für sie stellt der Weg das Ziel dar; das Lernen von neuen, interessanten und
nützlichen Inhalten steht im Zentrum. Sie glaubt nicht, dass sie noch jemand in ihrem Alter
anstellen wird.
Das MMG zeigte die unten dargestellten Werte impliziter Motive auf:
Anschluss Leistung Macht
PR
HA
75
FZ
100
HE
16
FM
96
HK
29
FK
84 Erläuterung der Abkürzungen vgl. S. 27
Frau B wird tendenziell von Situationen, welche die Motivklassen Anschluss oder Leistung
anregen, stark angezogen. Den höchsten Wert erzielt Frau B im Bereich des Anschlussmo-
tivs, wobei die Hoffnungskomponente im oberen Durchschnitt und die Furchtkomponente
weit überdurchschnittlich auf dem höchsten Skalenwert liegen. Im Bereich des Leistungs-
motivs liegt der Wert für die Furcht vor Misserfolg bei Prozentrang 96, während der Wert
für die Hoffnung auf Erfolg bei Prozentrang 16 liegt, dem tiefsten noch zum Durchschnitt
zählenden Wert. Eine Interpretation der beiden überdurchschnittlichen Furcht-Werte findet
sich in Kapitel 3.1.
Als aversive Seite des alten Berufs einer Lehrerin nannte Frau B die berufliche Routine,
die Wiederholung gleicher Muster, die sich während den 21 Jahren Schuldienst einstellte:
„Weil das immer wieder nach dem gleichen Muster abläuft, geht ein Klassenzug auch im-
mer wieder so schnell vorbei. Und es sind auch immer wieder ähnliche Probleme, andere
Probleme, aber doch das gleiche.“
Als positive tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs einer freien Journa-
listin bezeichnete Frau B das zeitlich und inhaltlich selbst bestimmte Arbeiten sowie das
lustvolle, kreative und sinnvolle Verfassen von Texten: „Ich stelle mir das grossartig vor,
(…), man hat das Gefühl, man mache etwas Sinnvolles, aber zeitlich und thematisch, wie
ich es gerne möchte.“ Der einzige negative tätigkeitsspezifische Anreiz, der von Frau B
erwähnt wurde, war das journalistische Arbeiten unter Zeitdruck.
Als positive Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände erwähnte Frau B die
(machtvolle) Einflussnahme auf die Gesellschaft, die Vielfalt an Themen und Medienarten
sowie die zeitliche und thematische Freiheit. Auf der negativen Seite wurde die Kehrseite
31
des zuletzt bezeichneten positiven Anreizes genannt: Eigenmotivation und Selbstdisziplin,
die immer wieder aufgebracht werden müssten.
Als positiver fremd kontrollierter Anreiz bezüglich des neuen Berufs wurde von Frau B
die finanzielle und psychologische Unterstützung durch ihren Ehemann genannt: „Mein
Mann macht das sehr gut; er unterstützt mich, ermutigt mich und hört mir abends meine
Klagen an. Auch macht er mir immer wieder bewusst, dass ich dieses Studium freiwillig
mache und jederzeit wieder aufhören kann. Er macht das wirklich toll.“
Bezüglich der Selbstwirksamkeitserwartung sagte Frau B, dass sie mit dem Ziel ange-
fangen hätte zu studieren, das Studium abzuschliessen, falls die folgenden Rahmenbedin-
gungen für sie annehmbar wären: der Seitenwechsel von der Lehrerin zur Schülerin, der
grosse Altersunterschied zu den Mitstudierenden und die Rechtfertigung ihrer Daseinsbe-
rechtigung („Einige von den Jungen fanden es sehr blöd, dass ich diese Ausbildung noch
machen wollte und damit den anderen den Platz wegnehmen würde. Ich musste mir wie
das Recht erkämpfen, Kollegin zu sein.“). Allerdings räumte sie auch ein: „Ich überlege
mir schon immer wieder, wieso ich das eigentlich mache. Könnte ich nicht einfach aufhö-
ren? Aber jetzt hat mich einfach auch der Ehrgeiz gepackt; jetzt möchte ich nicht in der
Mitte sagen, ich habe einen Wechsel gemacht und jetzt höre ich einfach auf.“
Bezüglich Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung von Frau B ergaben sich diese Werte: Schreibkompetenz (8) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8) = 64 Kenntnis berufsspezifischer Mechanismen (5) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8) = 40 Kenntnis medienspezifischer Technik (5) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8) = 40 Medienspezifisches Begriffswissen (8) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8) = 64 Demut (8) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8) = 64 Das Aneignen von Schreibkompetenz und medienspezifischen Begriffswissens sowie das
persönliche Ziel der Demut, sich als Person zurück zu nehmen und nicht immer Führung
und Verantwortung übernehmen zu wollen, hatten die höchsten motivationalen Auswir-
kungen auf die berufliche Neu-Orientierung.
Als auslösendes Ereignis bezeichnete Frau B das mehr oder weniger gleichzeitige Zu-
sammentreffen dreier Faktoren: (i) die Tatsache, dass eine Dreijahresperiode eines Klas-
senzugs (4. bis 6. Primarschulklasse) zu Ende gegangen war; (ii) die persönliche Überle-
gung, was sie in Zukunft noch machen wollte: „Möchte ich immer das gleiche machen,
oder möchte ich etwas Neues machen?“ und (iii) eine Fernsehsendung im Rahmen der
Sternstunde Philosophie, in der sie einen ‚Journalistenpapst’ reden hörte und dachte, dass
Journalismus genau das wäre, was sie gerne machen würde.
32
4.2.1.3 Interview und MMG von Frau C
Frau C ist 48 Jahre alt, geschieden und hat zwei Kinder im Alter von 16 und 18 Jahren. Ur-
sprünglich absolvierte sie das Kindergärtnerinnenseminar und arbeitete danach während 4
Jahren als Kindergärtnerin. Später machte sie eine weitere Ausbildung als schulische Heil-
pädagogin und arbeitet nun seit 11.5 Jahren teilzeitlich auf diesem Beruf. Daneben arbeite-
te sie während vier Jahren als Radioreporterin eines Lokalradios. Vor 2.5 Jahren begann
sie im Teilzeitmodus eine dritte Ausbildung in Organisationskommunikation am Institut
für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW.
Als explizite Motive bezeichnete Frau C den lang gehegten Wunsch, sich beruflich noch
einmal mit anderen Inhalten zu befassen, noch eine andere Seite sehen zu können im Sinne
einer Horizonterweiterung. Sie wäre generell eine Person, die gerne neue Sachen auspro-
bieren und berufliche Lebendigkeit und Veränderungen lieben würde. Das schon immer
vorhandene Interesse an Kommunikation, wie Menschen miteinander reden, wurde durch
ihre teilzeitliche Arbeit als Radioreporterin eines Lokalradios verstärkt und führte schluss-
endlich zum Bedürfnis, eine fundierte Ausbildung in Organisationskommunikation zu ma-
chen: „Es brach einfach etwas Neues auf, und ich nahm mir dann die Zeit, diese Seite ein
bisschen genauer anzuschauen.“
Bezüglich impliziter Motive ergaben sich für Frau C folgende Werte im MMG:
Anschluss Leistung Macht
PR
HA
87
FZ
98
HE
27
FM
98
HK
86
FK
92 Erläuterung der Abkürzungen vgl. S. 27
Die höchsten Werte erzielt Frau C im Bereich des Anschluss- und Leistungsmotivs. Dabei
zeigt sich innerhalb des Anschlussmotivs sowohl die Hoffnungs- als auch die Furchtkom-
ponente überdurchschnittlich stark ausgeprägt, was zu einem Annäherungs-Vermeidungs-
Konflikt im Falle der Motivanregung führt. Dieser Konflikt zeigt sich in Form ambivalen-
ter Gefühle und Gedanken. Es kommt zum intensiven Hin- und Herpendeln zwischen
Hoffnung und Furcht, Aufsuchen und Meiden. Beim Anschlussmotiv kann dieser Konflikt
als Ursache von Schüchternheit angesehen werden. Er drückt sich als Unsicherheit und
Labilität aus, was häufig das Ziel anschlussthematischen Verhaltens, eine angenehme und
entspannte Atmosphäre in der Kommunikation mit anderen Personen herzustellen, verhin-
dert (Schmalt et al., 2000, S. 33-34). Im Bereich des Leistungsmotivs liegt bei Frau C der
Wert der Furchtkomponente weit über dem Durchschnitt (vgl. Kapitel 3.1 hinsichtlich ei-
ner Interpretation), während sich derjenige der Hoffnungskomponente im unteren Durch-
schnitt befindet. Beim Machtmotiv liegen wie beim Anschlussmotiv die Werte für die
33
Hoffnungs- und die Furchtkomponente über dem Durchschnitt, was bei einer entsprechen-
den Motivanregung zu einem erlebbaren Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt führt. Es tre-
ten wiederum ambivalente Emotions- und Kognitionsinhalte auf. Der hoffnungsgestützte
Optimismus von Frau C weicht der subjektiven Wahrnehmung von sinkenden Erfolgsaus-
sichten, und diese auch für andere Personen sichtbare Unsicherheit mindert die objektive
Chance, Einfluss und Kontrolle auf die anderen auszuüben. Aufgrund solcher unangeneh-
mer Erfahrungen in öffentlichen Auseinandersetzungen scheint Frau C ihre machtthemati-
schen Aktivitäten in das Vorfeld zu verlagern. Sie bereitet ihre Aktionen im Hintergrund
mit grosser Energie vor und versucht, andere für ihre Ziele einzuspannen. In öffentlichen
Situationen sucht sie sich gerne starke Partner, die dann vorgeschickt werden, um somit
vor dem Verlust des eigenen Einflusses abgesichert zu sein (Schmalt et al., 2000, S. 35).
Als aversive Seite des alten Berufs einer schulischen Heilpädagogin nannte Frau C ge-
wisse Abläufe, die zur langweiligen Routine geworden waren und nicht verändert werden
durften: „ (…) es fiel mir auf, wie dies bei allen Berufen ist, dass es gewisse Abläufe gibt,
die immer wieder, immer wieder vor sich gehen. (…). Das finde ich obermühsam und es
deckt mich mit der Zeit auch zu, das merke ich.“
Als positiven tätigkeitsspezifischen Vollzugsanreiz des neuen Berufs als Organisations-
kommunikatorin erwähnte Frau C das Arbeiten an Projekten, das verschiedene Elemente
wie planen, präsentieren, durchziehen und gegen aussen weiter tragen von (schulischen)
Inhalten vereint.
Positive Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände waren gemäss Frau C die
Kombination von alten mit neuen beruflichen Inhalten, also von schulischer Planungs- und
Projektarbeit mit Kommunikationsarbeit: „Ich möchte meine bisherigen Erfahrungen aus
der Schule in die Kommunikationsarbeit hinein bringen, (…).“ Ausserdem reizte sie die
Teamarbeit, die in der Kommunikationsbranche viel selbstverständlicher und lockerer wäre
als in der Schule, wo jeder ein bisschen für sich schaut und sich abschottet. Als negative
Anreize nannte Frau C die mögliche Arbeit mit Inhalten, mit denen sie sich nicht identifi-
zieren könnte, sowie die Arbeit unter Zeitdruck, die zu Lasten der Qualität ginge und nur
erlauben würde, das Nötigste zu machen.
Fremd kontrollierte Anreize des neuen Berufs konnte Frau C, die geschieden ist, keine
nennen: „Also zur Entscheidung hat mein persönliches Umfeld überhaupt nichts beigetra-
gen, das habe ich absolut mit mir selber ausgemacht.“ Allerdings machte ihr eine Lauf-
bahnberaterin Mut, indem diese aufgrund diverser Gespräche und Tests fand, dass eine hö-
here Ausbildung in Kommunikation durchaus etwas für sie wäre.
34
In Bezug auf Selbstwirksamkeitserwartung gab Frau C an, dass sie sich gar nicht sicher
gewesen wäre, ob sie die Ausbildung zu Ende führen könnte. Sie hatte grosse Zweifel, ob
sie den intellektuellen Anforderungen genügen würde und das geforderte Arbeitstempo
einhalten könnte, trotz vorgängiger Abklärung von Fähigkeiten und Neigungen bei einer
Laufbahnberaterin und im Rahmen eines institutsinternen Assessments als Eintrittsbedin-
gung zum Studium. Nach dem ersten Studienjahr, in dem sie sich bessere Lernstrategien
angeeignet und ein an Stoffinhalt und Energie angepasstes Zeitmanagement erarbeitet hat-
te, hätte sie jedoch an Selbstvertrauen gewonnen.
Bezüglich Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung von Frau C zeigten sich folgende Werte:
Kombination Schule und Kommunikation (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 Angemessener Lohn (9) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 90 Arbeitsort in der Nähe des Wohnorts (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100
Die beiden erhofften Ziele, Kombination von Schule und Kommunikation sowie Arbeitsort
in der Nähe des Wohnorts aufgrund familiärer Gründe, wirkten von den drei angegebenen
Zielen am stärksten auf die Motivation.
Als auslösendes Ereignis bezeichnete Frau C kein einzelnes, punktuelles Geschehen. Für
sie wäre die berufliche Neu-Orientierung ein Prozess gewesen, der mit der Arbeit beim
Lokalradio seinen Anfang genommen hätte, indem eine neue Seite von ihr aufgebrochen
wäre: „Ich trug lange Zeit den Gedanken mit mir herum, dass ich beruflich noch etwas
Neues machen wollte, aber ich wusste lange Zeit nicht, was. Ich wusste, dass ich dies und
jenes nicht wollte, und wusste aber auch nicht, was ich wirklich wollte. Wenn ich die Ar-
beit beim Radio nicht gemacht hätte, die mir sehr gut gefiel, wäre ich wahrscheinlich nicht
hier.“
4.2.1.4 Interview und MMG von Frau D
Frau D ist 42 Jahre alt, ledig und hat ein Kind im Alter von 2 Monaten. Sie absolvierte ur-
sprünglich eine 5-jährige Handelsausbildung an einer Höheren Bundeslehranstalt in Öster-
reich und arbeitete sich danach hoch bis zur Position einer Abteilungsleiterin im Auslän-
der- und Passamt ihres Heimatlands. Mit 40 Jahren entschied sie sich, Psychologie an der
ZHAW zu studieren und danach im klinischen Bereich oder als Arbeits- und Organisati-
onspsychologin zu arbeiten.
Explizite Motive für ihre berufliche Neu-Orientierung waren gemäss Frau D ein seit der
Gymnasialzeit bestehendes hohes Interesse an psychologischen Inhalten. Da ein Universi-
tätsstudium aufgrund ihres familiären Hintergrunds nach bestandener Maturität kein The-
ma war, absolvierte sie eine praxisorientierte Handelsausbildung und stieg ins Arbeitsleben
ein. Im Ausländer- und Passamt, wo sie danach neben einem Abstecher in die Privatwirt-
35
schaft arbeitete, stellte sie jeweils Bewilligungen für studierende Praktikanten und Prakti-
kantinnen aus. Dabei verspürte sie immer eine Art Sehnsucht, auch einmal ein Studium,
und zwar in Psychologie, absolvieren zu können: „Immer wenn diese Gesuche auf meinem
Tisch landeten, fing ich an, eine Art Sehnsucht zu verspüren. Damals dachte ich schon,
dass ich das auch einmal machen möchte. Ich würde auch einmal Psychologie studieren
wollen.“ Die Sehnsucht blieb lange Zeit vorhanden, das Studium wurde jedoch aus berufli-
chen Gründen (besseres Stellenangebot, Lohnerhöhung) oder privaten Gründen (Partner-
schaft, Bau eines Eigenheims) immer wieder verschoben. Frau D merkte jedoch, dass sie
das hohe Gehalt oder das Sozialprestige ihrer beruflichen Stellung auf die Dauer nicht
mehr befriedigten; es kam eine inhaltliche Ermüdung auf. „Es kam eigentlich eine Sehn-
sucht, die schon immer vorhanden war, mit einer inhaltlichen Ermüdung im Beruf zusam-
men. Ich wollte den Beruf mit seinen Inhalten einfach nicht mehr weiter machen.“
Im MMG zeigten sich folgende Werte impliziter Motive:
Anschluss Leistung Macht
PR
HA
60
FZ
87
HE
4
FM
94
HK
10
FK
92 Erläuterung der Abkürzungen vgl. S. 27
Frau D weist in allen Motivbereichen überdurchschnittliche Werte in der Furchtkomponen-
te auf, wobei der Wert für die Furcht vor Misserfolg mit Prozentrang 94 am höchsten ist,
gefolgt von Furcht vor Kontrollverlust (Prozentrang 92) und Furcht vor Zurückweisung
(Prozentrang 87). Eine Interpretation dieser überdurchschnittlich hohen Furcht-Werte fin-
det sich in Kapitel 3.1. Die Werte in der Hoffnungskomponente befinden sich für den An-
schlussbereich im Durchschnitt, für den Leistungs- und Machtbereich jedoch klar unter
dem Durchschnitt.
Als aversive Seiten ihres alten Berufs als Abteilungsleiterin in einem Ausländer- und
Passamt nannte Frau D die zunehmend mangelnde Möglichkeit, sich mit den beruflichen
Inhalten zu identifizieren sowie moralische Bedenken bezüglich gesetzeswidriger Gefäl-
ligkeitsdienstleistungen, die ihre Abteilung ausführen sollte und ihr schlussendlich verun-
möglichten, die Mitarbeitenden befriedigend zu führen: „Es wurden von oben Weisungen
heraus gegeben, hinter denen ich nicht mehr stehen konnte.“
In Bezug auf tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs erwähnte Frau D auf
der positiven Seite die Hilfestellung und Begleitung von Menschen während einer Krisen-
zeit sowie die persönliche Auseinandersetzung mit moralisch-ethischen gesellschaftlichen
Fragen in Bezug auf psychische Krankheiten. Auf der negativen Seite bezeichnete sie den
36
Umgang mit schwierigen Fällen und den möglichen mangelnden Erfolg in der klinischen
Psychologie.
Als positive Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände sah Frau D das vertiefte
Wissen über psychische Krankheiten und deren Therapiemöglichkeiten sowie die Optio-
nenvielfalt bezüglich zukünftiger Tätigkeiten wie Beratung, Erwachsenenbildung, Coa-
ching, etc. Als negative Anreize nannte sie den deutlich tieferen Arbeitslohn sowie das tie-
fere Sozialprestige im Vergleich zum alten Beruf. Zudem betonte sie die Notwendigkeit,
sich auf der beruflichen Karriereleiter wieder hinauf arbeiten zu müssen, bzw. die fehlende
Möglichkeit, beruflich aufzusteigen: “In Bescheidenheit und Demut immer seine Arbeit zu
machen ohne aufzusteigen, könnte vielleicht ein Problem werden.“
Als positive fremd kontrollierte Anreize bezeichnete Frau D die Zusage finanzieller und
psychologischer Unterstützung durch ihren Lebenspartner sowie die positiven Reaktionen
ihrer Eltern, die nach anfänglicher Skepsis den Entscheid schliesslich befürworteten, und
des sozialen Umfelds: „Die Leute, die mich kannten, sagten zu mir, ‚Ja, mach das, das
passt zu dir.’“ Daneben gab ihr eine aufgesuchte Laufbahnberaterin Aufschwung, indem
diese sagte, dass sie mit einem derart guten Resultat in einem Intelligenztest unbedingt
noch etwas machen sollte.
Was die Selbstwirksamkeitserwartung betrifft, hatte Frau D anfangs grosse Zweifel, ob
sie vom Intellektuellen her fähig sein würde, ein Hochschulstudium zu absolvieren: „Ich
fragte mich, ob ich mich nicht überschätzte, ob ich das noch könne, so viel lernen, und so.“
Nach einem sehr guten Resultat, das sie in einem Intelligenztest bei einer Laufbahnberate-
rin erreichte, sowie nach dem positiven Bescheid bezüglich eines institutsinternen
Eignungstests der HAP waren diese Zweifel jedoch behoben: „(…) da dachte ich mir, jetzt
musst du nicht mehr zweifeln. Jetzt hast du beide Tests bestanden, und das ist sicher genug
vorab geklärt, das kannst du.“ Wenn nun Probleme mit der allgemein hohen Belastung so-
wie mit dem Zeitmanagement von Studium, Haus- und Familienarbeit aufträten‚ würde
darüber gesprochen und versucht, gemeinsam eine Lösung zu finden.
Die Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung von Frau D zeigt folgendes Bild: Freude (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 Befriedigung (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 Sinn (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 Angemessener Lohn (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 Möglichkeit zur Selbstständigkeit (9) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 90 Die motivationalen Auswirkungen der einzelnen erhofften Ziele auf die berufliche Neu-
Orientierung waren alle (sehr) stark.
Als auslösendes Ereignis nannte Frau D eine kleine Bemerkung ihres Coiffeurs, die zu ei-
nem Schlüsselerlebnis für sie wurde: „Dieser erzählte mir von einer Frau, die ihm auf die
37
Nerven gehen würde, weil sie immer erzählen würde, welche Pläne sie in ihrem Leben
noch verwirklichen wolle, aber nie etwas in die Tat umsetzen würde. Ich sass da und dach-
te, dass bei mir auch so ein Projekt hängig sei, nämlich das Psychologiestudium. Dieser
kleine Anstoss fehlte gerade noch, um mein lang gehegtes Projekt endlich in Angriff zu
nehmen.“
4.2.1.5 Interview und MMG von Herrn E
Herr E ist 42 Jahre alt, ledig und kinderlos. Ursprünglich studierte er einige Semester
Kunstgeschichte und Betriebswirtschaft an der Universität Zürich. Danach stieg er als In-
formatiker in ein grösseres Unternehmen ein, wo er sich bis zum Leader eines Teams von
15 Leuten empor arbeitete. Die gesamte Informatikabteilung wurde jedoch nach einigen
Jahren an eine amerikanische Firma verkauft. Herr E arbeitet immer noch zu 50% für diese
Firma, allerdings ohne Führungsfunktion, und hat vor zwei Jahren berufsbegleitend ein
Psychologiestudium an der ZHAW aufgenommen mit dem Ziel, zukünftig als Arbeitspsy-
chologe, klinischer Psychologe oder weiterhin als Informatiker mit grossem psychologi-
schem Wissen zu arbeiten.
Als explizite Motive bezeichnete Herr E den Wunsch, sich neuen beruflichen Inhalten zu-
zuwenden. Ausserdem wollte er den Menschen an sich besser kennen lernen sowie in der
täglichen Arbeit vermehrt mit Menschen zusammen arbeiten, sie betreuen, begleiten, in ei-
nem positiven Sinn auch beeinflussen. Daneben hatte er das Bedürfnis, mit der Ausbildung
ein ‚job enrichment’ zu erreichen, indem er später einen psychologischen Touch in die In-
formatik zurück brächte oder in die Führung zurückginge. Überdies wurde ihm bewusst,
dass Arbeit als Geldquelle für ihn immer mehr an Bedeutung verlor und als Verursacherin
von Lebensqualität an Bedeutung gewann: „(…), ich merkte, dass Geld wirklich nicht
wichtig ist. Da hatte ich früher eine andere Meinung dazu. (…). Ich merkte einfach, je we-
niger Geld ich hatte, desto gleich glücklich oder glücklicher bin ich.“
Im MMG zeigten sich folgende Werte impliziter Motive:
Anschluss Leistung Macht
PR
HA
93
FZ
100
HE
3
FM
99
HK
41
FK
98 Erläuterung der Abkürzungen vgl. S. 27
Den höchsten Wert erzielt Herr E im Bereich des Anschlussmotivs, wobei die beiden Ska-
len Hoffnung auf Anschluss (Prozentrang 93) und Furcht vor Zurückweisung (Prozentrang
100) deutlich über dem Durchschnitt liegen. Bei einer solchen Konstellation ist es gemäss
Schmalt et al. (2000, S. 34) möglich, dass die Hoffnung auf Anschluss noch in der Annä-
herungsphase von der Furcht auf Zurückweisung ‚eingeholt’ wird und dass die betroffene
38
Person schüchtern, unsicher und labil wirken kann. Dadurch wird ihr Ziel, in der Kommu-
nikation eine angenehme und entspannte Atmosphäre herzustellen, eingeschränkt. Einen
überdurchschnittlich hohen Wert erreicht Herr E auch im Bereich des Leistungs- und
Machtmotivs, und zwar je in der Furchtkomponente (Prozentrang 99 bzw. 98). Eine Inter-
pretation dieser Furcht-Werte wird in Kapitel 3.1 gegeben.
Als aversive Seite des alten Berufs eines Informatikers bezeichnete Herr E die Tatsache,
dass er nicht vermehrt mit Leuten zusammen arbeiten konnte, insbesondere seit er die Füh-
rungsfunktion eines Teamleaders abgegeben hatte.
Als positiver tätigkeitsspezifischer Vollzugsanreiz des neuen Berufs wurde von Herrn E
die Zusammenarbeit mit Menschen genannt. Als negative Anreize nannte Herr E die repe-
titive Arbeit mit Menschen, die an der gleichen psychischen Störung erkrankt sind: „Sorry,
aber wenn man einen Borderliner oder eine Borderlinerin gesehen hat, hat man es gesehen.
Sie reagieren genau gleich in der gleichen Situation, was erklärbar ist, und auch okay ist,
aber es kommt irgendwie nichts Neues mehr.“ Zudem wäre die Therapiearbeit für ihn zu
langatmig und es würde sich dabei meist zu wenig verändern.
Als positive Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände erwähnte Herr E die Mög-
lichkeit, alte mit neu gelernten Inhalten zu verknüpfen und daraus etwas Neues entstehen
zu lassen. Zudem nannte er die Selbsterfahrung und Selbstreflexion, die ihm Ausbildung
und nachfolgende Berufsausübung erlauben würden: „Ich lerne mich jetzt immer wieder
neu kennen, eigentlich. (…). Ich habe nun vielleicht ein bisschen weniger blinde Flecken,
habe noch ein bisschen besser gelernt zu reflektieren, (…).“ Ausserdem würde er sehr
wertvolle Erfahrungen machen mit Menschen, mit denen er das Heu nicht auf der gleichen
Bühne hätte, die nicht so schnell arbeiteten wie er, etc. Er könnte sich in Zukunft mögli-
cherweise besser in andere Menschen hinein fühlen, weil er nun vieles einmal gesehen
oder gespürt hätte. Negative Anreize konnte Herr E noch keine nennen, da er noch zu we-
nig Berufserfahrung hätte.
Fremd kontrollierte Anreize bezüglich des neuen Berufs gab es bei Herrn E praktisch
keine. Es war sein persönlicher Entscheid: „Ich fragte niemanden, zog niemanden zu Rate,
ich entschied für mich.“ Grundsätzlich hätte das soziale Umfeld jedoch wertschätzend,
auch ein bisschen staunend, reagiert, denn der Entscheid wäre für alle ‚out of the blue’ ge-
kommen und Informatik und Psychologie lägen nicht gerade so eng zusammen. Allerdings
fügte Herr E an, dass er sich das erste Mal in seinem Leben eine Zweitmeinung über eine
Laufbahnberaterin eingeholt hätte, die ihn in seinem Entschluss jedoch bestätigt hätte.
Was die Selbstwirksamkeit angeht, so war sich Herr E praktisch sicher, die Ausbildung
zu absolvieren: „Ich war mir nahe an 100% sicher, dass ich den Entscheid auch durchzie-
39
hen würde. Bis jetzt machte ich das immer so.“ Wenn Schwierigkeiten aufgrund des Zeit-
managements oder der Doppelbelastung von Vollzeitstudium und 50%-Arbeitsstelle auf-
tauchten, würde er sich sagen, dass er nicht das Opfer wäre, sondern jederzeit die Freiheit
hätte, die Prioritäten anders zu setzen oder gar mit dem Studium aufzuhören.
Hinsichtlich Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung gab Herr E folgendes Bild wieder:
Horizonterweiterung (9.5) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8.5) = 80.75
Die Horizonterweiterung mit neuen Inhalten wurde als einziges Ziel genannt, das recht
stark auf die Motivation betreffend beruflicher Neu-Orientierung wirkte.
Als auslösendes Ereignis beschrieb Herr E eine erkenntnisreiche Überlegung bezüglich
der nur 90-prozentigen Zufriedenheit in seinem Beruf, die er sich einmal beim Schwimmen
in einem See machte: „Ich fragte mich, was es ausmachen würde, dass ich nicht mehr ganz
zufrieden sei. Ich merkte, dass mir die Komponente ‚Mensch’ fehlte, dass ich den Men-
schen an sich besser kennen lernen wollte, und auch die Möglichkeit haben wollte, Leute
zu beeinflussen.“
4.2.1.6 Interview und MMG von Herrn F
Herr F ist 41 Jahre alt, verheiratet und hat ein Kind im Alter von 2 Jahren. Er lernte ur-
sprünglich den Beruf eines Serigrafen und absolvierte danach berufsbegleitend eine Höhe-
re Fachschule als Diplomtechniker in Polygrafie. Nach dem Kauf der Druckerei seines Va-
ters arbeitete er als Inhaber und Geschäftsführer dieser Druckerei. Vor gut einem Jahr be-
gann er ein Studium in Angewandter Psychologie an der ZHAW mit dem Ziel, später als
Arbeits- und Organisationspsychologe zu arbeiten.
Als explizite Motive bezeichnete Herr F ein hohes Interesse an Psychologie, das schon seit
seinem 20. Lebensjahr vorhanden gewesen wäre. Damals wäre indessen ein Studium auf-
grund fehlender Finanzen sowie mangelnden Selbstvertrauens nicht in Frage gekommen.
Während seiner Tätigkeit als Inhaber und Geschäftsführer einer Druckerei hätte er diverse
Kurse in Verkaufstechnik und Führung besucht, darunter auch Kurse in NLP und Grafolo-
gie. Diese hätten das Interesse an psychologischen Inhalten und damit am Umgang mit
Menschen wieder stark aufleben lassen: „Es war sehr spannend zu schauen, wie verschie-
den sich die Leute verhalten. Es reizte mich herauszufinden, was da vor sich ging, was da
passierte, wie das funktionierte.“ Zudem wurde ihm bei einer Art Bilanzziehen mit 40 Jah-
ren bewusst, dass er nun noch diversifizieren oder die Firma vergrössern könnte, die Inhal-
te würden jedoch immer mehr oder weniger die gleichen bleiben: „Es kam dann noch dazu,
dass ich mir überlegte, dass ich 40 Jahre alt sei und die Firma eigentlich gut laufe, und
jetzt, war es das für den Rest des Lebens? Dies kam bei mir nicht so gut an, ich dachte,
40
nein, nein, das kann es nicht sein.“ Der Wunsch nach neuen beruflichen Inhalten und Er-
fahrungen kam deutlich auf, gekoppelt mit dem Bedürfnis, in eine neue berufliche Rich-
tung zu gehen, die eine Optionenvielfalt bezüglich psychologischer Tätigkeitsbereichen of-
fen hielte. Dabei wäre ein zukünftiger Traum von Herrn F, eine Dienstleistung anzubieten,
die alte Inhalte aus der Wirtschaft und neue Inhalte aus der Psychologie kombinieren wür-
de.
Die impliziten Motive gemäss MMG zeigten unten abgebildete Werte:
Anschluss Leistung Macht
PR
HA
11
FZ
99
HE
1
FM
100
HK
12
FK
98 Erläuterung der Abkürzungen vgl. S. 27
Herr F scheint von Situationen, die je die Motivklassen Anschluss, Leistung oder Macht
anregen, stark angezogen zu sein. Dabei liegen die jeweiligen Hoffnungskomponenten alle
unter dem Durchschnitt, die entsprechenden Furchtkomponenten deutlich über dem Durch-
schnitt. Eine ausgeprägte Furcht vor Zurückweisung, Misserfolg bzw. Kontrollverlust
scheint die persönliche Reaktion auf die jeweiligen Situationen überdurchschnittlich stark
zu bestimmen. Sie wird in Kapitel 3.1 näher erörtert.
Als aversive Seiten des alten Berufs eines Inhabers und Geschäftsführers einer Druckerei
nannte Herr F die zunehmenden administrativen Arbeiten wie das Schreiben von Offerten
und Rechnungen, das Führen der Buchhaltung, usw., welche die manuellen Tätigkeiten
praktisch ersetzten und ihn auf die Dauer nicht mehr erfüllten, trotz Geschäftserfolg und
hohem Gewinn. Dies zog nach sich, dass Herr F selber nichts mehr anfertigte und nur noch
verkaufte, was andere gemacht hatten: „(…) ich verkaufte nicht mehr das, was ich gemacht
hatte. Das störte mich mit der Zeit auch.“ Ausserdem wurde es Herrn F zu eng bezüglich
beruflicher Inhalte: „Als ich jung war, waren alle Möglichkeiten offen, und je mehr ich
gemacht hatte, umso enger wurde die Strasse, auf der ich weiter fahren sollte. Das bietet
sehr viel Sicherheit, aber es wurde zu eng für mich.“ Schliesslich wäre auch das berufliche
Umfeld für ihn und die Mitarbeitenden sehr ungesund gewesen, da man sich permanent
inmitten von teilweise giftigen Lösungsmitteln befunden hätte, was Herrn F Angst machte.
Die Umwelt wäre ebenso durch die giftigen Stoffe in den Lösungsmitteln belastet worden.
Als positiven tätigkeitsspezifischen Vollzugsanreiz des neuen Berufs als Arbeits- und
Organisationspsychologe bezeichnete Herr F ganz generell die aktive Zusammenarbeit mit
Menschen durch Beraten und Begleiten, individuell oder in einem Team, wie z. B. Coa-
ching oder Teamentwicklung. Dahinter stünde das langfristige Ziel, herauszufinden, wo
sich ein Mensch wirklich wohl fühlen würde, wo er Sinn in seiner beruflichen Tätigkeit
41
und im Leben finden würde. Als negativen Anreiz nannte Herr F das Schreiben von Gut-
achten, wo die schriftliche Wiedergabe der Ergebnisse zu Missverständnissen beim Emp-
fänger führen könnte.
Als positive Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände erwähnte Herr F die beruf-
liche Bandbreite und die Optionenvielfalt: „Und gerade wenn man ein Psychologie-
Studium macht, ist nachher sehr viel offen, man kann in sehr viele Richtungen gehen
(Teamentwicklung, Outdoor-Training, Grafologie-Gutachten, Assessment, Coaching,
etc.).“ Herr F nannte auch die Möglichkeit, Einblick in ganz verschiedene Umfelder in der
beruflichen Praxis zu bekommen und deren Wechselwirkungen mit menschlichem Verhal-
ten zu beobachten. Ausserdem erwähnte Herr F als persönlichen Anreiz, Menschen auf der
Suche nach dem Sinn menschlichen Arbeitens und Lebens begleiten zu können und ihnen
allenfalls ein neues Bild vom Arbeiten vermitteln zu können, jenseits von Erfolg und Geld.
Als negativer fremd kontrollierter Anreiz bezüglich des neuen Berufs bezeichnete Herr F
die antizipierte grosse Ablehnung des Vaters, der Psychologie dem Kaffeesatz-Lesen
gleich setzte und dessen ehemalige Druckerei er für diese neue Berufsrichtung verkauft
hatte. Als positive fremd kontrollierte Anreize nannte Herr F die grosse Unterstützung
durch seine Frau: „(…) für sie war es von Anfang an klar, dass ich die Firma nicht ewig
behalten würde, weil es noch nie wirklich Feuer dahinter gab. (…). Ja, sie merkte, dass die
Firma nicht mein Lebensziel war.“ Auch aus dem Kollegenkreis wäre die Neu-
Orientierung eher positiv aufgenommen worden: „Ich erlebte sehr oft eine Reaktion von
‚Ich will auch.’ Das hat mich dann schon noch einmal bestätigt.“
Bezüglich Selbstwirksamkeitserwartung war sich Herr F sehr sicher, dass er die Zweit-
ausbildung zu Ende führen könnte und auch würde: „Es war keine Frage, ob ich es durch-
ziehen würde oder nicht. Als ich mich entschieden hatte, eine berufliche Neu-Orientierung
zu machen, war für mich klar, dass ich es auch machen würde.“ Auch wenn es hin und
wieder Schwierigkeiten mit dem Zeitmanagement von Studium und Familie sowie mit
unbeliebten Fächern gäbe, könnte er mit diesen umgehen.
Bezüglich der Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung von Herrn F zeigte sich folgendes
Bild: Öffnung/Optionenvielfalt (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 Sinn in der Arbeit (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (6) = 60 Weiterlernen im Beruf (8) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 80 Selbstständigkeit (5) x Auftretenswahrscheinlichkeit (7) = 35 Das Ziel der Öffnung/Optionenvielfalt des zukünftigen Berufs als Arbeits- und Organisati-
onspsychologe hatte die höchste motivationale Auswirkung auf die berufliche Neu-
Orientierung.
42
Bei Herrn F gab es kein konkretes auslösendes Ereignis, das den Anstoss zur Umsetzung
der Neu-Orientierung gab, sondern die Entscheidung stellte eher das Produkt eines Prozes-
ses dar, der sich über längere Zeit hinweg zog und von mehreren Faktoren beeinflusst wur-
de: „Die Entscheidung wuchs stetig, (…). Das Interesse war schon mit 20 Jahren einmal
vorhanden, und dann durch die Führungskurse, die ich besuchte, stieg meine Begeisterung
immer mehr. Ich merkte, dass mich eigentlich der Umgang mit dem Menschen interessier-
te, zu schauen, wie er funktioniert, was abläuft, was in Teams passiert. (…). Es war sicher
auch die Überlegung mit 40, was ich noch machen wollte.“
4.2.1.7 Interview und MMG von Herrn G
Herr G ist 54 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder im Alter von 24, 26 und 28 Jahren.
Er absolvierte ursprünglich eine Ausbildung zum Primarlehrer und arbeitete danach zuerst
als Heimleiter, dann in der Suchtprävention im Bereich Bildungs-, Projekt- und Öffent-
lichkeitsarbeit und schliesslich beim HEKS als Verantwortlicher für Projektmanagement.
Vor einem Jahr kündigte er seine Stelle beim HEKS und befindet sich seither in einer Pha-
se der beruflichen Neu-Orientierung. Generell sieht er zwei berufliche Varianten, die er
verfolgen könnte: entweder eine selbstständige Tätigkeit in der Weiterbildung als Kommu-
nikationstrainer oder eine Anstellung im sozialen Bereich, z. B. als NGO-Geschäftsführer.
Als explizite Motive für seine berufliche Neu-Orientierung nannte Herr G den Wunsch,
beruflich etwas Neues zu machen. Zudem gab es mit einer neuen vorgesetzten Person un-
vereinbare Vorstellungen über die Inhalte seiner bisherigen Arbeit; das Profil der Stelle
änderte sich ein Stück weit mit dieser neuen vorgesetzten Person in eine Richtung, die Herr
G nicht gut hiess.
Im MMG zeigten sich die folgenden Werte impliziter Motive:
Anschluss Leistung Macht
PR
HA
11
FZ
92
HE
3
FM
100
HK
30
FK
40 Erläuterung der Abkürzungen vgl. S. 27
Den höchsten Wert mit Prozentrang 100 erzielt Herr G im Bereich des Leistungsmotivs,
und zwar in der Furchtkomponente, während sich die Hoffnungskomponente mit Prozent-
rang 3 stark unterdurchschnittlich zeigt. Der zweite überdurchschnittlich hohe Wert mit
Prozentrang 92 zeigt sich im Bereich des Anschlussmotivs, auch hier wieder in der Furcht-
komponente, während die Hoffnungskomponente mit Prozentrang 11 unter dem Durch-
schnitt liegt. Eine Interpretation der beiden überdurchschnittlichen Furcht-Werte findet
sich in Kapitel 3.1.
43
Als aversive Seiten des alten Berufs eines Projektmanagers beim HEKS bezeichnete Herr
G die fehlende Wertschätzung seiner Vorgesetzten gegenüber seiner Arbeit und seiner Per-
son. Ausserdem nannte er die zunehmende Ausübung von Tätigkeiten, hinter denen er den
Sinn nicht ganz sah und auch anders gemacht hätte, wenn er Entscheidungsgewalt gehabt
hätte: „Ich hatte einfach Vorgaben, so und so wird das gemacht, Punkt, fertig, auch von der
Institution her.“ Zudem nannte Herr G institutionsinterne Abläufe und Prozesse, die in eine
Richtung gingen, welche er nicht eigentlich befürworten konnte.
Als positive tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs eines selbstständigen
Kommunikationstrainers zählte Herr G das Unterrichten gewaltfreier Kommunikation so-
wie die Prozessbegleitung von Menschen auf, die sich mit diesem Thema befassen. Die
positiven Vollzugsanreize des neuen Berufs eines angestellten NGO-Geschäftsführers wä-
ren die Mitgestaltung und Begleitung von wichtigen Entwicklungen und Prozessen. Als
negativen Anreiz eines selbstständigen Kommunikationstrainers bezeichnete Herr G den
Umgang mit einer unsicheren Auftragslage und einem fluktuierenden Arbeitspensum:
„(…) leben mit der Ungewissheit, kommen Aufträge, kommen keine, wie viele kommen,
auch leben können mit dem Auf und Ab von ganz viel zu tun haben bis fast nichts zu tun
haben, (…).“ Bei einer allfälligen Anstellung bestünde der negative Anreiz in der Beschäf-
tigung mit Inhalten, an denen das persönliche Interesse fehlt.
Die positiven Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände wären für Herrn G im
Fall einer selbstständigen Tätigkeit die Selbstbestimmung sowie die potenzielle Möglich-
keit, viel bzw. mehr Geld zu verdienen als im Angestelltenverhältnis. Bezüglich einer Tä-
tigkeit als Angestellter wäre die finanziell-wirtschaftliche Sicherheit ein positiver Anreiz.
Die negativen Anreize wären die Kehrseiten der erwähnten Faktoren, nämlich die Fremd-
bestimmtheit und der tendenziell niedrigere Lohn eines Angestellten bzw. die finanziell-
wirtschaftliche Unsicherheit eines selbstständig Erwerbenden.
Als positive fremd kontrollierte Anreize erwähnte Herr G die finanzielle und psychologi-
sche Unterstützung durch seine Frau sowie die Ermutigung zur Kündigung durch seine
Kinder: „Also die Leute um mich herum merkten, dass ich zunehmend unglücklich und
unzufriedener wurde, die Lebensfreude ging irgendwie verloren. Einige Leute, vor allem
meine Frau und Kinder, fanden dann, dass ich kündigen sollte. Und das war sehr unterstüt-
zend für mich.“ Zudem fanden auch viele Bekannte von Herrn G, dass eine Kündigung
sehr mutig und auch ‚lässig’ wäre.
Was die Selbstwirksamkeitserwartung betrifft, so zögerte Herr G zwei Jahre lang, bis er
kündigte: „Ich war lange Zeit unsicher, ob ich kündigen sollte oder nicht, ob ich konnte
oder nicht.“ Herr G befindet sich ausserdem bereits ein Jahr lang in der Phase der Neu-
44
Orientierung: „Ich habe mich jetzt ein Jahr lang neu orientiert, habe aber noch nicht wirk-
lich eine Neu-Orientierung. (…). Ich glaube das Entweder-Oder zwischen den beiden Op-
tionen, die da sind, zwischen Selbstständigkeit und Anstellung, macht es so schwierig zu
wissen, wie weiter. Ich glaube, da hänge ich ein bisschen fest.“ Als zuversichtlicher
Mensch sagt er sich jedoch: „Es ist undenkbar, dass es nicht mehr weiter geht, dass es nir-
gends mehr weiter geht. Es geht immer genau dort weiter, wo ich hin gehe. So, das macht
es einfach.“
Die Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung von Herrn G sah folgendermassen aus: Selbstbestimmung (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 Die Selbstbestimmung punkto Volumen, Themen und Auftraggeber hatte als einzig ge-
nanntes Ziel des zukünftigen Berufs eine maximale motivationale Auswirkung auf die
Neu-Orientierung.
Als auslösendes Ereignis nannte Herr G ein Mitarbeitergespräch, bei dem ganz wenig bis
gar keine Wertschätzung gezeigt wurde: „Das gab mir wie den Rest. Ich sagte mir, so, jetzt
reicht’s.“
4.2.1.8 Interview und MMG von Frau H
Frau H ist 45 Jahre alt, ledig und hat keine Kinder. Sie absolvierte zunächst eine 2-jährige
Zahnarztgehilfinnenlehre und arbeitete während zwei Jahren auf diesem Beruf. Danach ar-
beitete sie während 13 Jahren als eidgenössisch diplomierte Flight Attendant in der Positi-
on einer Teamleiterin innerhalb der Ersten Klasse. Mit 40 Jahren liess sie sich von einem
Reisebüro anstellen und begann berufsbegleitend eine 5-semestrige Tourismusfachschule.
Nun arbeitet sie seit zwei Monaten als Leiterin eines Tourist Service in einer kleineren tou-
ristischen Stadt in der Schweiz.
Als explizite Motive bezeichnete Frau H den Wunsch nach einer neuen beruflichen Her-
ausforderung im Hinblick auf weitere 25 Jahre Arbeit bis zur Pensionierung: „Es war ef-
fektiv mehr die Vorstellung, wow, ich arbeite jetzt noch sicher im Minimum 25 Jahre als
Flight Attendant. Und sicher gäbe es noch mehr und noch anderes. Eine neue Herausforde-
rung musste einfach hin, unbedingt.“ Ausserdem hatte sie nach 13 Jahren Flugarbeit mit
wechselnden Einsatzplänen das Bedürfnis, regelmässig soziale Kontakte zu pflegen oder
eine Gruppe zu treffen, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln zu können: „Ich
wollte einfach gerne einmal die Füsse auf den Boden bringen, irgendwohin dazu gehören,
(…) zu einer Gruppe gehören.“
45
Das MMG bezüglich impliziter Motive sah wie folgt aus:
Anschluss Leistung Macht
PR
HA
15
FZ
69
HE
16
FM
89
HK
19
FK
92 Erläuterung der Abkürzungen vgl. S. 27
Frau H wird tendenziell von Situationen angezogen, welche die Motivklassen Macht oder
Leistung anregen. Den höchsten Wert weist Frau H im Bereich des Machtmotivs auf, wo-
bei sich die Furchtkomponente mit Prozentrang 92 über dem Durchschnitt und die Hoff-
nungskomponente mit Prozentrang 19 im unteren Durchschnitt befindet. Im Bereich des
Leistungsmotivs liegt der Wert für die Furcht vor Misserfolg bei Prozentrang 89, während
der Wert für die Hoffnung auf Erfolg bei Prozentrang 16 liegt, dem tiefsten noch zum
Durchschnitt zählenden Wert. Die beiden überdurchschnittlichen Furcht-Werte werden in
Kapitel 3.1 näher interpretiert.
Als aversive Seiten des früheren Berufs einer Flight Attendant nannte Frau H die fehlende
Herausforderung und die berufliche Routine: „Der Beruf der Flight Attendant ist keine
Herausforderung im eigentlichen Sinn, ausser dass sehr viele Menschen auf engem Raum
zusammen sitzen. (…). Er war wahnsinnig zur Routine geworden.“ Zudem erwähnte sie,
dass sie aufgrund der wechselnden Einsatzpläne immer selber die Initiative ergreifen muss-
te, wenn sie sich soziale Kontakte wünschte: „Wenn man fliegt, muss man immer selber al-
les initiieren, weil die Leute ja nicht wissen wegen den wechselnden Einsatzplänen, wann
man zu Hause ist und wann man Zeit hat.“ Damit hätte auch ein fehlendes soziales Zu-
sammengehörigkeitsgefühl zusammen gehängt; sie hätte sich aufgrund ihrer unregelmässi-
gen Arbeitszeiten immer mehr als Gast als ein integriertes Gruppenmitglied gefühlt: „Man
ist mehr ein Gast, irgendwie. Und das Gefühl, irgendwo dazuzugehören, fehlt, (…).“
Als positiv empfundene tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs als Tou-
rismusfachfrau bezeichnete Frau H den täglichen Umgang mit Menschen auf verschiede-
nen Ebenen: Kunden, Auszubildende, Stadtführer und Stadtführerinnen, Verantwortliche
der umliegenden Tourismus-Vereine, usw. Daneben nannte sie das relativ unabhängige
und selbstständige Arbeiten als Leiterin des Tourist Service einer kleineren Stadt. Als ne-
gativen Anreiz erwähnte Frau H den administrativen Papierkram, der ein wenig Sisyphus
wäre: „Das ganze Zeug mit Sachen ablegen, Buchhaltung führen, Statistiken führen, Zah-
lungskontrolle führen, und so weiter. Sachen, bei denen man einfach hin sitzen muss.“
Positive Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände stellen für Frau H die grosse
Abwechslung im Tourist Service dar, die geregelten Arbeitszeiten, die regelmässige sozia-
le Kontakte oder Kursbesuche ermöglichen, sowie die Verbindung zur Welt, indem sie
46
Kontakt mit Touristen aus aller Welt hätte. Als negative Anreize nannte Frau H den Lohn-
rückgang und die schlechteren Sozialleistungen sowie die allgemeine wirtschaftliche Unsi-
cherheit in der Tourismusbranche: „Und im Tourismus ist alles viel unsicherer. Man weiss
nie, wie lange sie noch Geld haben werden, wie lange es den Tourist Service noch geben
wird, denn es wird effektiv immer am absoluten Minimum kalkuliert. Wir leben von den
Beiträgen der Mitglieder; der Staat und der Kanton steuern ganz wenig dazu bei.“
Fremd kontrollierte Anreize bezüglich des neuen Berufs als Tourismusfachfrau konnte
Frau H keine nennen, ausser der Aufforderung einer Laufbahnberaterin, Tourismus, wo sie
ein gewisses Wissen mitbringen würde, und Verkauf im weitesten Sinn zu kombinieren.
Frau H betonte jedoch, dass sie die Laufbahnberatung erst in Anspruch genommen hätte,
nachdem sie für sich alleine entschieden hätte, beruflich eine neue Herausforderung zu su-
chen: „Nachdem ich mich mit 40 entschlossen hatte, etwas Neues zu machen, ging ich zu-
erst in ein BIZ, hatte überhaupt keine Ahnung, was ich machen sollte. Ich hatte wirklich
keine Ahnung, wirklich, da war ein ganz riesiges Fragezeichen.“
In Bezug auf Selbstwirksamkeitserwartung war sich Frau H in den ersten zwei Semes-
tern ihrer Zweitausbildung als Tourismusfachfrau nicht wirklich sicher, ob sie den Anfor-
derungen genügen würde. Um sich selber nicht allzu stark unter Druck zu setzen und eine
Ausflucht offen zu halten, sagte sie sich, dass sie die Ausbildung jederzeit wieder abbre-
chen könnte: „Ich glaube, ich wäre mir gerne sicher gewesen, aber ich wollte mir einfach
ein Hintertürchen offen lassen. Ich meine, dass jeder, der so etwas in einem gewissen Alter
anpackt, auch wirklich machen will. Vielleicht ist das auch ein schweizerischer Zug, sich
ein Hintertürchen offen lassen zu können, indem man sagt, man probiert es einfach einmal,
es ist dann nicht peinlich, wenn es nicht klappt.“ Den Schwierigkeiten während ihrer
Zweitausbildung, starke Prüfungsangst im schulischen Teil sowie das Gefühl von Abhän-
gigkeit und Unselbstständigkeit im beruflichen Teil, stellte sie sich indessen: Sie nahm
Kurse in Autogenem Training und NLP, um mehr Selbstvertrauen in Prüfungssituationen
zu entwickeln; zudem versuchte sie, im beruflichen Alltag durch das Aneignen von Wissen
und Fähigkeiten möglichst schnell wieder unabhängig und selbstständig arbeiten zu kön-
nen. Ebenso stellte sie sich den existentiellen Ängsten, die sie als Alleinstehende infolge
der Lohneinbusse und der schlechteren Sozialleistungen immer wieder beschlichen: „Den
existentiellen Ängsten stelle ich mich halt immer wieder. (…). Diese Ängste stelle ich
dann aber irgendwann in eine Ecke und mache mir keine Gedanken mehr darüber, sondern
ziehe den Entschluss durch, basta.“
Bezüglich Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung gab Frau H an, dass ihr primäres Ziel
eigentlich die erfolgreiche Absolvierung der Tourismusfachschule gewesen wäre, die ihr
47
ein weites Berufsfeld eröffnen würde. Sie hätte mit den jeweils kurzen Ausbildungsgängen
zuerst als Zahnarztgehilfin und danach als Flight Attendant nie wirklich eine solide, höhere
Schule besucht, was sie unbedingt nachholen wollte. Daher hätte sie sich vor der Schule
auf keinen festen Beruf festgelegt, sondern gedacht, sie hätte mit einem guten Schulab-
schluss alle Chancen, einen Beruf in der Tourismusbranche zu finden: „(…) ich habe mir
dazumal kein Bild vom zukünftigen Beruf gemacht, das muss ich ganz ehrlich sagen. Das
Wichtige war für mich, die Ausbildung zu haben. (…) mir fehlte schlussendlich etwas,
worauf stand, Frau H hat diese Schule gemacht, sie hat sie gemacht.“
Als auslösendes Ereignis bezeichnete Frau H das Bewusstsein, dass sie ihre Lebensmitte
erreicht hatte und nun entscheiden musste, ob sie noch einen neuen beruflichen Weg ein-
schlagen oder auf dem alten weiter gehen sollte: „Plötzlich stand die Zahl 40 vor mir und
ich fragte mich, ob das alles gewesen sei. Es wurde mir bewusst, dass ich, wenn ich wirk-
lich noch Lust hatte, entweder jetzt etwas anpacken musste oder sonst würde ich ewig so
weiter gehen; also ich musste einen Entscheid treffen.“
4.2.2 Fallübergreifende Ergebnisse
Im Folgenden werden die Ergebnisse fallübergreifend dargestellt, um der eingangs erläu-
terten Fragestellung und den damit zusammen hängenden Hypothesen auf einer allgemei-
neren Ebene nachgehen und weitere, bisher unberücksichtigte Faktoren oder Phänomene
aufzeigen zu können. Zur besseren Orientierung werden jeweils am Anfang jeder Katego-
rie die entsprechende Definition und eines der Ankerbeispiele, wie sie im Auswertungsleit-
faden (vgl. Anhang 8.7) vorliegen, aufgeführt. Zudem finden sich im Anhang 8.8 die fall-
übergreifenden Ergebnisse in Listen- oder Tabellenform.
4.2.2.1 Persönliche Motive
Definition: In dieser Kategorie werden die persönlichen Motive für eine selbst gewählte
berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte wiedergegeben. Dabei wird zwischen ex-
pliziten und impliziten Motiven unterschieden (vgl. Kapitel 2.2).
Explizite Motive
Definition: Diese Unterkategorie beinhaltet Aussagen zu expliziten, mehrheitlich bewuss-
ten Motiven bzw. kognitiven Bedürfnissen, denen mit der selbst gewählten beruflichen
Neu-Orientierung in der Lebensmitte besser Rechnung getragen werden sollte.
Ankerbeispiel: „Es kam eigentlich eine Sehnsucht [Psychologie zu studieren], die schon immer vorhanden war, mit einer inhaltlichen Ermüdung im Beruf zusammen.“ (Frau D).
Unter den expliziten Motiven wurde das Bedürfnis nach einer Beschäftigung mit neuen, in-
teressanten und/oder nützlichen Inhalten im Sinn einer Horizonterweiterung, verbunden
48
mit einer fundierten Ausbildung, von sechs der acht Befragten genannt (Frau B, Frau C,
Frau D, Herr E, Herr F, Frau H). Die zwei restlichen Probanden erwähnten den Wunsch
nach einer neuen beruflichen Herausforderung (Herr A, Herr G). Ausserdem wurde der
Wunsch nach persönlicher Weiterentwicklung von drei Personen geäussert (Herr A, Herr
E, Frau H). Das Bedürfnis nach mehr beruflicher Autonomie und Selbstbestimmung zeitli-
cher und/oder inhaltlicher Art sowie der Wunsch, vermehrt mit Menschen zusammen zu
arbeiten, wurden von je zwei Befragten angegeben (Herr A, Herr G bzw. Herr E, Herr F).
Ebenfalls nannten zwei Personen das Bewusstsein, dass Arbeit als Geldquelle immer mehr
an Bedeutung verliert und dass Arbeit als Verursacherin von Lebensqualität an Bedeutung
gewinnt (Herr E, Herr F). Weitere Bedürfnisse, die berufliche Rahmenbedingungen (z. B.
angemessene Arbeitsbelastung, geregelte Arbeitszeiten, usw.) und inhaltliche Faktoren
(z. B. die Kombination von alten und neuen Inhalten zu einer neuen Dienstleistung) betref-
fen, wurden jeweils nur von einer Person erwähnt (Herr A, Herr E, Herr F, Frau H).
Implizite Motive
Definition: In dieser Unterkategorie werden die impliziten, eher unbewussten Motive bzw.
affektiven Bedürfnisse der Befragten beschrieben, wie sie sich aufgrund der Ergebnisse des
Multi-Motiv-Gitters zeigten.
Bezüglich der drei Motivklassen zeigten sich folgende Werte:
Anschluss Leistung Macht
HA FZ HE FM HK FK
PR - Herr A 23 99 27 100 19 98
PR - Frau B 75 100 16 96 29 84
PR - Frau C 87 98 27 98 86 92
PR - Frau D 60 87 4 94 10 92
PR - Herr E 93 100 3 99 41 98
PR - Herr F 11 99 1 100 12 98
PR - Herr G 11 92 3 100 30 40
PR - Frau H 15 69 16 89 19 92
Erläuterung: HA: Hoffnung auf Anschluss; FZ: Furcht vor Zurückweisung HE: Hoffnung auf Erfolg; FM: Furcht vor Misserfolg HK: Hoffnung auf Kontrolle; FK: Furcht vor Kontrollverlust PR Herr A bis Frau H: Prozentrang der Befragten von Herrn A bis Frau H (Normbereich zwischen 16% und 84%) Fettschrift: Werte über bzw. unter der Norm Grau hinterlegt: Werte in der Hoffnungs- und Furchtkomponente über der Norm
Tab. 2: Übersicht über die Werte impliziter Motive der Stichprobe
49
Die höchsten Werte zeigten sich beim Leistungsmotiv und zwar in der Furchtkomponente,
wo alle Befragten einen überdurchschnittlich hohen Wert zwischen Prozentrang 89 und
100 erzielten (vgl. Kapitel 3.1 hinsichtlich einer Interpretation). Parallel zu den hohen
Werten auf der Furchtskala des Leistungsmotivs zeigten sich tendenziell eher tiefe bis stark
unterdurchschnittliche Werte auf der Hoffnungsskala desselben Motivs. Die Befragten su-
chen also nicht hoffnungsvoll die Auseinandersetzung mit Gütemassstäben, sie versuchen
weniger, proaktiv sich selbst oder andere zu übertreffen und neue Wege zu gehen. Hinter
ihrer hohen Leistungsmotivation steckt vielmehr Furcht vor einem möglichen Misserfolg.
Im Bereich des Anschlussmotivs zeigten sich ebenfalls sehr viele überdurchschnittlich ho-
he Werte in der Furchtkomponente; sieben von acht Befragten erzielten einen Prozentrang
zwischen 87 und 100 (vgl. Kapitel 3.1 für eine Interpretation), lediglich eine Person befand
sich mit Prozentrang 69 im Durchschnitt. Auf der Hoffnungsskala des Anschlussmotivs
hingegen zeigten sich drei unterdurchschnittliche, drei durchschnittliche und zwei über-
durchschnittliche Werte. Bei zwei Befragten waren sowohl die Hoffnungs- als auch die
Furchtkomponente hoch ausgeprägt, was zu einem Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt im
Fall der Anschlussmotivanregung führt (vgl. Kapitel 4.2.1.3 und 4.2.1.5). Im Bereich des
Machtmotivs erzielten sechs von acht Probanden überdurchschnittlich hohe Werte zwi-
schen Prozentrang 92 und 98 wiederum in der Furchtkomponente (vgl. Kapitel 3.1 hin-
sichtlich einer Interpretation). In Bezug auf die Hoffnungskomponente des Machtmotivs
erzielten zwei Befragte unterdurchschnittliche Werte, fünf Befragte durchschnittliche Wer-
te und eine Befragte einen überdurchschnittlichen Wert, der in Konkurrenz mit ihrem
überdurchschnittlich hohen Wert in der Furchkomponente tritt und somit zu einem Annä-
herungs-Vermeidungs-Konflikt führt (vgl. Kapitel 4.2.1.3). Gesamthaft zeigen sich die Be-
fragten überdurchschnittlich stark von Situationen angezogen, in denen die drei Motivklas-
sen Leistung, Anschluss und Macht angeregt werden, denn fünf von acht Befragten erziel-
ten in allen drei Motivbereichen überdurchschnittlich hohe Werte, und zwar jeweils in der
Furchtkomponente. Bei zwei Befragten kommt es indes im Bereich des Anschlussmotivs
aufgrund eines gleichermassen hohen Werts in der Hoffnungskomponente zu einem Annä-
herungs-Vermeidungs-Konflikt; bei einer dieser zwei Befragten kommt es im Bereich des
Machtmotivs infolge eines ebenfalls hohen Werts auf der Hoffnungsskala wiederum zu ei-
nem Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt.
4.2.2.2 Situative Anreize (affektive Variablen)
Definition: In dieser Kategorie werden die Situationsfaktoren wiedergegeben, wie sie sich
für die Befragten zur Zeit der selbst gewählten Neu-Orientierung in der Lebensmitte dar-
stellten. Dabei wird einerseits zwischen den aversiven Seiten des alten Berufs und anderer-
50
seits zwischen tätigkeitsspezifischen Vollzugsanreizen, Anreizen künftiger Umwelt- und
Binnenzustände (vgl. Kapitel 2.4.3) sowie fremd kontrollierten Anreizen bezüglich des
neuen Berufs unterschieden.
Aversive Seiten des alten Berufs
Definition: In dieser Unterkategorie finden sich Aussagen zu den schwierigen und aversiv
besetzten Seiten des alten Berufs.
Ankerbeispiel: „Aber es fiel mir einfach auf, wie dies bei allen Berufen ist, dass es gewisse Abläufe gibt, die immer wieder, immer wieder vor sich gehen. (…). Ich ertrage es schlecht, wenn Abläufe immer, immer, immer, oder nach meinem Gefühl, immer gleich sind. Und wenn man dann etwas Neues probieren möchte, zur Antwort bekommt, es sei doch schon immer so gewesen. Das finde ich obermühsam und es deckt mich mit der Zeit auch zu, das merke ich.“ (Frau C).
Was die aversiv besetzten Seiten des alten Berufs betrifft, gab die Hälfte der acht Befragten
die berufliche Routine, die Wiederholung gleicher Muster und institutionell geregelter Ab-
läufe an, die zu einer inhaltlichen Langeweile und fehlender Herausforderung führte
(Herr A, Frau B, Frau C, Frau H). Andere aversive Seiten, die vor allem inhaltliche, soziale
und organisatorische Faktoren wie Fremdbestimmtheit in inhaltlicher und zeitlicher Hin-
sicht, Machtkämpfe, fehlende Wertschätzung, zu hohe Arbeitsbelastung, usw. betrafen,
wurden nur von jeweils einer Person genannt (Herr A, Herr G, Frau D, Herr E, Herr F,
Frau H).
Tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs
Definition: Diese Unterkategorie enthält Aussagen zu (antizipierten) Tätigkeiten im neuen
Beruf, die den Befragten Spass machen und/oder Befriedigung geben, oder als mühsam
und unbefriedigend betrachtet werden.
Ankerbeispiel: „Also von der Tätigkeit her ist es sicher so, dass ich mit sehr vielen Leuten zu tun habe, und zwar mit verschiedenartigeren Leuten als vorher im alten Beruf. (…). Das ist ein unheimlicher Fundus an spannenden Leuten, an guten Geschichten, an Unternehmungen, die im Hintergrund stehen, an Organisatio-nen. Ich lerne sehr viel von diesen Leuten über ihre Arbeit. Das ist absolut spannend und faszinierend. (…). Anfangs war das eher ein Problem: Ich musste sehr viel administrative Arbeit machen, was ich nicht unbe-dingt gesucht hatte. Das war aber mehr eine Anfangserscheinung; mit der Zeit konnte ich diesen Teil immer mehr delegieren an Mitarbeiter und mich auf den Teil konzentrieren, den ich auch wirklich spannend finde.“ (Herr A).
Als positive tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs wurden die Hilfestel-
lung, Beratung und Begleitung von Menschen, eventuell während einer Krisenzeit, von der
Hälfte der Befragten angegeben (Frau D, Herr E, Herr F, Herr G). Die tägliche Arbeit mit
sehr vielen verschiedenartigen Leuten und damit ein lernförderlicher Einblick in deren Ar-
beitsfelder wurden von zwei Personen genannt (Herr A, Frau H). Selbstbestimmtes Arbei-
ten in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht wurde ebenfalls von zwei Probandinnen erwähnt
(Frau B, Frau H). Schliesslich wurden noch einzelne positive Vollzugsanreize wie die
Auseinandersetzung mit interessanten Inhalten (Herr A), das lust- und sinnvolle Verfassen
51
von Texten (Frau B), das Bearbeiten eines Projekts (Frau C), die Auseinandersetzung mit
moralisch-ethischen gesellschaftlichen Fragen bezüglich psychischer Krankheiten (Frau
D), die Mitgestaltung von wichtigen Prozessen (Herr G) und das Unterrichten gewaltfreier
Kommunikation (Herr G) aufgezählt.
Als negative tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs wurden sisyphusartige
administrative Arbeit und Arbeit unter Zeitdruck, die zu Lasten der Qualität geht, je von
zwei Befragten (Herr A, Frau H bzw. Frau B, Frau C) genannt. Fehlende inhaltliche Identi-
fizierung (Frau C), der tägliche Umgang mit schwierigen psychischen Fällen (Frau D), die
repetitive Arbeit mit Menschen, die an der gleichen psychischen Störung erkrankt sind
(Herr E), das Verfassen von Gutachten (Herr F) und fehlendes inhaltliches Interesse
(Herr G) wurden von je einer Person erwähnt. Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände
Definition: Diese Unterkategorie enthält Aussagen zu den (antizipierten) positiven und ne-
gativen Folgen der selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der Lebensmitte.
Ankerbeispiel: „Freude, Befriedigung. (…). Einkommen, natürlich, ein gewisses Einkommen, sagen wir mal. (…) Das Gehalt, das wird für mich sicher mühsam werden. (…) wieder zu arbeiten, und weniger dafür zu bekommen, ist, glaube ich, noch einmal etwas anderes. Ich bin in dieser Hinsicht eben verwöhnt, d.h. an etwas anderes gewöhnt. (…). Was ich mir auch als mühsam vorstelle, ist das „Sich Hinaufarbeiten“. (…). In Bescheidenheit und Demut immer seine Arbeit zu machen ohne aufzusteigen, könnte vielleicht ein Problem werden.“ (Frau D).
Als stärkste positive Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände zeigten sich Selbstbe-
stimmung in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht (Herr A, Frau B, Herr G), die Kombinati-
on von alten mit neuen Inhalten (Herr A, Frau C, Herr E) sowie Optionenvielfalt und Ab-
wechslung bezüglich zukünftiger Tätigkeiten (Frau D, Herr F, Frau H). Neben anderen
Faktoren wurden ausserdem Vielfalt an Themen (Frau B), vertieftes Wissen (Frau D),
Selbsterfahrung und –reflexion und daraus folgende Empathie (Herr E) sowie Einblick in
verschiedene berufliche Umfelder und deren Wechselwirkungen mit menschlichem Ver-
halten (Herr F) von einzelnen Personen erwähnt.
Als negativer Anreiz künftiger Umwelt- und Binnenzustände wurde vor allem eine deutli-
che Lohneinbusse, die in der Wahrnehmung auch mit geringerer Wertschätzung gegenüber
einer Arbeit zu tun hat, bezeichnet (Herr A, Frau D, Herr G, Frau H). Ausserdem nannten
jeweils zwei Befragte eine tiefere berufliche Position und damit tieferes Sozialprestige
(Herr A, Frau D) sowie finanziell-wirtschaftliche Unsicherheit (Herr G, Frau H). Die rest-
lichen negativen Anreize wurden von einzelnen Personen erwähnt und betrafen zum gros-
sen Teil die beruflichen Rahmenbedingungen wie z. B. ein fehlendes Anreizsystem für gu-
te Leistung (Herr A), fehlende Möglichkeiten des beruflichen Aufstiegs (Frau D), usw.
52
Fremd kontrollierte Anreize des neuen Berufs
Definition: In dieser Unterkategorie befinden sich Aussagen, welche beschreiben, auf wel-
che Art Erwartungen, Bewertungen und Handlungen anderer Personen wie Partner, Kin-
der, Eltern, Kolleginnen, etc. in einem positiven und negativen Sinn zur Motivation bezüg-
lich einer selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der Lebensmitte beigetragen
haben.
Ankerbeispiel: „Also zur Entscheidung hat mein persönliches Umfeld überhaupt nichts beigetragen, das habe ich absolut mit mir selber ausgemacht.“ (Frau C). Bezüglich positiver fremd kontrollierter Anreize gaben fünf Befragte an, eine Bestätigung
für ihre gewichtige Entscheidung zu einer beruflichen Neu-Orientierung bei einem Lauf-
bahnberater bzw. einer -beraterin eingeholt zu haben (Frau C, Frau D, Herr E, Herr F,
Frau H). Sie wollten sich mit der Meinung einer Fachperson vergewissern, ob das neue Be-
rufsfeld ihren persönlichen Neigungen entsprach und die Fähigkeiten für eine Zweitausbil-
dung in der Lebensmitte ausreichen würden. Dabei zeigte sich, dass sich alle bezüglich ih-
rer Neigungen und Fähigkeiten richtig eingeschätzt hatten und die Fachmeinung sie in ih-
ren zukünftigen Plänen ermutigte. Für die Hälfte der Befragten trug die Zusage finanzieller
und/oder psychologischer Unterstützung durch den Partner bzw. die Partnerin in einem
stärkenden Sinn zur Motivation bei (Frau B, Frau D, Herr F, Herr G). Auch die positive
Reaktion des Kollegenkreises sowie des sozialen Umfelds wurde von je zwei Befragten als
unterstützend bezeichnet (Herr F, Herr G bzw. Frau D, Herr E).
Als einziger negativer fremd kontrollierter Anreiz wurde eine antizipierte grosse Ableh-
nung durch den Vater eines Befragten genannt, der Psychologie dem Kaffeesatz-Lesen
gleich setzte und dessen ehemalige Druckerei aufgrund des Berufswechsels verkauft wurde
(Herr F).
4.2.2.3 Persönliche Erwartungen (kognitive Variablen)
Definition: Diese Kategorie umfasst Aussagen zu (antizipierten) Erwartungen bezüglich
der Fähigkeit zur Durchführung sowie der subjektiv eingeschätzten Folgen eines selbst
gewählten Berufswechsels in der Lebensmitte, allenfalls kombiniert mit einer Zweitausbil-
dung. Dabei wird zwischen Selbstwirksamkeitserwartung (vgl. Kapitel 2.4.3) und Valenz-
Instrumentalitäts-Erwartung (vgl. Kapitel 2.4.2) unterschieden.
Selbstwirksamkeitserwartung Definition: In dieser Unterkategorie finden sich Aussagen zur allgemeinen Selbstwirksam-
keitserwartung und zur persönlichen Fähigkeitseinschätzung, eine Zweitausbildung zu En-
53
de zu führen oder den Entscheid einer selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in
der Lebensmitte durchzuziehen.
Ankerbeispiel: „Also der Entscheid, den neuen Beruf zu ergreifen, war an sich eng verknüpft mit einem Stellenangebot, das ich schon konkret auf dem Tisch hatte. (…). Als ich dann die konkreten Bedingungen kannte, war der Entscheid relativ klar und schnell gefällt. (…). Ich wusste, dass ich den Wechsel machen würde. (…). Schwierigkeiten gab es eigentlich nicht wirklich. Ich musste mir einfach ein paar Überlegungen machen. “ (Herr A).
Was die persönliche Selbstwirksamkeitserwartung anbetrifft, waren sich fünf der acht Be-
fragten praktisch sicher, eine weitere Ausbildung bzw. einen Quereinstieg in einen neuen
Beruf bewältigen zu können (Herr A, Frau B, Frau D, Herr E, Herr F). Zwei Personen wie-
sen anfänglich Zweifel auf, den intellektuellen Anforderungen eines Studiums zu genügen,
die jedoch durch positive Testresultate, die sich im Rahmen einer Laufbahnberatung oder
als Aufnahmebedingung für ein Studium zeigten, ausgeräumt wurden (Frau C, Frau H).
Die Erkenntnis, dass Wille und Ehrgeiz die Selbstwirksamkeitserwartung in einem positi-
ven Sinn beeinflussen (können), wurde von vier Befragten geäussert (Frau B, Frau D,
Herr F, Frau H). Drei Personen betonten zudem, dass sie sich bewusst seien, nicht Opfer,
sondern Täter bzw. Täterin der eigenen Handlungen zu sein und damit auch die Freiheit
hätten, Prioritäten selber zu setzen und allenfalls das gewählte Studium auch wieder auf-
zugeben (Frau B, Herr E, Frau H). Bezüglich der Lösung von Problemen, die während der
Neu-Orientierung auftauchen bzw. auftauchten, wurde von allen Personen hohe Zuversicht
geäussert.
Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung
Definition: Diese Unterkategorie beinhaltet Aussagen zur persönlichen Erwartung bezüg-
lich den auf einer Skala von 1-10 gewichteten erhofften Zielen, die ein Berufswechsel nach
sich ziehen würde, und in welchem Ausmass diese Ziele wiederum auf einer Skala von
1-10 auch auftreten würden. Durch die jeweilige multiplikative Verknüpfung zwischen er-
wartetem Ziel (Valenz) und Auftretenswahrscheinlichkeit (Instrumentalität) ergibt sich die
Höhe der motivationalen Auswirkung des entsprechenden Ziels auf den Beginn bzw. auf
die Aufrechterhaltung der beruflichen Neu-Orientierung (vgl. Kapitel 2.4.2).
Ankerbeispiel: „Das Rüstzeug zum Schreiben [bezüglich Wichtigkeit der beruflichen Ziele] würde ich bei 8 benennen, berufsspezifische Mechanismen kennen und benützen bei 5, medienspezifische Technik einset-zen bei 5, berufsspezifisches Wissen wie Definitionen bei 8 und die Demut bei 8, diese ist für mich persön-lich wichtig. (…) [Bezüglich Überzeugung, diese Ziele auch zu erreichen] Ja, sagen wir, alle 8.“ (Frau B).
Die Valenz-Instrumentalitäts-Erwartungen der Befragten variierten relativ stark hinsicht-
lich Anzahl, Inhalt und Stärke. Bei der Hälfte der befragten Personen zeigte sich indessen
mindestens eine Folge, welche die Maximalpunktzahl bezüglich subjektiver Einschätzung
ihres Werts und ihrer Auftretenswahrscheinlichkeit erreichte und damit die höchste moti-
vationale Auswirkung auf die berufliche Neu-Orientierung aufwies. Diese Folgen waren
54
im Einzelnen: Kombination von Inhalten des alten und des neuen Berufs (Frau C); Freude,
Befriedigung und Sinn (Frau D); Selbstbestimmung (Herr G); Optionenvielfalt im neuen
beruflichen Bereich (Herr F); kurze Distanz zwischen Arbeits- und Wohnort (Frau C) so-
wie angemessener Lohn (Frau D). Bei den restlichen Personen wiesen die Folgen wie in-
haltliche Horizonterweiterung (Herr E), Fachkompetenz (Frau B), Wissen (Frau H),
Selbstbestimmung (Herr A), zeitliche Flexibilität (Herr A) und Demut (Frau B) die stärkste
motivationale Wirkung auf.
4.2.2.4 Auslösendes Ereignis
Definition: Diese Kategorie beinhaltet Aussagen zu einem (möglichen) auslösenden Ereig-
nis, das letztlich den Anstoss gab, die selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der
Lebensmitte umzusetzen.
Ankerbeispiel: „Also für mich war es ganz klar die Arbeit beim Lokalradio. (…). Wenn ich die Arbeit beim Radio nicht gemacht hätte, die mir sehr gut gefiel, wäre ich wahrscheinlich nicht hier [am Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW].“ (Frau C).
In Bezug auf ein auslösendes Ereignis wurde von zwei der Befragten ein Vorkommnis
aus dem beruflichen Umfeld bezeichnet: eine Reorganisation mit neuer, inakzeptabler Po-
sitionszuteilung (Herr A) und fehlende Wertschätzung im Rahmen eines Mitarbeiterge-
sprächs (Herr G). Zwei Personen erwähnten eine persönliche Erkenntnis wie fehlende Zu-
sammenarbeit mit Menschen im bisherigen Beruf (Herr E) und das 40. Lebensjahr als
Zeitpunkt der Entscheidung für oder gegen eine neue berufliche Herausforderung (Frau H).
Eine Person nannte das zeitliche Zusammentreffen dreier günstiger Faktoren: Ende eines
dreijährigen Klassenzugs, persönliche Überlegungen bezüglich der beruflichen Zukunft
und Fernsehsendung mit spannenden Inhalten (Frau B). Eine weitere Person erwähnte eine
Bemerkung ihres Coiffeurs über eine Frau, die immer nur Pläne schmieden, aber nie in die
Tat umsetzen würde (Frau D). Zwei Befragte gaben an, dass der Umsetzung kein auslö-
sendes Ereignis zugrunde lag, sondern dass diese vielmehr das Produkt eines längeren per-
sönlichen Prozesses darstellte, der von mehreren Faktoren beeinflusst wurde (Frau C,
Herr F).
5. Diskussion Im Folgenden werden die Ergebnisse der empirischen Arbeit zusammengefasst und inter-
pretiert. Darauf aufbauend wird die eingangs erläuterte Fragestellung beantwortet und die
damit verbundenen Hypothesen werden einer Prüfung unterzogen. Eine kritische Betrach-
tung der angewandten Methode und der gefundenen Ergebnisse sowie gesamthafte
Schlussfolgerungen und weiterführende Gedanken runden den vorliegenden Teil ab.
55
5.1 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
Im theoretischen Teil dieser Arbeit wurden in einem ersten Schritt die Begriffe der berufli-
chen Neu-Orientierung, der Lebensmitte und der Selbst-Wahl geklärt sowie die psycholo-
gischen Konstrukte der Motivation und des Motivs erläutert. In einem zweiten Schritt wur-
den zentrale Inhalts- und Prozesstheorien der Motivation dargelegt, die ihre Verhaltenser-
klärung auf die Motivdisposition einer Person bzw. auf den Prozess des Zusammenspiels
der persönlichen Motive, situativen Anreize und individuellen Erwartungen einer Person
stützen. In Bezug auf den empirischen Teil der vorliegenden Arbeit wurde auf der Basis
der Fragestellung und den damit zusammen hängenden Hypothesen, die aufgrund persönli-
cher Erfahrungen der Verfasserin und auf dem Hintergrund der oben erwähnten Theorien
aufgestellt wurden, der Leitfaden für das problemzentrierte Interview in Kombination mit
dem semiprojektiven Verfahren des Multi-Motiv-Gitters (MMG) für die empirische Unter-
suchung entwickelt. Im Verlauf des Monats Februar 2008 wurden acht Personen, die sich
im mittleren Lebensalter in einem Prozess der selbst gewählten beruflichen Neu-Orien-
tierung befanden oder einen solchen innerhalb der letzten fünf Jahre abgeschlossen hatten,
befragt und getestet. Die Interviews wurden wörtlich transkribiert und anschliessend an-
hand einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Die Ergebnisse der
problemzentrierten Interviews und der semiprojektiven Tests wurden zuerst fallspezifisch
und danach fallübergreifend dargestellt. Im Folgenden werden die Ergebnisse noch inter-
pretiert.
Persönliche Motive für eine selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebens-
mitte lassen sich in explizite, mehrheitlich bewusste, kognitive Bedürfnisse und implizite,
eher unbewusste, affektive Bedürfnisse einteilen.
Die von den Befragten angegebenen expliziten Motive nach fundierter Horizonterweite-
rung, neuer beruflicher Herausforderung, persönlicher Weiterentwicklung, vermehrter Au-
tonomie und Selbstbestimmung sowie verstärkter Zusammenarbeit mit Menschen befinden
sich gemäss Maslow (vgl. Kapitel 2.3.1) auf der obersten Stufe der Wachstumsmotivation,
nämlich der Selbstaktualisierung, auch ‚Motivation, sich zu entwickeln’ oder ‚Bedürfnisse
des Seins’ genannt. Selbstaktualisierung beinhaltet ein fortwährendes Drängen, die eigenen
Potentiale auszuschöpfen, umfassend sich selbst zu werden, nachdem die physiologischen
Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, Liebesbedürfnisse und Selbstachtung befriedigt wor-
den sind. Nach der Befriedigungs-Progressions-Hypothese von Alderfer (vgl. Kapitel
2.3.2) führen befriedigte Bedürfnisse nach Kompetenz, Selbsterfüllung und Autonomie
tendenziell zu einer Erhöhung des Anspruchsniveaus und entsprechenden Verhaltenswei-
sen. Personen, die sich in der Lebensmitte beruflich neu orientieren, scheinen in der Tat
56
nach einer Erweiterung ihres Wissens-, Erlebens- und Verhaltensspielraums sowie nach
einer Verstärkung ihrer Selbststeuerung zu streben, um alles zu sein, was sie persönlich
sein können und somit Lebenszufriedenheit zu erreichen. Für die Befriedigungs-Pro-
gressions-Hypothese spricht auch die Tatsache, dass praktisch alle Befragten mit dem bis-
herigen Beruf zufrieden waren, sich aber in der Lebensmitte die Frage stellten, ob dies be-
ruflich bereits alles gewesen sei.
In Bezug auf implizite Motive fällt auf, dass die Befragten über eine generell hohe Motiva-
tion in den drei Motivklassen Anschluss, Leistung und Macht verfügen, und zwar jeweils
in der Furchtkomponente. Die höchsten Werte zeigten sich beim Leistungsmotiv in der
Furchtkomponente, wo alle Befragten einen überdurchschnittlich hohen Wert zwischen
Prozentrang 89 und 100 erzielten. Alle Personen der Stichprobe werden folglich von Situa-
tionen angezogen, in denen die Leistungen von Personen untereinander oder mit einem
Kriterium verglichen werden. Der steuernde Affekt hinter der Leistungsmotivation ist da-
bei Furcht vor Misserfolg bzw. Versagensangst. Eine berufliche Neu-Orientierung stellt ei-
ne deutliche Situation dar, in welcher die persönliche Leistung entweder über eine Zweit-
ausbildung und den nachfolgenden Einstieg in den neuen Beruf oder über einen direkten
Quereinstieg in den neuen Beruf gemessen werden kann. Die Versagensangst, die hinter
der angeregten Leistungsmotivation steckt, bürgt tendenziell für eine erfolgreiche Umset-
zung der Neu-Orientierung. Zwischen dem hohen impliziten Leistungsmotiv der Befragten
und dem starken expliziten Bedürfnis nach einer Beschäftigung mit neuen, interessanten
und/oder nützlichen Inhalten im Sinn einer Horizonterweiterung, verbunden mit einer fun-
dierten Ausbildung, besteht demnach hohe Kongruenz. Die eher unwillkürlich angeregte
affektive Motivationstendenz, Leistung zu erbringen, und das mehrheitlich bewusste, kog-
nitive Bedürfnis nach Kompetenz und Selbsterfüllung scheinen sich gegenseitig bei der
Zielverfolgung zu stützen bzw. zu verstärken, so dass kaum willentliche Steuerungsprozes-
se (Volitionsprozesse) zur Durchführung der Neu-Orientierung nötig sind (vgl. Kapitel
3.1). Dieser Befund wird durch eine allgemein relativ hohe Selbstwirksamkeitserwartung
der Befragten gestützt (vgl. Kapitel 4.2.2.3).
Situative Anreize als affektive Variablen beinhalten die folgenden vier Unterkategorien:
aversive Seiten des alten Berufs, tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs,
Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände und fremd kontrollierte Anreize bezüglich
des neuen Berufs.
Was die schwierigen und aversiv besetzten Seiten des alten Berufs betrifft, geht die berufli-
che Routine mit den wiederkehrenden gleichen Inhalten und/oder fremd gesteuerten Ab-
läufen und der daraus folgenden Langeweile und fehlenden Herausforderung Hand in
57
Hand mit den erwähnten persönlichen Motiven für einen Berufswechsel, insbesondere mit
dem Bedürfnis nach einem erweiterten Wissens-, Erlebens- und Handlungsspielraum sowie
dem Wunsch nach Selbststeuerung. Menschen, die eine berufliche Neu-Orientierung in der
Lebensmitte vornehmen, scheinen folglich ihr Potenzial selbst gesteuert ausschöpfen und
in diesem Sinn einer gewissen Einseitigkeit entkommen zu wollen.
Die erfragten negativen tätigkeitsspezifischen Vollzugsanreize des neuen Berufs wie sisy-
phusartige administrative Arbeit; repetitive Arbeit mit Menschen, die an der gleichen psy-
chischen Störung erkrankt sind; Arbeit unter Zeitdruck, die zu Lasten der Qualität geht;
fehlendes inhaltliches Interesse und fehlende inhaltliche Identifizierung scheinen diese
Vermutung zu untermauern.
Ebenso weisen die meisten der genannten positiven Anreize künftiger Umwelt- und Bin-
nenzustände in dieselbe Richtung: Selbstbestimmung in inhaltlicher und zeitlicher Hin-
sicht; Kombination von alten mit neuen Inhalten; Optionenvielfalt und Abwechslung be-
züglich zukünftiger Tätigkeiten; Vielfalt an Themen; vertieftes Wissen; Selbsterfahrung
und -reflexion und daraus folgende Empathie sowie Einblick in verschiedene berufliche
Umfelder und deren Wechselwirkungen mit menschlichem Verhalten. Eine berufliche
Neu-Orientierung scheint demnach in den Augen der Befragten auch die Zielkomponenten
zu beinhalten, noch nicht oder bis anhin zu wenig berücksichtigte Bereiche des eigenen Po-
tentials auszuschöpfen sowie mehrheitlich selbst bestimmtes und autonomes Arbeiten in
inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht zu erreichen.
Den positiven Anreizen steht gemäss vier der acht Befragten als negativer Anreiz eine
deutliche Lohneinbusse gegenüber, die in der Wahrnehmung auch mit geringerer Wert-
schätzung gegenüber einer Arbeit zu tun hat. Ausserdem nannten jeweils zwei Befragte als
weitere negative Anreize eine tiefere berufliche Position und damit tieferes Sozialprestige
sowie finanziell-wirtschaftliche Unsicherheit. Die restlichen negativen Anreize betrafen
zum grossen Teil die beruflichen Rahmenbedingungen. Anreize, welche die intrinsische
Motivation ansprechen, scheinen bei den interviewten Personen das grössere Gewicht zu
haben als solche, welche die extrinsische Motivation anregen. Dies könnte damit zusam-
men hängen, dass im Verlauf eines Lebens Anreize, welche auf die extrinsische Motivation
wirken, durch die gelebte Erfahrung in ihrer Wirkung eher nachlassen, während Anreize,
welche die intrinsische Motivation anregen, an Einfluss gewinnen.
Positive fremd kontrollierte Anreize aus einer fachspezifischen Unterstützung sowie aus
dem persönlichen Umfeld kamen bei der Mehrheit der Befragten zum Tragen (fünf bzw.
vier Befragte). Neben der Bestätigung der Neigungen und Fähigkeiten durch Fachpersonen
war die Zusage finanzieller und/oder psychologischer Unterstützung durch das familiäre
und/oder soziale Umfeld für das neue Berufsfeld motivational stärkend.
58
Als einziger negativer fremd kontrollierter Anreiz wurde eine antizipierte grosse Ableh-
nung durch den Vater eines Befragten erwähnt. Da Personen in der Lebensmitte oftmals in
ein soziales (Familien-)Netz mit entsprechenden Pflichten finanzieller, zeitlicher, sozialer
und psychologischer Art eingebunden sind, welche eine weitere Ausbildung erschweren
oder gar verunmöglichen können, dürfte der Einfluss solch fremd kontrollierter Anreize
auf die Motivation nicht zu vernachlässigen sein.
Persönliche Erwartungen als kognitive Variablen beziehen sich auf die Selbstwirksam-
keitserwartung sowie auf die Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung, d.h. der subjektiv einge-
schätzten Folgen eines selbst gewählten Berufswechsels.
Hinsichtlich Selbstwirksamkeitserwartung schien, allenfalls nach einer Phase anfänglicher
Unsicherheit, bei praktisch allen Befragten die persönliche Überzeugung zu überwiegen,
über die für ein Studium bzw. für einen Quereinstieg in einen neuen Beruf notwendigen
Fähigkeiten und Kompetenzen zu verfügen. Einzig Herr G, der bereits 54-jährig ist, scheint
– bewusst oder unbewusst – an seiner Selbstwirksamkeit zu zweifeln, zögerte er doch zwei
Jahre lang, bis er die alte, unbefriedigende Stelle kündigte. Zudem befindet er sich nun seit
einem Jahr in einem Prozess der Neu-Orientierung und scheint sich in einer Patt-Situation
bezüglich künftiger Selbstständigkeit oder Anstellung zu befinden. Hinsichtlich Schwie-
rigkeiten und Probleme, die sich während der Neu-Orientierung ergeben bzw. ergaben, äu-
sserten sich alle Befragten in dem Sinne zuversichtlich, als dass sie mit diesen umgehen
könnten bzw. konnten. Da die subjektiv eingeschätzte Selbstwirksamkeit positiv mit der
Höhe des Anforderungsniveaus eines gewählten Ziels, der Stärke der persönlichen Ziel-
bindung sowie der Persistenz der Zielverfolgung korreliert (vgl. Kapitel 2.4.3), dürfte den
Befragten in dieser Hinsicht mehrheitlich eine günstige Prognose bezüglich der Realisie-
rung bzw. Aufrechterhaltung ihrer herausfordernden Neu-Orientierung gestellt werden.
Bezüglich Valenz-Instrumentalitäts-Erwartungen fällt auf, dass sich die hoch bewerteten
erhofften Folgen eines Berufswechsels wie Kombination von Inhalten des alten und neuen
Berufs; Freude, Befriedigung und Sinn; Optionenvielfalt im neuen beruflichen Bereich und
Selbstbestimmung stark mit den persönlichen Motiven (hauptsächlich Selbsterfüllung und
-steuerung) decken und sich in Gegensatz zu den aversiv erlebten Seiten des alten Berufs
(vor allem berufliche Routine, die zu Langeweile und fehlender Herausforderung führt)
stellen.
Bezüglich eines auslösenden Ereignisses scheint bei der Mehrheit der befragten Personen
ein mehr oder weniger gewichtiger Auslöser beruflicher und/oder privater Natur auf die
schon längere Zeit vorhandene Handlungsmotivation gewirkt zu haben.
59
5.2 Beantwortung der Fragestellung und Prüfung der Hypothesen
Der Kern der vorliegenden Arbeit besteht aus folgender Fragestellung:
Welches sind die Motive für eine selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte, die keinen beruflichen und/oder finanziellen Aufstieg darstellt?
Die Beantwortung dieser Frage scheint mehrheitlich von einer jeweils individuellen Ver-
rechnung der folgenden vier motivationalen Variablen abzuhängen: (i) persönliche, auf der
kognitiven bzw. halb-kognitiven Ebene wirkende explizite und implizite Motive; (ii) situa-
tive, auf der affektiven Ebene wirkende Anreize; (iii) persönliche, auf der kognitiven Ebe-
ne angesiedelte Selbstwirksamkeits- und Valenz-Instrumentalitäts-Erwartungen sowie (iv)
ein auslösendes äusseres oder inneres Ereignis.
Die empirische Untersuchung zeigte folgende Faktoren auf, die in einem positiven Sinn
auf die Handlungsmotivation, insbesondere auf die intrinsische Motivation, zu wirken
scheinen: die expliziten und impliziten Motive nach umfassender und selbst gesteuerter
Selbsterfüllung bzw. nach persönlicher Leistung; die aversiv besetzte Seite der beruflichen
Routine des alten Berufs, die dem persönlichen Wachstum im Wege steht; die positiven
künftigen Zustände wie Erweiterung und Vertiefung von Wissen und (Selbst-)Erfahrung,
Abwechslung von Themen und Tätigkeiten, Selbstbestimmung und Flexibilität; die Ermu-
tigung durch eine Fachperson in Laufbahnberatung und die Unterstützung durch das sozia-
le Umfeld; die hohe Selbstwirksamkeitserwartung sowie die erwartete Erweiterung von
sinnhaftem Wissen, Erleben und Verhalten und von Selbststeuerung. Die Kontrahenten in
Form negativer tätigkeitsspezifischer Vollzugsanreize des neuen Berufs wie sisyphusartige
Arbeit, Arbeit unter Zeitdruck und Arbeit ohne inhaltliches Interesse oder inhaltlicher
Identifizierung scheinen einen negativen Einfluss vor allem auf die intrinsische Hand-
lungsmotivation zu haben. Die Gegenspieler in Gestalt negativer künftiger Zustände wie
eine deutliche (anfängliche) Lohneinbusse, eine tiefere berufliche Position, finanziell-
wirtschaftliche Unsicherheit und schlechtere berufliche Rahmenbedingungen dürften sich
negativ auf die extrinsische Motivation auswirken. Die resultierende individuelle Motivati-
onsbilanz, die sich in Anzahl, Stärke und Richtung der einzelnen Komponenten der persön-
lichen Motive, situativen Anreize und persönlichen Erwartungen unterscheidet, und even-
tuell durch ein auslösendes Ereignis verstärkt wird, entscheidet über die Art und Stärke der
Handlungsmotivation, die in eine berufliche Neu-Orientierung münden kann. Menschen,
die eine selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte vornehmen, wei-
sen tendenziell eine positive Motivationsbilanz mit einem hohen Anteil intrinsischer Moti-
vation auf. Sie scheinen ihr Potenzial selbst gesteuert in Richtung Ganzheitlichkeit und
60
Vollständigkeit ausschöpfen zu wollen und nach dem Ziel einer umfassenden Selbsterfül-
lung und -steuerung zu streben.
Neben der Frage nach den motivationalen Variablen steht die Prüfung von vier thematisch
damit verbundenen Annahmen im Zentrum des Interesses. Diese Hypothesen werden im
Folgenden auf der Basis der empirischen Befunde auf ihren Gehalt hin geprüft. Die erste
Hypothese lautete:
Der Anreiz für eine selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung liegt primär im Wunsch nach der Verwirklichung bisher eher brach gelegener Fähigkeiten.
Durch die Formulierung der Hypothese mit dem Wort ‚primär’ scheint implizit von einer
allgemeinen Kenntnis sowohl aller den Entscheid für eine berufliche Neu-Orientierung be-
einflussenden motivationalen Variablen als auch von einer den Befragten bewussten Hie-
rarchisierung dieser Variablen ausgegangen zu werden. Diese beiden Voraussetzungen
dürften jedoch kaum der Wirklichkeit entsprechen, die eher einem komplexen individuel-
len Zusammenspiel persönlicher und situativer, bewusster und unbewusster, kognitiver und
affektiver, individueller und sozialer sowie weiterer motivationaler Variablen zu gleichen
scheint. Weder die genauen inhaltlichen Komponenten dieses Zusammenspiels noch deren
Stärke dürften den Befragten in aller Deutlichkeit bewusst sein. Abgesehen davon scheint
neben der Verwirklichung brach gelegener Fähigkeiten die Beschäftigung mit neuen, inte-
ressanten und/oder nützlichen Inhalten im Sinn einer Horizonterweiterung, verbunden mit
einer fundierten Ausbildung, ein stärkerer Anreiz zu bilden. Bei den expliziten Motiven
gab die Mehrheit der Befragten das Bedürfnis nach einer Horizonterweiterung an; bei den
aversiv besetzten Seiten des alten Berufs nannte die Hälfte der interviewten Personen die
berufliche Routine, die zu inhaltlicher Langeweile und fehlender Herausforderung führte;
bei den negativen tätigkeitsspezifischen Vollzugsanreizen des neuen Berufs wurden wie-
derum sisyphusartige Arbeit und fehlendes inhaltliches Interesse bzw. fehlende inhaltliche
Identifizierung erwähnt; bei den positiven Anreizen künftiger Zustände herrschten vertief-
tes Wissen, Selbsterfahrung und -reflexion, Vielfalt an Themen und zukünftigen Tätigkei-
ten sowie Selbstbestimmung und Flexibilität vor; bei den Valenz-Instrumentalitäts-
Erwartungen wiesen unter anderen die Folgen wie Kombination von alten und neuen Inhal-
ten, Optionenvielfalt im beruflichen Bereich, inhaltliche Horizonterweiterung, Fachkompe-
tenz und Wissen eine hohe Valenz auf. Im Verlauf einer fundierten Horizonterweiterung
werden wahrscheinlich bisher eher brach gelegene Fähigkeiten durch die individuell ge-
wählte Art der Beschäftigung mit den neuen Inhalten verwirklicht, der Fokus liegt aber
tendenziell eher auf den neuen, interessanten Inhalten, die zu einer Erweiterung des Wis-
sens-, Erlebens- und Verhaltensspielraums führen und Teil der Lebenszufriedenheit aus-
61
machen. Die damit verbundenen eher brach gelegenen Fähigkeiten scheinen zweitrangig
zu sein. Die erste Hypothese muss somit, nach der Klärung zweier zugrunde liegender
Voraussetzungen, abgelehnt werden.
Die zweite Hypothese bezog sich auf mögliche äussere und/oder innere Ereignisse, die bei
der Verwirklichung einer Neu-Orientierung eine Rolle spielten:
Äussere und/oder innere Ereignisse stossen die seit längerem vorhandene Motivation zu einer beruflichen Neu-Orientierung an.
Von den acht Befragten gaben sechs Personen an, dass bei ihnen ein auslösendes Ereignis
beruflicher und/oder privater Natur auftrat, das letztlich den Anstoss gab, die seit längerem
ins Auge gefasste berufliche Neu-Orientierung umzusetzen. Die restlichen zwei Personen
gaben an, dass der Umsetzung ihrer Neu-Orientierung kein konkretes auslösendes Ereignis
zugrunde lag, sondern dass diese eher das Produkt eines längeren persönlichen Prozesses
darstellte, der von mehreren beruflichen wie privaten Faktoren beeinflusst wurde. Bei der
Mehrheit der Befragten, nicht aber bei allen, scheint also ein äusseres und/oder inneres,
mehr oder weniger gewichtiges auslösendes Ereignis auf die seit längerem vorhandene
Handlungsmotivation Richtung beruflicher Neu-Orientierung gewirkt zu haben. Die vor-
liegenden Befunde stützen die entsprechende Hypothese, auch wenn die Resultate nicht
eindeutig sind.
Die dritte Hypothese lautete wie folgt:
Personen, die sich beruflich neu orientieren, weisen eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung auf.
Fünf der acht Befragten waren sich nach eigener Aussage zu Beginn der Neu-Orientierung
fast 100%ig sicher, eine weitere Ausbildung bzw. einen Quereinstieg in einen neuen Beruf
bewältigen zu können. Zwei weitere Personen wiesen zu Beginn Zweifel auf, den intellek-
tuellen Anforderungen eines Studiums zu genügen; diese Zweifel wurden indessen auf-
grund positiver Ergebnisse, die sich im Rahmen einer professionellen Laufbahnberatung
oder als Aufnahmebedingung für ein Studium ergaben, zunehmend aufgelöst. Schliesslich
scheint ein 54-jähriger Mann – mehr oder weniger bewusst – an seiner beruflichen Selbst-
wirksamkeit zu zweifeln, zögerte er doch zwei Jahre lang, bis er die alte, nicht mehr trag-
bare Stelle von sich aus kündigte. Ausserdem befindet er sich seit ungefähr einem Jahr in
einem Prozess der Neu-Orientierung und scheint in einer Patt-Situation bezüglich künftiger
Selbstständigkeit oder Anstellung festgefahren zu sein. Die persönliche Erkenntnis, dass
Wille und Ehrgeiz die Selbstwirksamkeitserwartung in einem positiven Sinn beeinflussen
(können), wurde zudem von vier Befragten geäussert. Drei Personen betonten, dass sie sich
bewusst seien, nicht Opfer, sondern Täter bzw. Täterin der eigenen Handlungen zu sein
62
und damit auch die Freiheit hätten, Prioritäten selber zu setzen und allenfalls das gewählte
Studium auch wieder aufzugeben. Die bei allen Befragten überdurchschnittlich hohe Leis-
tungsmotivation, von Versagensangst geprägt, und die daraus erfolgten positiven Leis-
tungserfahrungen dürften ebenfalls ihren Beitrag zur Selbstwirksamkeitserwartung leisten
(vgl. Kapitel 2.4.3). Grundsätzlich schien, allenfalls nach einer Phase anfänglicher Unsi-
cherheit, bei fast allen Befragten die persönliche Überzeugung zu überwiegen, über die für
ein Studium bzw. für einen Quereinstieg in einen neuen Beruf notwendigen Fähigkeiten
und Kompetenzen zu verfügen und auftauchenden Schwierigkeiten im Sinn einer relativ
hohen Selbstwirksamkeit beikommen zu können. Damit kann die dritte Hypothese tenden-
ziell bestätigt werden.
Die vierte Hypothese betraf eine überdurchschnittlich hohe Leistungsmotivation derjenigen
Personen, die eine Zweitausbildung in Angriff nehmen:
Menschen, die eine Zweitausbildung zwecks beruflicher Neu-Orientierung vornehmen, sind überdurchschnittlich leistungsmotiviert.
Aufgrund der Ergebnisse des semiprojektiven Verfahrens des Multi-Motiv-Gitters für An-
schluss, Leistung und Macht (Schmalt et al., 2000) zeigten nicht nur die sechs Personen,
die eine Zweitausbildung vornehmen bzw. vornahmen, sondern alle acht Befragten eine
überdurchschnittlich hohe Leistungsmotivation in der Furchtkomponente auf. Bei einem
Normbereich zwischen 16% und 84% erzielten sie einen Prozentrang zwischen 89 und
100. Alle Personen der Stichprobe werden folglich zumeist unbewusst auf der affektiven
Ebene überdurchschnittlich stark von Situationen angezogen, in denen ein Gütemassstab
präsent ist, in denen die Leistungen von Personen untereinander oder mit einem Kriterium
verglichen werden, in denen etwas besser oder schlechter gemacht werden kann. Die affek-
tiven Reaktionen der Betroffenheit/Scham bei antizipiertem Misserfolg werden dabei
handlungsleitend (vgl. Kapitel 2.3.3); der steuernde Affekt hinter der Leistungsmotivation
stellt also Furcht vor Misserfolg bzw. Versagensangst dar. Eine berufliche Neu-Orien-
tierung stellt eine deutliche Situation dar, in welcher die persönliche Leistung entweder
über eine Zweitausbildung und den nachfolgenden Berufseinstieg oder über einen direkten
Quereinstieg in den neuen Beruf gemessen werden kann. Die Versagensangst, die hinter
der Leistungsmotivation steckt, sorgt tendenziell für eine erfolgreiche Umsetzung. Was die
Hypothese anbetrifft, kann sie aufgrund der vorliegenden Ergebnisse angenommen wer-
den.
63
5.3 Kritische Betrachtung und einschränkende Bemerkungen
Im Folgenden werden kritische Aspekte der vorliegenden Arbeit thematisiert, die sich im
Verlauf der Untersuchung gezeigt haben und einen einschränkenden Einfluss auf die Er-
gebnisse gehabt haben (könnten).
Es lässt sich fragen, inwieweit die positive Einstellung sowie die bis anhin gesammelten
persönlichen Erfahrungen der Verfasserin, die sich selber in einem Prozess der selbst ge-
wählten beruflichen Neu-Orientierung ohne Karriereaufstieg befindet, die Konzeption des
Leitfadens, die Kontaktaufnahme, die Interviewsituation und die Auswertung der Aussa-
gen mitgeprägt haben. Einerseits könnten diese Phänomene die Befragten zu hoher Ge-
sprächsbereitschaft und grosser Offenheit angeregt haben, andererseits kamen möglicher-
weise weitere aversive und kritische Punkte dadurch nicht zur Sprache. Die Gütekriterien
der Objektivität und der Reliabilität werden unzureichend erfüllt (vgl. Kapitel 3.1), wie es
für qualitative Forschung bezeichnend ist.
Die Stichprobe kam nicht zufällig zustande. Die Befragten meldeten sich aus freien Stü-
cken bei der Verfasserin, nachdem sie über das „Türwächter“-System, das Schneeballsys-
tem oder einen Aushang konkrete Informationen über Vorgehen, Inhalt und Ziel der Unter-
suchung bekommen hatten (vgl. Kapitel 3.2). Es stellen sich dabei Fragen wie: Welche
Personen wurden aus welchen Gründen von „Türwächtern“ oder Mitstudierenden ange-
fragt? Welche Personen haben sich aus welchen Gründen selbst zu einem Interview ge-
meldet? Die Auswahl der Befragten ist nicht repräsentativ. Es wäre möglich, dass vor al-
lem Personen angefragt wurden und zugesagt haben bzw. sich selbst meldeten, die z. B. an
einer erhöhten gesellschaftlichen Akzeptanz bezüglich einer selbst gewählten beruflichen
Neu-Orientierung in der Lebensmitte interessiert sind oder die Zweitausbildung als positiv
erleben und deshalb eher geneigt sind, ihre Meinung kund zu tun. Im Verlauf des Inter-
views mit einem Probanden kamen der Verfasserin Zweifel auf, ob die berufliche Neu-
Orientierung wirklich selbst gewählt war oder nicht. Zwar hatte der Mann die Stelle von
sich aus gekündigt, doch wiesen einige Aussagen darauf hin, dass eine Weiterführung des
Arbeitsverhältnisses aufgrund eines Zerwürfnisses mit der vorgesetzten Person kaum zu-
mutbar gewesen wäre. Die Frage stellt sich dabei, ob eine Selbst-Wahl eher aus Not oder
Tugend heraus geschah, oder allgemeiner formuliert: Wie konstruiert sich der Mensch
Freiheit?
In der vorliegenden Studie wurden überwiegend Menschen befragt, die ihre Zweit-Aus-
bildung im geistes- oder sozialwissenschaftlichen Bereich absolvieren bzw. absolviert ha-
ben, was ein einseitiges Bild vermitteln könnte. Eventuell hätte sich ein anderes Bild ge-
zeigt, wären vermehrt Personen mit einer Neu-Orientierung Richtung Naturwissenschaften
64
oder Technik befragt worden. Zudem befindet sich über die Hälfte der Stichprobe noch
mitten in der Zweitausbildung. Die Bewertung ihrer selbst gewählten beruflichen Neu-
Orientierung könnte sich deshalb noch verändern, insbesondere zur Zeit des Berufsein-
stiegs oder danach im Berufsalltag. Auch waren die Fragen bezüglich tätigkeitsspezifischer
Vollzugsanreize des neuen Berufs sowie künftiger Umwelt- und Binnenzustände für einige
der Befragten schwierig zu beantworten, da sie sich in der Ausbildung und noch nicht im
Berufsalltag befinden.
Bezüglich zeitlicher Retrospektivität ist es schwierig zu beurteilen, wie stark die persönli-
che Befindlichkeit der Befragten zur Zeit des Interviews sowie deren mögliche – mehr
oder weniger bewusste – Tendenz, ihr Verhalten zu rechtfertigen, die Beantwortung der
Fragen beeinflusst haben. Dies betrifft vor allem jene Entscheidungsprozesse, die schon
mehrere Jahre zurück liegen. Ausserdem stellt sich wie bei jeder Untersuchung zur Ein-
schätzung der eigenen Persönlichkeit die Frage, wie stark soziale Erwünschtheit und/oder
das Ideal-Selbst die Antworten gefärbt haben, insbesondere jene in Bezug auf Fragen zu
den persönlichen Motiven und Erwartungen.
Was die Fragen des Interviewleitfadens anbetrifft, stellten sich nicht alle als gleich nützlich
für die Beantwortung der Fragestellung und die Prüfung der vier Hypothesen heraus. Wäh-
rend sich die Hauptfragen 1, 2, 3, 4 und die Abschlussfrage bewährten, zeigten sich die
Hauptfragen 5 und 6 eher als kritisch. Hauptfrage 5a erwies sich wohl aufgrund ihrer Re-
trospektivität als eher schwierig zu beantworten und Hauptfragen 5b und 5c waren eventu-
ell infolge ihrer zu Grunde liegenden kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst ten-
denziell wenig ergiebig. Hauptfrage 6a überschnitt sich aufgrund ihrer zu unpräzisen For-
mulierung mit Hauptfrage 2a, so dass die künftigen Zustände des neuen Berufs nicht sau-
ber von deren Folgen getrennt werden konnten. Hauptfragen 6b und 6c zielten auf eine
persönliche Bewertung auf einer Skala von 1-10; aufgrund der hohen Subjektivität zeigte
sich dabei ein Vergleich der gewichteten Faktoren innerhalb einer Person als zulänglich,
ein Vergleich der gewichteten Faktoren unter den Befragten war jedoch nicht angezeigt.
Grundsätzlich erwies sich die sehr offen und breit gehaltene Hauptfrage 1a als sehr ergie-
big. Die Mehrheit der Befragten ging dabei in einem ganzheitlichen Sinn auf die Historizi-
tät der freiwilligen beruflichen Neu-Orientierung (vgl. Kapitel 4.2) und die damit verbun-
denen Probleme ein. Die unspezifische Abschlussfrage diente einerseits der Verfasserin als
Kontrolle bezüglich einer möglichst ganzheitlichen Erfassung der individuellen Fälle, an-
dererseits den Befragten als Plattform für wichtige Anliegen oder weiterführende Gedan-
ken, von der fünf der acht Befragten auch Gebrauch machten.
65
Die Auswertung der Interviews mit der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach
Mayring (2002; 2003) gestaltete sich schwieriger als angenommen. Das Aufstellen sinn-
voller Kategorien und deren Differenzierung mittels Kodierregeln (vgl. Anhang 8.7) erwie-
sen sich teilweise als sehr anspruchsvoll. Das Dilemma jeglicher Forschung, die mit Hilfe
theoretischer Modelle und Konzepte Wirklichkeit zu beschreiben und abzubilden versucht,
wurde somit direkt erfahrbar. Im Vergleich zur Theorie erschöpft sich Realität nicht in ein-
zelnen, klar trennbaren Kategorien.
Bei der Untersuchungsplanung schien das problemzentrierte Interview zusammen mit dem
semiprojektiven Verfahren des Multi-Motiv-Gitters eine reizvolle Kombination von be-
wussten, kognitiv gesteuerten Aspekten und eher unbewussten, affektiv gesteuerten Aspek-
ten der persönlichen Motive zu schaffen. Leider werden in der Handanweisung von
Schmalt et al. (2000) jedoch nur grundsätzliche Aussagen zu überdurchschnittlich hohen
Werten entweder einzeln in der Hoffnungs- oder Furchtkomponente oder kombiniert in der
Hoffnungs- und Furchtkomponente pro Motivklasse gemacht. Kombinationen über die
Motivklassen hinweg werden keine besprochen. Dies wäre indessen gerade in der vorlie-
genden Untersuchung interessant gewesen, zeigen doch fünf der acht Befragten in allen
drei Motivklassen einen überdurchschnittlich hohen Wert auf der Furchtskala.
5.4 Schlussfolgerungen und weiterführende Gedanken
Die differenzierte Beschreibung der Motivationslage der acht befragten Personen erlaubt
neben einem intersubjektiven Vergleich auch das explorative Auffinden von Mustern, die
ihrerseits zu weiterführenden Gedanken und der Formulierung von neuen Hypothesen füh-
ren können.
Menschen, die sich für eine selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmit-
te entscheiden, weisen nach einer mehr oder weniger bewussten Verrechnung der motiva-
tionalen Variablen eine hohe Motivationsbilanz auf, die meist zu einer weiteren Ausbil-
dung in einem andern Berufsfeld oder einem direkten Quereinstieg in einen neuen Beruf
führt. Bei diesem Entscheid spielt die intrinsische Motivation eine weit grössere Rolle als
die extrinsische. Es drängt sich die Frage auf, ob die intrinsische Motivation mit zuneh-
menden Berufsjahren tendenziell an Bedeutung gewinnt und die extrinsische Motivation an
Wichtigkeit verliert. Da die intrinsische Motivation ausserdem durch die berufsinhärente
Wiederholung gleicher Prozesse und Abläufe tendenziell über die Berufsjahre abzunehmen
scheint, wäre zu deren Aufrechterhaltung ein Wechsel zu neuen und interessanten Berufs-
inhalten eine mögliche Lösung. Dies umso mehr, je leistungsmotivierter sich die betroffe-
nen Personen zeigen. Daraus lässt sich die Hypothese ableiten, dass ein Berufswechsel mit
66
oder ohne weitere Ausbildung zum grossen Teil zur Aufrechterhaltung der intrinsischen
Motivation leistungsmotivierter Personen dient.
Personen mit einer bildungshierarchisch eher tiefen Erstausbildung wie z. B. einer einfa-
chen Berufslehre haben sachgemäss weniger Möglichkeiten, sich in der Lebensmitte beruf-
lich neu zu orientieren. Es wäre interessant herauszufinden, ob bei solchen Personen die in-
trinsische Motivation im Gegensatz zur extrinsischen im mittleren Erwachsenenalter weni-
ger bedeutsam ist und ob die intrinsische Motivation mit zunehmendem Alter mit Inhalten
aus der Familie oder Freizeit genährt wird.
Die berufliche Selbstwirksamkeitserwartung scheint von individuellen und sozial-ökono-
mischen Faktoren abzuhängen. Während sich die individuellen Faktoren wie positive Er-
fahrungen im Beruf mit zunehmendem Alter tendenziell zu Gunsten der Selbstwirksam-
keitserwartung auswirken, scheinen sozial-ökonomische Faktoren wie der Ruf nach ju-
gendlichen und dynamischen Arbeitnehmern oder die Vorstellung über altersbedingte Ab-
bauprozesse mit vorrückendem Alter zu deren Ungunsten auszufallen. Es lässt sich vermu-
ten, dass der Einfluss sozial-ökonomischer Faktoren auf die berufliche Selbstwirksam-
keitserwartung gegenüber individuellen Faktoren mit dem Alter überproportional stark zu-
nimmt. Dies würde mit dem Phänomen einhergehen, dass Arbeitnehmer über 50 Jahre
kaum mehr ihre Stelle wechseln und sich lieber anpassen als unangenehm auffallen.
Die situativen Faktoren als eine wichtige motivationale Variable in Bezug auf eine selbst
gewählte berufliche Neu-Orientierung im mittleren Erwachsenenalter wurden in dieser Ar-
beit auf Faktoren des alten und neuen Berufs sowie des nahen sozialen Umfelds reduziert.
Die Realität zeigt sich jedoch viel komplexer, indem auch gesellschaftspolitische und wirt-
schaftliche Faktoren wie die Höhe des Pensionsalters, die Lage auf dem Arbeitsmarkt,
usw. eine entscheidende Rolle spielen. In diesem Sinn sollte die vorliegende theoretische
und empirisch-qualitative Arbeit eher als Annäherung an ein hoch komplexes Thema mit
vielen unterschiedlichen, teils interdependenten Faktoren denn als umfassende motivati-
onspsychologische Abhandlung betrachtet werden.
Im Verlauf der zunehmenden Deregulierung der Berufsbiografien wird die selbst gewählte
berufliche Neu-Orientierung künftig einen wachsenden Stellenwert erfahren. Zudem wird
mit der stark angestiegenen Lebenserwartung und der damit einher gehenden Erhöhung des
Pensionsalters ein freiwilliger Berufswechsel auch für immer mehr ältere Menschen ein
Thema bzw. eine Option. Forschungsbemühungen in diesem bis anhin eher vernachlässig-
ten Bereich wären daher aus psychologischer, soziologischer und ökonomischer Sicht an-
gezeigt. Die daraus gezogenen Erkenntnisse dürften der Gesellschaft, der Wirtschaft und
nicht zuletzt dem Individuum zu Gute kommen.
67
6. Abstract Ziel dieser theoretischen und empirisch-qualitativen Arbeit ist das Aufzeigen motivationa-
ler Variablen, die zu einer selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der Lebens-
mitte ohne beruflichen oder finanziellen Aufstieg führen. Zudem werden vier Hypothesen
in Bezug auf bisher brach gelegene Fähigkeiten, auf Ausschlag gebende Ereignisse, auf
hohe Selbstwirksamkeit und auf überdurchschnittliche Leistungsmotivation im Falle einer
erforderlichen Zweitausbildung geprüft. Schliesslich werden weitere Einflussfaktoren be-
trachtet.
Um die Fragestellung beantworten, die Hypothesen testen und weitere Faktoren eruieren
zu können, wurden acht betroffene Personen mittels problemzentrierten Interviews befragt
und mit dem Multi-Motiv-Gitter getestet.
Die Untersuchung zeigte persönliche Motive, situative Anreize, persönliche Erwartungen
und ein auslösendes Ereignis als wichtige motivationale Variablen auf. Der Anreiz für eine
Neu-Orientierung liegt primär in der Beschäftigung mit neuen, interessanten Inhalten, we-
niger in der Verwirklichung ungenutzter Fähigkeiten. Mehrheitlich stösst ein Ereignis die
Motivation an. Praktisch alle Befragten weisen eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung
auf. Diejenigen Personen, die eine Zweitausbildung vornehmen, sind überdurchschnittlich
leistungsmotiviert. Ausserdem scheinen weitere Faktoren aus dem wirtschaftlichen und so-
zialpolitischen Bereich eine Rolle zu spielen.
Die Ergebnisse konnten mit den theoretischen Grundlagen grösstenteils erklärt werden. In-
folge steigenden Lebens- und Pensionsalters wird die Thematik der beruflichen Neu-Orien-
tierung und deren Folgen an gesellschaftlicher Brisanz gewinnen.
68
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71
8. Anhang 8.1 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 8.1.1 Verzeichnis der Abbildungen Seite Abb. 1: Die Bedürfnispyramide nach Maslow (2002, S. 64) 10
Abb. 2: Das Grundmodell der ‚klassischen’ Motivationspsychologie
(Rheinberg, 2004a, S. 70) 13
Abb. 3: Das Erweiterte Kognitive Motivationsmodell in handlungstheoretischer
Darstellung (Heckhausen & Rheinberg, 1980, S. 16) 15
Abb. 4: Die Unterscheidung von Wirksamkeits- und Ergebniserwartung nach
Bandura (1977, S. 193) 16
Abb. 5: Das Drei-Ebenen-Modell zur Motivationsanalyse nach Rheinberg
(1989, S. 104) 17
8.1.2 Verzeichnis der Tabellen
Tab. 1: Übersicht über die Stichprobe 23
Tab. 2: Übersicht über die Werte impliziter Motive der Stichprobe 48
72
8.2 Brief an die Berufs- und Laufbahnberater und -beraterinnen
Karin Lehmann Niederhäuser Florenstrasse 5b 8405 Winterthur Tel. 052.232.94.85 [email protected] Berufs- und Laufbahnberater und -beraterinnen des Laufbahnzentrums der Stadt Zürich Konradstrasse 58 Postfach 1177 8031 Zürich Winterthur, 10. Dezember 2007 Gesucht: Personen im mittleren Erwachsenenalter (40-60 Jahre), die eine selbst ge-wählte berufliche Neu-Orientierung vorgenommen haben. Dabei ist die Neu-Orien-tierung nicht mit einem beruflichen und/oder finanziellen Aufstieg verbunden. Liebe Berufs- und Laufbahnberater und –beraterinnen Im Rahmen meines Psychologie-Studiums an der Hochschule für Angewandte Psychologie in Zürich werde ich eine Bachelor-Arbeit über selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte schreiben. Dabei sollte die Neu-Orientierung keinen beruflichen und/ oder finanziellen Aufstieg darstellen. Zudem sollte sie nicht mehr als fünf Jahre zurück lie-gen. Im empirischen Teil meiner Arbeit möchte ich 8 Personen einzeln interviewen und ihnen danach das Multi-Motiv-Gitter zur Bearbeitung vorlegen. Thema wäre die Motivation für eine Neu-Orientierung in der Lebensmitte. Ein Interview samt Fragebogen würde ungefähr 60 Minuten dauern und Mitte bis Ende Februar 2008 durchgeführt werden. Ich würde die Gespräche auf Tonband aufnehmen und sie anschliessend auf meine Fragestellung hin un-tersuchen. Unter Wahrung der Anonymität würde ich kurze Auszüge aus einzelnen Inter-views in meiner Arbeit aufführen. Mein Anliegen ist nun, mit Ihrer Hilfe 8 Personen zu finden, die zu einem solchen Inter-view bereit wären. Aufgrund des Datenschutzes bin ich darauf angewiesen, Name und Ad-resse von bereitwilligen Personen aus Ihrer Hand zu erfahren. Es würde mich sehr freuen, wenn ich bis zum 20. Januar 2008 genügend geeignete Personen finden könnte. Ich würde danach mit den Personen direkt Kontakt aufnehmen und das weitere Vorgehen mit ihnen besprechen. Bei Fragen oder Unklarheiten stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Gerne lasse ich Ih-nen – bei entsprechendem Interesse – nach getaner Arbeit die Ergebnisse meiner Untersu-chung zukommen. Mit bestem Dank für Ihre Mithilfe und freundlichen Grüssen K. Lehmann
73
8.3 E-Mail an alle Studierenden der Angewandten Psychologie der ZHAW
Liebe Mitstudierende der ZHAW-P Im Rahmen meiner Bachelor-Arbeit würde ich gerne eine qualitative Studie über selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte aus motivationspsychologischer Sicht durchführen. Dabei sollte die Neu-Orientierung weder einen beruflichen noch einen finanziellen Aufstieg darstellen. Nun gestaltet sich die Suche nach möglichen Probanden und Probandinnen viel schwieriger als gedacht… Ich gelange daher mit folgendem Anliegen an euch: Kennt ihr eine Person, die sich zwi-schen dem 40. und 60. Lebensjahr freiwillig für eine berufliche Neu-Orientierung ent-schieden hat, die keinen beruflichen und/oder finanziellen Aufstieg gegenüber dem ur-sprünglichen Beruf darstellt? Die Person kann noch mitten in einer Zweitausbildung ste-cken oder diese schon vor ungefähr zwei Jahren abgeschlossen haben und nun im neuen Beruf arbeiten. Ich würde die Probanden und Probandinnen gerne über ihre Beweggründe befragen und ihnen danach noch einen kurzen Fragebogen unterbreiten. Das Ganze würde ungefähr 45 bis 90 Minuten dauern. Aus Datenschutzgründen bin ich darauf angewiesen, dass ihr zuerst eine mögliche Proban-din oder einen möglichen Probanden anfragt und mir nach deren/dessen Zusage Name und Telefonnummer weiterleiten würdet, so dass ich persönlich mit der Person Kontakt auf-nehmen könnte. Ich danke euch schon im Voraus ganz herzlich für eure Bemühungen und wünsche euch eine erholsame vorlesungsfreie Zeit! Herzliche Grüsse, Karin ______________________________________ Karin Lehmann Niederhäuser Florenstrasse 5 B 8405 Winterthur Telefon 052 232 94 85 E-Mail [email protected] ______________________________________
74
8.4 Aushang zur Suche von sich selbst meldenden Personen
Gesucht: ProbandInnen für eine qualitative Studie Im Rahmen meiner Bachelor-Arbeit an der ZHAW – Departement Psycholo-gie führe ich eine qualitative Studie über selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte durch. Für diese Studie suche ich noch Pro-banden und Probandinnen, die mir in einem Interview über ihre eigenen Er-fahrungen Auskunft geben könnten. Die Neu-Orientierung findet/fand dabei zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr statt, kann eine Zweit-Ausbildung beinhalten oder nicht und stellt keinen finanziellen und/oder beruflichen Auf-stieg dar. Ich freue mich über jede Kontaktaufnahme! Karin Lehmann [email protected] Tel. 052.232.94.85
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8.5 Interviewleitfaden Einleitung ( 5’)
• Dank für die Zusammenarbeit
• Anlass: Interview und Fragebogen im Rahmen einer Bachelor-Arbeit mit dem Thema
‚Freiwillige berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte’
• Vorgehen: Interview gefolgt von Fragebogen; Aufnahme auf Minidisc mit nachfol-
gender Transkription; Anonymisierung der Daten; Dauer 60-90 Minuten.
• Fragen seitens der befragten Person
Hauptteil (60-80’)
Persönliche Daten: (5’) Alter, Zivilstand, Anzahl Kinder, Alter der Kinder, Erstausbil-
dung/ursprünglicher Beruf, Zweitausbildung/neuer Beruf (vorbereitetes Formular)
Hauptfrage 1: (10-15’)
(a) Sie arbeiteten früher als …/im Bereich … und haben sich dann beruflich neu-
orientiert. Nun arbeiten Sie als …/im Bereich…. Können Sie mir erzählen, wie es zu
dieser beruflichen Neu-Orientierung in der Lebensmitte gekommen ist?
(b) Welche Rolle spielte Ihr persönliches Umfeld bei Ihrer Entscheidung für eine
berufliche Neu-Orientierung?
Nebenfrage 1:
(a) In welcher beruflichen Situation befanden Sie sich, als Sie eine berufliche Neu-
Orientierung in der Lebensmitte vornahmen?
(b) In welcher persönlichen Situation befanden Sie sich, als Sie eine berufliche Neu-
Orientierung in der Lebensmitte vornahmen?
Hauptfrage 2: (10’)
(a) Was zieht Sie am neuen Beruf an?
(b) Was hat Sie am alten Beruf gestört?
Nebenfrage 2:
(a) Was macht den neuen Beruf in Ihren Augen attraktiv?
(b) Falls der zwischenmenschliche Bereich oder der Wertebereich angesprochen wurde:
Inwiefern spielte das menschliche Umfeld bei Ihrer Entscheidung für einen neuen
Beruf eine Rolle?
Welche Werte erwarten Sie im neuen beruflichen Umfeld?
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Hauptfrage 3: (10’)
Meist trägt man eine wichtige Entscheidung längere Zeit mit sich herum. Was gab Ihnen
den Anstoss, die berufliche Neu-Orientierung auch umzusetzen?
Nebenfrage 3:
Wie kam es, dass Sie gerade zu jenem Zeitpunkt eine (Zweit-)ausbildung anfingen?
Hauptfrage 4: (10’)
(a) Welche Tätigkeiten im neuen Beruf machen Ihnen Spass, geben Ihnen Befriedigung?
(b) Was empfinden Sie eher als mühsam?
Nebenfrage 4:
(a) Welches sind die Tätigkeiten in Ihrem neuen Beruf, die Sie schätzen?
(b) Welches sind die Tätigkeiten, die Sie eher als unangenehm empfinden?
Hauptfrage 5: (10’)
(a) Wie sicher waren Sie sich beim Entscheid zur beruflichen Neu-Orientierung, dass Sie
die Ausbildung zu Ende führen würden/den Entscheid durchziehen würden?
(b) Welche Schwierigkeiten gab es während der beruflichen Neu-Orientierung?
(c) Wie haben Sie diese Schwierigkeiten gemeistert?
Nebenfrage 5:
(a) Welches waren Hindernisse auf dem Weg zum neuen Beruf?
(b) Wie sind Sie damit umgegangen?
Hauptfrage 6: (10’)
(a) Was erhofften Sie zurzeit der Neu-Orientierung von Ihrem neuen Beruf?
(b) Wie wichtig waren Ihnen diese Ziele auf einer Skala von 1-10?
(c) Wie stark glaubten Sie daran auf einer Skala von 1-10, dass Sie diese Ziele mit der
beruflichen Neu-Orientierung auch erreichen würden?
Nebenfrage 6:
(a) Was ist für Sie wertvoll in Ihrem neuen Beruf?
(b) Wie wichtig sind Ihnen diese Ziele?
(c) Wie stark glaubten Sie daran, dass Sie diese Ziele auch erreichen würden?
Abschlussfrage: (5’)
Von mir aus sind wir am Ende des Interviews angelangt. Gibt es noch etwas, das Sie von
sich aus ansprechen möchten? Möchten Sie abschliessend noch etwas hinzufügen?
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Schlussteil (5’)
• Dank für das Gespräch
• Angebot: Einsicht in Bachelor-Arbeit
Aufrechterhaltungs- und Steuerungsfragen
(Erzähltempo verlangsamen; Aspekte vertiefen)
Könnten Sie noch etwas mehr über … erzählen?
Wie ging das dann weiter?
Könnten Sie das noch ein wenig ausführen?
Können Sie mir ein Beispiel dazu nennen?
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8.6 Transkriptionsregeln
Herr A, Frau B, Frau C, etc. = befragte Person; I = Interviewerin Auf die Glättung des Stils wird mehrheitlich verzichtet. Spezifische Mundartausdrücke werden übernommen und in Anführungszeichen ge-
setzt, z. B. „es Ghetz“. Auffällige Betonungen werden durch Fettschrift hervorgehoben, z. B. Es brauchte lan-
ge Zeit, um diese Entscheidung zu fällen. Pausen werden wie folgt transkribiert: (-) Zögern; (--) kurze bis mittellange Pause;
(---) lange Pause Nonverbale Äusserungen wie lachen, husten, etc. werden in runde Klammern gesetzt,
z. B. (P lacht). Unverständliche Äusserungen werden als Punkte in runde Klammern gesetzt,
z. B. (…).
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8.7 Auswertungsleitfaden
I. Definitionen der Kategorien und entsprechende Ankerbeispiele 1. Kategorie: Persönliche Motive Definition In dieser Kategorie werden die persönlichen Motive für eine selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte wiedergegeben. Dabei wird zwischen expliziten und impliziten Motiven unterschieden (vgl. Kapitel 2.2). 1.1 Explizite Motive Definition Diese Unterkategorie beinhaltet Aussagen zu expliziten, mehrheitlich bewussten Motiven bzw. kognitiven Bedürfnissen, denen mit der selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der Lebensmitte besser Rechnung getragen werden sollte. Ankerbeispiele • „Doch ich sah, dass ich noch zu jung war, um bis über 60 immer das gleiche zu ma-
chen. (…). Ich begann mir zu überlegen, (…) wie ich mich weiter entwickeln könnte, (…).“ (Herr A)
• „Also es ist so, ich habe eigentlich mein Leben mit Kindern verbracht. (…) über 50 Jahre alt, dachte ich, ich könnte vielleicht noch einmal etwas anderes machen. (…). Ich bin ein neugieriger Mensch, und ich dachte mir, das kann es wie noch nicht gewesen sein. (…).“ (Frau B)
• „Ich wusste schon immer, dass ich beruflich noch etwas anderes machen würde. Ich wusste aber lange nicht, was. (…) Die teilzeitliche Arbeit bei unserem Lokalradio ne-ben der Schularbeit machte mir unendlich viel Spass. Ich merkte, dass dies eine andere und neue Seite von mir war, die aufgebrochen war. (…).“ (Frau C)
• „Es kam eigentlich eine Sehnsucht [Psychologie zu studieren], die schon immer vor-handen war, mit einer inhaltlichen Ermüdung im Beruf zusammen.“ (Frau D)
1.2 Implizite Motive Definition In dieser Unterkategorie werden die impliziten, eher unbewussten Motive bzw. affektiven Bedürfnisse der Befragten beschrieben, wie sie sich aufgrund der Ergebnisse des Multi-Motiv-Gitters zeigten. 2. Kategorie: Situative Anreize (affektive Variablen) Definition In dieser Kategorie werden die Situationsfaktoren wiedergegeben, wie sie sich für die Be-fragten zur Zeit der selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der Lebensmitte dar-stellten. Dabei wird einerseits zwischen den aversiven Seiten des alten Berufs und anderer-seits zwischen tätigkeitsspezifischen Vollzugsanreizen, Anreizen künftiger Umwelt- und Binnenzustände (vgl. Kapitel 2.4.3) sowie fremd kontrollierten Anreizen bezüglich des neuen Berufs unterschieden.
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2.1 Aversive Seiten des alten Berufs Definition In dieser Unterkategorie finden sich Aussagen zu den schwierigen und aversiv besetzten Seiten des alten Berufs. Ankerbeispiele • „Eben, was vorher schon erwähnt wurde, störte mich die Fremdbestimmtheit. (…).
Dann ist es sicher auch so, dass man auch als Kommunikationschef sehr viel im Alltag Machtkämpfe durchführen muss, dass man sich in einem sozialen Netzwerk, in einer Unternehmung, durchsetzen muss, wo es eigentlich nicht um Inhalte, um Fachtechni-sches geht, sondern wo es vielmehr darum geht, mit wem komme ich gut aus, mit wem komme ich weniger gut aus, sich positionieren muss gegenüber Leuten. (…).“ (Herr A)
• „Vielleicht, dass ich den Beruf schon so lange gemacht hatte und man genau wusste, in der 4. Klasse ist der Schwerpunkt das Kennenlernen, in der 5. Klasse steht das Klassen-lager im Zentrum und in der 6. Klasse steht der Übertritt in eine andere Schule an. (…). Und es sind auch immer wieder ähnliche Probleme, andere Probleme, aber doch das gleiche.“ (Frau B)
• „Aber es fiel mir einfach auf, wie dies bei allen Berufen ist, dass es gewisse Abläufe gibt, die immer wieder, immer wieder vor sich gehen. (…). Ich ertrage es schlecht, wenn Abläufe immer, immer, immer, oder nach meinem Gefühl, immer gleich sind. Und wenn man dann etwas Neues probieren möchte, zur Antwort bekommt, es sei doch schon immer so gewesen. Das finde ich obermühsam und es deckt mich mit der Zeit auch zu, das merke ich.“ (Frau C)
• „Inhaltlich-moralische Unzufriedenheit, politisch bedingt, mit damit gekoppelter Unmöglichkeit zur Mitarbeiterführung. Es wurden von oben Weisungen heraus gegeben, hinter denen ich nicht mehr stehen konnte. (…). Es wurden Entscheide gefällt, die keine Hände und Füsse hatten, hinter denen keine logische Begründung stand, was mir enorm Mühe machte. (…). Es war also nur das Inhaltliche, das nicht geklappt hat.“ (Frau D)
2.2 Tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs Definition Diese Unterkategorie enthält Aussagen zu (antizipierten) Tätigkeiten im neuen Beruf, die den Befragten Spass machen und/oder Befriedigung geben, oder als mühsam und unbefrie-digend betrachtet werden. Ankerbeispiele • „Also von der Tätigkeit her ist es sicher so, dass ich mit sehr vielen Leuten zu tun ha-
be, und zwar mit verschiedenartigeren Leuten als vorher im alten Beruf. (…). Das ist ein unheimlicher Fundus an spannenden Leuten, an guten Geschichten, an Unterneh-mungen, die im Hintergrund stehen, an Organisationen. Ich lerne sehr viel von diesen Leuten über ihre Arbeit. Das ist absolut spannend und faszinierend. (…). Anfangs war das eher ein Problem: Ich musste sehr viel administrative Arbeit machen, was ich nicht unbedingt gesucht hatte. Das war aber mehr eine Anfangserscheinung; mit der Zeit konnte ich diesen Teil immer mehr delegieren an Mitarbeiter und mich auf den Teil konzentrieren, den ich auch wirklich spannend finde.“ (Herr A)
• „Also dass ich meinen Tag selber einteilen kann, dass ich ausschlafen kann, nach mei-nem Rhythmus leben kann und von keinem Arbeitgeber einen Rhythmus oder eine Ar-beitszeit vorgegeben bekomme. Dass ich Themen selber wählen kann, niemand wird mir sagen, das und das machst du jetzt und dann und dann wirst du das abgeben. (…).
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Ich stelle mir das grossartig vor, man hat zwar etwas zu tun, man hat das Gefühl, man mache etwas Sinnvolles, aber zeitlich und thematisch, wie ich es gerne möchte. (…). (…), das ist die andere Seite, nämlich dass ich mir selber immer wieder Motivation ge-ben muss; ich muss mich selber immer wieder motivieren, um regelmässig „dran zu bleiben“. Oder wenn ich einmal etwas abgeschlossen habe, und es ist gerade kein Auf-trag oder kein Thema vorhanden, dass ich ein neues Thema suche und nicht einfach Fe-rien mache, Ferien mache.“ (Frau B)
• „(…), ich würde mir gerne ein Arbeitsfeld suchen, wo die beiden Fäden, die ich in meinem Leben habe, zusammen kommen: Auf der einen Seite Planungs- und Projekt-arbeit von der Schule her, auf der andern Seite Kommunikationsarbeit. Ich möchte meine bisherigen Erfahrungen aus der Schule in die Kommunikationsarbeit hinein bringen (…).“ (Frau C)
• „Beratung, denke ich, (…) Umsetzung von gelernten Inhalten und Hinführung zum Er-folg.“ (Frau D)
2.3 Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände Definition Diese Unterkategorie enthält Aussagen zu den (antizipierten) positiven und negativen Fol-gen der selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der Lebensmitte. Ankerbeispiele • „Was mich schon vor meinem Wechsel als Idee angezogen hat und jetzt auch so reali-
siert werden konnte, ist sicher die sehr grosse zeitliche Flexibilität. Ich bin im Gegen-satz zum früheren Job, wo ich mir sehr oft fremd bestimmt vorkam, sehr viel mehr selbst bestimmt. (…). Dann sind es halt die ganzen Rahmenbedingungen; als Staatsan-gestellter hat man gewisse Rahmenbedingungen, die eine Verwaltung vorgibt, gegen welche man teilweise einen gewissen Widerstand hat. Eine gewisse Starrheit, die sol-che Systeme aufweisen, stört mich zum Teil. Auch die Tatsache, dass gute Leistung nicht wirklich belohnt wird, schlechte Leistung auch nicht wirklich bestraft wird, (…). Ich finde es schade, dass ich in einem solchen Umfeld arbeiten muss, das doch bis zu einem gewissen Grad zu wenig leistungsorientiert ist, weil es letztlich kein Anreizsys-tem gibt für gute Leistung.“ (Herr A)
• „Erstens einmal habe ich das Gefühl, dass Journalisten wirklich sehr, sehr viel bewegen können in der Gesellschaft, mehr als Politiker, wenn man natürlich an den richtigen Stellen sitzt.“ (Frau B)
• „Den Mut, das Wissen oder auch das Können zu haben, schulische Inhalte gegen aus-sen oder oben darzustellen und auch kompetent zu präsentieren, so dass sie die Ziel-gruppen erreichen, die man sehr gerne erreichen möchte. (…). Wenn ich einen Ar-beitsplatz hätte, bei dem ich mich mit den Inhalten nicht identifizieren könnte, (…), hätte ich grosse Mühe. Man kann dies aber schon bei der Vorwahl ein bisschen steuern, indem man sich um eine Stelle bewirbt, bei der man hinter den gelebten Werten stehen kann. (…). Was auch schwierig wäre, und auch vom Umfeld abhängt, wäre der Zeit-druck. „Zack, zack, zack, etwas hop, hop, hop machen müssen“, das zulasten der Qua-lität gehen würde, würde mich auch sehr stören.“ (Frau C)
• „Freude, Befriedigung. (…). Einkommen, natürlich, ein gewisses Einkommen, sagen wir mal. (…) Das Gehalt, das wird für mich sicher mühsam werden. (…) wieder zu ar-beiten, und weniger dafür zu bekommen, ist, glaube ich, noch einmal etwas anderes. Ich bin in dieser Hinsicht eben verwöhnt, d.h. an etwas anderes gewöhnt. (…). Was ich mir auch als mühsam vorstelle, ist das „Sich Hinaufarbeiten“. (…). Ich merkte nun, dass ich offensichtlich doch jemand bin, der fähig ist aufzusteigen, und dann möchte ich es auch. Auch mit dem Studium steigt man ganz unten ein, vielleicht hat man die Chance, sich heraufzuarbeiten, vielleicht geht das aber auch länger. Ich denke mir, das
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‚länger gehen’ oder ‚keine Chance haben’ wäre vielleicht mühsam. (…). In Beschei-denheit und Demut immer seine Arbeit zu machen ohne aufzusteigen, könnte vielleicht ein Problem werden.“ (Frau D)
2.4 Fremd kontrollierte Anreize des neuen Berufs Definition In dieser Unterkategorie befinden sich Aussagen, welche beschreiben, auf welche Art Er-wartungen, Bewertungen und Handlungen anderer Personen wie Partner, Kinder, Eltern, Kolleginnen, etc. in einem positiven und negativen Sinn zur Motivation bezüglich einer selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der Lebensmitte beigetragen haben. Ankerbeispiele • „Da meine Frau auch zu 50% arbeitet, war sie eigentlich schnell mit meinen Plänen
einverstanden. Für sie war es auch wertvoll, dass unsere Tochter ihren Vater erleben konnte. Ausserdem wies sie darauf hin, dass wir mit meinem Berufswechsel nicht mehr so hohe Steuern bezahlen mussten.“ (Herr A)
• „Mein Mann macht das sehr gut; er unterstützt mich, ermutigt mich und hört mir abends meine Klagen an. Auch macht er mir immer wieder bewusst, dass ich dieses Studium freiwillig mache und jederzeit wieder aufhören kann. Er macht das wirklich toll.“ (Frau B)
• „Also zur Entscheidung hat mein persönliches Umfeld überhaupt nichts beigetragen, das habe ich absolut mit mir selber ausgemacht.“ (Frau C)
• „Also war ich auf mein soziales Netz angewiesen, also dass mein Freund sagen würde, er würde mich während dem Studium finanziell unterstützen. Er gab mir in diesem Sinne Rückhalt. (…). Er hat mich sogar sehr unterstützt. Er sagte, ich müsse das ma-chen, wenn es mich glücklich machen würde. (…). Die Eltern hatten Mühe damit, dass ich meinen guten Job aufgeben würde. Sie dachten, jetzt hat sie doch alles, was will sie denn noch? Dann erklärte ich ihnen aber, dass es mir nicht so gut gehen würde bei dem, was ich tun würde. Sie fanden dann, dass ich in jenem Fall etwas anderes machen sollte. (…). Als ich den Eignungstest bestanden hatte, sagte ich ihnen, dass nicht jeder diesen bestehen würde, und dann waren sie wahnsinnig stolz auf mich. Von diesem Zeitpunkt an dominierte der Stolz auf das Kind, das jetzt noch ein Studium macht. (…). Danach standen sie voll hinter mir und meiner Entscheidung. (…). Die Leute, die mich kannten, sagten zu mir, „Ja, mach das, das passt zu dir.“ (Frau D)
3. Kategorie: Persönliche Erwartungen (kognitive Variablen) Definition Diese Kategorie umfasst Aussagen zu (antizipierten) Erwartungen bezüglich der Fähigkeit zur Durchführung sowie der subjektiv eingeschätzten Folgen eines selbst gewählten Be-rufswechsels in der Lebensmitte, allenfalls kombiniert mit einer (Zweit-)ausbildung. Dabei wird zwischen Selbstwirksamkeitserwartung (vgl. Kapitel 2.4.3) und Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung (vgl. Kapitel 2.4.2) unterschieden. 3.1 Selbstwirksamkeitserwartung Definition In dieser Unterkategorie finden sich Aussagen zur allgemeinen Selbstwirksamkeitserwar-tung und zur persönlichen Fähigkeitseinschätzung, eine Zweitausbildung zu Ende zu füh-ren oder den Entscheid einer selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der Le-bensmitte durchzuziehen.
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Ankerbeispiele • „Also der Entscheid, den neuen Beruf zu ergreifen, war an sich eng verknüpft mit ei-
nem Stellenangebot, das ich schon konkret auf dem Tisch hatte. (…). Als ich dann die konkreten Bedingungen kannte, war der Entscheid relativ klar und schnell gefällt. (…). Ich wusste, dass ich den Wechsel machen würde. Wie immer bei einem Jobwechsel war für mich aber klar, dass ich, wenn nicht alles schief laufen würde, den Job für drei bis fünf Jahre machen würde. Das ist für mich in der Regel der Zeithorizont, um etwas Neues zu machen. (…). Schwierigkeiten gab es eigentlich nicht wirklich. Ich musste mir einfach ein paar Überlegungen machen. “ (Herr A)
• „Also ich fing an [die Ausbildung zur Journalistin am Institut für Angewandte Me-dienwissenschaft], um aufzuhören, aber sicher war ich mir natürlich nicht. Ich wusste nicht, wie das sein würde. Erstens einmal die Seite zu wechseln von der Lehrerin auf die Seite der Schüler, wo man „zusammengeschissen“ wird, wo einem gedroht wird, wenn Sie das dann und dann nicht abgegeben haben, dann zählt die Arbeit nicht, oder wenn Sie umherschauen während einer Prüfung, gibt es eine Note Abzug. (…). Ich wusste nicht, wie ich das ertragen würde. (…). Dann wusste ich auch nicht, wie es sein würde, wenn ich niemanden haben würde, mit dem ich auf gleicher Ebene sprechen könnte. Einige von den Jungen fanden es sehr blöd, dass ich diese Ausbildung noch machen wollte und damit anderen einen Platz wegnehmen würde. Ich musste mir wie das Recht erkämpfen, Kollegin zu sein. (…). Das fand ich anfangs sehr schwierig. (…). Aber wenn ich diese Ausbildung fertig machen möchte, muss ich mich einfach anpas-sen, und „motzen“ hat auch gar keinen Sinn. Ich mache es einfach, so gut es geht.“ (Frau B)
• „(…) ich hatte mehr das unsichere Gefühl, ob ich den Anforderungen genügen würde. Das war meine Überlegung. Das wusste ich überhaupt nicht. Ich hatte wirklich Zwei-fel, weil ich von einem ganz anderen Beruf kam und keine Erfahrungen hatte, auf de-nen ich aufbauen konnte. (…). Und ich wusste, dass ich fast nur mit Jungen zusammen sein würde, die ein anderes Arbeitstempo haben, das ist einfach so, und darum wusste ich nicht, ob meine Leistungen genügen würden oder nicht. (…). Nein, nein, ich war mir überhaupt nicht sicher, ob ich das Studium wirklich schaffen würde.“ (Frau C)
• „Ich war mir gar nicht sicher. (…). Ich fragte mich, ob ich mich vom Intellekt her nicht überschätzte, ob ich das noch könne, so viel lernen, und so. Das half mir noch, als die Laufbahnberaterin sagte, der Intelligenztest sei sehr gut ausgefallen und von daher müsste ich unbedingt etwas machen, also es wäre schade, wenn nicht, so sagte sie es. Und das hat mir Aufschwung gegeben. Ich war zwar immer noch auf zittrigen Füssen, was das anbelangte, aber ich dachte mir, jetzt musst du es einfach probieren. Dann war ja auch noch der Test bei der HAP, der Eignungstest. Dieser war dann auch positiv, und da dachte ich mir, jetzt musst du nicht mehr zweifeln. Jetzt hast du beide Tests be-standen, und das ist sicher genug vorab geklärt, das kannst du. Du musst nur beissen, mitunter, einfach durchhalten, dachte ich, aber können tust du es, also du hast die Fä-higkeit.“ (Frau D)
3.2 Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung Definition Diese Unterkategorie beinhaltet Aussagen zur persönlichen Erwartung bezüglich den auf einer Skala von 1-10 gewichteten erhofften Zielen, die ein Berufswechsel nach sich ziehen würde, und in welchem Ausmass diese Ziele wiederum auf einer Skala von 1-10 auch auf-treten würden. Durch die jeweilige multiplikative Verknüpfung zwischen erwartetem Ziel (Valenz) und Auftretenswahrscheinlichkeit (Instrumentalität) ergibt sich die Höhe der mo-tivationalen Auswirkung des entsprechenden Ziels auf den Beginn bzw. auf die Aufrecht-erhaltung der beruflichen Neu-Orientierung.
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Ankerbeispiele • „Also erhofft habe ich mir insgesamt Befriedigung bei meiner Arbeit. Befriedigung vor
allem inhaltlich, nämlich dass ich mich mit Themen beschäftigen könnte, die ich span-nend finde und die mich weiter bringen würden. Dann, wie schon erwähnt, die höhere Flexibilität und Selbstbestimmtheit im Tages-, Wochen-, Monats- und Jahresablauf, (…). Letztlich aber auch, dass der Arbeitsaufwand angemessen sein würde, (…). In-haltliche Befriedigung, da würde ich sicher sagen 7 auf einer Skala bis 10. Flexibilität und Selbstbestimmtheit ist eigentlich für mich das höchste Ziel, das würde ich mit 9 von 10 bewerten. Das angemessene Arbeitspensum ist vielleicht auch 7 von 10. (…). Inhaltliche Befriedigung [zu erreichen war] vielleicht am tiefsten, etwa 6 von 10, da war ich mir nicht so sicher. Und dann die Selbstbestimmung, da glaubte ich relativ fest daran, vielleicht 8 von 10. Und das mit der Arbeitsbelastung konnte ich nicht so gut einschätzen, ich glaubte etwa 7 von 10 daran.“ (Herr A)
• „Das Rüstzeug zum Schreiben [bezüglich Wichtigkeit der beruflichen Ziele] würde ich bei 8 benennen, berufsspezifische Mechanismen kennen und benützen bei 5, medien-spezifische Technik einsetzen bei 5, berufsspezifisches Wissen wie Definitionen bei 8 und die Demut bei 8, diese ist für mich persönlich wichtig. (…) [Bezüglich Überzeu-gung, diese Ziele auch zu erreichen] Ja, sagen wir, alle 8.“ (Frau B)
• „Die Kombination von Schule und Kommunikation, es ist mir ganz wichtig, dass das funktioniert. Da können Sie 10 Punkte geben. Das Finanzielle ist auch wichtig, denn es ist das, was ich für die Existenz für unsere Familie brauche. Also geben Sie dort 9 Punkte. Die örtliche Distanz zur Arbeit ist auch sehr wichtig, weil das Pendeln sonst nicht praktikabel ist mit zwei Kindern, die noch in der Ausbildung sind. Sie können mir dort auch 10 Punkte geben. (…) Alle 10 Punkte. Ich muss in der Nähe des Wohnorts arbeiten können wegen meinen zwei noch schulpflichtigen Kindern. Dann muss der In-halt für mich stimmen, das ist für mich ganz klar. Beim Finanziellen könnte ich noch einen Kompromiss eingehen, aber nur dort.“ (Frau C)
• „Freude, Befriedigung, (…) Sinn. (…). Einkommen, natürlich, ein gewisses Einkom-men, sagen wir mal. (…). Und eigentlich würde ich gerne einmal selbstständig tätig sein. Das war schon immer mein Ziel, von Anfang an, und darum muss ich den Master haben. (…). Freude, Befriedigung, Sinn würde ich sagen 10. Genug Einkommen zum Leben auch 10. Und berufliche Selbstständigkeit 9. (…) Überall 10 Punkte. Also ich habe das sehr fest im Sinn, und ich halte mich für zu viel fähig, in dem Moment, wo ich etwas wirklich will.“ (Frau D)
4. Kategorie: Auslösendes Ereignis Definition Diese Kategorie beinhaltet Aussagen zu einem (möglichen) auslösenden Ereignis, das letztlich den Anstoss gab, die selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der Lebens-mitte umzusetzen. Ankerbeispiele • „Dann gab es noch einen konkreten Anlass, als es nämlich eine Reorganisation in der
Unternehmung gab: Ich bekam diejenige Position nicht, die für mich eigentlich klar gewesen wäre, dass ich sie bekommen würde. Ich hätte zwar in der Unternehmung bleiben können, hätte immer noch den gleichen Lohn gehabt, ich hätte also in diesem Sinne keinen finanziellen Abstieg gemacht, aber von der Position her war es nicht mehr das, was für mich tragbar gewesen wäre. Zu diesem Zeitpunkt wurde es mir klar, dass ein Wechsel passieren musste, wobei dann immer noch nicht klar war, in welche Rich-tung er gehen sollte.“ (Herr A)
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• „Wirklich auch umzusetzen war, glaube ich, dass der Zeitpunkt gerade richtig war, also dass so eine Dreijahresperiode eines Klassenzugs zu Ende gegangen war und dass ich überlegte, was ich in Zukunft noch machen wollte: Möchte ich immer das gleiche ma-chen oder möchte ich etwas Neues machen? Ich fand, ich hatte nun schon so lange Un-terricht gegeben, und, obwohl es noch gut war, möchte ich als neugieriger Mensch noch etwas ganz anderes sehen als bei der Pädagogik und bei den Kindern.“ (Frau B)
• „Also für mich war es ganz klar die Arbeit beim Lokalradio. Ich trug lange Zeit den Gedanken mit mir herum, dass ich beruflich noch etwas Neues machen wollte, aber ich wusste lange Zeit nicht, was. (…). Wenn ich die Arbeit beim Radio nicht gemacht hät-te, die mir sehr gut gefiel, wäre ich wahrscheinlich nicht hier [am Institut für Ange-wandte Medienwissenschaft der ZHAW].“ (Frau C)
• „Ich hatte dann noch ein Schlüsselerlebnis, das ein bisschen lächerlich tönt, ehrlich ge-sagt. Ich war beim Coiffeur, den ich schon lange kenne. Dieser erzählte mir von einer Frau, die ihm auf die Nerven gehen würde, weil sie immer erzählen würde, welche Pläne sie in ihrem Leben noch verwirklichen wolle, aber nie etwas in die Tat umsetzen würde. Ich sass dann da und dachte, dass bei mir auch so ein Projekt hängig sei, näm-lich das Psychologie-Studium. Dieser kleine Anstoss fehlte gerade noch, um mein lang gehegtes Projekt endlich in Angriff zu nehmen. Das kam gerade auch noch zu jenem Zeitpunkt dazu. Ich dachte mir, jetzt höre ich auf, davon zu sprechen, jetzt tue ich es, es war wie der letzte Ansporn. Auf einmal war ich mir sicher. Ich wollte ein Studium durchziehen, koste es, was es wolle.“ (Frau D)
II. Kodierregeln Die folgenden Kodierregeln wurden während der Auswertung der ersten vier Interview-Transkripte aufgestellt. Nachdem diese nicht mehr angepasst oder ergänzt werden mussten, erfolgte die definitive Auswertung der Transkripte. 1. Kodierregel Unterscheidung zwischen explizitem Motiv (Kategorie 1.1) und auslösendem Ereignis (Kategorie 4) War ein persönliches Bedürfnis bezüglich des Berufs schon längere Zeit vor der berufli-chen Neu-Orientierung vorhanden, wird es unter Kategorie 1.1 kodiert. Fiel die definitive Entscheidung für eine berufliche Neu-Orientierung zeitlich praktisch mit einem einmali-gen, kurzzeitigen Ereignis zusammen, wird es unter Kategorie 5 kodiert. 2. Kodierregel Unterscheidung zwischen explizitem Motiv (Kategorie 1.1) und aversiver Seite des alten Berufs (Kategorie 2.1) Wird ein persönliches Bedürfnis bezüglich des Berufs in seiner Dauer, Stärke und Intensi-tät hervorgehoben und direkt in Verbindung mit der beruflichen Neu-Orientierung ge-bracht, wird es unter Kategorie 1.1 kodiert. Wird ein negativer Aspekt des alten Berufs er-wähnt und nicht direkt in Verbindung mit dem Berufswechsel gebracht, wird er unter Ka-tegorie 2.1 kodiert. Es kann jedoch vorkommen, dass eine aversive Seite des alten Berufs ein Motiv hervorbringen bzw. eher bewusst machen kann.
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3. Kodierregel Unterscheidung zwischen tätigkeitsspezifischem Vollzugsanreiz (Kategorie 2.2) und Anreiz künftiger Umwelt- und Binnenzustände (Kategorie 2.3) Bezieht sich eine Aussage auf eine berufliche Tätigkeit oder auf eine wiederholte Aktivität im Beruf, wird sie unter Kategorie 2.2 kodiert. Bezieht sich eine Aussage auf die zukünfti-ge Folge(n) der (Zweit-)ausbildung oder des Berufswechsels, wird sie unter Kategorie 2.3 kodiert. 4. Kodierregel Unterscheidung zwischen positivem Anreiz künftiger Umwelt- und Binnenzustände (Kate-gorie 2.3) und Valenz innerhalb der Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung (Kategorie 3.2) Nimmt eine Aussage Bezug auf eine positive zukünftige Folge des Berufswechsels, wird sie unter Kategorie 2.3 kodiert. Bezieht sich eine Aussage auf ein erhofftes Ziel des Be-rufswechsels und dessen Auftretenswahrscheinlichkeit, wird sie unter Kategorie 3.2 ko-diert. Positive zukünftige Folge und erhofftes Ziel des Berufswechsels können sich jedoch inhaltlich überschneiden.
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8.8 Fallübergreifende Ergebnisse in Listen- oder Tabellenform
Persönliche Motive
Definition: In dieser Kategorie werden die persönlichen Motive für eine selbst gewählte
berufliche Neu-Orientierung in der Lebensmitte wiedergegeben. Dabei wird zwischen ex-
pliziten und impliziten Motiven unterschieden (vgl. Kapitel 2.2).
Explizite Motive
Definition: Diese Unterkategorie beinhaltet Aussagen zu expliziten, mehrheitlich bewuss-
ten Motiven bzw. kognitiven Bedürfnissen, denen mit der selbst gewählten beruflichen
Neu-Orientierung in der Lebensmitte besser Rechnung getragen werden sollte.
Als explizite Motive wurden in den Interviews genannt: Wunsch nach einer Beschäftigung mit neuen, interessanten und/oder nützlichen Inhalten im Sinn ei-
ner Horizonterweiterung (Frau B, Frau C, Frau D, Herr E, Herr F, Frau H) Bedürfnis oder Sehnsucht nach einer fundierten Ausbildung in einem persönlichen Interessensgebiet
(Frau B, Frau C, Frau D, Herr E, Herr F, Frau H) Wunsch nach persönlicher Weiterentwicklung (Herr A, Herr E, Frau H) Wunsch nach einer neuen beruflichen Herausforderung (Herr A, Herr G, Frau H) Bedürfnis nach mehr beruflicher Autonomie und Selbstbestimmung zeitlicher und/oder inhaltlicher
Art (Herr A, Herr G) Bewusstsein, dass Arbeit als Geldquelle immer mehr an Bedeutung verliert und dass Arbeit als Ve-
rursacherin von Lebensqualität an Bedeutung gewinnt (Herr E, Herr F) Wunsch, mehr mit Menschen zusammen zu arbeiten (Herr E, Herr F) Bedürfnis nach einer angemessenen Arbeitsbelastung (Herr A) Bedürfnis, mit einer weiteren Ausbildung ein ‚job enrichment’ zu erreichen (Herr E) Bedürfnis, in eine neue berufliche Richtung zu gehen, die eine Optionenvielfalt an beruflichen Tä-
tigkeitsfeldern bietet (Herr F) Wunsch, eine Dienstleistung anbieten zu können, die alte und neue berufliche Inhalte kombiniert
(Herr F) Wunsch nach geregelten Arbeitszeiten, um regelmässige Sozialkontakte pflegen, zeitlich fixe Kurs-
abende einhalten und somit ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln zu können (Frau H).
Implizite Motive
Definition: In dieser Unterkategorie werden die impliziten, eher unbewussten Motive bzw.
affektiven Bedürfnisse der Befragten beschrieben, wie sie sich aufgrund der Ergebnisse des
Multi-Motiv-Gitters zeigten.
Bezüglich der drei Motivklassen Anschluss, Leistung und Macht zeigten sich folgende
Werte:
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Anschluss Leistung Macht
HA FZ HE FM HK FK
PR-Herr A 23 99 27 100 19 98
PR-Frau B 75 100 16 96 29 84
PR-Frau C 87 98 27 98 86 92
PR-Frau D 60 87 4 94 10 92
PR-Herr E 93 100 3 99 41 98
PR-Herr F 11 99 1 100 12 98
PR-Herr G 11 92 3 100 30 40
PR-Frau H 15 69 16 89 19 92
Erläuterung: HA: Hoffnung auf Anschluss; FZ: Furcht vor Zurückweisung HE: Hoffnung auf Erfolg; FM: Furcht vor Misserfolg HK: Hoffnung auf Kontrolle; FK: Furcht vor Kontrollverlust PR Herr A bis Frau H: Prozentrang der Befragten von Herrn A bis Frau H (Normbereich zwischen 16% und 84%) Fettschrift: Werte über bzw. unter der Norm Grau hinterlegt: Werte in der Hoffnungs- und Furchtkomponente über der Norm
Situative Anreize (affektive Variablen)
Definition: In dieser Kategorie werden die Situationsfaktoren wiedergegeben, wie sie sich
für die Befragten zur Zeit der selbst gewählten Neu-Orientierung in der Lebensmitte dar-
stellten. Dabei wird einerseits zwischen den aversiven Seiten des alten Berufs und anderer-
seits zwischen tätigkeitsspezifischen Vollzugsanreizen, Anreizen künftiger Umwelt- und
Binnenzustände (vgl. Kapitel 2.4.3) sowie fremd kontrollierten Anreizen bezüglich des
neuen Berufs unterschieden.
Aversive Seiten des alten Berufs
Definition: In dieser Unterkategorie finden sich Aussagen zu den schwierigen und aversiv
besetzten Seiten des alten Berufs.
Als schwierig oder aversiv besetzte Seiten des alten Berufs wurden in den Interviews be-
zeichnet: Berufliche Routine, die Wiederholung gleicher Muster und institutionell geregelter Abläufe, die zu einer
gewissen inhaltlichen Langeweile und fehlender Herausforderung führte (Herr A, Frau B, Frau C, Frau H)
Fremdbestimmtheit in zeitlicher Hinsicht, die in Krisenzeiten zu einer Verfügbarkeit rund um die Uhr führte (Herr A)
Fremdbestimmtheit bezüglich Inhalten und Entscheidungsgewalt (Herr G) Machtkämpfe, die durchgeführt werden mussten, um sich in der Unternehmung zu positionieren bzw.
die erlangte Position zu erhalten (Herr A) Zu hohe Arbeitsbelastung, vor allem in für das Unternehmen schwierigen Zeiten (Herr A) Mangelnde Identifizierung mit den beruflichen Inhalten (Frau D) Moralische Bedenken bezüglich gesetzeswidriger Gefälligkeitsdienstleistungen, die ausgeführt werden
mussten und eine glaubwürdige Mitarbeiterführung verunmöglichten (Frau D) Unmöglichkeit, vermehrt mit Menschen zusammen zu arbeiten (Herr E)
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Ersetzen manueller Tätigkeiten durch administrative Arbeiten bzw. das Ersetzen handwerklicher Fertig-keiten durch verkäuferische Tätigkeiten (Herr F)
Enge bezüglich beruflicher Inhalte und die damit verbundene mangelnde Optionenvielfalt bezüglich ver-schiedener Tätigkeiten (Herr F)
Angst vor dem Gesundheit gefährdenden und Umwelt belastenden beruflichen Umfeld (Herr F) Fehlende Wertschätzung der Vorgesetzten gegenüber der geleisteten Arbeit und der Person (Herr G) Entwicklung institutionsinterner Abläufe und Prozesse in eine Richtung, die nicht befürwortet werden
konnte (Herr G) Unregelmässige Arbeitszeiten, die im sozialen Privatbereich Eigeninitiative erforderten sowie regelmäs-
sige Sozialkontakte und das Aufkommen eines Zusammengehörigkeitsgefühls erschwerten (Frau H).
Tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs
Definition: Diese Unterkategorie enthält Aussagen zu (antizipierten) Tätigkeiten im neuen
Beruf, die den Befragten Spass machen und/oder Befriedigung geben, oder als mühsam
und unbefriedigend betrachtet werden.
Als positive tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs wurden in den Inter-
views genannt: Hilfestellung, Beratung und Begleitung von Menschen, eventuell während einer Krisenzeit (Frau D,
Herr E, Herr F, Herr G) Tägliche Arbeit mit sehr vielen verschiedenartigen Leuten und damit lernförderlicher Einblick in deren
Arbeitsfelder (Herr A, Frau H) Selbstbestimmtes Arbeiten in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht (Frau B, Frau H) Sporadische vertiefte Auseinandersetzung mit interessanten Inhalten (Herr A) Lustvolles, kreatives und sinnvolles Verfassen von Texten (Frau B) Bearbeiten eines Projekts mit den verschiedenen Phasen wie Planen, Präsentieren, Durchführen und ge-
gen aussen Weitertragen an die entsprechenden Zielgruppen (Frau C) Persönliche Auseinandersetzung mit moralisch-ethischen gesellschaftlichen Fragen bezüglich psychi-
scher Krankheiten (Frau D) Begleitung von Menschen, die auf der Suche nach ihrem Platz sind, wo sie sich wohl fühlen, oder die
sich auf der Sinnsuche bezüglich ihrer Arbeit und des Lebens generell befinden (Herr F) Mitgestaltung und Begleitung von wichtigen Entwicklungen und Prozessen (Herr G) Unterrichten gewaltfreier Kommunikation (Herr G).
Als negative tätigkeitsspezifische Vollzugsanreize des neuen Berufs wurden in den Inter-
views bezeichnet: Administrative Arbeit, die sich als Sisyphus-Arbeit entpuppt (Herr A, Frau H) Arbeit unter Zeitdruck, die zu Lasten der Qualität geht (Frau B, Frau C) Arbeit an Inhalten, mit denen man sich nicht identifizieren kann (Frau C) Täglicher Umgang mit schwierigen Fällen in der klinischen Psychologie (Frau D) Repetitive Arbeit mit Menschen, die an der gleichen psychischen Störung erkrankt sind (Herr E) Verfassen von Gutachten, in welchen die Ergebniswiedergabe zu Missverständnissen beim Empfänger
führen könnte (Herr F) Beschäftigung mit Inhalten, an denen das persönliche Interesse fehlt (Herr G).
Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände
Definition: Diese Unterkategorie enthält Aussagen zu den (antizipierten) positiven und ne-
gativen Folgen der selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der Lebensmitte.
Als positive Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände wurden in den Interviews er-
wähnt: Starke Selbstbestimmung in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht (Herr A, Frau B, Herr G) Ausübung einer völlig anderen Tätigkeit mit vielen Inhalten aus dem alten Beruf; Kombination von alten
mit neuen beruflichen Inhalten (Herr A, Frau C, Herr E) Hohe zeitliche Flexibilität (Herr A, Frau B)
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Optionenvielfalt bezüglich zukünftiger Tätigkeiten innerhalb des gleichen Berufsfelds (Frau D, Herr F) Mittelfristige Möglichkeit des Wechsels zurück in den alten Beruf (Herr A) Vielfalt an Themen und Medienarten (Frau B) Möglichkeit der (machtvollen) Einflussnahme auf die Gesellschaft (Frau B) Teamarbeit, die als selbstverständlich und nützlich angesehen wird (Frau C) Wissen über psychische Krankheiten und deren Therapiemöglichkeiten (Frau D) Vertiefte Selbsterfahrung und Selbstreflexion und daraus folgende Empathie (Herr E) Einblick in verschiedene berufliche Umfelder und deren Wechselwirkungen mit menschlichem Verhal-
ten (Herr F) Möglichkeit der Begleitung von Menschen auf der Suche nach dem Sinn menschlichen Arbeitens und
Lebens und Vermittlung eines neuen Bilds vom Arbeiten, jenseits von Erfolg und Geld (Herr F) Finanziell-wirtschaftliche Sicherheit des Angestelltenverhältnisses (Herr G) Möglichkeit, viel bzw. mehr Geld zu verdienen (Herr G) Geregelte Arbeitszeiten und damit die Möglichkeit zu regelmässigen Sozialkontakten und Kursbesuchen
(Frau H) Grosse Abwechslung bezüglich der beruflichen Tätigkeiten (Frau H) Verbindung zur Welt durch Kontakte zu Kunden aus aller Welt (Frau H).
Als negative Anreize künftiger Umwelt- und Binnenzustände wurden in den Interviews
genannt: Deutliche Lohneinbusse, welche in der Wahrnehmung auch mit Wertschätzung für eine Arbeit zu tun hat
(Herr A, Frau D, Herr G, Frau H) Tiefere berufliche Position vom Renommee her und damit tieferes Sozialprestige (Herr A, Frau D) Finanziell-wirtschaftliche Unsicherheit (Herr G, Frau H) Fehlendes Anreizsystem für gute Leistung und die dadurch bedingte fehlende Leistungsorientierung
(Herr A) Starrheit der Rahmenbedingungen eines grossen Verwaltungsapparats (Herr A) Aufbringen von Eigenmotivation und Selbstdisziplin (Frau B) Notwendigkeit, sich auf der Karriereleiter wieder hinauf arbeiten zu müssen (Frau D) Fehlende Möglichkeit eines beruflichen Aufstiegs (Frau D) Möglichkeit des mangelnden Erfolgs in der klinischen Arbeit (Frau D) Langatmigkeit von Therapien (Herr E) Fremdbestimmtheit (Herr G) Unsicheres und fluktuierendes Arbeitspensum bei Selbstständigkeit (Herr G).
Fremd kontrollierte Anreize des neuen Berufs
Definition: In dieser Unterkategorie befinden sich Aussagen, welche beschreiben, auf wel-
che Art Erwartungen, Bewertungen und Handlungen anderer Personen wie Partner, Kin-
der, Eltern, Kolleginnen, etc. in einem positiven und negativen Sinn zur Motivation bezüg-
lich einer selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in der Lebensmitte beigetragen
haben.
Als positive fremd kontrollierte Anreize des neuen Berufs wurden in den Interviews er-
wähnt: Ermutigung bzw. Bestätigung durch eine Laufbahnberaterin bzw. einen -berater (Frau C, Frau D,
Herr E, Herr F, Frau H) Zusage finanzieller und/oder psychologischer Unterstützung durch den Partner bzw. die Partnerin
(Frau B, Frau D, Herr F, Herr G) Positive Reaktion des Kollegenkreises (Herr F, Herr G) Positive Reaktion des sozialen Umfelds (Frau D, Herr E) Schnelles Einverständnis der Partnerin, da die Tochter den Vater mehr erleben konnte und die Steuern
sinken würden (Herr A) Positive Reaktion der Eltern (Frau D) Ermutigung durch die Kinder (Herr G).
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Als negativer fremd kontrollierter Anreiz des neuen Berufs wurde in den Interviews ge-
nannt:
Antizipierte grosse Ablehnung des Vaters, der Psychologie dem Kaffeesatz-Lesen gleich setzte und des-sen ehemalige Druckerei aufgrund des Berufswechsels verkauft wurde (Herr F).
Persönliche Erwartungen (kognitive Variablen) Definition: Diese Kategorie umfasst Aussagen zu (antizipierten) Erwartungen bezüglich
der Fähigkeit zur Durchführung sowie der subjektiv eingeschätzten Folgen eines selbst
gewählten Berufswechsels in der Lebensmitte, allenfalls kombiniert mit einer Zweitausbil-
dung. Dabei wird zwischen Selbstwirksamkeitserwartung (vgl. Kapitel 2.4.3) und Valenz-
Instrumentalitäts-Erwartung (vgl. Kapitel 2.4.2) unterschieden.
Selbstwirksamkeitserwartung Definition: In dieser Unterkategorie finden sich Aussagen zur allgemeinen Selbstwirksam-
keitserwartung und zur persönlichen Fähigkeitseinschätzung, eine Zweitausbildung zu En-
de zu führen oder den Entscheid einer selbst gewählten beruflichen Neu-Orientierung in
der Lebensmitte durchzuziehen.
Folgende, zumeist indirekte Aussagen zur allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung fan-
den sich in den Interviews: Fast 100%-Sicherheit, den Entscheid für einen Berufswechsel bzw. ein Studium durchzuziehen (Herr A,
Frau B, Frau D, Herr E, Herr F) Persönliche Freiheit, Prioritäten selber zu setzen und schlussendlich auch, das Studium bei fehlendem In-
teresse aufzugeben (Frau B, Herr E, Frau H) Erkenntnis, nicht das Opfer, sondern der Täter bzw. die Täterin der eigenen Handlungen zu sein (Frau B,
Herr E, Frau H) Anfängliche Unsicherheit und Zweifel, den intellektuellen Anforderungen eines Studiums zu genügen
(Frau C, Frau H) Erwachter Ehrgeiz, den Berufswechsel bzw. das Studium wirklich durchzuziehen (Frau B, Frau H) Starker Wille, der (fast) alles ermöglicht, indem man gibt, was man geben kann (Frau D, Herr F) Klarer und schneller Entscheid zum Stellenwechsel nach Bekanntgabe der Bedingungen durch den neu-
en Arbeitgeber, der ein Stellenangebot unterbreitete (Herr A) Realistische Chancen, in den nächsten paar Jahren zurück in den alten Beruf zu wechseln, der mehr
Lohn und Sozialprestige bietet (Herr A) Einsicht, sich den unveränderbaren Rahmenbedingungen anpassen zu müssen, um genügend Energie für
das Studium zu haben (Frau B) Unsicherheit, mit dem Arbeitstempo der viel jüngeren Mitstudierenden Schritt halten zu können (Frau C) Innere Überzeugung, einmal im Leben ein Studium zu machen (Frau D) Persönliche Überzeugung, die nötigen Fähigkeiten für ein Studium zu haben aufgrund der positiven
Testresultate im Rahmen sowohl einer Laufbahnberatung als auch eines internen Assessments (Frau D) Absolut keine Zweifel oder persönliche Unsicherheit bezüglich des gefällten Entscheids für ein Studium
(Herr F) Zweijähriges Abwägen und Zögern vor der Kündigung der alten Stelle (Herr G) Einjähriges Festhängen im Entweder-Oder bezüglich Selbstständigkeit oder Anstellung des neuen Berufs
(Herr G) Zuversicht, dass es weiter geht (Herr G).
Valenz-Instrumentalitäts-Erwartung
Definition: Diese Unterkategorie beinhaltet Aussagen zur persönlichen Erwartung bezüg-
lich den auf einer Skala von 1-10 gewichteten erhofften Zielen, die ein Berufswechsel nach
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sich ziehen würde, und in welchem Ausmass diese Ziele wiederum auf einer Skala von
1-10 auch auftreten würden. Durch die jeweilige multiplikative Verknüpfung zwischen er-
wartetem Ziel (Valenz) und Auftretenswahrscheinlichkeit (Instrumentalität) ergibt sich die
Höhe der motivationalen Auswirkung des entsprechenden Ziels auf den Beginn bzw. auf
die Aufrechterhaltung der beruflichen Neu-Orientierung (vgl. Kapitel 2.4.2).
Im Folgenden werden diejenigen Valenz-Instrumentalitäts-Erwartungen wieder gegeben,
die für den jeweiligen Befragten bzw. für die jeweilige Befragte den höchsten multiplikati-
ven Wert ergaben. Damit zeigt sich, welche erhofften Ziele die höchste motivationale
Auswirkung auf den Beginn bzw. auf die Aufrechterhaltung der beruflichen Neu-
Orientierung hatten: Zeitliche Flexibilität (9) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8) = 72
Selbstbestimmung (9) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8) = 72 (Herr A) Schreibkompetenz (8) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8) = 64
Medienspezifisches Begriffswissen (8) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8) = 64 Demut (8) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8) = 64 (Frau B)
Schule/Kommunikation (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 Arbeitsort nahe Wohnort (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 (Frau C)
Freude (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 Befriedigung (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 Sinn (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 Angemessener Lohn (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 (Frau D)
Inhaltliche Horizonterweiterung (9.5) x Auftretenswahrscheinlichkeit (8.5) = 80.75 (Herr E) Öffnung/Optionenvielfalt (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 (Herr F) Selbstbestimmung (10) x Auftretenswahrscheinlichkeit (10) = 100 (Herr G) Das erhoffte Ziel war primär der erfolgreiche Abschluss einer höheren Schule, der automatisch ein wei-
tes Berufsfeld eröffnen würde. (Frau H). Auslösendes Ereignis
Definition: Diese Kategorie beinhaltet Aussagen zu einem (möglichen) auslösenden Ereig-
nis, das letztlich den Anstoss gab, die selbst gewählte berufliche Neu-Orientierung in der
Lebensmitte umzusetzen.
Als auslösendes Ereignis wurde in den Interviews bezeichnet: Eine Reorganisation in der Unternehmung, in deren Verlauf die erhoffte Position durch jemand anderen
besetzt wurde (Herr A) Das zeitliche Zusammentreffen dreier Faktoren: (i) die Tatsache, dass eine Dreijahresperiode eines Klas-
senzugs zu Ende gegangen war; (ii) die persönliche Überlegung, was sie in Zukunft beruflich noch ma-chen wollte und (iii) eine Fernsehsendung im Rahmen der Sternstunde Philosophie, die ihr bewusst machte, dass sie gerne in den Journalismus einsteigen würde. (Frau B)
Der Umsetzung lag kein auslösendes Ereignis zugrunde. Das Zweit-Studium in Kommunikation war das Produkt eines persönlichen Prozesses, der durch eine Reportertätigkeit beim Lokalradio ausgelöst wor-den war. (Frau C)
Eine kleine Bemerkung des genervten Coiffeurs bezüglich einer Frau, die immer nur Pläne schmieden, aber nie in die Tat umsetzen würde (Frau D)
Eine persönliche Überlegung in Bezug auf die nur 90%-Zufriedenheit im Beruf, die zur Erkenntnis führ-te, dass die Komponente ‚Mensch’ fehlte und ein Psychologie-Studium das Vakuum füllen konnte (Herr E)
Der Umsetzung lag kein auslösendes Ereignis zugrunde. Die Entscheidung und folgende Umsetzung stellten das Produkt eines längeren Prozesses dar, der von mehreren Faktoren beeinflusst wurde: schon lange vorhandenes Interesse an Psychologie, steigende Begeisterung aufgrund absolvierter Führungskur-
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se sowie persönliche Überlegungen im 40. Lebensjahr bezüglich der weiteren beruflichen Zukunft. (Herr F)
Ein Mitarbeitergespräch, bei dem ganz wenig bis gar keine Wertschätzung gezeigt wurde (Herr G) Das Bewusstsein, dass mit 40 Jahren die Lebensmitte erreicht und damit definitiv der Zeitpunkt gekom-
men war zu entscheiden, ob man einen neuen beruflichen Weg einschlagen oder auf dem alten weiter gehen sollte (Frau H).
Ich erkläre hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne Benützung anderer als der angegebenen Hilfsmittel verfasst habe.
(Karin Lehmann Niederhäuser)