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Alexander von Humboldt

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Alexander von Humboldts

REISE DURCHSBALTIKUM NACHRUSSLAND UND

SIBIRIEN 1829

Rekonstruiert und kommentiert

von

Hanno Beck

Mit 36 Abbildungen und 3 Karten

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Die russisch-sibirische ReiseAlexander von Humboldts 1829 . . . . . . . . . . . . . . . . 16Eine Einführung

Alexander von Humboldt – kurzer Blick auf den Lebensweg . . . . . . . . 17Charakterzüge der Russland- und Sibirien-Reise A. v. Humboldts . . . . . . 20A. v. Humboldts schwieriger Weg nach Russland und Sibirien . . . . . . . 22

Voraussetzungen der russisch-sibirischen Reise . . . . . . . . . 27Briefwechsel mit Cancrin

Die Anreise: Berlin – Königsberg – Dorpat – St. Petersburg(Leningrad) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39»Liebenswürdige Einförmigkeit« der Gegend

Aufenthalt in St. Petersburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Beim Zaren Nikolaus I.

Auf der Kaiserstrasse von St. Petersburg nach Moskau . . . . . . 52Wasserscheide Ostsee – Kaspi-See

In Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54»Ewige Repräsentation«

Die Route Moskau – Kasan – Ural – Jekaterinburg . . . . . . . 58Der erste Transport von Verbannten

Aufenthalt in Jekaterinburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72»Wie ein Kranker unter der Achsel geführt«

Von Jekaterinburg nach Tobolsk . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Humboldt: »Eine kleine Erweiterung unserer Reisepläne«

Zum Altai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95Mücken- und Fliegenplage – sibirische Pest

Im Altai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100Erzbergbau – »schreckhafter Silber-Verlust«

Von Ust-Kamenogorsk zur chinesischen Grenze . . . . . . . . 109»Orinoco Plus Epauletten« – In China

Vom Altai zum südlichen Ural . . . . . . . . . . . . . . . . . 117Kosaken-»Linien« – Eine Kosakenschule

Aufenthalt in Miask – Exkursionen in die Umgebung und nachSlatoust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122Erster Diamantenfund – Lenins Großvater

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Reise von Miask nach Orenburg – Aufenthalt in Orenburg . . 127J. Witkiewicz: Mit 14 Jahren verbannt

Von Orenburg zum Elton-See, nach Zarizyn (Wolgograd) undAstrachan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133Erneute Routenänderung – Wolgadeutsche

Aufenthalt in Astrachan – Fahrt auf dem Kaspi-See . . . . . . 142Rückreise von Astrachan – Zweiter Aufenthalt in Moskau . . . 147Moskau: »Wie Spandau«

Zweiter Aufenthalt in St. Petersburg . . . . . . . . . . . . . . 152Das Schicksal polnischer Verbannter · Rückfahrt nach Berlin

Erscheinung und Auftreten Humboldts in Russland – Wirkungauf das Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156»Ein Mann, der alles weiß«

Lage nach der Rückkehr aus Russland . . . . . . . . . . . . . 160»Voll wie ein siedender Topf«

Briefwechsel mit Cancrin und Eschwege – Schicksal der Verbes-serungsvorschläge in Russland . . . . . . . . . . . . . . . . 163Humboldt: Freie Arbeiter auf freiem Boden

Die Auswertung der russischen Reise . . . . . . . . . . . . . 167Ein Höhepunkt physikalischer Geographie

Briefe und Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181Historischer Bericht über Herrn A. v. Humboldts Reise nach Sibirien

II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191Alexander v. Humboldt schreibt seinem Bruder Wilhelm:

III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195Alexander v. Humboldt schreibt an den russischen Finanzminister GeorgGrafen v. Cancrin:

IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205Widmung für den Zaren

V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207Aus der »Vorrede« Wilhelm Mahlmanns

VI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210Aus A. v. Humboldts »Einleitung«

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .229Literatur-Ergänzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .250Nachtrag zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .251Nachtrag zur sechsten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .251Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .256

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20 Die russisch-sibirische Reise Alexander von Humboldts

A. v. Humboldts schwieriger Wegnach Russland und Sibirien

Es ließe sich nun vermuten, dass Humboldt seine russische Reisevon 1829 auf Knall und Fall angetreten und insofern auch derwichtigen reisegeschichtlichen Kategorie der Vorbereitung, derenBeobachtung wir vom Forschungsreisenden nun einmal verlangenmüssen, nicht entsprochen habe. Das ist überhaupt nicht der Fall.

1. Ein Kommilitone der Freiberger Bergakademie, der RusseWladimir Jurevic Sojmonov, hatte Alexander 1793 in einem Schrei-ben gefragt, ob es wohl jemals möglich sein werde, ihn in Sibirien,wohin er von Deutschland gehen wolle, zu besuchen. In einem derwenigen dekuvrierenden Briefe, die der junge Humboldt schrieb,enthüllte er seinem Freund, er habe drei Jahre an eine solche Reise-richtung gedacht. Es beherrsche ihn der Ehrgeiz, am Fortschritt derNaturgeschichte zu arbeiten. Er ergreife jede Gelegenheit, die Weltzu sehen. In der Erforschung der Natur kämen ihm an Ausdauerwenige gleich. Er denke an eine Reisemöglichkeit, die sich in 20Jahren ergeben könnte »nach Sibirien, in den Taurus, zum Kauka-sus« – dann sollte Sojmonov seinen alten Freund nicht vergessen.Er bereite sich »unermüdlich auf ein großes Ziel vor«, das er nichtnannte. Es waren die Tropen der Neuen Welt. Er wolle die Naturim Großen sehen und betonte seine materielle Bedürfnislosigkeit.Er sah seine zukünftige Reise gegründet auf die mächtige Familieoder die Karriere seines Freundes.

Dieser Brief, den der Oberbergmeister v. Humboldt am 11. Juli1793 aus Goldkronach geschrieben hat, spricht vermutlich erstmalsvon einer sibirischen Reise, die einer Expedition in die Neue Weltfolgen sollte.

Die Änderungen, die dieser Plan erfahren hat, seien kurz ver-deutlicht:

2. 1801, während seiner Amerika-Reise, äußerte Humboldt ein-mal, er werde von Mexiko aus über die Philippinen, Surate, Bassoraund Palästina nach Frankreich zurückkehren. So hätte seine ame-rikanische Reise in eine asiatisch-nahöstliche ausmünden können.

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21Eine Einführung

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22 Die russisch-sibirische Reise Alexander von Humboldts

3. Während seines Kordilleren-Aufenthalts plante er 1801/02eine innerasiatische Reise zum Vergleich der Anden mit dem Kun-lun.

4. Schon bald nach der Rückkehr aus Amerika im August 1804ließ Humboldt den Verleger Cotta wissen, er werde nach Beendi-gung seines amerikanischen Reisewerks eine neue Expedition antre-ten. Da Alexander mehrfach im preußischen Auftrag diplomatischeMissionen ausführte und den Zeitaufwand für sein amerikanischesReisewerk zunächst erheblich unterschätzte, werden mehrere innereGründe der Verzögerung einer neuen Expedition von Anfang andeutlich.

5. In einem Brief an D. L. G. Karsten sprach Humboldt 1805von einer Reise in das nördliche Asien zu Beobachtungen in derlangen Polarnacht.

6. Seit 1807 war Zentralasien sein Hauptziel, wenn es diesesnicht überhaupt immer seit der Festlegung in Punkt 3 gewesenist. Jahrzehntelang hat sich Humboldt auf eine solche Expediti-on vorbereitet. Hierbei hat ihn das mehr und mehr erscheinendeRiesenwerk seines Berliner Kollegen Carl Ritter über Asien undeine umfangreiche Korrespondenz mit Philologen, Orientalisten,Sinologen und englischen Himalaya-Forschern unterstützt. Er hatdie Literatur über den Himalaya und Tibet erstaunlich gut gekannt.

1810 bis 1812 schien das Ziel Tibet und die Indus-Quellen greif-bar nahe. Ende 1808 glaubte er an den Reisebeginn in 1810. Er warin Paris dem russischen Minister Grafen N. P. Rumjancev begegnet,der ihm die Hilfe seiner Regierung anbot. Alexander hat diese Ver-lockung vermutlich nicht abgewiesen. Am 7. Januar 1812 hat erfür diese Reise ein ausführliches Forschungsprogramm entworfen.Eindeutig wurde hier erneut die physikalisch-geographische Klam-mer deutlich. Die Napoleonischen Kriege und die schon erwähnteninneren Gründe haben das Unternehmen verhindert.

7. Nun warf sich Humboldt auf das Studium der persischenund arabischen Sprache. Er wollte wie später Sven Hedin auf demLandweg Indien erreichen. Vorderindien und Insulinde wurdenfortan wichtig.

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23Eine Einführung

Vergeblich zwischen Hardenberg und dem Bruder Wilhelm ineinem unnötigen Streit um die preußische Verfassung vermittelnd,erreichte Alexander die grundlegende Unterstützung des preu-ßischen Staatskanzlers. Preußen bewilligte ihm 1818 erheblicheMittel. 1814, 1817 und 1818 hatte er in London die Durchset-zung seiner Reise nach Indien versucht. Alles war vergeblich, weilwahrscheinlich die Englisch-Ostindische Kompanie sich weigerte.Sie fühlte sich vor einer künftigen Kritik Humboldts vermutlichnicht sicher. Und doch schien sich damals alles erfüllen zu wollen.Der Botaniker C. S. Kunth und der Geodät J. J. Bayer, der Vater desspäteren Nobelpreisträgers, standen bereits als Reisebegleiter fest.

Er wollte über Persien nach Indien gehen, wurde von Briefen undTeilnahmewünschen gequält und gab den Seeweg an, um Dilettan-ten abzuschütteln, wie er meinte.

Nie wieder war Humboldt vergleichbar niedergeschlagen, als ihmdas Scheitern seiner Wünsche bewusst wurde. Er verschwieg dieHintergründe und verglich entmutigt das, was er bis dahin geleistethatte, mit dem, was er hätte leisten können. Diese Verhinderungder Expedition nach Zentralasien des größten Forschungsreisendenund Geographen seiner Zeit ist eine der kulturfeindlichsten Ma-chenschaften des 19. Jahrhunderts.

So blieb praktisch nur noch der riesige russische Länderraum.Russland hatte Humboldt stets begünstigt. Am 19.11.1827 ließ erden russischen Finanzminister, Grafen Georg v. Cancrin, wissen,sein »heißester Wunsch« sei, ihm in Russland selbst seine Aufwar-tung zu machen. Die Verwandtschaft des preußischen und desrussischen Herrscherhauses erleichterte alles. Diese Gesamtkons-tellation hat gewiss 1827 zu Humboldts Heimkehr nach Berlinbeigetragen.

Jetzt im 60. Lebensjahre verwirklichte sich tatsächlich doch nochdie asiatische Reise, wenn auch in zuvor nie geahnter Form. EinFinanzminister, der loyal zu seinem Zaren stand und deutscherHerkunft war, wollte Humboldt alles erleichtern, um ihn zugleichbesser kontrollieren zu können.

Wer glaubt, dass Humboldt nur wegen der Geologie, Klimato-logie und des Erdmagnetismus sowie wegen »Bergwerksbesichti-

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24 Die russisch-sibirische Reise Alexander von Humboldts

gungen« nach Russland strebte, wie man es bis heute noch lesenkann, übersieht sein brennendes Interesse am Menschen, verkenntzudem, dass auch diese Reise durch Humboldts Gespräche, seineBriefe und gelegentlichen Mitteilungen zum Politikum gewordenist. Humboldt hat das russische Volk geliebt, seine Unterdrückerverabscheut, seine offiziell festgelegten Reisewege erheblich er-weitert und Verbannten praktisch geholfen – auch wenn sich einallmächtiger staatstreuer Finanzminister das alles verbeten hatte.

So hat die Englisch-Ostindische Kompanie doch wohl rechtgehabt, als sie Humboldt nicht ins Land ließ? Sie hat sich die ver-mutlich gewichtigste Kritik erspart, die ihr in dieser oder in jenerForm, frontal oder zwischen den Zeilen, zuteil geworden wäre.

Humboldt wäre nicht der gewandte Diplomat gewesen, wenn eraus dem großen Misserfolg des Scheiterns seiner indisch-zentralasi-atischen Reise nicht noch zwei große Erfolge abgeleitet hätte: dereine war seine russisch-sibirische Forschungsreise von 1829 mit allihren moralischen und physikalisch-geographischen Folgen bis zurgroßartigen Auswertung (siehe S. 174).

Der andere Erfolg war die Indien- und Himalaya-Reise derdrei Brüder Adolf, Robert und Hermann v. Schlagintweit 1854bis 1857; sie wurde von Humboldt ermöglicht und gemäß seinerphysikalisch-geographischen Leitvorstellung durchgeführt.

Es gibt Gelehrte, die alles verwerfen, wenn ihnen der Erfolg nichtselbst beschieden ist. Humboldt dagegen konnte entsagen wie deralte Goethe, und er konnte zeitlebens jüngeren Gelehrten Erfolgeermöglichen, die ihm nicht beschieden waren.

Aus den folgenden Ausführungen ergibt sich der Charakter derHumboldtschen Russland- und Sibirienreise von 1829 noch mehr.Der Leser wird eingeladen, den Spuren Humboldts zu folgen.

Bonn und Eschwege / Werra, 24. März 1983

Prof. Dr. Hanno Beck

Anmerkung: Eine Umrechnungstabelle für russische Maße und Gewichte findetsich auf S. 250 f. in Anmerkung 62.

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25Voraussetzungen der russisch-sibirischen Reise

Voraussetzungen der russisch-sibirischen Reise

Briefwechsel mit Cancrin

Der fast sechzigjährige Alexander v. Humboldt wirkte noch jung,obgleich sich Falten in seinem Gesicht zeigten und sein Haar längstergraut war. Nach der damaligen Lebenserwartung und vor allemin der eigenen von daher rührenden psychologischen Überzeugunggalt er als alt. Das Element des Jugendlichen bestimmte ihn nichtmehr, mochten seine blauen Augen auch noch voller Ironie blitzen.Die Entschlossenheit, die sich in seinem Selbstbildnis von 1814ausdrückte, als er neben der Auswertung seiner amerikanischenReise eine asiatische Expedition anstrebte, war einer gewissen Re-signation gewichen. In seinen Plänen klaffte trotz aller Erfolge einegroße schmerzliche Lücke: die asiatische Forschungsreise hatte sichnicht verwirklicht.

1822 wurde im Ural Platin gefunden. Bald gelangen den Bergleu-ten Verbesserungen in der Aufbereitung, so dass sich in staatlichenDepots eine beträchtliche Menge des edlen Metalls, scheinbarsinnlos, anhäufte. Der russische Finanzminister Graf Georg v.Cancrin war sparsam und auf jede Kopeke bedacht.1 Er war 1774in Hanau in Hessen geboren worden. Sein Vater hatte das hessischeBergbau- und Salinenwesen geleitet und war 1783/84 nach Russ-land gegangen. Vermutlich war er zu Unrecht in Verbindung miteinem Hofmarschall finanzieller Untreue beschuldigt worden (sieheLiteratur-Ergänzung am Schluss der Anmerkungen). Während derVater die Saline von Staraja Russa leitete, an der Münzreform unterPaul I. mitarbeitete und verschiedene Ämter bekleidete, wuchs derSohn in Deutschland heran. Er studierte in Gießen und MarburgRechts- und Staatswissenschaften und veröffentlichte 1797/98 sei-nen Roman »Dagobert«, dessen Helden republikanische Offizierewaren. Eine Verwaltungsstelle befriedigte ihn nicht. So ging er 1797nach Russland und musste sehr um seine Existenz kämpfen, daihn der Vater nicht unterstützte. Seit 1800 im Staatsdienst, entwi-

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26 Die russisch-sibirische Reise Alexander von Humboldts

ckelte er sich zu einem bedeutenden Militärschriftsteller, der z.B.eine »cunctatorische Strategie« entwickelte, die Raum und KlimaRusslands im Falle einer Auseinandersetzung mit Napoleon berück-sichtigte. Im März 1813 wurde er Generalintendant des russischenHeeres. Sein Name wurde anerkennend genannt, als er 1815die Forderungen der Verbündeten an sein Land auf ein Sechstelherunterdrückte, weil er sämtliche Rechnungen als Beweisstückegesammelt hatte.2 In einem Werk über die Bauernbefreiung warCancrin für die Sicherung der Bauern eingetreten, hatte sich dabeivermutlich etwas die Finger verbrannt und dann 1821 in einemin Russland sehr beachteten Werk Physiokratismus und Merkan-tilismus oft zu hitzig angegriffen. Eine »möglichst gleichförmigewohlhabende Bevölkerung« war nach ihm höchster Staatszweck.Dieses Werk trug wesentlich zu seiner Berufung zum Finanzminis-ter Ostern 1823 bei. Er übernahm das herabgewirtschaftete ErbeGurevs und kämpfte seither um eine aktive Bilanz. Zur Finanzver-waltung gehörte damals auch das Salinen- und Bergwesen, dessenVerbesserung er betrieb. Russland kannte keine Münzeinheit undduldete drei verschiedene Kurse. Hier versuchte er, Ordnung zuschaffen.

Der sparsame Cancrin dachte auch, das in steigenden Mengengehortete Platin auszuwerten. Er fragte Humboldt brieflich am 15.August 1827 um Rat.3 Er erwartete im Grunde genommen dessenZustimmung und war seiner Sache sicher. Nicht so Alexander, dereinst bei Büsch ein Kolleg über Geldumlauf gehört und als Leiterdes preußischen Bergbaus in Franken die Lösung schwieriger Wäh-rungsprobleme beeinflusst hatte. Alexander riet grundsätzlich ab,da der Münzwert des Platins bei den unsicheren Preisen im Handelnicht festgestellt werden konnte. Er teilte Cancrin sehr unterschied-liche Preise mit.4 Er glaubte nicht an eine isolierte Münze undbefürchtete, die russische Platinwährung werde den Weltmarktpreisdes Metalls zwar modifizieren, aber nie bestimmen.5 Cancrin wand-te sich auch an mehrere ausländische Fachleute. Nur Humboldtscheint widersprochen zu haben. Cancrin wollte diese Lieblingsideenicht einfach aufgeben und schloss einen Vergleich zwischen derstrikten Ablehnung Humboldts und den wohl zustimmenden Ur-

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37Die Anreise

Die Anreise: Berlin – Königsberg– Dorpat – St. Petersburg

»Liebenswürdige Einförmigkeit« der Gegend

Es wäre Humboldt recht gewesen, hätte die Reise planmäßigAnfang Mai 1829 begonnen. Erst die Nachricht, dass der Zar zudiesem Zeitpunkt schon Petersburg verlassen haben würde, ließihn den Beginn vorverlegen. Am 12. April 1829, 23 Uhr, verließendie Reisenden Berlin bei milder Frühlingswitterung und hofften,St. Petersburg schnell zu erreichen.50 Schon am 13. April 1829erschwerte die Schneeschmelze die Weiterfahrt, und sie sollten baldspüren, dass sie die schlechteste Zeit für den Antritt der Reise hattenwählen müssen. Sie folgten der Kunststraße, die ein ungestörtesFahren erlaubte, und fuhren am 14. morgens durch Dirschau ander Weichsel. Der Fluss war schon seit 8 Tagen eisfrei. Sie setztenmit der Fähre über. Das Wasser stand sehr hoch und hatte dieDünen bei Danzig durchbrochen.51 Zwei Meilen weiter setzten sieüber die Nogat und besuchten »einige Stunden« die Marienburg,die »jetzt im ursprünglichem Style hergestellt ist«.52 Sie wartetensechs Stunden vergeblich auf den ostpreußischen Oberpräsiden-ten Theodor v. Schön, den Humboldt, wie viele Kenner der Zeit,über den Freiherrn vom Stein stellte. Indessen ließen sie sich »alleHerrlichkeiten unter der Anleitung eines pedantischen Predigers«zeigen.53

Am 16. April 1829, morgens 8 Uhr, erreichten sie Königsberg,wo Humboldt erstmals persönlich mit dem berühmten Astrono-men Bessel zusammentraf. Dieser zeigte ihnen die zweckmäßigeingerichtete Sternwarte, die schon das Erstaunen Napoleons erregthatte, und machte sie beim Mittagessen mit Gelehrten und Ärztenbekannt. Professor Neumann zeigte Rose die Mineraliensammlungder Universität »in einem finstern wenig geeigneten Lokale«.54

Rose betrachtete die Bernstein-Kollektion und lernte auch HerrnDouglas kennen, der die Gewinnung an der Küste von Memelbis Danzig seit 1811 gepachtet hatte. Die Fischer durften nur an

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38 Die russisch-sibirische Reise Alexander von Humboldts

bestimmten Stellen in See gehen und nur Kranz war als einzigerBadeort freigegeben worden. Strandreiter überwachten die Einhal-tung dieser Bestimmungen, um jeden Bernsteindiebstahl zu ver-hindern. Humboldt nahm das Frühstück bei Bessels Verwandten,dem Nationalökonomen Carl Heinrich Hagen, ein und führte amMorgen des 17. April 1829 mit dem Astronomen magnetischeMessungen mit seinem großen Inklinatorium von Gambey aus. DieIntensität wurde nach der Methode Hansteens gemessen, wobeiein Chronometer Earnshaws benutzt wurde. Noch wenige Tagevor der Abreise am 9. April 1829 hatte Humboldt die gleichenMessungen in Berlin im Garten von Bellevue ausgeführt. Schonin Königsberg hörten sie, die Memel führe Eisschollen und sei beiTilsit über die Ufer getreten. Sie brachen am Morgen des 18. April1829 von Königsberg auf und fuhren über die Kurische Nehrung,um Tilsit zu vermeiden. Der Weg war noch schlechter, als manihn geschildert hatte. Auf der Straße festgefrorenes Eis hielt demGewicht des Wagens nicht stand und ließ ihn dauernd – wennauch nur geringfügig – einbrechen. Als der Postillion versuchte,neben der Straße zu fahren, sank der Wagen bis zu den Achsen ein.Bauern mussten geholt werden und ihn mit Hebebäumen befreien.Spät abends sahen sie an der Spitze der Kurischen Nehrung, Memelgegenüber, den Eisgang, der am folgenden Tag noch stärker wurdeund die Überfahrt zur Stadt verhinderte. Die Eisschollen schobensich übereinander, pressten sich mit großer Geschwindigkeit in denschmalen Ausgang und unterhöhlten das hohe sandige Ufer, »sodass dieses beständig zusammenstürzte«.55 Der Wirt des »Sandkru-ges«, bei dem sie gut untergebracht waren, brach eine in Ufernähestehende Windmühle ab; »am 21sten [April 1829] war von derStelle, wo sie gestanden hatte, schon nichts mehr zu sehen, undals wir am Morgen des 22sten den Sandkrug verließen, war manbeschäftigt, noch ein zweites Gebäude, welches dem Ufer näher lagals das eigentliche Wohngebäude und nach Aussage des Wirthesnoch vor einigen Tagen 500 Fuß vom Ufer entfernt gestandenhatte, abzubrechen. Diese Verwüstungen geschahen nicht nur aneiner Stelle, sondern an dem ganzen Ufer der Nehrung, soweit wires sehen konnten.«56 Sie konnten dieses Spiel aus dem Fenster ihres

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39Die Anreise

gemütlichen Zimmers beobachten. Rose beschrieb die Erscheinungund bestimmte mit seinen Gefährten die Fließgeschwindigkeit desStromes. Er fand das Schauspiel schön, nicht aber die Landschaft.Humboldt stimmte ihm bei. Er hatte zeitlebens, als Jugendtraumund wirklich erlebtes Bild, das Maximum der Lebensfülle derTropen im Herzen getragen. Einen Sonnenuntergang fand er zwarschön – doch die Landschaft bis Petersburg erschien ihm als Einödeund die Kurische Nehrung nur als »das charakteristischste dieserUnnatur«, in der sie »5 Muscheln und 3 Lichenen« fanden. »WennSchinkel dort einige Backsteine zusammenklopfen ließe, wenn einMontagsclub, ein Cirkel von kunstliebenden Judendemoiselles undeine Akademie auf jenen mit Gestrüpp bewachsenen Sandsteppeneingerichtet würde, so fehlte nichts, um ein neues Berlin zu bil-den, ja, ich würde die neue Schöpfung vorziehen, denn die Sonnehabe ich herrlich auf der Nährung sich in das Meer tauchen sehen.Dazu spricht man dort … rein Sanscrito, lithauisch.«57 DieselbeLandschaft hat später Dichter und Maler entzückt – jetzt war sienoch nicht entdeckt. Frühe Tropen-Sehnsucht und reale -Erfahrunghemmten Humboldt hier. Er benutzte die Muße, um die mag-netische Inklination und Intensität zu messen. Der Vergleich mitden Berliner und Königsberger Werten ergab, dass die Neigung am»Sandkrug« 1° 9’ 1“ größer war als in Berlin. Die Beobachtungenlitten allerdings unter dem Wind.

Im »Sandkrug« hatte sich inzwischen die Zahl der Reisenden,die übersetzen wollten, vermehrt. Die Lebensmittel wurdenknapp. Humboldt und seine Begleiter waren froh, als ihnen am21. April 1829, nachdem schon kleine Schiffe die Wasserflächeüberqueren konnten, der Oberpostdirektor Goldbeck aus MemelNahrungsmittel zukommen ließ. Am Vormittag des 22. Aprilkonnten sie übergesetzt werden und am Nachmittag hatte derEisgang so nachgelassen, dass auch die Wagen folgen konnten.Am Vormittag konnten sie der Einladung des Oberpostdirektorsnicht widersprechen und ließen sich von ihm Stadt und Zitadellezeigen, von wo sie den Hafen und den Ausfluss des Haffs sahenund viele Schiffe, die »zum Theil mit vollen Segeln dem Hafenzueilten«.58 Der Handel war sehr bedeutend und die Kaufmann-

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40 Die russisch-sibirische Reise Alexander von Humboldts

schaft besorgt, weil die russische Regierung plante, die Windauschiffbar zu machen, um so die Holzlieferungen aus Polen undKurland nach der Stadt Windau zu leiten. Humboldt empfingDeputationen der Kaufmannschaft und aß »bei dem reichen Geh.Postrath Goldbeck«.59

Noch am 22. April 1829 fuhren sie von Memel ab. Der Wagenblieb einige Male stecken. Vier Meilen hinter der Stadt verließensie Preußen. Polangen war die russische Grenzstadt, wo die BefehleCancrins, sie ohne Kontrolle ungehindert reisen zu lassen, längstvorlagen. Nachdem sie einen Schein, der ihnen erlaubte, mit Post-pferden zu reisen, gelöst hatten, setzten sie die Fahrt unmittelbarfort. Am Abend des 23. April 1829 gingen sie bei Schrunden überdie Windau. Bei Paplacken vor Mitau sahen sie »schön gekleideteDamen durch ein nasses Ackerfeld reiten« und glaubten, es ge-schähe, sie zu verspotten, da ihr Wagen häufig stecken blieb. Dochals sie eine Viertelmeile weitergefahren waren, sprengte ihnen ein»zierlich gekleideter Livrébediente« nach und fragte nach Alexanderv. Humboldt. Darauf zog er »einen silbernen Präsentirteller undzwei kleine silberne Becher aus einem Futteral und reichte uns eineBouteille des trefflichsten Ungar-Weins nebst einer großen Schach-tel acht französischer Confituren. Dies alles sandte uns der Starostvon Paplacken, ein Graf von der Ropp, ›weil es seinen Damen nichtgeglückt sei, uns in das Schloß einzuladen‹… Die Scene war vonPflugacker mit 3 Birken und 2 Kiefern umgeben, die Gegend desOranienburger Thores, welche sich mit liebenswürdiger Einförmig-keit nun schon 200 Meilen weit gegen N.O. ausdehnt.«60 In Mitau,wo sie am Abend ankamen, erfuhren sie, der Graf von der Ropp seiein Verwandter der Herzogin von Kurland und habe damit begon-nen, Beschreibungen einheimischer Vögel in einzelnen Heften her-auszugeben. Auf dem Wege nach Mitau hatten sie nur wenige großeDörfer gesehen. Die Bauerngehöfte und die Güter des Adels lageneinzeln und zerstreut. Am Morgen des 24. April 1829 überquertensie die Aa bei hohem Wasserstand. In Riga aßen sie beim preußi-schen Generalkonsul Wöhrmann, der ihnen »ganze Teller frischerErdbeeren, Himbeeren und Weintrauben aus seinen Treibhäusernvorsetzte. Die Stadt«, schrieb Humboldt weiter, »gefiel mir sehr,


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