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Titel:
Geist und Verdauung
Untertitel:
Nicht nur die Zunge erfreut sich beim Essen
Autor:
Dr. Christian Denker, Universität Wien
Publikation:
„Geist und Verdauung: Nicht nur die Zunge erfreut sich
beim Essen“, Gastrosophical Turn: Essen zwischen Medizin
und Öffentlichkeit“, C. Hoffstadt u.a. (Hg.), Projekt
Verlag, Freiburg, 2009.
Abschnitt 1.) Verdauung: ein philosophisches Thema
Die Philosophie hat den Raum möglicher Begriffe mit
Geduld und enzyklopädischem Scharfsinn vermessen.
Zwischen „A“ wie „A ist A“ und „Z“ wie „Zynismus“ sind
Lücken selten, „i“-Tüpfelchen setzt das Internet. Unter
dem Suchbegriff „Philosophie der Verdauung“ findet sich
allerdings wenig Wissenswertes. „Verdauungsphilosophie“
gilt oft als Schimpfwort.
Das ist erstaunlich, insofern Verdauung die Gedanken
großer und kleiner Geister seit jeher beflügelt hat.
Bemerkungen zur Verdauung ziehen sich wie ein roter Faden
durch die Geschichte der abendländischen Philosophie1.
Insbesondere unser Verständnis des Begriffs „Geist“ ist
an „Verdauung“ gekoppelt. Überlegungen von Platon,
Aristoteles, Seneca, Augustinus, Montaigne, Descartes,
Kant, Hegel, Nietzsche und Foucault schaffen Bezüge
1 Auch in anderen philosophischen Traditionen, etwa in asiatischen
oder arabischen Kulturen, ist die Verdauung ein wiederkehrendesThema. Eine kulturübergreifende Studie liegt nach meinem Wissen nichtvor.
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zwischen geistigen und digestiven Vorgängen. Einen
möglichen Ansatzpunkt für die Ausarbeitung einer
„Philosophy of Digestion“ gibt John Searle: „Geistige
Ereignisse und Vorgänge gehören genauso zu unserer
biologischen Naturgeschichte wie Verdauung, Mitose,
Meiose oder Enzymsekretion“2.
Assoziationen mit Nachttopf, Stuhlgang und Kuhfladen
behindern die philosophische Beschäftigung mit der
Verdauung allerdings. Dabei hat der Aufschluss vom
Nahrung im Verdauungstrakt mit „Kot“ bzw. „Fäzes“ oder
„Exkrementen“ nur insofern etwas zu tun, als der
Verdauungsschlauch unverdauliche Substanzen durch den
Anus ausscheidet. Verdauung ist der Anlass für die
Entwicklung von Ess- und Toilettenkulturen. Es wäre
irreführend, ihre Bedeutung auf unseren Umgang mit ihren
Ausgangs- oder Endprodukten zu reduzieren.
Nichtsdestoweniger gehören Überlegungen zur Verdauung
nicht zum gewöhnlichen Themenkanon der akademischen
Philosophie. Manche Autoren historischer Abhandlungen
erscheint sie für die Erledigung ihrer Denkgeschäfte als
völlig nebensächlich. Willentliche Unterdrückung von
Querverweisen ist keine Ausnahme. Einträge in den
philosophischen Indexen fehlen bisweilen auch in jenen
Werken, die Verdauung ausdrücklich thematisieren.
Einschlägige Texte werden spät, schlecht oder gar nicht
editiert3. Die Ausgrenzung der Verdauung geht einher mit
der philosophischen Nachordnung des Körpers hinter dem
Geist. Aber ist Verdauung nicht eine Voraussetzung
geistiger Tätigkeit, ähnlich der Atmung, dem
Blutkreislauf oder der Nerventätigkeit?
2 John R. Searle, Die Wiederentdeckung des Geistes, Frankfurt a. M.,1996, S. 13.
3 Montaignes Tagebuch einer Badereise gibt ein Beispiel. Siehe dazuConcetta Cavallini, Cette belle besogne: étude sur le Journal devoyage de Montaigne, Paris, 2005.
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Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass die Funktion der
Verdauung auf unsere geistige Fassungskraft wirkt. Zwar
stehen und fallen die Gesetze der Logik nicht mit den
Freuden und Leiden unseres Bauches, doch auch unsere
Verdauung ist nicht den Gesetzen der Logik unterworfen!
Dass unser Bauch in „harten“, „analytischen“ oder „streng
akademischen“ Denktraditionen kaum Beachtung findet,
spricht nicht gegen die philosophische Bedeutung der
Verdauung. Fragwürdig scheinen dagegen allzu rigide
Einschränkungen philosophischer Tätigkeiten und
Begriffsbildungen.
Liebe zur Weisheit und Liebe zum Bauch schließen sich
nicht aus. „Gastrosophie“4 bereichert unsere
epistemologischen, ethischen und ästhetischen
Urteilsformen um „innerliches“ Erleben. Die Entwicklung
eines digestiven Paradigmas der Philosophie könnte helfen
begrifflich-symbolische Verbohrungen zu vermeiden. Der
Wille zur gelingenden Verdauung beruht auf klarenGedanken, emotionaler Gewissheit und gemeinem
Menschenverstand. Verdauung liefert Bezugspunkte für
sinnvolle Entwicklungen im Besonderen und im Allgemeinen.
Verdauungsgewissheiten („Verstopfung ist unangenehm“,
„Nahrungsaufnahme ist lebenswichtig“, „Getränke stillen
den Durst“) bestehen unabhängig von ihrer gedanklichen
Erfassung. Ihnen kommt eine kulturübergreifende
Allgemeingültigkeit zu, die nicht allein akademischen
Fachkreisen leicht nachvollziehbar ist. Verdauung wandelt
Dasein in Sein und Sein in Dasein5.
4 Gastrosophie beschränkt sich nicht auf Überlegungen zum Essen odergar zur Feinschmeckerei. Die Erlebnisse unserer Zungen sind Aspekteder komplexen Assimilationsprozesse, die unsere Bäuche „innerlich“bewegen. Hieraus erklärt sich das „tiefe“ philosophische Interesseder gastrosophischen Forschung. Auch die nachhaltigen Wirkungen vonStuhlgängen sind dabei bedeutungsvoll. Kurz und gut: Unser Interesse
am Essen gründet im sinnlichen Reichtum des Bauches, nicht umgekehrt.5 Die begriffliche Reichhaltigkeit der Verdauung wird in diesemArtikel allenfalls angedeutet. Eine eingehende Studie zur
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Die nun folgende Argumentation stützt die Hypothese, dass
Verdauung und Geist keine streng trennbaren Entitäten
sind, sondern gleichermaßen unverzichtbare Aspekte
unserer persönlichen, kulturellen und sprachlichen
Entwicklung.
Gegenüber anderen lebenswichtigen Funktionen des Körpers
nimmt die Verdauung eine besondere Stellung ein. Wer
verdauen will, muss Nahrung aufnehmen. Auch wenn dies
ohne bewusste Entscheidungsprozesse geschehen kann, prägt
die Verdauung doch unsere geistige Entwicklung. Das
unterstreichen schon Überlegungen von Hippokrates zum
Zusammenhang zwischen Psyche und Verdauung6. Eine moderne
Prägung erhält die Erforschung dieses Zusammenhangs
durch Freuds Gedanken zu oralen und analen Aspekten der
frühkindlichen Entwicklung, wobei die digestiven Aspekte
des Schluckens und Ausscheidens unterbewertet scheinen.
Jedenfalls hält Fritz Perls die Kopplung von Hunger und
Aggression auf rein sexueller Grundlage für schwerlicherklärbar. Er verortet die Quelle der Aggression in der
Entwicklung und dem Gebrauch des Zahnwerkes7. Ein Hund der
nach einer Wurst schnappe, folge weniger seinem
Genitaltrieb, als dem Verlangen nach Nahrung. Dahinter
stehe Lust an vermehrter Darmtätigkeit und an der
Steigerung des geistigen Stoffwechsels. Lässt sich
hieraus eine speziell philosophische Bedeutung der
Verdauung für die Entwicklung des Geistes ableiten?
Stellvertretend für viele Philosophen wendet sich Rudolf
Steiner gegen eine digestive Grundlegung des Geistes8. Das
philosophischen Bedeutung der Verdauung ist ein Desiderat.6 Hippokrates, „Lebensordnung Buch IV, Die Träume“, In: Die Werke desHippokrates, Stuttgart, Leipzig, 1934, S. 40-57.7 Frederik S. Perls, Das Ich, der Hunger und die Aggression,
Stuttgart, 1969, S. 140ff.8 Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, Frankfurt a. M.,1985, S. 48.
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Denken könne zwar sich selbst reflektieren, die Verdauung
sich aber nicht selbst verdauen. Nur scheinbar könne dem
Satze ‚wir müssen denken, bevor wir das Denken
betrachten’ gleichberechtigt entgegenstellet werden, dass
wir auch mit dem Verdauen nicht warten können, bis wir
den Vorgang des Verdauens beobachtet haben. Laut Steiner
wäre dies ein Einwand ähnlich dem, den Pascal an
Descartes richtete, indem er behauptete, man könne auch
sagen: ‚ich gehe spazieren, also bin ich’. Steiner nimmt
an, dass wir ganz gewiss auch resolut verdauen müssen,
bevor wir den physiologischen Prozess der Verdauung
studieren können. Aber mit der Betrachtung des Denkens
ließe sich das nur vergleichen, würden wir die Verdauung
nicht denkend betrachten, sondern auch essen und
verdauen.
Dem lässt sich entgegenzuhalten, dass das Denken seine
Unabhängigkeit von der Verdauung nur dann behaupten kann,
wenn die Verdauung keine notwendige Voraussetzung desDenkens ist. Doch wie sollen wir uns Wesen vorstellen,
die denken ohne zu verdauen? Idealistische Grundlegungen
des Geistes durch den Geist bleiben problematisch: einem
Geist, der sich selbst durch Berufung auf seine eigene
Tätigkeit erklärt, bleibt einsam. Erinnern wir uns an
Kants Einsicht, dass Gedanken ohne Inhalt leer,
Anschauungen ohne Begriffe blind sind. Im Gegensatz zu
den Spaziergängen Pascals ist Verdauung eine –nach
unserem derzeitigen Wissenstand– unverzichtbare
Vorraussetzung zur Entwicklung von Gedanken und
Anschauungen9.
9 Ich danke Fabian Goppelsröder für den Hinweis, dass die Reflexiondes eigenen Denkens besonderen Regeln folgt, aber nicht den absolutenGrund des Denkens bildet. Reflektiertes Denken sei immer dieSelbstgewissheit einer Praxis, die im Moment ihrer Nichtausübung
möglich werde, zum Beispiel im Falle des Cogito ergo sum oder wennWittgensteins Spaten sich auf hartem Felsen zurück biegt. Insofernsei auch Pascals Einwand nicht ganz verkehrt: wir können die
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Digero ergo sum, wir sind und wir verdauen. Die Verdauung
wirkt weltbildend und weltverschlingend, längst noch
bevor sich ein Geist mit ihr beschäftigt. Erst im Verlauf
der Naturgeschichte hat sich der Verdauungsschlauch
überhaupt mit Accessoires wie Lunge, Knochengerüst und
Haupthirn umgeben. Sicher ist Verdauung nicht die
einzige, universelle und ewige Grundlage aller
philosophischen Wissenschaft. Aber als eine spezielle
Form des Stoffwechsels verbindet sie uns mit
verschiedenartigsten anderen Lebensformen. Bei der
Bestimmung unserer Einbettung in das ökologische Gefüge
sollte die Bedeutung der Verdauung für die Entwicklung
des Geistes berücksichtigt werden.
Abschnitt 2.)
Eine kurze Problemgeschichte
In frühen Schriften der Ägypter, wird das Leben als kurz
und die Gegenwart als unfassbar bezeichnet10. Ein „rmt r
h“, also ein „Mensch der weiß“, solle sich selbst genügen
und in Notfällen auf die ihm eigenen moralischen
Grundlagen verlassen können. Diese Autonomie erlaube ihm
die Vorbereitung auf Verzweiflung, Krankheit, Ruin,
feindliche Umwelt und Tod. Körperliche und geistige
Tätigkeiten rechnen dabei gleichermaßen zum Erwerb der
Weisheit. So erklärt sich, dass neben der Lunge auch
Milz, Leber und Darm in Grabbeilagen, Leber und Galle inOpfergaben Verwendung fanden. Die Pflege und Achtung der
Verdauungsfunktionen war nicht auf das physische
Wohlergehen beschränkt, sondern wurde für die geistige
Verfassung als förderlich angesehen. Eine Vielzahl von
Erfahrung der Selbstgewissheit in jeder Praxis machen, besonderseindrücklich im Moment von Verdauungsstörungen.10 Françoise de Cenival, „Individualisme et désenchantement, une
tradition de la pensée égyptienne“, In: Religion und Philosophie imalten Ägypten: Festgabe für Philippe Derchain, hg. Ursula Verhoeven,Erhart Graefe, Leuven, 1991, S. 79ff.
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Rezepten und Ratschlägen zum den Umgang mit
Verdauungsproblemen unterstreicht diese Annahme11.
Das Grundmotiv der Beschäftigung mit der Verdauung deutet
sich hiermit an: Verdauung wird dann zum Thema, wenn sie
nicht funktioniert. Geistig kontrollierte Diät verspricht
Besserung. Die Geringschätzung der Verdauung nimmt hier
ihren Ausgang.
Platon bringt die Bezüge zwischen Geist und Verdauung auf
eine einfache Gleichung. Wie sich der Magen an Speisen
nähre, so nähre sich der Geist an den Ideen. Die
Verdauung sei eine Bedingung des körperlichen Wachstums,
Hunger und Durst seien Hinweise auf eine Leere im
Körper12. Dass wir essen und trinken möchten, erklärt
Platon mit einer grundlegenden Begierde nach Gutem13. So
wie der Körper nach Speise und Getränk verlange, so
dürste und hungere die Seele nach Wissen und nach
Verstand. Allerdings habe die körperliche Ernährung
weniger Wirklichkeit als die seelische. Wer seelische
Nahrung verschmähe und sich „Fraß und Brunst“ ergäbe, der
irre sein Leben lang zwischen Schmerz und Schmerzfreiheit
umher, koste keine reine Lust, schaue nie das wahre Oben
und nähme die Wirklichkeit nicht in sich auf.
Die Befreiung der unzerstörbaren Seele von körperlichen
Verdauungsproblemen verspricht der Tod. Wer durch träges
und üppiges Leben von Flüssen und Winden voll sei wie ein
11 Besonders das Papyrus Chester Beatty betrifft die Heilung gestörterVerdauung, der Papyrus Ebers widmet dem Thema 33 Paragraphen und auchin den Papirussen Hearst und Berlin finden sich viele entsprechendeStellen. Beschrieben werden u. a. Heilmittel für Leber- undBauchkrankheiten, Harn, allgemeine Eß- und Verdauungsstörungen,Verdauungswege sowie Magenleiden. Paul Ghalioungui, La Medicine des pharaons: Magie et science médicale dans l’Egypte ancienne, Paris,1983, S. 151. Zwischen zahnärztlicher und urologischer Heilkunstbestand keine eindeutige Trennung. L. Viso, J. Uriach, „The‚guardians of the anus’ and their practice“, In: International
Journal of Colerectal Disease, 10(4), 1995, S. 229f.12 Platon, Der Staat, Stuttgart, 1949, S. 317.13 Platon, Der Staat, Stuttgart, 1949, S. 137ff.
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überlaufender See, verdiene keine ärztliche Hilfe14. Warum
würden Worte wie „Blähung“ oder „Katarrh“ überhaupt von
Ärzten verwendet? Zur Zeit des Asklepios hätte es
dergleichen gewiss nicht gegeben! Allenfalls sei eine
Diät zu verschreiben. Verdauungskranke kämen dann schnell
zurück zur Arbeit, andernfalls bringe der Tod die
Erlösung.
Die philosophische Betrachtung der Verdauung als Problem
nimmt damit ihren Lauf. Aristoteles beschäftigen zwar
weniger die Beziehungen zwischen ewigen und endlichen
Verdauungsvorgängen, als die Gesundheit und das
Zusammenleben der Menschen, doch auch in seinen Schriften
erscheint Verdauung im Zusammenhang mit Problemen15,
betreffend Mundgeruch, feuchte Pferdeäpfel, poröse Zähne,
Medikamente im Magen u.ä.
Seneca versteht Verdauungsprobleme als Anzeichen
gestörter geistiger und kultureller Entwicklungen.
Angewidert von der Dekadenz seiner Mitbürger fordert er
Verzicht auf hemmungslose Stimulierung der Bäuche:
Tausenderlei Leckereien seien erfunden worden, die den
Hunger nicht stillen sondern reizen16. Unzählig seien die
durch Üppigkeit verursachten Krankheiten.
Als die Körper noch fest und gediegen waren und die
Speisen noch nicht durch Kunst und Üppigkeit verdorben,
hätte die Arzneikunde in Kenntnissen weniger Kräuter
bestanden. Nun würdige man die Mahlzeiten nicht einmal
mehr der Verdauung. Man erbreche sich, um essen zu
können, und esse, um sich zu erbrechen. Als Steigerung
erwartet Seneca nur noch, dass der Koch das Geschäft der
Zähne besorge oder bereits Gekautes auftrage.
14 Platon, Der Staat, Stuttgart, 1949, S. 97f.
15 Aristoteles, “Problems”, London, 1970.16 Annaeus Seneca, „Briefe an Lucilius“, In: Philosophische Schriften,hg. Manfred Rosenbach, Darmstadt, 1980.
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In diese Kerbe schlägt auch Augustinus, wobei die
Problembezüge zwischen Verdauung und Geist eine neue
Interpretation erfahren17. Es gäbe keine Übereinstimmung
zwischen Geist und Verdauung, doch vollkommen verschieden
seien auch nicht. Freude und Trauer seien bitterer und
süßer Speise vergleichbar. Sie erreichen das Gedächtnis
wie einen Magen. Dort verbleiben sie, können aber ihren
Geschmack nicht entfalten. Verlangen, Freude, Angst und
Sorge erscheinen im Geist durch das Gedächtnis. Gleich
Wiederkäuern, die Nahrung aus dem Magen hoch würgen,
erwecke die Erinnerung Gefühle im Gedächtnis.
Sein Problem: Ernährung fördert die Gesundheit, ist aber
oft von Freude begleitet. Die Erhaltung der Gesundheit
könne deshalb zum Vorwand zur Erlangung von Freude
werden. Solange unser Magen nicht von ewiger
Unbestechlichkeit und wunderbarer Erfüllung ergriffen
sei, müssen wir gegen die Süße der Speise ankämpfen, um
nicht ihr Gefangener zu werden. Ein täglicher Krieg durchFasten solle die Verdauungslüste unter Kontrolle halten,
um Schmerzen durch Freude zu ersetzen. In stetem Kampf
soll der Geist die Kontrolle über die Verdauung gewinnen.
Die verdauungskritische Haltung der geistigen Philosophie
wird radikal18.
Genussfreundlichere Philosophen wie Montaigne sprechen
sich für eine ausgeglichene Betrachtungsweise der Geist-
Verdauungs-Dichotomie aus. Im Menschen finde sich nichts,
17 Augustinus, The Confessions, Chicago, London, Toronto, 1952, S.76ff.18 Diese Radikalisierung im Rahmen der christlichen Philosophie isterstaunlich, eingedenk der Worte aus dem Evangelium nach Markus:„Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unreinmachen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihnunrein“ (Mk7,14.) Zur Erklärung dieser Radikalisierung bietet sich diefrühchristlichen Unterscheidung zwischen Herz und Magen an, deren
philosophische und neurowissenschaftliche Brisanz von Ralf Stoeckerunterstrichen wurde („Geist und Gehirn“, Vortrag in derFriedenskirche in Potsdam am 2.12.07).
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das nur rein geistig oder rein körperlich sei19. Der
Körper habe einen erheblichen Anteil an unserem Sein und
bekleide darin einen hohen Rang; seinem Bau und seiner
Gliederung sei Beachtung zu schenken20. Moderater Genuss,
nicht Abstinenz, sei dem Wohlbefinden zuträglich.
Aber wie hält Montaigne es mit Freuden, die keine
Bedürfnisse befriedigen, sondern diese erst entfachen?
Sollen wir unseren Magen nur sachte füllen oder ihn auch
verstopfen? Montaigne unterstreicht die positiven
Wirkungen von Exessen. Nur gealterte Körper verlange es
nach strengen Regeln. So sei Alkoholmissbrauch unwürdig
und dumm, zur Belebung des Verdauungsapparates aber
durchaus nützlich21. Kurzum: Es gelte zu genießen, was
zumutbar sei.
Doch auch bei Montaigne wird die Verdauung zum Problem.
In seinem Reisetagebuch berichtet er dezidiert über seine
Nierenkrankheit, die ihm quälende Schmerzen bereitete22.
Seine Freude an der Erfahrung des eigenen Körpers von
innen23 bewahrte er sich nichtsdestotrotz und befriedete
sein Verdauungsleid durch lebensbejahende Heiterkeit. So
nimmt er amüsiert Notiz von den ärztlichen Verordnungen
aus verschiedenen Teilen Italiens: „Sie waren so
entgegengesetzt [...], dass von zwanzig Konsultationen
nicht zwei übereinstimmten; aber sie verdammten sich
gegenseitig fast alle, klagten einander des
Menschenmordes an24.
19 Michel de Montaigne, The Essays, transl. Charles Cotton, Chicago,London, Toronto, 1952, S. 432.20 Michel de Montaigne, Essais, Frankfurt/M., 1998, II.17, S. 318.21 Michel de Montaigne, The Essays, transl. Charles Cotton, Chicago,London, Toronto, S. 164f.22 Otto Flake, “Veranlassung und Teilnehmer der Reise“, In: Michel deMontaigne, Tagebuch einer Badereise, Stuttgart, 1963, S. 320.23 Richard Shusterman, Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil,
Berlin, 2005, S. 142.24 Michel de Montaigne, Tagebuch einer Badereise, Stuttgart, 1963, S.282.
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Bei seinen Versuchen zur Vermittlung zwischen res extensa
und res cogitans vergibt Descartes die Chance einer
unproblematischen Verbindung im Rahmen einer
Verdauungstheorie zugunsten einer übersteigerten
Wertschätzung der Hirnfunktionen25. In der Folge sieht er
sich zu Erklärungen gezwungen, die ihn selber erstaunt
haben dürften, etwa bezüglich der Transsubstantiation von
Wein und Brot in Leib und Blut während der
Eucharistiefeier26. Die Aufnahme des Brotes in den
menschlichen Leib verlaufe „natürlich“ und ohne
Wunderwirkung. Wunderbar wirksam sei allerdings das
Wirken Jesu Christi, das die Assoziation von Leib und
Brot über den Vorgang der Verdauung hinaus erlaube.
Das Wunderbare wurde der Verdauung aber nicht von allen
naturwissenschaftlich interessierten Philosophen
abgesprochen. So erklärt Jean-Baptiste van Helmont,
übrigens noch zu Lebzeiten von Descartes, das die
seelische Tätigkeit den gesamten Körper betreffe, den sieerreiche, wie das Sonnenlicht die Erde27. Dabei kreise die
Seele um einen bestimmbaren Punkt, das duumvirat28,
gebildet im Zusammenspiel verschiedener Verdauungsorgane.
Van Helmont spricht liebevoll von der
„Verdauungsprinzessin“, an deren Thron er das den Körper
25 Wenn bei van Helmont das duumvirat Seele und Körper verbindet tutdies bei Descartes ausdrücklich die Zirbeldrüse: „[...] cette glande
est le principal siège de l’âme“, Descartes, Les passions de l’âme,§32, Nouvelle Edition, enrichie de Figures en Taille-Douce, Paris,Compagnie des Libraires, 1726.26 Siehe dazu Lettre à Mesland vom 9 Februar 1645. Problematisch isthier, dass sich das Interesse des symbolischen Abendmahls derpaulinischen Tradition nicht auf orale Gesten oder gemeinschaftlicheEssensaufnahme beschränkt. Geist und Verdauung werden gleichermaßenerfasst. Die Unterscheidung zwischen Mund und Magen ist für denchristlichen Glauben bedeutungsvoll: "Und ich ging zu dem Engel undbat ihn, mir das kleine Buch zu geben. Er sagte zu mir: Nimm und isses! In deinem Magen wird es bitter sein, in deinem Mund aber süß wieHonig. Da nahm ich das kleine Buch aus der Hand des Engels und aß es.In meinem Mund war es süß wie Honig. Als ich es aber gegessen hatte
wurde mein Magen bitter." (Off 10,9-10)27 André Pichot, Histoire de la notion de vie, Paris, 1983, S. 263.28 André Pichot, Histoire de la notion de vie, Paris, 1983, S. 250.
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bestimmende seelische Prinzip lokalisiert.
Die wunderbare digestive Bindung zwischen Körper und
Seele wird leider auch bei van Helmont zum Problem,
insofern der biblische Sündenfall der souveränen
Herrschaft der Verdauung ihre Grenzen zieht29.
Ursprünglich sei die Verdauung perfekt gewesen,
unsterblich und geschützt vor jeder Krankheit. Die mit
dem Zerbrechen der intellektuellen Seele in einen
vernünftigen und einen sensitiven Teil einhergehenden
Fehlfunktionen verursachten verschiedenste Übel. Seit
Adams Fehltritt sei unsere Verdauung unvollständig.
Auch bei Diderot kommt die Verdauung in die Nähe zum
Wunderbaren. Er spielt gedanklich mit der Möglichkeit,
eine Marmorstatue zu verdauen, um sie zum Leben zu
erwecken30. Ein Mensch, der sich seine Repräsentation
einverleibe, macht diese lebendiger. Die Erweiterung der
Grenzen des Magens könne der gesamten Natur die Fähigkeit
zum Leben verleihen. Das provokative Augenzwinkern der
Ausführungen Diderots ist offensichtlich, ebenso wie die
Ernsthaftigkeit seiner Suche nach einem angemessenen
Verständnis der komplexen Beziehung zwischen Geist und
Verdauung.
Erstaunlich unproblematisch erscheint diese Beziehung bei
Kant, der den Magen zum großmächtigsten Herrscher im
animalischen Reich erklärt31. Alle Empfindung als Gefühl
scheine sich zuerst aufs Eingeweide zu erstrecken,
besonders Musik, aber auch Geruch und Geschmack, ja sogar
farbiges Licht.
29 André Pichot, Histoire de la notion de vie, Paris, 1983, S. 258f.30 Fabrice Chassot, „Un Exemple d’imaginaire scientifique etphilosophique: le complexe de Jonas et le Mythe de la digestion dansl’entretien entre d’Alembert et Diderot“, in: Dix-huitième Siècle,
no. 37, Paris, 2005, S. 473f.31 Immanuel Kant „Zweiter Anhang. Medicin“, Akademie Ausgabe, Bd. XV,Berlin und Leipzig, de Gruyter, 1923, S. 956.
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Lachen fördere die Verdauung, weil es die entsprechenden
Muskeln zum Schwingen bringe32. Das stoßweise Ausatmen der
Luft setze das Zwergfell in heilsame Bewegung und stärke
die Lebenskraft. Am besten entfalte das Lachen seine
verdauungsfreundliche Wirkung im Zusammenspiel mit einer
„Diät des Denkens“. Es sei ungünstig, sich beim Essen
angestrengt mit einem bestimmten Gedanken zu
beschäftigen, denn dabei würden Kopf und Magen mit zwei
Arbeiten zugleich belästigt. Wem das Denken ein
lebenswichtiges Nahrungsmittel sei, dem empfiehlt Kant
eine klare Trennung zwischen Betätigungen der Verdauung
und des Denkens33.
In der Frage Kants „Ist die Pflanze nicht ein Tier, das
seinen Magen äußerlich in der Wurzel hat?“34 kündigen sich
bereits Hegels Überlegungen zum systematischen Ort der
Verdauung innerhalb der Naturphilosophie an. Wenn der
hegelianische Geist in Schwindel erregende Höhe
entschwebt, dann bereitet die Verdauung dabei keinProblem. Allerdings wirkt ihr Anteil an der Werdung des
Geistes reichlich bescheiden. Hegel macht die Verdauung
zu einem Entwicklungsschritt der geistigen Ideen auf dem
Wege zur unmittelbaren Existenz35, bei der Entwicklung des
„in der Äußerlichkeit sich auf sich selbst“ beziehenden
Tieres36. Das Verdauungssystem wird als ein System der
Gestalt des Tieres und der Verdauungsprozess als eine
Form von Assimilation untersucht. Die unmittelbare
32 Immanuel Kant, „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, AkademieAusgabe, Bd. VII, Berlin und Leipzig, S. 261-262 u. S. 281.33 Immanuel Kant, „Der Streit der Fakultäten“, Akademie Ausgabe, Bd.VII, Berlin und Leipzig, 1923, S. 109.34 Immanuel Kant, „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träumeder Metaphysik“, Akademie Ausgabe, Bd. II, Berlin und Leipzig, 1923,S. 330.35 Georg W. F. Hegel, „System der Philosophie: Die Naturphilosophie“,Sämtliche Werke, hg. Hermann Glockner, Bd. 9, Stuttgart, 1929, p.449.
36 Georg W. F. Hegel, „System der Philosophie: Die Naturphilosophie“,Sämtliche Werke, hg. Hermann Glockner, Bd. 9, Stuttgart, 1929, S.576.
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Rückkehr des äußeren Organismus in sich durch die sich
nach innen zurückschlagende Haut führe zum Begriff des
inneren Organismus und der äußeren Gestalt37.
Marx und Engels beschäftigen die sozialen Ursachen von
Verdauungsproblemen im Rahmen von Beschreibungen des
Elends der proletarischen Klasse. Harald Lehmke bemerkt
zu Recht, dass Feuerbachs These, die besagt, dass der
Mensch ist, was er isst, dabei zu wenig Beachtung
findet38. Eine materialistische Umformulierung der These
sollte jedoch nicht nur das Essen betreffen, sondern auch
dessen dialektische Aufhebung durch die Verdauung! Etwa:
Die Philosophen haben die Verdauung nur verkannt; es
kommt darauf an sie zu erleben. Eine Grundlegung des
dialektischen Materialismus im Verdauungsprozess
entspräche ideal dem Geiste eines digestiven Paradigmas
der Philosophie.
Laut Schopenhauer kann es ebenso wenig ein erkennendes
Bewusstsein ohne Gehirn geben, wie eine Verdauung ohne
Magen39. Das Bewusstsein ersterbe mit dem Leibe, aber
nicht das eigentliche Wesen des Menschen, der
unvergängliche Wille, zu der sich zur Erkenntnis verhält
wie ein Beleuchtetes zum Licht. Damit bereitet er eine
philosophische Neubestimmung der Bezüge zwischen Geist
und Verdauung vor, die Nietzsche zur Durchführung bringt.
Verdauung wird zum Maß historischer Erkenntnis. Jede Zeit
bedürfe so viel Historie, als sie in Fleisch und Blut,
durch Verdauen, umsetzen könne. Würden schwächliche
Zeiten mit ihr überfüllt, so seinen
37 Georg W. F. Hegel, „System der Philosophie: Die Naturphilosophie“,Sämtliche Werke, hg. Hermann Glockner, Bd. 9, Stuttgart, 1929, S.607.38 Harald Lemke, Eine Einführung in die Gastrosophie, Berlin, 2007.39 Arthur Schopenhauer, „Ergänzungen zum zweiten Buch Von der
Erkennbarkeit des Dinges an sich; Vom Primat des Willens imSelbstbewußtseyn“, Die Welt als Wille und Vorstellung , Werke in zehnBänden, Bd. 3, Zürich 1977, S. 234.
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Verdauungsbeschwerden, Ermüdung und Kraftlosigkeit kaum
vermeidbar. Der "Frieden der Seele" gerät bei Nietzsche
zur Dankbarkeit wider Wissen für eine glückliche
Verdauung40, das "gute Gewissen", zu einem physiologischen
Zustand, der mitunter einer glücklichen Verdauung zum
Verwechseln ähnlich sieht41. Der uns bekannte Geist sei
völlig unvermögend, irgend etwas zu tun. Wie armselig sei
jedes Bewusstseinsbild! Das, was uns bewusst werde, könne
zu Nichts die Ursache abgeben. Man vergleiche nur
Verdauung und das, was wir von ihr empfinden!42 Unser
Intellekt könne die Mannigfaltigkeit des klugen
Zusammenspiels des Verdauungsprozesses nicht fassen,
geschweige hervorbringen. Wo große Zweckmäßigkeit sei,
fehlen dem Geist die Mittel: bei Künstler und Werk,
Mutter und Kind, beim Gehen, Kauen und Verdauen geschehe
alles ohne Bewusstsein43.
Die Verdauung sei gerade so reich an Vorgängen, wie der
ganze Prozess des Lebendigen überhaupt: und wer fürletzteren keinen leitenden Intellekt annehme, brauche ihn
auch für ersteren nicht zuzugestehen. Wenn Kant am
Schluss der Kritik praktischen Vernunft sage ‚Zwei Dinge
bleiben ewig verehrenswert’44 so würden wir heute
erkennen, dass die Verdauung ehrwürdiger sei45.
40 Friedrich Nietzsche, „Götzen-Dämmerung, Moral als Widernatur“, In:
Sämtliche Werke, hg. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München,Berlin, 1999.41 Friedrich Nietzsche, „Götzen-Dämmerung, Die vier grossenIrrthümer“, In: Sämtliche Werke, hg. Giorgio Colli u. MazzinoMontinari, München, Berlin, 1999.42 Friedrich Nietzsche, „Fragmente, Juli 1882 bis Herbst 1885“, Bd. 4,Sommer 1883, 12 [34].43 Friedrich Nietzsche, „Fragmente Juli 1882 bis Herbst 1885“, Bd. 4,Sommer—Herbst 1884, 26 [60]44 „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenderBewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich dasNachdenken damit beschäftigt: Der gestirnte Himmel über mir und dasmoralische Gesetz in mir.“ Immanuel Kant, Kritik der praktischen
Vernunft, Frankfurt a. M., 1989, S. 300.45 Friedrich Nietzsche, „Fragmente, X, 1886“, Mappe Ende 1886-Frühjahr 1887, 62 WP 331 (Schlechta 864-65).
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Foucaults Analyse der psychischen und sozialen
Entwicklungsstrukturen betreffen die Verdauung
unmittelbar, auch wenn Foucaults Archäologie auf sexuelle
Strukturen zielt. Hierbei sollte erinnert werden, dass
für die antike Diätik auf die Foucault sich oftmals
bezieht, der Aspekt der Verdauung von zumindest ebenso
zentraler Bedeutung ist wie jener der Sexualität. Es ist
deshalb nicht überraschend, wenn vieles von dem, was
Foucault über Sexualität aussagt, sich auf die Verdauung
übertragen lässt.
Wie die Sexualität repräsentiert Verdauung einen
Verbindungspunkt zwischen Körper und Bevölkerung. Auch
sie gehört zur Norm der Disziplin sowie zur Norm der
Regulierung. Mit der Entwicklung der Ernährungslehren
wird sie Teil der globalen Machttechnik, denn die
Bevölkerungspolitik betrifft auch die Kontrolle der
Verdauung. Das Eindringen der öffentlichen Regeln in das
individuelle und private Hygieneverhalten führt zurVerknüpfung zwischen individuellen Verdauungskörpern und
globaler Verdauungsgemeinschaft. Wer „schlecht“ isst oder
der seinen Kot nicht „ordnungsgemäß“ beseitigt,
provoziert Effekte auf verschieden Ebenen.
Mangelnde Verdauungshygiene kann zum Herd individueller
Krankheiten werden und als Kern der Degeneration
erscheinen. Das Macht-Wissen der Medizin richtet sich
auch auf die Verdauung, als einen gleichermaßen
gesellschaftlichen und körperlichen Prozess. Die
Normierung und Regulierung unserer Verdauungsgewohnheiten
zwischen „Supermarkt“ und „Kläranlage“ zeigt, wie unsere
„Normalisierungsgesellschaft“ Disziplin und Regulierung
miteinander verknüpfet, um die gesamten Bereich
abzudecken, der sich vom Organischen zum Biologischen
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erstreckt46.
Gleich der Sexualität verbindet Verdauung Person und
Welt, Temperament und Klima, Körper und Jahreszeit. Im
Rahmen einer regulierenden Ökonomie der Lust, trägt sie
bei zu unserer ästhetischen Existenz und damit
Ausgangspunkt zur Erklärung des geistig wirksamen
Geschehens. Es wäre naiv zu glauben, dass uns die
Gestaltung unseres gesamten Daseins zum gelungenen
Lebenskunstwerk glücke, solange wir mit Klugheit und
Überlegung verdauen. Nichtsdestoweniger kann Achtsamkeit
gegenüber der Verdauung unserer geistiges Wohlsein enorm
befördern47.
Abschnitt 3.)
Verdauung als ästhetisches Erlebnis
Eine Brücke zwischen Geist und Verdauung bildet das
ästhetische Erleben. Es sichert der Philosophie den
Rückweg von den eisigen Gipfeln logischer Bestimmtheit in
die Täler emotionaler Sinnlichkeit. Der Schein der Sonne
wirkt auf den Gipfeln der Berge besonders erhellend, aber
das dortige Klima ist lebensfeindlich. Der Weg zurück in
die Täler ist ein Weg zurück in die Gemeinschaft der
Menschen, zu Fleischeslust, Gastrosophie, Garküchen,
heimeligen Toilettenhäuschen und Lebensfreundlichkeit,
zurück ins wohlig Warme.
Solange die Philosophie den Geist als überlegene Entität
erachtet, erschwert sie sich den Umgang mit sinnlichen
und emotional geprägten Sachverhalten. Die philosophische
Ausgrenzung des Angenehmen aus dem Bereich der Ästhetik
46 Michel Foucault, „Leben machen und sterben lassen: Die Geburt desRassismus“, In: Sebastian Reinfeldt, Richard Schwarz, Bio-Macht,Duisburg, 1993, S. 40.47 Siehe dazu Franz Xavier Mayer, der in der gesunden Verdauung den
Schlüssel zu Wohlstand des Einzelnen, der Familie, des Staates undder ganzen Menschheit vermutet. Franz Xavier Mayer, Schönheit und Verdauung , Bad Gopisern, 1975, S. 160ff.
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erklärt sich in diesem Zusammenhang, ebenso wie die
Ausgrenzung der Empfindungen bestimmter Organe, etwa
Zunge und Darm. Sie entspringt einer Haltung, die
Sinneseindrücken nur in Folge einer rationalen
Kanalisierung als philosophisch relevant erkennt. Doch
wie sinnvoll sind ästhetische Regeln, die sich auf
knurrende Mägen nicht anwenden lassen?
Dass die Beurteilung des Essens in der Philosophie der
näheren Vergangenheit häufig versucht wurde,
unterstreicht die Notwendigkeit einer Neubestimmung des
ästhetischen Sinnenspektrums, insbesondere bezüglich
„innerer Erlebnisse“. Die Einbettung von
Verdauungseindrücken in den Bereich der Philosophie
erfordert keinen Verzicht auf rationale Ansprüche, aber
eine Öffnung der Rationalität gegenüber dem Leben, in
welchem der Rhythmus der Verdauungsvorgänge eine zentrale
Rolle spielt. Wir verkürzen die Philosophie künstlich,
wenn wir versuchen, die Welt unabhängig von solchenRhythmen zu begreifen. Sicher sind Verdauungsrhythmen
kein unhintergehbarer philosophischer Wert, aber das
Interesse einer Ästhetik, die sich unter Missachtung
dieser Prozesse entwickelt, ist bestenfalls „rein“
geistig. Unsere Fähigkeit zu distanziertem Denken ist
aber verdauungsabhängig. „Voller Bauch studiert nicht
gern“, „mir die Galle hoch“, „Liebe geht durch den
Magen“, erklärt der Volksmund.
Gegen eine Ästhetik der Verdauung scheint der Mangel an
intersubjektiven Kriterien zu sprechen. Der Genuss, den
wir zum Beispiel bei der Verdauung eines Pilzragouts
empfinden, scheint verborgen im Inneren unseres Körpers
und damit unzugänglich für andere Menschen, der durch den
Nahrungsbrei in unserem Verdauungsschlauch bewirkte
Genuss scheint nicht universell genießbar.
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Diesem Einwand liegt der Irrtum zu Grunde, dass einer
ästhetischen Freude eine vom Betrachter unabhängige
Erscheinung zukommen muss. Maßgeblich für solche Freude
ist aber sinnliches Erleben, das sich nicht notwendiger
Weise auf Erscheinungen außerhalb des Erkennenden
bezieht. Ohne sinnliches Erleben ist ästhetische Freude
unvorstellbar, handle es sich um Kino, Wasserfall,
Stadtbilder oder Kartoffelsuppe. Die Einzigartigkeit
unserer inneren und äußeren Wahrnehmung spricht nicht
gegen geteilte Freuden.
Wir mit Grund davon ausgehen, dass unser Nachbar in einem
Klavierkonzert Töne etwas wahrnimmt, das mehr oder
weniger dem entspricht, was unser Trommelfell in unserem
Gehörgang verursacht. Wenn eine Mehlspeise unseren Magen
erfreut, so können wir das –zumindest im Rahmen unserer
kulturellen Geschmacksgemeinschaft– mit Grund auch für
andere Menschen annehmen.
Sicherlich sind die Regel- und Unregelmäßigkeiten der
Nahrungsverarbeitung von anderer Art als jene der Ton-,
Bild- oder Tastwahrnehmung. Gegen die Möglichkeit
ästhetischer Bewertung spricht das nicht. Körperliche und
geistige Abweichungen stehen intersubjektiver Abstimmung
nicht entgegen.
Geist und Verdauung stehen in Wechselwirkung. Ein
Gemüseauflauf kann uns zu einem Gedicht inspirieren. Ein
Foto kann uns auf den Magen schlagen. Das bedeutet nicht,
dass alles geistige eine direkte Entsprechung im
Verdauungsschlauch findet. Auch sind nicht alle
Verdauungsfreuden geistig erfassbar. Geist und Verdauung
können einander anregen oder frustrieren.
Die Abwendung von der Betrachtung der Verdauung als
Problem hin zu einer Wertschätzung ihrer Funktion
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eröffnet der Philosophie Zugang zu der bisher kaum
erforschten Sensibilität des inneren Erlebens in welchem
Geist und Verdauung sich untrennbar vermengen. Dabei
braucht die Liebe zur Weisheit des Bauches sich nicht auf
unser ästhetisches Erleben zu beschränken, sondern kann
auch ethische, epistemologische und metaphysische Aspekte
beinhalten. Als ein Modell eines gesunden Lebens48 ist
Verdauung ein Anhaltspunkt philosophischer Orientierung.
Es dreht sich mehr um unseren Bauch, als Feinschmecker
und Skatologen sich träumen lassen.
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48 „Das angemessenste Modell eines gesunden Lebens, auch auf demGebiet der Kultur, wäre die Verdauung. Die lebendige Tradition isteine Verdauung des Gewesen zugunsten der Zukunft.“ Rémi Brague,
„Inklusion und Verdauung“, in: Hermeneutische Wege: Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten, hg. G. Figal, J. Grondin, D. Schmidt,Tübingen, 2000, S. 305.
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