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Zwergschule ? - Davon war nie die Rede gewesen! · Zur Tafel gehörten auch Schreibkreide sowie ein...

Date post: 18-Sep-2018
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Zwergschule ? - Davon war nie die Rede gewesen! Meine Zeit in der alten Dorfschule Rheinweiler von 1957 bis 1959 Von Edgar Baßler Das genaue Datum weiß ich nicht mehr, aber mein erster Schultag war nach den Osterferien des Jahres 1957. Ich war damals sieben Jahre alt, ein Jahr älter als es bei der Einschulung üblich ist. Als schmächtiges Kind hatte man mich im Jahr zuvor statt in die Schule in ein Erholungsheim nach Bad Münstereifel geschickt, wo ich zusammen mit vielen anderen schmächtigen Buben vier lange Wochen verbringen musste: mit einer täglichen Zufütterung von einem gehäuften Esslöffel Traubenzucker, mit ganz viel Heimweh und mit meinem Bär (der auch „Bär“ hieß) als meinem Tröster in der Ferne. Obwohl ich nach diesem Heimaufenthalt so schmächtig war wie zuvor, wurde ich zum Schuljahresbeginn 1957 dennoch in die erste Klasse der Volksschule Rheinweiler eingeschult. Für mich war dies ein ganz großer und seit langem ersehnter Tag, denn – so zeigt es ein Foto, das ich leider nicht mehr besitze – nun war ich einer der „Großen“ und in ihre Reihen aufgenommen. Mein erster Lehrer Mein erster Lehrer hieß Ludwig Feigenputz. Er war ein stattlicher Mann um die Sechzig, hatte eine Glatze und ich glaube, er rauchte gerne Zigarren. Ludwig Feigenputz war der Dorflehrer aller Schülerinnen und Schüler von der ersten bis zur achten Klasse, die damals die Volksschule Rheinweiler besuchten. Das Schulgebäude 1956 Sandburgenbau im Erholungsheim von Bad Münstereifel: Ich bin der Vierte von links. Unten: Mein „Bär“ und ich – etwa 1952.
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Zwergschule ? - Davon war nie die Rede gewesen! Meine Zeit in der alten Dorfschule Rheinweiler von 1957 bis 1959

Von Edgar Baßler

Das genaue Datum weiß ich nicht mehr, aber mein erster Schultag war nach den Osterferien

des Jahres 1957. Ich war damals sieben Jahre alt, ein Jahr älter als es bei der Einschulung

üblich ist. Als schmächtiges Kind hatte man mich im Jahr zuvor statt in die Schule in ein

Erholungsheim nach Bad Münstereifel geschickt, wo ich zusammen mit vielen anderen

schmächtigen Buben vier lange Wochen verbringen musste: mit einer täglichen Zufütterung

von einem gehäuften Esslöffel Traubenzucker, mit ganz viel Heimweh und mit meinem Bär

(der auch „Bär“ hieß) als meinem Tröster in der Ferne.

Obwohl ich nach diesem Heimaufenthalt so schmächtig war wie zuvor, wurde ich zum

Schuljahresbeginn 1957 dennoch in die erste Klasse der

Volksschule Rheinweiler eingeschult. Für mich war dies ein ganz

großer und seit langem ersehnter Tag, denn – so zeigt es ein Foto,

das ich leider nicht mehr besitze – nun war ich einer der „Großen“

und in ihre Reihen aufgenommen.

Mein erster Lehrer

Mein erster Lehrer hieß Ludwig Feigenputz. Er war ein stattlicher

Mann um die Sechzig, hatte eine Glatze und ich glaube, er rauchte

gerne Zigarren. Ludwig Feigenputz war der Dorflehrer aller

Schülerinnen und Schüler von der ersten bis zur achten Klasse, die

damals die Volksschule Rheinweiler besuchten. Das Schulgebäude

1956 Sandburgenbau im

Erholungsheim von Bad

Münstereifel: Ich bin der

Vierte von links.

Unten: Mein „Bär“ und

ich – etwa 1952.

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stammte vermutlich aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Es war einstöckig mit einem

Satteldach und hatte einen Keller, der im zweiten Weltkrieg als Schutzraum bei

Fliegeralarmen gedient hatte. Im ersten Stock war die Dienstwohnung, die von unserem

Lehrer und seiner Ehefrau bewohnt wurde.

Unsere Schulräume

Das Erdgeschoss betrat man an der linken Giebelseite des Gebäudes durch einen kleineren

Vorraum. Hinter diesem lag der einzige Unterrichtsraum, der groß genug war, um darin

etwa 60 Schülern Platz zu geben. Dem jeweiligen Alter entsprechend saßen diese an

unterschiedlich hohen Holztischen und –bänken; die älteren hinten, die jüngsten ganz vorne.

Ganz vorne in der Mitte und etwas erhöht stand auch das Lehrerpult. Hinter diesem war an

der Wand eine große Schiefertafel befestigt. Zur Tafel gehörten auch Schreibkreide sowie ein

Schwamm und Wischlappen zum Löschen der Kreideaufschriften von der Tafel. An der vom

Lehrer aus gesehen rechten Seite des Raumes waren die Fenster zum Schulhof, wenige

Fenster waren auch links und rechts eines mächtigen Kachelofens an der Rückseite des

Raumes. Dieser wärmte im Winter das große Unterrichtszimmer und musste von den älteren

Schülern auf Anweisung des Herrn Feigenputz mit Holz befeuert werden.

Wenn wir vom Vorraum aus unseren Unterrichtsraum betraten, dann konnten wir links

neben dieser Eingangstür an einer Halterung an der Decke zahlreiche aufgerollte Landkarten

hängen sehen. Ausgerollt waren sie doppelt so groß wie die Eingangstüre oder noch größer.

Auf diesen konnte man die Länder

der Erde, die Kontinente, aber auch

die Orte der Heimat, ihre Bäche und

Flüsse, die Berge und Täler und

noch manches andere Wichtige

finden.

Wenn die Siebt- und Achtklässler

ihre Erdkundestunde hatten, galt

ein Teil meiner Aufmerksamkeit

auch immer den Landkarten, die

dann ausgerollt wurden und deren

Länder das Unterrichtsthema der

älteren Schüler waren. Ähnlich

geteilt war meine Aufmerksamkeit,

wenn die Großen zum Beispiel im

-3- Schulkameraden (von links): Ich,

Bernhard aus meiner Klasse sowie

Hubert (bereits gestorben) und

Bernhard, beide zwei Jahrgänge über

mir.

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Deutschunterricht spannende

Geschichten vorlasen oder

Balladen aufsagten.

Wenn ich mich richtig erinnere,

gab es in unserem

Unterrichtsraum vier Reihen mit

Tischen und Bänken, je zwei links

und rechts eines Durchgangs in der

Mitte.

Vermutlich standen also in jeder

Reihe sieben oder acht Tische und

Bänke für jeweils zwei Schüler.

Meine erste Klasse

Die erste Klasse, in die ich eingeschult wurde, hatte ursprünglich sieben Schüler, nach ein

paar Wochen aber nur noch sechs, weil Konrad an die Hilfsschule geschickt wurde. So wurde

damals die Förderschule für lernschwache Kinder genannt. Unter den verbliebenen sechs

Schülern meiner Klasse waren fünf Jungen - Bernhard, Emil, Roland, Wolfgang und ich - und

ein Mädchen: Brunhilde. Mit nur sechs Schülern war unsere Klasse nicht die kleinste, aber es

gab auch noch größere Klassen.

Dem Schulhaus gegenüber stand das Rathaus. An seine östliche Giebelseite schloss sich ein

weiteres Gebäude an, auf dessen Dachboden die Holzvorräte für den Kachelofen gelagert

wurden. Einmal in jedem Jahr wurde dieser Vorrat erneuert, was für alle Schüler eine große

Aktion war.

Zuerst kippte ein Traktor seinen Anhänger voll Brennholz in den Schulhof. Danach war es

unsere Aufgabe, diesen riesigen Haufen an Holzscheiten auf unseren Armen zwei Treppen

hoch auf den Dachboden zu tragen, wo die Scheite dann von ein paar älteren Schülern

akkurat aufgeschichtet wurden. Es dauerte meist den ganzen Vormittag, ehe das Holz an

seinem Platz war, und wir Schüler, die wir von Haus aus das Mithelfen ja gewöhnt waren,

nahmen den Unterrichtsausfall für diese Schlepperei gerne in Kauf.

Während die Großen morgens zum Unterricht gingen, hatten wir Erstklässler häufig auch

nachmittags Unterricht. Meistens mussten wir dann „kopfrechnen“, wie das damals hieß.

Dazu standen wir im Halbkreis um das Pult unseres Lehrers, der auf seinem Stuhl Platz

genommen hatte. Unter den Kopfrechnern waren Emil und ich die schnellsten. Am Anfang

rechneten wir mit den Fingern, später hatte jeder von uns zehn Holzstäbchen, mit denen wir

die vorgegebenen Rechenaufgaben lösten. Das Wort Mathematik begegnete mir erst viel

später.

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Bald lernten wir auch die Zahlenreihen auswendig: zwei mal zwei ist vier, drei mal zwei ist

sechs, vier mal zwei…, fünf mal zwei… und so weiter. Es folgten die Dreier-, die Vierer- etc.

bis zur Zehnerreihe.

Vielleicht lag es daran, dass er kein guter Rechner war, warum Konrad sich meistens

irgendwo versteckte, anstatt zum Nachmittagsunterricht zu erscheinen. Manchmal

schleppten wir den Verweigerer, der sich jedes Mal mit Händen und Füßen wehrte, zu dritt

oder zu viert von seinem Zuhause zur Schule. Manchmal fanden wir ihn auch nicht. Aber

schon bald hieß es, dass er unsere Schule werde verlassen müssen.

Konrad, so erinnere ich mich, war dann der Erste aus unserer Grundschulklasse, der richtiges

Geld verdiente. Auch als ungelernter Hilfsarbeiter war es für ihn Mitte der 1960er Jahre, in

der Wirtschaftswunderphase der Bundesrepublik, kein Problem gewesen, als 14-Jähriger

eine Arbeitsstelle zu finden.

Autoritätspersonen

In den 1950er Jahren war der Lehrer auf dem Dorf eine Person von höchster Autorität, nicht

weniger der Pfarrer und der Bürgermeister. Als Kinder und Heranwachsende hatten wir

diese Herren zu grüßen, wo immer wir ihnen begegneten. Überhaupt gehörte das Grüßen

der Älteren durch die Jungen zu den Grundanständigkeiten und -pflichten, die uns von zu

Hause, aber auch in der Schule, eigentlich überall, eingetrichtert wurden.

Auch der Besuch des Schülergottesdienstes jeden Mittwochmorgen gehörte zu diesen

Pflichten. Darauf achtete nicht nur der Pfarrer, der an unserer Schule Religion unterrichtete,

auch unsere Eltern legten Wert darauf. Jedenfalls die meisten – und sei es auch nur, damit

im Dorf nicht „über

einen geschwätzt

wird“, wie meine

Mutter manchmal

sagte.

Lehrer Ludwig

Feigenputz und Pfarrer

Alois Sieberg kannten

sich schon aus ihrer

gemeinsamen

Studentenzeit, ich

glaube in Heidelberg.

Der Zufall hatte sie an

der Dorfschule in

Rheinweiler wieder

zusammengeführt.

Die Dorfkirche Sankt Nikolaus in

Rheinweiler; im Hintergrund

verdeckt das ehemalige Schloss,

heute ein Altenpflegeheim.

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Den Pfarrer hatte es zwar nach Bamlach verschlagen, wo die Pfarrkirche und das Pfarrhaus

der katholischen Kirchengemeinde standen. Im Nachbarort, nur eine halbe

Fußmarschstunde entfernt, in der katholischen Filialgemeinde Rheinweiler, hatte Lehrer

Feigenputz bereits in den 1930er Jahren eine Anstellung gefunden. So trafen sich die beiden

jeden Mittwoch nach dem Schülergottesdienst in Rheinweiler, wo sie dann im Schulhof

bedächtig miteinander auf und ab schritten, ausgedehnte Gespräche führten, und uns

Schüler vergessen zu haben schienen. Wir jedoch kannten dieses Ritual und achteten darauf,

dass es nicht gestört wurde.

Wie gesagt, Pfarrer Sieberg hielt nicht nur mittwochs den Schülergottesdienst ab, er

unterrichtete bei uns nach dem Gottesdienst auch das Fach Religion – katholische Religion.

Ich glaube, es gab zu dieser Zeit in allen acht Klassen keine fünf Schüler, die evangelisch

waren.

Heute frage ich mich, wo sich die Evangelischen aufhielten, als wir Katholische unseren

Religionsunterricht hatten? Durften sie hinten im Raum sitzen und schweigend zuhören?

Oder mussten sie den Raum vielleicht verlassen? Ich weiß es nicht.

Katholische und Evangelische

Katholische und Evangelische, das waren damals zwei Welten, zwei Himmel und vermutlich

auch zwei Höllen. Ende der 1950er Jahre war von Ökumene, also von der Einheit der

christlichen Kirchen, noch nicht die Rede – am allerwenigsten auf dem Dorfe. Als meine

sechs Jahre ältere Schwester 1966 einen Evangelischen heiratete, hatte unsere Mutter

schwer an dieser Entscheidung ihrer Tochter zu tragen. Für die Katholischen waren die

Evangelischen ja nicht die Rechtgläubigen. Und in einem Dorf mit gerade mal 400

Einwohnern, in dem jeder jeden kannte und auch fast alles von ihm wusste, waren religiöse

Dinge keine Privatangelegenheit. Unser Vater, der Religion gegenüber eher lax eingestellt,

sah in der Mischehe dagegen kein Problem.

Die Schiefertafel

Schreiben lernten wir auf einer Schiefertafel. Diese war etwa 25 mal 35 Zentimeter groß,

hatte einen Holzrahmen, auf der Vorderseite Linien und auf der Rückseite Karos. Die ersten

Worte, die ich schreiben konnte, waren: „Uli eile mal.“ Doch bevor aus den Buchstaben

Worte geworden waren, mussten diese mit dem

richtigen Handschwung einer nach dem anderen

erlernt, erarbeitet, eingeübt werden. Die einzelnen

Buchstaben hatte Lehrer Feigenputz jedem

Erstklässler auf die Tafel gemalt, und wir übten uns

stundenlang im Nachfahren der vorgezeichneten

Buchstabenlinie mit unserem Griffel.

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Und wehe, wir hielten den Griffel nicht richtig! Dann nämlich ritzte die Griffelspitze

quietschend über das Schiefer und der Lautschreiber handelte sich mindestens einen bösen

Blick unseres Lehrers Herrn Feigenputz ein.

Und es quietschte oft am Anfang.

Andrea, die ein Jahr nach mir eingeschult wurde, wird mir immer in Erinnerung bleiben, weil

sie eines Vormittags, als ihre Klasse gerade mal wieder stundenlang an einem

vorgezeichneten „l“ den richtigen Handschwung übte, plötzlich aufstand, ihre Sachen

einpackte und schimpfend den Unterrichtsraum verließ. „Immer nur „l“ machen! Immer nur

„l“ machen!“, wetterte die Sechsjährige und weg war sie. Weil Andrea aber die Tochter von

Frau und Herrn Baron war, einer alteingesessenen Adelsfamilie, der früher das Schloss im

Dorf gehört hatte, seinerzeit aber als Pensionsbetreiberin und Oberstleutnant ihr Geld

verdienten, vermute ich, dass die Strafe für sie damals nicht ganz so schlimm ausgefallen

war.

Die Strafen

Doch Strafen waren bei Fehlverhalten unvermeidlich. Und wenn Ludwig Feigenputz auch

kein Haudrauf war, so kannte er doch den Rohrstock als Ultima Ratio seiner pädagogischen

Erziehungshilfen. Einmal, es war Winter und wie damals üblich lag viel Schnee, hatten wir

den Eingang zur Bubentoilette, die dem Schulgebäude gegenüber auf der anderen Seite des

Schulhofes stand, lückenlos mit Schnee gefüllt. Keiner konnte mehr rein. Ein Heidenspaß.

Doch als es entdeckt wurde, war der Spaß rasch zu Ende. Da es keiner gewesen sein wollte,

hielt Lehrer Feigenputz ein kollektives Strafgericht. Einer nach dem anderen mussten wir

Buben vor ihm antreten, die rechte Hand mit der Innenfläche nach oben hinhalten, und –

zing! – sauste sein Rohrstock (ein schlanker Haselnussstecken) nieder und hinterließ einen

roten, schmerzhaften Streifen auf den Fingerkuppen. Jeder von uns hatte sich eine „Tatze“

eingehandelt, wie diese Art Schläge genannt wurden.

Nicht immer war es der Rohrstock, der bei unseren Verfehlungen zum Einsatz kam. Bei

geringfügigeren Vergehen kannte Herr Feigenputz auch ein reduziertes Strafmaß. Zum

Beispiel wenn einer im Unterricht Unfug machte oder nicht aufpasste. Da gab es dann eine

Kopfnuss. (Übrigens eine Erziehungshilfe, die auch Pfarrer Sieberg gelegentlich anwendete.)

Von Lehrer Feigenputz oft genug eingesetzt und bei uns gefürchtet war sein Hochziehen an

den Haaren neben den Ohren, so dass wir mit schräg gehaltenem Kopf und auf Zehenspitzen

uns immer länger streckend den Schmerz zu vermeiden versuchten. Natürlich vergeblich.

Die großen Pausen am Vormittag hießen bei uns Hofpausen, weil wir hinaus auf dem

Schulhof mussten, auch im Winter. Dort aßen wir die Butterbrote, die uns unsere Mütter

geschmiert und in den großen, ledernen Schulranzen mit der Schiefertafel eingepackt

hatten, und wir spielten miteinander. Meistens spielten wir Kleineren „der Fuchs geht rum“.

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Dazu stellten wir uns in einem großen Kreis im Schulhof auf, die Gesichter zur Kreismitte

gerichtet. Einer war der „Fuchs“ und hatte ein Taschentuch in seiner Hand. Er ging außen um

den Kreis und ließ möglichst unbemerkt hinter einem Schüler das Taschentuch zu Boden

fallen. Entdeckte dieser das Tuch, musste er hinter dem Fuchs herrennen, um diesen zu

fangen. Gelang ihm das, so musste der Fuchs ausscheiden, wenn nicht, dann war der Jäger

draußen.

Herr Feigenputz konnte auch Klavier spielen. Manchmal sangen wir mit ihm im Vorraum

unseres Schulzimmers, wo dieses Instrument seinen Platz hatte. Sonntags und mittwochs bei

den Gottesdiensten begleitete er die Kirchenlieder auch auf dem Harmonium, das auf der

Empore in unserer kleinen Dorfkirche Sankt Nikolaus stand. Und eine Zeitlang war Herr

Feigenputz, wie ich erst viel später in der Chronik des Vereins gelesen habe, auch der

Dirigent des örtlichen Männergesangvereins. Für die damalige Zeit war das, glaube ich, die

übliche Rolle, die dem Lehrer auf dem Dorf zukam: nicht nur die Schüler zu unterrichten,

sondern auch als Organist in den Gottesdiensten und als Dirigent im Gesangverein aktiv zu

sein.

Die Guten

Als ich meine ersten Jahre in der kleinen Dorfschule verbrachte, war es für das Ansehen des

Lehrers bei der Schulaufsicht wichtig, dass er die guten Schüler bis zum Abschluss in der

achten Klasse bei sich behielt. Bei den damals seltenen Besuchen von Schulamtsvertretern

im Unterricht gaben „die Guten“ für den guten Ruf des Lehrers den Ausschlag. Und dennoch

oder vielleicht gerade deswegen: Ich kann mich nicht erinnern, dass in jener Zeit jemals ein

Schüler eine bessere Note als „gut“ erhalten hätte. Einser-Schüler gab es damals nicht, was

der Wirksamkeit des Notensystems aber keinen Abbruch tat.

Ein kleiner Italiener

Es muss Ende der 1950er Jahre gewesen sein, als bei uns im Dorf auf einmal ein Italienerkind

auftauchte. Der Junge suchte Kontakt zu Gleichaltrigen, und ich war einer, der in seine

Altersgruppe passte. Er sprach kein Wort Deutsch, wie ich umgekehrt von Italienisch keine

Ahnung hatte. Sein Vater gehörte wohl zu den ersten Gastarbeitern, die in dieser Zeit in

Süddeutschland eine Arbeitsstelle gefunden hatten. An Einzelheiten kann ich mich nicht

mehr erinnern, nur daran, dass wir uns ziemlich gut verstanden, obwohl wir keine

gemeinsame Sprache hatten.

Doch dauerte unser Kontakt nicht lange. Denn der Junge war so plötzlich wieder

verschwunden, wie er unverhofft bei uns im Hof gestanden war. Vielleicht hatte er mit

seiner Mutter ja nur die großen Ferien bei seinem Vater in Deutschland verbracht und war

danach wieder nach Italien heimgekehrt.

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„Etwas Besseres“

1961 wechselte ich an die „höhere Schule“, als der einzige Schüler meines Jahrganges. Erst in

den folgenden Jahren nahmen die Übertritte an die Realschulen und Gymnasien in den

Nachbarstädten Müllheim, Weil am Rhein und Lörrach langsam zu. Allerdings hatte dies für

die Kinder, die in die „höhere Schule“ gingen, täglich nicht nur zwei halbstündige Zugfahrten

zur Folge – einmal hin, einmal zurück - sondern ebenso den gar nicht so seltenen

Kommentar eines Dorfbewohners, man wolle wohl „etwas Besseres“ werden.

Die Idee meiner Eltern war es nicht gewesen, mich an eine „höhere Schule“ zu schicken.

Weder mütterlicher- noch väterlicherseits hatte es so etwas schon einmal gegeben. Auch

meine ältere Schwester blieb bis zu ihrem Abschluss an der Volksschule, wie diese ja auch

offiziell bezeichnet wurde.

Ich vermute, es war 1959, als es nach den Sommerferien hieß, unser Lehrer Ludwig

Feigenputz sei krank geworden. Zwangsläufig wurden unsere Ferien um ein paar Tage

verlängert, weil ein neuer Lehrer für uns und die sieben übrigen Klassen erst gefunden

werden musste. „Der Neue“ brachte dann nicht nur neue Gedanken über das Schulleben in

unseren Alltag, er empfahl auch jenen Eltern, deren Kinder gute Noten hatten, diese an eine

höhere Schule zu schicken. Zu hoch hinaus sollte es aber nicht sein, fanden meine Eltern und

schickten mich zur Aufnahmeprüfung an die

Realschule nach Weil am Rhein, die ich dann

auch bestand.

Manchmal irrt die Erinnerung

Bis vor kurzem war ich mir ganz sicher, dass

wir bereits in unserem neuen Haus wohnten,

als ich eingeschult wurde. Wie ich aber dann

beim Blättern in Unterlagen meines Vaters

feststellte, muss es anders gewesen sein.

Denn das Jahr 1957, mein Einschulungsjahr,

war nicht nur für mich, sondern auch für

meine Eltern ein bedeutendes: Am 12.

Dezember konnte das Richtfest an dem

Neubau gefeiert werden, den meine Eltern

zusammen mit einer Tante meines Vaters in

der Ortsmitte von Rheinweiler hatten

errichten lassen. Bei meiner Einschulung

wohnten wir also noch zur Miete in einem

Wohnhaus, das der Gemeinde gehörte. -

Manchmal irrt die Erinnerung.

Meine Schwester

Friedlinde und ich,

etwa 1951.

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In der Endabrechnung der „Neuen Heimat“, der Gemeinnützigen Baugenossenschaft, die

den Hausbau begleitet hatte, wurden die Baukosten im Mai 1960 mit rund 44.500 Mark

angegeben. Viel Geld für eine Familie, deren Ernährer, der Beamte in einem Lohnbüro der

Deutschen Bundesbahn Martin Baßler, in dem selben Jahr 1957 wegen seiner

Kriegsverletzungen pensioniert werden musste: erst 39 Jahre alt, mit mehreren

Granatsplittern im Schädel und nahezu blind.

Kahlschlag

Ebenfalls 1957 wurde das letzte Teilstück der Autobahn A5 in Richtung Schweizer Grenze

gebaut. Im alten Fischerdorf von Rheinweiler wurden dem Neubau ungefähr ein Dutzend

Wohnhäuser geopfert. Was damals wahrscheinlich als ein frühes Zeichen des deutschen

Wirtschaftswunders angesehen wurde, würde heute gewiss als ein Verbrechen verurteilt.

Für die Dorfbewohner unsichtbar, würdigte der damalige Bundesverkehrsminister Hans-

Christoph Seebohm die neue Verkehrsader, als er in seiner Dienstlimousine über diese

Kahlschlagschneise des Fortschritts rollte.

Ein Teil der Fischer-Bauern, die der Autobahn entlang des Rheins hatten weichen müssen,

fand im Dorf oder in Nachbardörfern neue Behausungen. Ein schmerzlicher Abschied. Einer

unter diesen Vertriebenen war der Landwirt Karl Kraus. Mit seiner Familie konnte er weit

oberhalb des Dorfes ein neues Domizil beziehen, in einem so genannten Aussiedlerhof.

Noch heute sehe ich ihn vor mir, den damals wohl um die 65 Jahre alten Landwirt, wie er

hinten auf einem hölzernen Pritschenwagen saß, den zwei Kühe oder Ochsen den Berg hoch

zogen. Die mit Eisen beschlagenen Holzspeichenräder rumpelten über den Schotterweg, der

vom Unterdorf ins Mitteldorf führte. Vermutlich war es sein Sohn, der vorne die Tiere am

Zügel führte. Vater Kraus hatte seinen Blick hinunter zum Rhein gerichtet, wo noch sein altes

Haus stand, das aber schon bald von den Planierraupen und Baumaschinen platt gemacht

werden würde.

Von drei

Verkehrsadern

zerschnitten war

Rheinweiler nach

dem Bau der

Autobahn.

Mitten durch den

Ort führten die

viel befahrene

Bahnlinie und die

Kreisstraße,

oberhalb des

Rheins die A5.

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Eine neue Schule

1960 wurde in Rheinweiler eine neue Schule mit einer Mehrzweckhalle oberhalb des

Mitteldorfes erbaut. Fortan war die Schule dreiklassig und somit keine „Zwergschule“ mehr,

wie man viele Jahre später jene Volksschulen bezeichnete, die nur einen Unterrichtsraum für

alle acht Klassen hatten.

Für mich war die alte Schule nie eine Zwergschule gewesen.

1962 entstand in der Nachbarschaft zur neuen Schule und ihrer Turnhalle auch das neue

Rathaus, das im Obergeschoss zwei Lehrerwohnungen hatte. Als Schule und Halle von der

ganzen Dorfbevölkerung in einem Festakt feierlich eingeweiht wurden, durfte ich ein

Gedicht aufsagen, das aus der Feder meines erkrankten Lehrers Ludwig Feigenputz stammte.

Ich habe nie erfahren, warum er mich im Unterricht manchmal „Krautköpfchen“ genannt

hatte, aber dennoch scheint er mir einiges zugetraut zu haben, mein erster Lehrer.

Sein Gedicht trug den Titel:

Erstes Wort in diesem Haus

Erstes Wort in diesem Haus!

Muss das nicht ein gutes sein?

Dass es tief sich brennet ein,

wie ein Siegel, klar und rein.

Erstes Wort in diesem Haus!

Bisher Hammerschläge klangen.

Bräutlich harrt’s nun voll Verlangen,

soll die Weihe heut‘ empfangen.

Erstes Wort in diesem Haus!

Viele Menschen sind erschienen,

ist ein Flüstern unter ihnen.

Wie wohl werden sie beginnen?

Erstes Wort in diesem Haus!

Über diesem Bau wird’s ragen.

Menschen werden’s weitertragen.

Fast erfüllt’s mit bangem Zagen.

Erstes Wort in diesem Haus!

Nein, kein Wort mit Sturmgebraus.

Still und einfach klingt es aus:

Herrgott, segne du dies Haus!

Meine Handschrift im Jahr 1960.

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Das alte Schulgebäude wurde später von der Gemeinde verkauft und von den neuen

Eigentümern auch im Erdgeschoss mit Wohnräumen versehen.

Wenn ich heute am alten Dorfplatz mit dem Brunnen vorbeikomme, erinnere ich mich

manchmal an meinen ersten Lehrer Ludwig Feigenputz, der mich das Schreiben und Lesen

lehrte, und an Pfarrer Alois Sieberg, bei dem ich die biblischen Geschichten hörte und ein

paar Jahre Ministrant war. Auch Andrea und Konrad fallen mir manchmal ein und all die

anderen, mit denen ich damals zur Schule gegangen war.

Eine schöne Zeit? - Es war eine Zeit mit ihren eigenen Wertvorstellungen und Regeln, über

die wir heute staunen und uns wundern. Und die man, wenn man denn über sie urteilen will,

aus ihrer Sicht heraus verstehen muss, nicht aus unserer.

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Inhaltsverzeichnis

Zwergschule? - Davon war nie die Rede gewesen!

Meine Zeit in der alten Dorfschule Rheinweiler von 1957 bis 1959

S. 1 Mein erster Lehrer

S. 2 Unsere Schulräume

S. 3 Meine erste Klasse

S. 4 Autoritätspersonen

S. 5 Katholische und Evangelische

Die Schiefertafel

S. 6 Die Strafen

S. 7 Die Guten

Ein kleiner Italiener

S. 8 „Etwas Besseres“

Manchmal irrt die Erinnerung

S. 9 Kahlschlag

S. 10 Eine neue Schule

Erstes Wort in diesem Haus

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