Zwergschule ? - Davon war nie die Rede gewesen! Meine Zeit in der alten Dorfschule Rheinweiler von 1957 bis 1959
Von Edgar Baßler
Das genaue Datum weiß ich nicht mehr, aber mein erster Schultag war nach den Osterferien
des Jahres 1957. Ich war damals sieben Jahre alt, ein Jahr älter als es bei der Einschulung
üblich ist. Als schmächtiges Kind hatte man mich im Jahr zuvor statt in die Schule in ein
Erholungsheim nach Bad Münstereifel geschickt, wo ich zusammen mit vielen anderen
schmächtigen Buben vier lange Wochen verbringen musste: mit einer täglichen Zufütterung
von einem gehäuften Esslöffel Traubenzucker, mit ganz viel Heimweh und mit meinem Bär
(der auch „Bär“ hieß) als meinem Tröster in der Ferne.
Obwohl ich nach diesem Heimaufenthalt so schmächtig war wie zuvor, wurde ich zum
Schuljahresbeginn 1957 dennoch in die erste Klasse der
Volksschule Rheinweiler eingeschult. Für mich war dies ein ganz
großer und seit langem ersehnter Tag, denn – so zeigt es ein Foto,
das ich leider nicht mehr besitze – nun war ich einer der „Großen“
und in ihre Reihen aufgenommen.
Mein erster Lehrer
Mein erster Lehrer hieß Ludwig Feigenputz. Er war ein stattlicher
Mann um die Sechzig, hatte eine Glatze und ich glaube, er rauchte
gerne Zigarren. Ludwig Feigenputz war der Dorflehrer aller
Schülerinnen und Schüler von der ersten bis zur achten Klasse, die
damals die Volksschule Rheinweiler besuchten. Das Schulgebäude
1956 Sandburgenbau im
Erholungsheim von Bad
Münstereifel: Ich bin der
Vierte von links.
Unten: Mein „Bär“ und
ich – etwa 1952.
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stammte vermutlich aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Es war einstöckig mit einem
Satteldach und hatte einen Keller, der im zweiten Weltkrieg als Schutzraum bei
Fliegeralarmen gedient hatte. Im ersten Stock war die Dienstwohnung, die von unserem
Lehrer und seiner Ehefrau bewohnt wurde.
Unsere Schulräume
Das Erdgeschoss betrat man an der linken Giebelseite des Gebäudes durch einen kleineren
Vorraum. Hinter diesem lag der einzige Unterrichtsraum, der groß genug war, um darin
etwa 60 Schülern Platz zu geben. Dem jeweiligen Alter entsprechend saßen diese an
unterschiedlich hohen Holztischen und –bänken; die älteren hinten, die jüngsten ganz vorne.
Ganz vorne in der Mitte und etwas erhöht stand auch das Lehrerpult. Hinter diesem war an
der Wand eine große Schiefertafel befestigt. Zur Tafel gehörten auch Schreibkreide sowie ein
Schwamm und Wischlappen zum Löschen der Kreideaufschriften von der Tafel. An der vom
Lehrer aus gesehen rechten Seite des Raumes waren die Fenster zum Schulhof, wenige
Fenster waren auch links und rechts eines mächtigen Kachelofens an der Rückseite des
Raumes. Dieser wärmte im Winter das große Unterrichtszimmer und musste von den älteren
Schülern auf Anweisung des Herrn Feigenputz mit Holz befeuert werden.
Wenn wir vom Vorraum aus unseren Unterrichtsraum betraten, dann konnten wir links
neben dieser Eingangstür an einer Halterung an der Decke zahlreiche aufgerollte Landkarten
hängen sehen. Ausgerollt waren sie doppelt so groß wie die Eingangstüre oder noch größer.
Auf diesen konnte man die Länder
der Erde, die Kontinente, aber auch
die Orte der Heimat, ihre Bäche und
Flüsse, die Berge und Täler und
noch manches andere Wichtige
finden.
Wenn die Siebt- und Achtklässler
ihre Erdkundestunde hatten, galt
ein Teil meiner Aufmerksamkeit
auch immer den Landkarten, die
dann ausgerollt wurden und deren
Länder das Unterrichtsthema der
älteren Schüler waren. Ähnlich
geteilt war meine Aufmerksamkeit,
wenn die Großen zum Beispiel im
-3- Schulkameraden (von links): Ich,
Bernhard aus meiner Klasse sowie
Hubert (bereits gestorben) und
Bernhard, beide zwei Jahrgänge über
mir.
-3-
Deutschunterricht spannende
Geschichten vorlasen oder
Balladen aufsagten.
Wenn ich mich richtig erinnere,
gab es in unserem
Unterrichtsraum vier Reihen mit
Tischen und Bänken, je zwei links
und rechts eines Durchgangs in der
Mitte.
Vermutlich standen also in jeder
Reihe sieben oder acht Tische und
Bänke für jeweils zwei Schüler.
Meine erste Klasse
Die erste Klasse, in die ich eingeschult wurde, hatte ursprünglich sieben Schüler, nach ein
paar Wochen aber nur noch sechs, weil Konrad an die Hilfsschule geschickt wurde. So wurde
damals die Förderschule für lernschwache Kinder genannt. Unter den verbliebenen sechs
Schülern meiner Klasse waren fünf Jungen - Bernhard, Emil, Roland, Wolfgang und ich - und
ein Mädchen: Brunhilde. Mit nur sechs Schülern war unsere Klasse nicht die kleinste, aber es
gab auch noch größere Klassen.
Dem Schulhaus gegenüber stand das Rathaus. An seine östliche Giebelseite schloss sich ein
weiteres Gebäude an, auf dessen Dachboden die Holzvorräte für den Kachelofen gelagert
wurden. Einmal in jedem Jahr wurde dieser Vorrat erneuert, was für alle Schüler eine große
Aktion war.
Zuerst kippte ein Traktor seinen Anhänger voll Brennholz in den Schulhof. Danach war es
unsere Aufgabe, diesen riesigen Haufen an Holzscheiten auf unseren Armen zwei Treppen
hoch auf den Dachboden zu tragen, wo die Scheite dann von ein paar älteren Schülern
akkurat aufgeschichtet wurden. Es dauerte meist den ganzen Vormittag, ehe das Holz an
seinem Platz war, und wir Schüler, die wir von Haus aus das Mithelfen ja gewöhnt waren,
nahmen den Unterrichtsausfall für diese Schlepperei gerne in Kauf.
Während die Großen morgens zum Unterricht gingen, hatten wir Erstklässler häufig auch
nachmittags Unterricht. Meistens mussten wir dann „kopfrechnen“, wie das damals hieß.
Dazu standen wir im Halbkreis um das Pult unseres Lehrers, der auf seinem Stuhl Platz
genommen hatte. Unter den Kopfrechnern waren Emil und ich die schnellsten. Am Anfang
rechneten wir mit den Fingern, später hatte jeder von uns zehn Holzstäbchen, mit denen wir
die vorgegebenen Rechenaufgaben lösten. Das Wort Mathematik begegnete mir erst viel
später.
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Bald lernten wir auch die Zahlenreihen auswendig: zwei mal zwei ist vier, drei mal zwei ist
sechs, vier mal zwei…, fünf mal zwei… und so weiter. Es folgten die Dreier-, die Vierer- etc.
bis zur Zehnerreihe.
Vielleicht lag es daran, dass er kein guter Rechner war, warum Konrad sich meistens
irgendwo versteckte, anstatt zum Nachmittagsunterricht zu erscheinen. Manchmal
schleppten wir den Verweigerer, der sich jedes Mal mit Händen und Füßen wehrte, zu dritt
oder zu viert von seinem Zuhause zur Schule. Manchmal fanden wir ihn auch nicht. Aber
schon bald hieß es, dass er unsere Schule werde verlassen müssen.
Konrad, so erinnere ich mich, war dann der Erste aus unserer Grundschulklasse, der richtiges
Geld verdiente. Auch als ungelernter Hilfsarbeiter war es für ihn Mitte der 1960er Jahre, in
der Wirtschaftswunderphase der Bundesrepublik, kein Problem gewesen, als 14-Jähriger
eine Arbeitsstelle zu finden.
Autoritätspersonen
In den 1950er Jahren war der Lehrer auf dem Dorf eine Person von höchster Autorität, nicht
weniger der Pfarrer und der Bürgermeister. Als Kinder und Heranwachsende hatten wir
diese Herren zu grüßen, wo immer wir ihnen begegneten. Überhaupt gehörte das Grüßen
der Älteren durch die Jungen zu den Grundanständigkeiten und -pflichten, die uns von zu
Hause, aber auch in der Schule, eigentlich überall, eingetrichtert wurden.
Auch der Besuch des Schülergottesdienstes jeden Mittwochmorgen gehörte zu diesen
Pflichten. Darauf achtete nicht nur der Pfarrer, der an unserer Schule Religion unterrichtete,
auch unsere Eltern legten Wert darauf. Jedenfalls die meisten – und sei es auch nur, damit
im Dorf nicht „über
einen geschwätzt
wird“, wie meine
Mutter manchmal
sagte.
Lehrer Ludwig
Feigenputz und Pfarrer
Alois Sieberg kannten
sich schon aus ihrer
gemeinsamen
Studentenzeit, ich
glaube in Heidelberg.
Der Zufall hatte sie an
der Dorfschule in
Rheinweiler wieder
zusammengeführt.
Die Dorfkirche Sankt Nikolaus in
Rheinweiler; im Hintergrund
verdeckt das ehemalige Schloss,
heute ein Altenpflegeheim.
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Den Pfarrer hatte es zwar nach Bamlach verschlagen, wo die Pfarrkirche und das Pfarrhaus
der katholischen Kirchengemeinde standen. Im Nachbarort, nur eine halbe
Fußmarschstunde entfernt, in der katholischen Filialgemeinde Rheinweiler, hatte Lehrer
Feigenputz bereits in den 1930er Jahren eine Anstellung gefunden. So trafen sich die beiden
jeden Mittwoch nach dem Schülergottesdienst in Rheinweiler, wo sie dann im Schulhof
bedächtig miteinander auf und ab schritten, ausgedehnte Gespräche führten, und uns
Schüler vergessen zu haben schienen. Wir jedoch kannten dieses Ritual und achteten darauf,
dass es nicht gestört wurde.
Wie gesagt, Pfarrer Sieberg hielt nicht nur mittwochs den Schülergottesdienst ab, er
unterrichtete bei uns nach dem Gottesdienst auch das Fach Religion – katholische Religion.
Ich glaube, es gab zu dieser Zeit in allen acht Klassen keine fünf Schüler, die evangelisch
waren.
Heute frage ich mich, wo sich die Evangelischen aufhielten, als wir Katholische unseren
Religionsunterricht hatten? Durften sie hinten im Raum sitzen und schweigend zuhören?
Oder mussten sie den Raum vielleicht verlassen? Ich weiß es nicht.
Katholische und Evangelische
Katholische und Evangelische, das waren damals zwei Welten, zwei Himmel und vermutlich
auch zwei Höllen. Ende der 1950er Jahre war von Ökumene, also von der Einheit der
christlichen Kirchen, noch nicht die Rede – am allerwenigsten auf dem Dorfe. Als meine
sechs Jahre ältere Schwester 1966 einen Evangelischen heiratete, hatte unsere Mutter
schwer an dieser Entscheidung ihrer Tochter zu tragen. Für die Katholischen waren die
Evangelischen ja nicht die Rechtgläubigen. Und in einem Dorf mit gerade mal 400
Einwohnern, in dem jeder jeden kannte und auch fast alles von ihm wusste, waren religiöse
Dinge keine Privatangelegenheit. Unser Vater, der Religion gegenüber eher lax eingestellt,
sah in der Mischehe dagegen kein Problem.
Die Schiefertafel
Schreiben lernten wir auf einer Schiefertafel. Diese war etwa 25 mal 35 Zentimeter groß,
hatte einen Holzrahmen, auf der Vorderseite Linien und auf der Rückseite Karos. Die ersten
Worte, die ich schreiben konnte, waren: „Uli eile mal.“ Doch bevor aus den Buchstaben
Worte geworden waren, mussten diese mit dem
richtigen Handschwung einer nach dem anderen
erlernt, erarbeitet, eingeübt werden. Die einzelnen
Buchstaben hatte Lehrer Feigenputz jedem
Erstklässler auf die Tafel gemalt, und wir übten uns
stundenlang im Nachfahren der vorgezeichneten
Buchstabenlinie mit unserem Griffel.
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Und wehe, wir hielten den Griffel nicht richtig! Dann nämlich ritzte die Griffelspitze
quietschend über das Schiefer und der Lautschreiber handelte sich mindestens einen bösen
Blick unseres Lehrers Herrn Feigenputz ein.
Und es quietschte oft am Anfang.
Andrea, die ein Jahr nach mir eingeschult wurde, wird mir immer in Erinnerung bleiben, weil
sie eines Vormittags, als ihre Klasse gerade mal wieder stundenlang an einem
vorgezeichneten „l“ den richtigen Handschwung übte, plötzlich aufstand, ihre Sachen
einpackte und schimpfend den Unterrichtsraum verließ. „Immer nur „l“ machen! Immer nur
„l“ machen!“, wetterte die Sechsjährige und weg war sie. Weil Andrea aber die Tochter von
Frau und Herrn Baron war, einer alteingesessenen Adelsfamilie, der früher das Schloss im
Dorf gehört hatte, seinerzeit aber als Pensionsbetreiberin und Oberstleutnant ihr Geld
verdienten, vermute ich, dass die Strafe für sie damals nicht ganz so schlimm ausgefallen
war.
Die Strafen
Doch Strafen waren bei Fehlverhalten unvermeidlich. Und wenn Ludwig Feigenputz auch
kein Haudrauf war, so kannte er doch den Rohrstock als Ultima Ratio seiner pädagogischen
Erziehungshilfen. Einmal, es war Winter und wie damals üblich lag viel Schnee, hatten wir
den Eingang zur Bubentoilette, die dem Schulgebäude gegenüber auf der anderen Seite des
Schulhofes stand, lückenlos mit Schnee gefüllt. Keiner konnte mehr rein. Ein Heidenspaß.
Doch als es entdeckt wurde, war der Spaß rasch zu Ende. Da es keiner gewesen sein wollte,
hielt Lehrer Feigenputz ein kollektives Strafgericht. Einer nach dem anderen mussten wir
Buben vor ihm antreten, die rechte Hand mit der Innenfläche nach oben hinhalten, und –
zing! – sauste sein Rohrstock (ein schlanker Haselnussstecken) nieder und hinterließ einen
roten, schmerzhaften Streifen auf den Fingerkuppen. Jeder von uns hatte sich eine „Tatze“
eingehandelt, wie diese Art Schläge genannt wurden.
Nicht immer war es der Rohrstock, der bei unseren Verfehlungen zum Einsatz kam. Bei
geringfügigeren Vergehen kannte Herr Feigenputz auch ein reduziertes Strafmaß. Zum
Beispiel wenn einer im Unterricht Unfug machte oder nicht aufpasste. Da gab es dann eine
Kopfnuss. (Übrigens eine Erziehungshilfe, die auch Pfarrer Sieberg gelegentlich anwendete.)
Von Lehrer Feigenputz oft genug eingesetzt und bei uns gefürchtet war sein Hochziehen an
den Haaren neben den Ohren, so dass wir mit schräg gehaltenem Kopf und auf Zehenspitzen
uns immer länger streckend den Schmerz zu vermeiden versuchten. Natürlich vergeblich.
Die großen Pausen am Vormittag hießen bei uns Hofpausen, weil wir hinaus auf dem
Schulhof mussten, auch im Winter. Dort aßen wir die Butterbrote, die uns unsere Mütter
geschmiert und in den großen, ledernen Schulranzen mit der Schiefertafel eingepackt
hatten, und wir spielten miteinander. Meistens spielten wir Kleineren „der Fuchs geht rum“.
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Dazu stellten wir uns in einem großen Kreis im Schulhof auf, die Gesichter zur Kreismitte
gerichtet. Einer war der „Fuchs“ und hatte ein Taschentuch in seiner Hand. Er ging außen um
den Kreis und ließ möglichst unbemerkt hinter einem Schüler das Taschentuch zu Boden
fallen. Entdeckte dieser das Tuch, musste er hinter dem Fuchs herrennen, um diesen zu
fangen. Gelang ihm das, so musste der Fuchs ausscheiden, wenn nicht, dann war der Jäger
draußen.
Herr Feigenputz konnte auch Klavier spielen. Manchmal sangen wir mit ihm im Vorraum
unseres Schulzimmers, wo dieses Instrument seinen Platz hatte. Sonntags und mittwochs bei
den Gottesdiensten begleitete er die Kirchenlieder auch auf dem Harmonium, das auf der
Empore in unserer kleinen Dorfkirche Sankt Nikolaus stand. Und eine Zeitlang war Herr
Feigenputz, wie ich erst viel später in der Chronik des Vereins gelesen habe, auch der
Dirigent des örtlichen Männergesangvereins. Für die damalige Zeit war das, glaube ich, die
übliche Rolle, die dem Lehrer auf dem Dorf zukam: nicht nur die Schüler zu unterrichten,
sondern auch als Organist in den Gottesdiensten und als Dirigent im Gesangverein aktiv zu
sein.
Die Guten
Als ich meine ersten Jahre in der kleinen Dorfschule verbrachte, war es für das Ansehen des
Lehrers bei der Schulaufsicht wichtig, dass er die guten Schüler bis zum Abschluss in der
achten Klasse bei sich behielt. Bei den damals seltenen Besuchen von Schulamtsvertretern
im Unterricht gaben „die Guten“ für den guten Ruf des Lehrers den Ausschlag. Und dennoch
oder vielleicht gerade deswegen: Ich kann mich nicht erinnern, dass in jener Zeit jemals ein
Schüler eine bessere Note als „gut“ erhalten hätte. Einser-Schüler gab es damals nicht, was
der Wirksamkeit des Notensystems aber keinen Abbruch tat.
Ein kleiner Italiener
Es muss Ende der 1950er Jahre gewesen sein, als bei uns im Dorf auf einmal ein Italienerkind
auftauchte. Der Junge suchte Kontakt zu Gleichaltrigen, und ich war einer, der in seine
Altersgruppe passte. Er sprach kein Wort Deutsch, wie ich umgekehrt von Italienisch keine
Ahnung hatte. Sein Vater gehörte wohl zu den ersten Gastarbeitern, die in dieser Zeit in
Süddeutschland eine Arbeitsstelle gefunden hatten. An Einzelheiten kann ich mich nicht
mehr erinnern, nur daran, dass wir uns ziemlich gut verstanden, obwohl wir keine
gemeinsame Sprache hatten.
Doch dauerte unser Kontakt nicht lange. Denn der Junge war so plötzlich wieder
verschwunden, wie er unverhofft bei uns im Hof gestanden war. Vielleicht hatte er mit
seiner Mutter ja nur die großen Ferien bei seinem Vater in Deutschland verbracht und war
danach wieder nach Italien heimgekehrt.
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„Etwas Besseres“
1961 wechselte ich an die „höhere Schule“, als der einzige Schüler meines Jahrganges. Erst in
den folgenden Jahren nahmen die Übertritte an die Realschulen und Gymnasien in den
Nachbarstädten Müllheim, Weil am Rhein und Lörrach langsam zu. Allerdings hatte dies für
die Kinder, die in die „höhere Schule“ gingen, täglich nicht nur zwei halbstündige Zugfahrten
zur Folge – einmal hin, einmal zurück - sondern ebenso den gar nicht so seltenen
Kommentar eines Dorfbewohners, man wolle wohl „etwas Besseres“ werden.
Die Idee meiner Eltern war es nicht gewesen, mich an eine „höhere Schule“ zu schicken.
Weder mütterlicher- noch väterlicherseits hatte es so etwas schon einmal gegeben. Auch
meine ältere Schwester blieb bis zu ihrem Abschluss an der Volksschule, wie diese ja auch
offiziell bezeichnet wurde.
Ich vermute, es war 1959, als es nach den Sommerferien hieß, unser Lehrer Ludwig
Feigenputz sei krank geworden. Zwangsläufig wurden unsere Ferien um ein paar Tage
verlängert, weil ein neuer Lehrer für uns und die sieben übrigen Klassen erst gefunden
werden musste. „Der Neue“ brachte dann nicht nur neue Gedanken über das Schulleben in
unseren Alltag, er empfahl auch jenen Eltern, deren Kinder gute Noten hatten, diese an eine
höhere Schule zu schicken. Zu hoch hinaus sollte es aber nicht sein, fanden meine Eltern und
schickten mich zur Aufnahmeprüfung an die
Realschule nach Weil am Rhein, die ich dann
auch bestand.
Manchmal irrt die Erinnerung
Bis vor kurzem war ich mir ganz sicher, dass
wir bereits in unserem neuen Haus wohnten,
als ich eingeschult wurde. Wie ich aber dann
beim Blättern in Unterlagen meines Vaters
feststellte, muss es anders gewesen sein.
Denn das Jahr 1957, mein Einschulungsjahr,
war nicht nur für mich, sondern auch für
meine Eltern ein bedeutendes: Am 12.
Dezember konnte das Richtfest an dem
Neubau gefeiert werden, den meine Eltern
zusammen mit einer Tante meines Vaters in
der Ortsmitte von Rheinweiler hatten
errichten lassen. Bei meiner Einschulung
wohnten wir also noch zur Miete in einem
Wohnhaus, das der Gemeinde gehörte. -
Manchmal irrt die Erinnerung.
Meine Schwester
Friedlinde und ich,
etwa 1951.
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In der Endabrechnung der „Neuen Heimat“, der Gemeinnützigen Baugenossenschaft, die
den Hausbau begleitet hatte, wurden die Baukosten im Mai 1960 mit rund 44.500 Mark
angegeben. Viel Geld für eine Familie, deren Ernährer, der Beamte in einem Lohnbüro der
Deutschen Bundesbahn Martin Baßler, in dem selben Jahr 1957 wegen seiner
Kriegsverletzungen pensioniert werden musste: erst 39 Jahre alt, mit mehreren
Granatsplittern im Schädel und nahezu blind.
Kahlschlag
Ebenfalls 1957 wurde das letzte Teilstück der Autobahn A5 in Richtung Schweizer Grenze
gebaut. Im alten Fischerdorf von Rheinweiler wurden dem Neubau ungefähr ein Dutzend
Wohnhäuser geopfert. Was damals wahrscheinlich als ein frühes Zeichen des deutschen
Wirtschaftswunders angesehen wurde, würde heute gewiss als ein Verbrechen verurteilt.
Für die Dorfbewohner unsichtbar, würdigte der damalige Bundesverkehrsminister Hans-
Christoph Seebohm die neue Verkehrsader, als er in seiner Dienstlimousine über diese
Kahlschlagschneise des Fortschritts rollte.
Ein Teil der Fischer-Bauern, die der Autobahn entlang des Rheins hatten weichen müssen,
fand im Dorf oder in Nachbardörfern neue Behausungen. Ein schmerzlicher Abschied. Einer
unter diesen Vertriebenen war der Landwirt Karl Kraus. Mit seiner Familie konnte er weit
oberhalb des Dorfes ein neues Domizil beziehen, in einem so genannten Aussiedlerhof.
Noch heute sehe ich ihn vor mir, den damals wohl um die 65 Jahre alten Landwirt, wie er
hinten auf einem hölzernen Pritschenwagen saß, den zwei Kühe oder Ochsen den Berg hoch
zogen. Die mit Eisen beschlagenen Holzspeichenräder rumpelten über den Schotterweg, der
vom Unterdorf ins Mitteldorf führte. Vermutlich war es sein Sohn, der vorne die Tiere am
Zügel führte. Vater Kraus hatte seinen Blick hinunter zum Rhein gerichtet, wo noch sein altes
Haus stand, das aber schon bald von den Planierraupen und Baumaschinen platt gemacht
werden würde.
Von drei
Verkehrsadern
zerschnitten war
Rheinweiler nach
dem Bau der
Autobahn.
Mitten durch den
Ort führten die
viel befahrene
Bahnlinie und die
Kreisstraße,
oberhalb des
Rheins die A5.
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Eine neue Schule
1960 wurde in Rheinweiler eine neue Schule mit einer Mehrzweckhalle oberhalb des
Mitteldorfes erbaut. Fortan war die Schule dreiklassig und somit keine „Zwergschule“ mehr,
wie man viele Jahre später jene Volksschulen bezeichnete, die nur einen Unterrichtsraum für
alle acht Klassen hatten.
Für mich war die alte Schule nie eine Zwergschule gewesen.
1962 entstand in der Nachbarschaft zur neuen Schule und ihrer Turnhalle auch das neue
Rathaus, das im Obergeschoss zwei Lehrerwohnungen hatte. Als Schule und Halle von der
ganzen Dorfbevölkerung in einem Festakt feierlich eingeweiht wurden, durfte ich ein
Gedicht aufsagen, das aus der Feder meines erkrankten Lehrers Ludwig Feigenputz stammte.
Ich habe nie erfahren, warum er mich im Unterricht manchmal „Krautköpfchen“ genannt
hatte, aber dennoch scheint er mir einiges zugetraut zu haben, mein erster Lehrer.
Sein Gedicht trug den Titel:
Erstes Wort in diesem Haus
Erstes Wort in diesem Haus!
Muss das nicht ein gutes sein?
Dass es tief sich brennet ein,
wie ein Siegel, klar und rein.
Erstes Wort in diesem Haus!
Bisher Hammerschläge klangen.
Bräutlich harrt’s nun voll Verlangen,
soll die Weihe heut‘ empfangen.
Erstes Wort in diesem Haus!
Viele Menschen sind erschienen,
ist ein Flüstern unter ihnen.
Wie wohl werden sie beginnen?
Erstes Wort in diesem Haus!
Über diesem Bau wird’s ragen.
Menschen werden’s weitertragen.
Fast erfüllt’s mit bangem Zagen.
Erstes Wort in diesem Haus!
Nein, kein Wort mit Sturmgebraus.
Still und einfach klingt es aus:
Herrgott, segne du dies Haus!
Meine Handschrift im Jahr 1960.
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Das alte Schulgebäude wurde später von der Gemeinde verkauft und von den neuen
Eigentümern auch im Erdgeschoss mit Wohnräumen versehen.
Wenn ich heute am alten Dorfplatz mit dem Brunnen vorbeikomme, erinnere ich mich
manchmal an meinen ersten Lehrer Ludwig Feigenputz, der mich das Schreiben und Lesen
lehrte, und an Pfarrer Alois Sieberg, bei dem ich die biblischen Geschichten hörte und ein
paar Jahre Ministrant war. Auch Andrea und Konrad fallen mir manchmal ein und all die
anderen, mit denen ich damals zur Schule gegangen war.
Eine schöne Zeit? - Es war eine Zeit mit ihren eigenen Wertvorstellungen und Regeln, über
die wir heute staunen und uns wundern. Und die man, wenn man denn über sie urteilen will,
aus ihrer Sicht heraus verstehen muss, nicht aus unserer.
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Inhaltsverzeichnis
Zwergschule? - Davon war nie die Rede gewesen!
Meine Zeit in der alten Dorfschule Rheinweiler von 1957 bis 1959
S. 1 Mein erster Lehrer
S. 2 Unsere Schulräume
S. 3 Meine erste Klasse
S. 4 Autoritätspersonen
S. 5 Katholische und Evangelische
Die Schiefertafel
S. 6 Die Strafen
S. 7 Die Guten
Ein kleiner Italiener
S. 8 „Etwas Besseres“
Manchmal irrt die Erinnerung
S. 9 Kahlschlag
S. 10 Eine neue Schule
Erstes Wort in diesem Haus