Reader
zur Fachtagung des netzwerk recherche
in Kooperation mit der Akademie für Politische Bildung Tutzing
und der Bundeszentrale für politische Bildung
11. bis 13. März 2016, Tutzing
„Im Visier der Meute“ – nr-‐Journalistentagung, 11. bis 13. März 2016, Tutzing Reader
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Über Grenzen
Journalisten müssen recherchieren – aber dürfen sie auch in der Privatsphäre von Menschen stöbern? Sie müssen berichten – aber dürfen sie jedes Ergebnis ihrer Recherche, jedes Foto, jedes Video publizieren? Auch für Journalisten gibt es Grenzen – allein, wo liegen sie?
Diese Grenzen will das Netzwerk recherche in Kooperation mit der Akademie für Politische Bil-‐dung in Tutzing suchen. Im Mittelpunkt der Tagung stehen ethische Fragen und jene Menschen, über die wir Journalisten intensiv recherchieren und ausführlich berichten. Die Tagung wird sich selbstkritisch mit der Frage auseinandersetzen, ob Journalisten nicht immer wieder übers Ziel hinausschießen im Umgang mit Menschen, die im öffentlichen Interesse stehen.
Eingeladen sind Prominente, die nach einem tatsächlichen oder vermeintlichen Skandal ins Vi-‐sier der „Meute“ geraten sind, ebenso wie Bürger, die durch eine Straftat oder eine Katastro-‐phe plötzlich ins öffentliche Interesse gerückt sind. Journalisten diskutieren mit Betroffenen und Experten, die sich etwa um die Betreuung von (Medien-‐)Opfern kümmern oder das Ge-‐schehen wissenschaftlich begleiten.
In diesem Reader
finden Sie Artikel zu jedem der Programmpunkte. Die Auswahl der Texte ist rein subjektiv ge-‐schehen und erhebt nicht im Entferntesten den Anspruch auf Vollständigkeit. Die Texte sollen als Grundlage und Anreiz für die Diskussion in Tutzing dienen.
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Freitag, 11. März 2016, 14.30 Uhr
Steffen Burkhardt: Die Skandal-‐Spirale. Wie Medien dem Sog der Empörung begegnen Skandale sind publizistische Brandbomben. Sie sind eine gefährliche Waffe politischer Einfluss-‐nahme. Sie enthüllen echte oder vermeintliche Missstände hinter den öffentlichen Fassaden der Macht. Auf dem Schlachtplatz öffentlicher Moral streiten Interessengruppen um symboli-‐sche Autorität, politischen Einfluss und ökonomische Herrschaft. Wie kommen Skandale in den Medien zustande? Wie lassen sie sich steuern? Und wie verhindern?
Prof. Dr. Steffen Burkhardt
HAW Hamburg, Professor für Medien-‐ und Kulturtheorie, Medienforschung und Medienkompe-‐tenz, Hamburg
Steffen Burkhardt forscht und lehrt als Professor für Medien-‐ und Kulturtheorie, Medienfor-‐schung und Medienkompetenz an der HAW Hamburg. Schwerpunkte seiner Studien sind die Themenfelder Globalisierung und digitale Öffentlichkeiten, politische Kommunikation, Journa-‐lismus und Social Media. Er leitet das International Media Center (IMC), eines der führenden Institute für internationalen Medienaustausch in der Bundesrepublik Deutschland.
Burkhardt studierte als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes in den Fachberei-‐chen Sozialwissenschaften, Kulturgeschichte und Kulturkunde der Universität Hamburg, an der er auch promovierte. Seit 2014 hat Steffen Burkhardt zudem einen Lehrstuhl in der School of Law and Arts der Changsha University of Science and Technology in Changsha, Hauptstadt der chinesischen Provinz Hunan, inne.
Dr. Michael Schröder
Akademie für Politische Bildung, Tutzing
Geboren 1955 in Hamburg, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München 1975 bis 1979. Studium der Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Neueren Ge-‐schichte an der Universität München, M.A. 1980, Dr. phil. 1983. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bayerischen Seminar für Politik in München bis 1984. Akad. Rat am Lehrstuhl für Politikwis-‐senschaft an der Universität Passau 1984 bis 1986. Dozent und Referent für Pressearbeit an der Georg-‐von-‐Vollmar-‐Akademie in Kochel am See/Obb. (Friedrich-‐Ebert-‐Stiftung) 1986 bis 1997. Seit 1997 Dozent für Medien und Kommunikationspolitik und Referent für Öffentlichkeitsarbeit an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing.
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Aus: Meedia, 13. Mai 2015
„Vierte Gewalt oder fiese Gewalt?“ Zeit-Chef di Lorenzo über „Empörung als Geschäftsgrundlage“ Von Giovanni di Lorenzo
Der frühere NSA-Mitarbeiter Edward Snowden hat seine Dateien nicht alle auf einmal ins Netz gestellt, auf dass sich jeder Bürger selbst bedienen möge. Er hat sie an Journalisten weiter- gege-ben, und vor allem an einen: An den amerikanischen Journalisten Glenn Greenwald, der auf Ba-sis dieser Dokumente im britischen Guardian die ersten Berichte über das Ausmaß der Überwa-chung veröffentlichte. Der absolute Internet-Experte – der am Anfang, als er Greenwald zum ersten Mal kontaktierte, seine E-Mails so verschlüsselte, dass selbst ein Greenwald sie nicht empfangen konnte – ausgerechnet der hat sich für seine Enthüllungen die ganz klassischen Me-dien ausgesucht. In einem großen Interview mit der Zeit hat Greenwald erklärt, Snowden habe gewollt, »dass das Material journalistisch aufbereitet wird, dass eine Geschichte nach der ande-ren erzählt wird. So könne die Öffentlichkeit die Enthüllungen besser verstehen.« Snowden hat den Weg über die Medien also bewusst gewählt, damit das, was seine Dateien aussagen, auch tatsächlich bei den Menschen ankommt. Er sieht in den Journalisten gewissermaßen Übermittler und Dolmetscher – und ich würde ihm und Greenwald in diesem Punkt auch völlig Recht geben. Ich halte das sogar für eine zentrale Aufgabe der ›vierten Gewalt‹: Unsere Arbeit besteht nicht nur darin, den Mächtigen auf die Finger zu gucken. Qualitätsjournalismus, so wie ich ihn verste-he, muss die Menschen auch dazu befähigen, sich ihr eigenes Urteil zu bilden, um am politischen Prozess teilnehmen zu können. Denn Nachrichten alleine bedeuten gar nichts. Eine kritische Öf-fentlichkeit braucht auch Journalisten und Leser, die diese Nachrichten einordnen können.
Gerade Printmedien haben dabei eine Stärke, die angesichts des überall beschworenen ›Zei-tungssterbens‹ heute viel zu wenig herausgestellt wird: Sie sind in der Lage, den öffentlichen Diskurs zu organisieren. Sie bilden, wie es der Philosoph Jürgen Habermas einmal formuliert hat, das »Rückgrat der politischen Öffentlichkeit«. Wenn man vor diesem Hintergrund von einer »Macht« der Medien spricht, dann ist das eigentlich mehr Aufgabe als Privileg. Es bedeutet, sei-ne Leser nicht nur als Kunden wahrzunehmen, sondern als Bürger! Erklären, einordnen, die Fol-gen einer politischen Entscheidung aufzeigen – das alles sind Tugenden eines aufklärenden, kri-tischen und unabhängigen Qualitätsjournalismus von der Sorte, wie er in Deutschland viel ver-breiteter ist als in vielen anderen Ländern. Vielleicht ist mir all das manchmal bewusster, weil ich öfters nach Italien blicke. Ich werde jetzt ein großes Wort in den Mund nehmen, aber ich meine das auch so: Wir haben in Deutschland die besten, die unabhängigsten Medien der Welt. Wir haben eine Meinungsvielfalt, die es in der deutschen Geschichte noch nie gab. Selbstver-ständlich müssen wir Kritik üben, auch wenn wir alle wissen, dass es gerade Journalisten schwer fällt, sich Fehler einzugestehen. Aber bei aller notwendigen und berechtigten Kritik dürfen wir auch nicht die Wertschätzung für all das verlieren, was in Deutschland gut und erhaltenswert ist. Ich bitte Sie, mein Loblied auf die deutsche Presselandschaft im Hinterkopf zu behalten, wenn ich jetzt mit meiner Branche trotzdem ins Gericht gehe. Denn ich beobachte in den deutschen Medien schon seit einiger Zeit einen besorgniserregenden Hang zum Gleichklang. Immer wieder höre ich von wohlgesonnenen Leserinnen und Lesern eine Frage, die vielleicht auch einige von Ihnen beschäftigt: Sprecht Ihr Euch eigentlich ab? Was wir natürlich nicht tun – aber das dieser Eindruck überhaupt entstehen kann, ist für mich ein ganz schrilles Alarmzeichen. Das Merkwür-dige ist, dass der Konformitätsdruck nicht von mächtigen Medienunternehmern, Regierungschefs oder anderen finsteren Mächten ausgeübt wird. Vielmehr kommt er aus unserer eigenen Mitte, er geht von uns Journalisten aus, zum Teil auch von Lesern und Zuschauern. Viele Medien neigen zum Beispiel dazu, sich an die Spitze der Nörgler und Herumhacker zu stellen, weil sie sich da-von noch am ehesten das Interesse ihrer Leser und Zuschauer versprechen, die ansonsten der
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Parteipolitik müde sind. Spitzenpolitiker müssen heute mehr Kritik und Demütigungen einste-cken, als es jede andere Berufsgruppe vermutlich ertragen könnte; vor allem Strauchelnde wer-den oft erschreckend konformistisch abgekanzelt. Hier offenbart sich eine Macht der Medien, die nicht nur für den einzelnen Politiker Konsequenzen hat, sondern die politische Kultur insgesamt beschädigt. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Selbstverständlich sollen und müssen Journa-listen Kritik üben, und es ist bestimmt nicht so, dass es in der Sache nichts zu kritisieren gäbe. In Zeiten einer Großen Koalition müssen sie sich ihrer Aufgabe als ›vierter Gewalt‹ sogar beson-ders bewusst sein: Ihre Kritik ist so wichtig, weil die ›echte‹ Opposition im Bundestag über-schaubar und ihre Redezeit begrenzt ist. Problematisch wird es aber dann, wenn das kritische Denken zu einer Marotte verkommt, wenn es uns nur noch darum geht, in einer politischen De-batte oder in der öffentlichen Betrachtung einer prominenten Person ›gegen den Strich‹ zu bürs-ten und das Erregungspotential bis zum Äußersten auszureizen. Es geht mir hier zum Beispiel um den Hang, Politiker erst im Rudel hoch- leben und dann genauso schnell wieder fallen zu lassen – von Kurt Beck über Karl-Theodor zu Guttenberg und Guido Westerwelle bis hin zu Christian Wulff und Peer Steinbrück. Wir legen an unsere Polit-Elite heute Maßstäbe an, die strenger sind als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik, und ich glaube, dass das für den Stadtrat ebenso gilt wie für einen Bundestagsabgeordneten. Die viel vermissten und zu Heroen stilisierten Spitzenvertreter vergangener Zeiten pflegten im Umgang mit Spenden, Unternehmern und anderen Amigos Usancen, die heute zur Dezimierung der politischen Klasse führen würden.
Dass inzwischen schärfer kontrolliert wird, dass es für Parteispenden ein klares gesetzliches Re-gelwerk gibt, ist ein Fortschritt, der auch ein Verdienst der Medien ist: Jahrzehntelang haben sie illegale Spendenpraktiken, Vetternwirtschaft und andere Skandale aufgedeckt. Und es ist auch per se richtig, wenn man von herausragenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verlangt, sie mögen, wenn sie es denn tun, Werte nicht nur predigen, sondern sich auch selbst daran hal-ten. Gefährlich wird es aber dort, wo unter Tugend nicht primär das Funktionieren von vernünf-tigen Institutionen und ihren Akteuren verstanden wird, sondern sozusagen die Reinheit des Her-zens jedes Einzelnen. Es lässt sich immer wieder derselbe Mechanismus beobachten: Von einem bestimmten Zeitpunkt an wird die Dauer der negativen Schlagzeilen zum eigentlichen Problem des Politikers, der Ausgangspunkt ist da längst aus dem Blickfeld geraten; tritt er irgendwann zurück, so heißt es, er sei für das Amt oder die Partei eine unerträgliche Belastung geworden. Die Klärung der Schuldfrage erfolgt sozusagen posthum. Virtuelle Gerichte – ein Dreigestirn aus Medien, politischen Gegnern und Empörten im Netz – bekommen so eine Macht über Politiker, die zunehmend den Souverän entmündigt: Letztlich ist es doch der Wähler, der entscheiden soll, ob ihn nach einem langen Wahlkampf Peer Steinbrück oder Angela Merkel mehr überzeugt. Und ob dabei auch die Frage eine Rolle spielt, unter welchen Umständen Politiker Nebeneinkünfte erzielen dürfen. In der harten Aburteilung liegt vielleicht auch ein Stück Ersatzhandlung. Gerade weil man uns Journalisten so oft vorwirft, wir seien verwechselbar geworden, wir hätten keine Meinung mehr, und weil es so schwer ist, bei den großen Problemen dieser Welt die Übersicht zu behalten, stürzen wir uns auf den Skandal Wulff oder die Amtsführung von Herrn Westerwel-le. Da können wir endlich wieder ›klare Kante zeigen‹. Das führt zu dem grässlichen Eindruck, dass wir alle unter einer Decke stecken.
Das permanente Klima der Skandalisierung widerspricht in meinen Augen im Übrigen auch ei-nem Grundsatz, der in unserem Rechtsstaat eigentlich eine ganz maßgebliche Rolle spielt: dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Vereinfacht ausgedrückt besagt dieser Grundsatz doch Folgen-des: Wann immer der Staat in die Bürgerrechte eingreift – wenn er also Demonstranten fest-nimmt oder die Videoüberwachung einer Wohnung zulässt – immer dann müssen diese Maß-nahmen einer strengen Prüfung standhalten können: Sind sie wirklich angemessen? Sind sie erforderlich und erfolgsversprechend? Dienen sie überhaupt einem legitimen Zweck? Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit soll die Macht staatlicher Organe begrenzen, und er ist in unserer Rechtsordnung fest verankert. Warum eigentlich sollte sich nicht auch die ›vierte Ge-
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walt‹ im Staate am Prinzip der Verhältnismäßigkeit messen lassen? Wir Journalisten haben näm-lich manchmal die gefährliche Neigung, in unserer Berichterstattung jedes Maß zu verlieren. Dann scheint die Devise zu gelten: Es reicht nicht, dass jemand sein Amt verliert, er muss auch gesellschaftlich auf ewig ins Abseits gestellt werden. Erinnern Sie sich noch an die Schlagzeile der größten deutschen Zeitung am Tag der Urteilsver-kündung gegen Uli Hoeneß am Münchner Landgericht? »Im Namen aller ehrlichen Steuerzah-ler«, lautete sie: »Verknackt Hoeneß!« Die ›vierte Gewalt‹ – oder ein besonders lautstarker Teil von ihr – tut hier so, als sei sie wirkliche Staatsgewalt, als spreche durch sie hindurch tatsächlich Volkes Stimme, als habe sie für ihre Forderungen womöglich sogar ein Mandat! Sie setzt ein öffentliches Tribunal neben das laufende gerichtliche Verfahren, wobei nun aber nicht mehr ein Richter das Urteil fällt: Es sind die ›ehrlichen Steuerzahler‹, die den berühmten ersten Stein auf den nackten Sünder werfen dürfen. An was für Instinkte wird hier eigentlich appelliert? Das öf-fentliche Neben-Verfahren, das ich hier zu beschreiben versuche, ist in seiner Dauer, in seiner Tonlage und in seiner Heftigkeit teilweise so verheerend, dass die Strauchelnden am Ende gar nicht mehr aufstehen können. Ich erinnere hier nur an Jörg Kachelmann, dem sein Freispruch kaum mehr zu helfen vermochte, oder an Alice Schwarzer, der man ihre Steueraffäre vermutlich niemals verzeihen wird.
Bitte verstehen Sie meinen Aufruf zu mehr Verhältnismäßigkeit in den Medien jetzt aber nicht als ein Plädoyer für Samthandschuhe oder für Selbstzensur. Natürlich müssen unabhängige Jour-nalisten die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, wann ›das Maß voll ist‹. Ich glaube nur, dass wir uns immer mal wieder bewusst machen sollten, welche Folgen unsere Berichterstattung für die Menschen hat, über die wir schreiben. Zwischen ›vierter Gewalt‹ und ›fieser Gewalt‹ liegt manchmal nur ein schmaler Grat. Darüber hinaus bleiben Geschichten des Scheiterns im digita-len Zeitalter ja nicht nur bei Prominenten auf ewig abrufbar und konserviert. Der Internetphilo-soph und Blogger David Weinberger hat daraus eine, wie ich finde, geradezu bahnbrechende Forderung abgeleitet: Wir können die »neue Transparenz«, die uns das Internet beschert hat, nur überleben, schreibt Weinberger, wenn sich auch die Art und Weise verändert, wie wir Kritik üben. Weil wir nicht mehr vergessen können und weil wir alle früher oder später Fehler und Ver-säumnisse begehen, müssen wir vielleicht besonders darauf achten, was davon relevant ist und was nicht. Wenn wir Journalisten aber daran festhalten, einer Empörungswelle nach der nächsten hinterherzuhecheln, laufen wir Gefahr, dass wir die wirklich wichtigen Dinge vollends aus dem Blick verlieren. Natürlich ist es einfacher, sich mit Peer Steinbrücks Stinkefinger auf der Titel-seite des SZ-Magazins auseinanderzusetzen, als die Wahlversprechen der Parteien im Bundes-tagswahlkampf auseinanderzudröseln. Und die Tatsache, dass Jogi Löw offenbar seinen Führer-schein für ein paar Monate los ist, generiert wohl auch mehr Klicks als ein Text, der sich mit den Nachwirkungen von Le Pens Wahlsieg in Frankreich beschäftigt. Aber das zeigt eben auch: Im ›Echtzeitjournalismus‹, der sich in vielen Online-Medien so großer Beliebtheit erfreut, wird die Abwägung zwischen relevanten und irrelevanten Offenbarungen zunehmend zur Nebensache. Stattdessen wird die Empörung nicht nur zur Geschäftsgrundlage, sondern auch zum Inhalt der Berichterstattung: Zu sehen sind dann Texte, die aus nicht viel mehr bestehen als aus der Anei-nanderreihung von aufgeregten Twitter-Kommentaren, die überhaupt erst durch die eigene Be-richterstattung ausgelöst wurden. Kann Journalismus sich überhaupt noch mehr mit sich selbst beschäftigen? Beißt sich hier nicht irgendwie auch die Katze in den Schwanz? Ich bin im Übrigen fest davon überzeugt, dass etwas mehr Verhältnismäßigkeit in unserem urei-genen Interesse liegt: Mit dem undifferenzierten Niederschreiben von Politikern und anderen Prominenten und der permanenten Befriedigung des Empörungspotentials mögen die Redaktio-nen zwar kurzfristig Klicks generieren, mittelfristig aber sägen sie den Ast ab, auf dem sie sitzen. Wir brauchen politisch und gesellschaftlich interessierte Bürger, damit wir weiter Zeitungen ver-kaufen können! Es stimmt mich deshalb auch nachdenklich, wenn ich lese, dass ausgerechnet ein Satire-Magazin (der Postillon) zu den deutschsprachigen Medien gehört, die in den sozialen
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Netzwerken die größte Resonanz erzielen. Nicht etwa, weil ich etwas gegen gute Satire hätte, sondern weil es auch als ein Zeichen zu verstehen ist, dass die immer gleiche Tonlage in den politischen Debatten unser Publikum zunehmend langweilt. Es besteht jedenfalls überhaupt kein Zweifel, dass wir in Deutschland gerade eine Vertrauenskrise erleben: Viele Menschen fragen sich: Wem soll ich überhaupt noch glauben, an wen kann ich mich halten? Das betrifft Unter-nehmen genauso wie es – seit den dramatischen Turbulenzen an den Finanzmärkten 2008 – die Banken betrifft. Es gilt für die Kirche nach ihren Missbrauchsfällen und anderen Skandalen, es gilt für die Politik sowieso und ganz besonders, und es gilt für den Journalismus, der wiederum durch eigene Fehlleistungen Vertrauen eingebüßt hat.
In der Ukraine-Krise ist das besonders deutlich zu Tage getreten: Nicht nur wir bei der Zeit haben Unmengen an Leserbriefen erhalten, in denen uns »Kriegstreiberei« vorgeworfen wurde. Nun ist das in unserem speziellen Fall vielleicht schon mit dem Hinweis zu widerlegen, dass der Zeit-Herausgeber Helmut Schmidt in einem großen Interview »Verständnis« für Putins Vorgehen in der Krim-Krise geäußert hat, was wieder- um ganz eigene Proteste ausgelöst hat. Aber trotzdem bleibt es besorgniserregend, was für eine gewaltige Distanz sich da zwischen den Medien auf der einen Seite und vielen Bürgern auf der anderen Seite aufgebaut zu haben scheint. Wie gesagt: Wir Journalisten haben zu diesem Vertrauensverlust durch eigene Versäumnisse, durch Übermut und immer neue Exzesse selbst beigetragen. Und es überrascht mich auch nicht, dass das Misstrauen und die Häme, die wir beständig säen, irgendwann auch auf die Medien zu-rückfällt. Wir sollten uns also dringender denn je fragen, welche Rolle wir Journalisten in dieser Gesellschaft spielen wollen.
Die Macht der Medien ist ein zweischneidiges Schwert. Im digitalen Zeitalter wirkt sie bisweilen zerstörerischer denn je; im Internet gewinnen mitunter Minderheiten die Meinungsführerschaft und damit einen Einfluss auf den politischen Prozess, der aus demokratietheoretischer Perspekti-ve problematisch ist. Umso mehr brauchen wir unabhängige Journalisten, die aufklären und in der Lage sind, ein Gegengewicht zu den Mächtigen zu bilden, in der Kommunalpolitik ebenso wie in der Weltpolitik. Die Wächterfunktion der heute ohnehin stark fragmentierten vierten Ge-walt lässt sich nicht einfach an Twitter und Chatforen delegieren! Am wichtigsten ist mir, dass wir die Vielfalt und Unabhängigkeit der Qualitätsmedien in Deutschland erhalten können. Diese Art von Journalismus, die viele von uns nach wie vor betreiben, ist kostspielig; investigative Recherchen, Korrespondentennetze und professionelle Textarbeit kosten viel Geld. Wir müssen deshalb einen Weg finden, diese kostbaren Inhalte auch in der digitalen Welt zu monetarisieren. Nur so können wir Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit bewahren. Redaktionen müssen in der Lage sein, Druck und Sanktionen auszuhalten – und das können sie nur, wenn nicht jede drohen-de Klage gleich als finanzielles Todesurteil erscheint. Wir brauchen Journalisten, die sich ange-sichts eines zuweilen gewaltigen, öffentlichen Konformitätsdrucks den Mut bewahren, unbe-queme Ansichten zu vertreten. Die nicht bei jedem kleinen Shitstorm gleich einknicken. Und wir brauchen auch Journalisten, die sich trauen, eigene Fehler zu erkennen. Das Gefühl der ›Ohn-macht‹, das sich in vielen Redaktionen auszubreiten droht, hat ja auch mit dem Glauben zu tun, dass das Netz an allen unseren Problemen schuld ist. Doch wer für die Printkrise allein Google, Facebook und Twitter verantwortlich machen will, dem fehlt vielleicht auch der Wille zur Er-neuerung. Ich möchte aber auch darauf beharren, dass jede Gesellschaft Vorbilder braucht – und ich würde auch sagen, dass es immer wieder vorbildliche Taten gibt, die wir bewundern können. Aber Menschen, die ein ganzes Leben lang Vorbilder bleiben, das gibt es nur in äußerst seltenen Fäl-len, die mir persönlich auch nicht bekannt wären. Wenn es sie gibt, dann wohl auch deshalb, weil sie nicht bis in letzte Detail durchleuchtet worden sind. Denn Menschen sind widersprüch-lich, sie sind fehleranfällig, und sie kämpfen mit unschönen Eigenschaften. Wollen wir unseren Politikern und Prominenten wirklich die Last aufbürden, ein Leben lang und in jeder Hinsicht Vorbild zu sein? Das schafft keiner von Ihnen – und auch keine der herausragenden Persönlich-
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keiten unserer Gesellschaft. Wir sollten uns jedoch freuen und es würdigen, dass es Menschen immer wieder gelingt, etwas unerwartet Gutes und Schönes zu schaffen – so dass wir den ›Glau-ben an die Menschheit‹, wie man so schön sagt, zurückgewinnen können. Das mag jetzt viel-leicht etwas unpassend und pathetisch klingen. Aber auf diese erwachsene, vielleicht aber auch nur verständnisvolle, empathische Art auf Menschen zu blicken – das könnte für uns alle eine wichtige Aufgabe sein, eine Aufgabe mit Zukunft.
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung der im Buch „Die Idee des Mediums“ veröffentlichten Rede „Vierte Gewalt oder fiese Gewalt? Die Macht der Medien in Deutschland“ von Giovanni di Lorenzo. Weitere Reden im Buch stammen von Ulrich Deppendorf, Mathias Döpfner, Hans Leyendecker, Miriam Meckel, Frank Schirrmacher, Cordt Schnibben, Alice Schwarzer und Ro-ger Willemsen. Das Buch „Die Idee des Mediums“ ist erschienen im Herbert von Halem Verlag, Edition Medienpraxis, es kostet im Handel 19,90 Euro.
Quelle: http://meedia.de/2015/05/13/vierte-gewalt-oder-fiese-gewalt-zeit-chef-di-lorenzo-ueber-empoerung-als-geschaeftsgrundlage/
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Freitag, 11. März 2016, 16.30 Uhr
Einmal Politik und zurück. Susanne Gaschke im Gespräch mit Julia Stein Susanne Gaschke war viele Jahre Redakteurin der Zeit, ehe sie 2012 die Seiten wechselte. Sie kandidierte für das Amt der Oberbürgermeisterin in Kiel und wurde auf Anhieb gewählt. Es dauerte nicht lange, bis die Neu-‐Politikerin ihre alten Kollegen als Jäger erlebte: Ein umstritte-‐ner Steuer-‐Deal geriet zum lokalen Skandal, nach nur elf Monaten trat sie von ihrem Amt zu-‐rück und sprach von einer „Hetzjagd“ gegen sie. Ein Gespräch über die Erfahrungen einer Jour-‐nalistin mit Journalisten.
Dr. Susanne Gaschke
Die Welt, Autorin
Dr. Susanne Gaschke (49) war 15 Jahre lang Redakteurin im politischen Ressort der ZEIT in Hamburg. 2012 wurde sie zur Oberbürgermeisterin ihrer Heimatstadt Kiel gewählt. 2013 trat sie zurück. Heute lebt sie als Autorin der WELT in Berlin. Susanne Gaschke ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter.
Julia Stein
netzwerk recherche/NDR, Stv. Leiterin Ressort Investigation, Hamburg
Julia Stein ist stellvertretende Leiterin im Ressort Investigation des NDR und erste Vorsitzende von netzwerk recherche. Zuvor war sie Redaktionsleiterin beim Medienmagazin ZAPP und Poli-‐tik-‐Redakteurin sowie Chefin vom Dienst beim NDR Hamburg Journal. In Hamburg und Paris hat sie Politikwissenschaften, Romanistik und Medienkultur studiert. Bert-‐Donnepp-‐Preis für Medi-‐enpublizistik 2007. Themen des vergangenen Jahres: die internationalen Recherchen Luxleaks und Swissleaks.
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Cicero, 31. Oktober 2013 MEDIEN ÜBER SUSANNE GASCHKE
Die Person ist geiler als der Filz Von Petra Sorge Wenn sich überregionale Medien mit einer Oberbürgermeisterin befassen, mit einer Lokalfigur also, dann muss diese schon etwas Besonderes sein. Susanne Gaschke war das. Die Kieler Rat-hauschefin war zuvor Zeit-Journalistin – und in der Politik sind Seitenwechsler immer interes-sant. Umso mehr, wenn dieser Versuch in einem spektakulären Rücktritt gipfelt. Von politi-schen, persönlichen und medialen Angriffen auf ihre Person sprach Gaschke Anfang dieser Wo-che, von „testosterongesteuerten Politik- und Medientypen“. Aber waren die Medien tatsächlich Teil dieses Netzes aus Intrigen und Halbwahrheiten, in dem sich Gaschke verfangen hatte? Es ging um mehr als um einen Lokalkrach: Die Eilentscheidung der Oberbürgermeisterin, einem Augenarzt 3,7 Millionen Euro Schulden an die Stadt zu erlassen, war nach Auffassung von In-nenminister Andreas Breitner (SPD) rechtswidrig. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Der Kieler Fall ist komplex; er involviert Akteure der Landesregierung, der Wirtschaft und der Bankenwelt. Manch einer zog gar Parallelen zur Affäre um Björn Engholm, an dessen Ende der Rücktritt eines bereits gehandelten Kanzlerkandidaten stand. Vieles davon ist Unsinn, ja verschwörungstheoretisch. In solch zerfransten Sachverhalten, die sich zu einem erzählerischen Knäuel zu verknoten drohen, die jeden Leser, Hörer oder Zuschau-er überfordern, ist es für Medienvertreter häufig am einfachsten, allen Filz wegzubürsten und sich auf eine Hauptperson zu konzentrieren. Das Dilemma des Falles Susanne Gaschke war, dass es immer um Susanne Gaschke ging.
Ihre Geschichte wurde erzählt als die eines eitlen Gutmenschen, der auf dem Weg in die Politik an den eigenen Befindlichkeiten scheiterte. Als Ergebnis individuellen Versagen, ja falschen Krisenmanagements. Gaschkes wutentbrannte Abschiedsredebot Anlass für eine mediale Seifen-oper – und das dies so geschehen würde, hätte sie als gelernte Journalistin selbst sehr genau wis-sen müssen: Personen sind eben geiler als Zusammenhänge. Es gab linke Medien, die auf Gaschkes Versuch hereinfielen, sich als weibliches Opfer der männlichen Umstände zu be-schreiben. Es gab auch jenen herausragenden Artikel in der konservativen Frankfurter Allgemei-nen Sonntagszeitung, der sehr wohl die Kieler Vorgeschichte reflektierte. Aber am Ende hieß es unisono: Susanne Gaschke ist nicht an einer Fehleinschätzung in einem Steuererlass gescheitert, sondern an ihrem Umgang mit der Krise. Sogar für das NDR-Medienmagazin Zapp lautete so das Fazit. Ihr Fall hat sich quasi selbst erledigt. Klappe zu, Affe tot. Bei manchem Beobachter blieb dennoch Unwohlsein. „Das ist eine politische Intrige, über die absolut nicht angemessen berichtet wurde“, sagt Rainer Burchardt, Medienwissenschaftler an der FH Kiel. Der Ex-Chefredakteur des Deutschlandfunks meint damit insbesondere die Kieler Nachrichten. Da ist er zwar sachlich bei Susanne Gaschke, die aus Kommentaren des Chefredakteurs Klaus Kramer „Hass“ gegen sich herauslas. Als besonders ehrverletzend empfand sie den Vergleich mit Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland. Der entsprechende Kommentar vergleicht den Steuer-Deal aber nicht mit den Loveparade-Toten, sondern es geht um die Dauer des Ab-wahlverfahrens. Kommentare sind frei – deshalb läuft Gaschkes Vorwurf hier ins Leere.
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Burchardt erregt sich viel mehr über die blinden Flecken in der Berichterstattung: „Das Spiel, das von ganz oben mit Gaschke getrieben wurde, wurde überhaupt nicht problematisiert.“ Etwa als die Kommunalaufsicht im Kieler Innenministerium ihre Ermittlungen gegen Gaschke begann. Besonders heikel: Die Leiterin der Behörde war Manuela Söller-Winkler, einst Gasch-kes Konkurrentin bei der Wahl ums Oberbürgermeisteramt. Söller-Winkler war auch die Wunschkandidatin der SPD-Parteiführung. Burchardt ist überzeugt, dass Gaschke Klage wegen Befangenheit hätte einreichen können. „Warum wurde darüber nicht berichtet?“
Stimmen, die nicht nur Gaschke, sondern auch der Landesregierung Schleswig-Holsteins schwe-re Vorwürfe machten, habe es nur wenige gegeben.
Einer war der Politikwissenschaftler Joachim Krause von der Kieler Christian-Albrechts-Universität. In einem Interview der Nachrichtenagentur dpa Anfang Oktober empfahl er der SPD, einen Mediator einzuschalten. Und, wichtiger: Er kritisierte Innenminister Andreas Breit-ner scharf. Dieser hatte die Justiz eingeschaltet, weil er Gaschke und ihren Ehemann, den SPD-Bundestagsabgeordneten Hans-Peter Bartels, der versuchten Nötigung bezichtigte. Diese hatten gedroht, eine SMS des Ministerpräsidenten zu veröffentlichen. Politikwissenschaftler Krause bezeichnete die Strafanzeige bei der Generalbundesanwaltschaft als „absurd“. „Wenn das straf-rechtlich verfolgt werden soll, dann stünden bald der halbe Bundestag und die halbe Bundesre-gierung mit einem Bein im Gefängnis.“ Der Sonntagsdienst der Kieler Nachrichten stellte das dpa-Interview auf die Onlineseite. Im Blatt am Tag danach fand sich nur eine Mini-Meldung im Lokalteil; der Hinweis auf die Kritik am Innenminister fehlte dort völlig.
In der Flut der Nachrichten kann sich Christian Longardt, einer von zwei Chefredakteuren der Zeitung, nicht mehr an jede Einzelheit erinnern. „Wenn ein Politikwissenschaftler etwas sagt, kann das im Blatt sein oder nicht. Wir haben so viel gemacht und so viel recherchiert“, betont er. „Diese ganze Geschichte wäre überhaupt nicht in der Welt, hätten wir sie nicht gebracht.“
Ein anderer Politikexperte, der namentlich nicht genannt werden will, hätte gern Antworten auf weitere Fragen gelesen: „Wieso fühlte sich der Innenminister plötzlich als Verfassungsorgan? Was für ein Spiel wurde hier gespielt?“ Susanne Gaschke, so viel ist bekannt, hatte sich bei der Einfädelung des „Steuer-Deals“ auf ihre Mitarbeiter verlassen. Das Amt für Finanzwirtschaft hatte zugestimmt. Die Verwaltung hatte ihr den Eilentscheid auch nahegelegt.
In einer solchen Situation hätten andere Politiker die Verantwortung an ihre Mitarbeiter weiter-gegeben. So handelte Thomas de Maizière etwa in der „Euro-Hawk“-Affäre. Der Verteidi-gungsminister überstand den Ärger um das Milliardenprojekt unangekratzt. Gaschke, die weder über eine juristische noch über eine Verwaltungsausbildung verfügt, stellte sich trotzdem vor ihre Mitarbeiter. Sie übernahm die ganze politische Verantwortung. Der Beobachter fragt sich: „Muss eine Oberbürgermeisterin eigentlich so viel Expertise haben, dass sie sich in jedes Detail einarbeiten muss?“ Das ist keine Susanne-Gaschke-, sondern eine demokratietheoretische Frage. Es wäre eine Frage gewesen, die man vielleicht nicht in den Kieler Nachrichten, wohl aber in den überregionalen Medien einmal hätte diskutieren können.
Waren also die Medien Schuld an Gaschkes Fall? Nein, eine „Hetzkampagne“ gab es nicht. Eine wirkliche Debatte aber auch nicht. Den Kieler Sumpf aufzuarbeiten, bleibt wohl die Aufgabe der Wissenschaft.
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Süddeutsche Zeitung, 29. Oktober 2013
Nordische Kombination Eine sehr ehrgeizige Seiteneinsteigerin, eine Fehlentscheidung – und ein Politikbetrieb, der das Fürchten lehrt: In Kiel gibt die Oberbürgermeisterin Susanne Gaschke entnervt auf. Über ein Experiment, das krachend scheiterte Von Charlotte Parnack
Wann war eigentlich der Zeitpunkt, an dem sich diese Geschichte selbst überholte? An dem sie Schwung nahm und in Fahrt kam, so rasend, dass sie den Menschen, von denen sie erzählt, aus den Händen glitt und nicht mehr zu halten war? Wann war der Zeitpunkt, an dem die Geschichte taktlos wurde, weil nicht mehr Vernunft und Verstand ihren Takt dirigierten, sondern Kränkun-gen und Verletzungen, Eitelkeit, Hysterie, Rechthaberei? Es kam jedenfalls der Zeitpunkt, da fügte sich auch noch das Pech dazu und, man muss es wohl so sagen, ein wenig Naivität.
Spätestens da war klar, dass diese Geschichte eine Geschichte vom Scheitern werden würde. Susanne Gaschke, die Oberbürgermeisterin von Kiel, sieht bleich aus, als sie am Montagmittag vor die Mikrofone tritt. Sie setzt ihre Brille auf, liest mit fester Stimme: „Meine Damen und Her-ren, Sie können sich vorstellen, dass keine leichte Zeit hinter mir liegt.“ Es fallen dann Worte wie „Hetzjagd“ und „Fassungslosigkeit“, „Vertrauen“ und „Verständnis“. Es ist erst der Anfang, aber es ist von Anfang an beklemmend. Dann holt Susanne Gaschke Luft, als müsse sie Anlauf nehmen, um die folgenden Sätze auszusprechen: „Ich kann die politischen, persönlichen und medialen Angriffe, denen ich seit mehr als neun Wochen ausgesetzt bin, nicht länger ertragen. Und ich kann nicht länger zulassen, dass meine Familie und meine Freunde sie mit mir ertragen müssen“, sagt sie. „Deshalb trete ich heute von meinem Amt als Oberbürgermeisterin zurück.“
Ein Experiment ist gescheitert. Wegen eines Steuer-Vergleichs, bei dem Gaschke einem Steuer-schuldner Ausstände in Millionenhöhe erlassen hat. Das war, wie man heute weiß, ein Fehler. Das war aber nichts, was unter normalen Umständen außerhalb Kiels eine Meldung wert gewe-sen wäre. Doch es ging im Fall Gaschke eben nie nur um Tagespolitik. Es ging auch immer um das Experiment, über das viele Beobachter jetzt von Anfang an gewusst haben wollen, dass es scheitern würde und scheitern musste. Das macht Gaschkes Fall so bitter: Dass er nicht nur von einer schleswig-holsteinischen Lokalposse erzählt. Sondern von der Schwierigkeit des Seitenein-stiegs ins politische Geschäft. Vielleicht, in diesem Fall, sogar von der Unmöglichkeit.
Drei Tage vor dem Rücktritt, ein verregneter Freitag in Kiel, eine Altbauwohnung voller Bücher. Unten, vor der Tür, war man noch einem Bekannten in die Arme gelaufen, und natürlich kam sofort die Frage, was man in Kiel, in dieser Straße suche, und ob hier nicht die Oberbürgermeis-terin wohne? Das wisse er, der Bekannte, weil das Haus, in dem sie lebe, seinem früheren Arzt gehöre, der das mal seiner Frau erzählt habe, die dort ebenfalls Patientin war. Das ist Kiel: klein, verknotet. Auch das hat viel mit dieser Geschichte zu tun.
Susanne Gaschke hat seit Tagen kaum das Haus verlassen, sie ist wegen eines Rückenleidens krankgeschrieben. Auf dem Höhepunkt der Affäre war ihr auch noch ein Muskel im rechten Oberschenkel gerissen – man kann sich ungefähr vorstellen, unter welcher Spannung sie stand. Inzwischen läuft sie wieder aufrecht, die Augen sind nicht mehr rot, die Bewegungen weniger fahrig. Susanne Gaschke hat Tee gekocht, stellt die bauchige Kanne auf den Tisch, neben einen Stapel Zettel. Sie hat alles kopiert und archiviert, was in den vergangenen Tagen über sie ge-schrieben wurde, und so groß wie der Stapel ist, darf man annehmen, dass sie in den zurücklie-genden neun Wochen mehr Schlagzeilen produziert hat als in den 15 Jahren davor. Bevor Susan-ne Gaschke im Dezember 2012 für die SPD Oberbürgermeisterin ihrer Heimatstadt Kiel wurde,
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war sie Redakteurin der Wochenzeitung Die Zeit. Bis dahin waren ihre Geschichten von Ver-nunft und Verstand geprägt. Manchmal auch von scharfen Urteilen, über Politiker zumal. Dann, mit 45 Jahren, wechselte sie die Seiten. „Mir ging die ewige Schiedsrichterei im Journa-lismus auf die Nerven, dieses Daumen hoch, Daumen runter“, sagt sie. Umgekehrt nervte sie in der Politik die „Plastiksprache“, wie sie das nennt. „Ich bin gegen die Verschwendung von öf-fentlicher Rede. Ich will den Leuten nicht belanglose Phrasen erzählen. Ich muss immer einen eigenen Gedanken mitbringen, zuhören, zeigen: Ich nehme euch ernst. Ich bin kein gepanzerter Politikertyp, der jede Entscheidung ins nächste Gremium vertagt“, sagt sie. Dagegen ist nichts zu sagen. „Politiker“ ist keine geschützte Marke, jeder kann sich dazu berufen fühlen. Aber so einfach ist es eben nicht. Der Kolumnist Jan Fleischhauer – auf Spiegel Online für Angriffe von rechts zuständig – verspottete Gaschke für ihren „Manufactum-Blick auf die Welt“, und stellte ohne Bange vor Schadenfreude die Gehässigkeit in den Raum: „Wo Gaschke herkommt, glaubt man fest daran, dass es nur ein wenig guten Willen braucht, damit sich die Dinge zum Besseren wenden.“ Die Kieler Nachrichten attestierten Gaschke die „Unfähigkeit, eigene Grenzen zu erkennen“. Und die Politiker in Kiel zeigten ihr: Es geht nicht, mal eben von irgendwoher quer in die Politik zu springen. Es geht nicht, mit einem neuen Stil alles durchei-nanderbringen zu wollen. Aber warum eigentlich nicht?
Das ist neben der Suche nach Susanne Gaschkes gravierenden Fehlern beim Krisenmanagement eine der Fragen, die nach ihrem Rücktritt bleibt: Wer sich noch trauen soll, als Seiteneinsteiger in die Politik zu wechseln. Wer sich das zumuten will: die Politik mit Leben zu füllen. Susanne Gaschke blättert in dem Papierstapel. Sie zieht eine Chronologie heraus, in der sie die Ereignisse bis ins Kleinste zusammengefasst hat. Als könnte sie auf diese Weise nachträglich Ordnung in das Chaos bringen, das damals, am 21. Juni über sie hineinbrach.
Am 21. Juni hat Susanne Gaschke eine Eilentscheidung unterschrieben, ohne die Ratsversamm-lung in den Schritt einzubeziehen: Sie erließ einem Steuerschuldner 3,7 Millionen Euro Zinsen und Säumniszuschläge, im Gegenzug verpflichtete der sich, 4,1 Millionen Euro zu bezahlen, die er der Stadt seit den Neunzigerjahren schuldete. Es ist längst klar, dass diese Entscheidung ein Fehler war, darüber wurde viel geschrieben. Worüber weniger geschrieben wurde, ist ein Antrag der Kieler CDU vom 22. August – Susanne Gaschke tippt mit dem Stift auf das Datum in ihrer Chronologie. An diesem 22. August stellte die CDU in der Ratsversammlung den Antrag, die Eilentscheidung aufzuheben. Aber, das belegt eine öffentliche Drucksache: Die SPD, die Grünen und der SSW lehnten den Antrag ab. Sie stellten sich also hinter die Sache, für die Susanne Gaschke später so heftig attackiert wurde – auch aus den Reihen von SPD, Grünen und SSW. Aber wie lange ging es überhaupt um die Sache? Montag, kurz nach zwölf, im Kieler Rathaus. Die Kameras klicken. Die Oberbürgermeisterin verzieht keine Miene. „Eine Verwaltungsentscheidung, die meine Unterschrift trägt, hat sich in einer Weise zum Gegenstand politischer, persönlicher und medialer Skandalisierung ausgewach-sen, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte“, sagt sie. Daran ist sie auch selbst schuld – nicht nur die „testosterongesteuerten Politik- und Medientypen, die unseren Politikbetrieb prägen und deuten“, von denen Gaschke in ihrer Rede spricht. Das muss wohl so sein, wenn Frauen Mist bauen: dass die Schuld beim bösen, bösen Testosteron liegt.
Tatsächlich ist Schleswig-Holstein ein Bundesland, in dem Affären und öffentliche Flegelhaf-tigkeit Tradition haben – und über dessen politische Kultur selbst langjährige Mitarbeiter der Staatskanzlei sagen: „Schweigen oder hauen: Das können wir am besten.“ Im Fall Gaschke ver-legten sich alle Parteien aufs Hauen. Alle. Auch Susanne Gaschke. „Hass begegnet mir in manchen Äußerungen der Parteipolitik dieses Rathauses. Hass begegnet mir im Verhalten von manchen Funktionären der Landesregierung“, sagt sie in ihrer Rücktritts-
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rede am Montag. Dann wendet sie sich an einen anwesenden Redakteur : „Hass begegnet mir – und dies, sehr geehrter Herr Kramer, ist eine Meinungsäußerung –, wenn ich die Kieler Nach-richten aufschlage. Lesen Sie selbst noch einmal Ihre Kommentare!“ Sie haut noch einmal rich-tig drauf, in großer Runde. Auch darauf versteht sie sich. Als sich im August abzeichnet, dass die Eilentscheidung wohl ein Fehler war und die CDU die Sache sofort nach Kräften ausweidet, hält Gaschke in der Ratsversammlung eine hochemotionale Rede, sie greift auch Abgeordnete persönlich an: „Bei dem Vater einer unserer CDU-Ratsherren habe ich als Kind auf dem Schoß gesessen. Glauben Sie, er hätte das, was hier mit mir versucht wird, in Ordnung gefunden?“, ruft sie. Es ist Bundestags-Wahlkampf, der Lapsus einer SPD-Frau in der Landeshauptstadt kommt der Opposition gelegen – zumal diese SPD-Frau mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten für Kiel verheiratet ist, Hans-Peter Bartels.
Die Geschichte nimmt Schwung auf. Als kurz darauf das Innenministerium erklärt, Gaschkes Eilentscheidung sei zumindest in Teilen falsch gewesen, greift sie den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein an, Torsten Albig, der vor ihr Oberbürgermeister in Kiel war: Albig habe in das Prüfverfahren persönlich eingegriffen. Sie könne das mit einer SMS belegen. Die Geschichte kommt ins Rasen. Albig sagt, er habe nur Tipps gegeben – und veröffentlicht die SMS, bevor Gaschke das tut. Die wiederum spricht von „alten Rechnungen“ und „Intrigen“. Die Geschichte überholt sich selbst.
Der SPD-Innenminister Andreas Breitner wirft Gaschke und ihrem Mann Hans-Peter Bartels Nötigung vor. Gaschke sagt gar nichts mehr, dafür der Generalstaatsanwalt. Dann der General-bundesanwalt. Dann beantragt die FDP in der Ratsversammlung die Einleitung eines Abwahlver-fahrens gegen die Oberbürgermeisterin. Dann leitet die Staatsanwaltschaft Kiel ein Untreuever-fahren gegen Gaschke ein. Die lässt mitteilen, das sehe sie gelassen. Gaschke und gelassen. Aus-gerechnet.
Und dann tritt sie zurück. Am Abend vor ihrem Rücktritt wirkt Susanne Gaschke gelöst, „schon fast ein freier Mensch“, sagt sie am Telefon. Dabei wird sie in wenigen Stunden schon fast zu frei sein. Ohne Job, ohne festes Einkommen, ohne Pensionsansprüche. Dass sie sich eine Rückkehroption zur Zeit ausge-handelt hat, ist ein Gerücht, das sich hält. Aber es gibt kein Zurück. Es ist auch nicht klar, bei welchem Medium eine Journalistin mit einer Geschichte wie der von Susanne Gaschke wieder anfangen könnte. „Aber irgendwas Richtung Schreiben, Publizistik wird wohl gehen. Da bin ich hoffnungsvoll“, sagt Susanne Gaschke. „Ich habe ja einen Beruf gelernt.“
Wahrscheinlich ist das das Problem: Dass sie diesen alten Beruf nie wirklich aufgegeben hat im neuen Beruf. Die ewige Schiedsrichterei, das Daumen hoch, Daumen runter. Eine Journalistin kann sich so etwas leisten: inmitten einer Affäre mit dem Finger auf andere zeigen. Vorwürfe laut aussprechen, Aufklärung fordern, ohne Rücksicht auf politische Hierarchien. Eine Journalis-tin kann Fragen nach der Verantwortung von Amtsvorgängern stellen. Sie kann über Borniertheit klagen, über Kleingeist, über das Herdenverhalten von Parteifreunden, die ihr Gerechtigkeits-empfinden nach der Macht ausrichten wie Büroklammern nach einem Magneten. Aber eine Poli-tikerin hätte vielleicht den Mund gehalten. Hätte Bündnisse geschmiedet.
„Ich habe viele Menschen kennen gelernt, hier im Rathaus, aber auch in ganz anderen Lebensbe-reichen, die sich ebenso sehr wünschen wie ich, dass das alte, kleinkarierte, bornierte und am eigenen Vorteil interessierte Machtspiel aufhört“, sagt Susanne Gaschke in ihrer Rücktrittsrede. Sie will recht haben, sich wehren, bis zum Schluss. Als wollte sie noch einmal zeigen, wie tief der Gegensatz ist zwischen ihrem Stil und dem, den ihr Amt ihr abverlangen wollte. So tief, dass
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irgendwann die Gegensätze die Geschichte vorantrieben und die Menschen die Kontrolle darüber verloren. „Auch wenn ich mit meinem Versuch gescheitert bin – wir werden weitermachen müssen. Denn ganz genauso bleiben, wie es ist, darf es nicht“, sagt Susanne Gaschke zuletzt. Die Stimme wird ein bisschen schwach, im Saal räuspern sich erste Journalisten, trotzdem schiebt sie noch ein „Vielen Dank“ hinterher, wofür auch immer. Dann verlässt sie die Bühne, fluchtartig, sie beant-wortet keine Fragen mehr. Ein Experiment ist gescheitert. Es hatte mal so leicht ausgesehen. Von außen.
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Freitag, 11. März 2016, 19.30 Uhr
Von Recht und Unrecht. Der Fall Wulff. Gernot Lehr im Gespräch mit Sarah Tacke Wann überschreitet die Berichterstattung über eine Person rechtliche Grenzen? Und wann mo-‐ralische? Gernot Lehr ist ein erfahrener Medienrechtler und Partner in der Kanzlei Redeker Sellner Dahs. Er hat zahlreiche Prominente vertreten – neben Johannes Rau auch den damali-‐gen Bundespräsidenten Christian Wulff, als dieser mit einer Lawine an Vorwürfen konfrontiert wurde. Zahlreiche der Journalistenfragen an Wulff ließ Lehr im Internet veröffentlichen. Ein Gespräch über Krisenmanagement. Die veröffentlichen Journalistenanfragen an Christian Wulff: https://www.redeker.de/fragen-‐und-‐antworten-‐zu-‐christian-‐wulff.html
Gernot Lehr
Rechtsanwalt
Geboren 1957 in Bonn. Studium der Rechtswissenschaften und Volkswirtschaft in Bonn und München. 1982 erstes, 1986 zweites juristisches Staatsexamen. Von 1981 bis 1985 Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kirchenrecht und öffentliches Recht der Universität Bonn, Prof. Dr. Schlaich. 1986 Mitarbeit im Justiziariat einer Rundfunkanstalt. 1987 Eintritt in die Anwaltskanzlei. Vor-‐standsmitglied des Studienkreises für Presserecht und Pressefreiheit, Stuttgart; Vorstandsmit-‐glied des Instituts für Europäisches Medienrecht, Saarbrücken; Berater der Publizistischen Kom-‐mission der Deutschen Bischofskonferenz; Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Geistiges Eigentum und Medien im Deutschen Anwaltverein e.V., Lehrbeauftragter für Medienrecht an der Univer-‐sität Bonn. Veröffentlichungen zum Rundfunk-‐, Presse-‐ und Glücksspielrecht. Mitherausgeber der Zeitschrift Archiv für Presserecht. Presse-‐ und Äußerungsrecht, Rundfunkrecht, Recht der neuen Medien, Urheberrecht, Glücksspielrecht, Medienverfassungsrecht.
Dr. Sarah Tacke
ZDF, stv. Leiterin der Redaktion Recht und Justiz
Dr. Sarah Tacke ist stellvertretende Leiterin der Redaktion Recht und Justiz des ZDF und mode-‐riert das Wirtschafts-‐ und Verbrauchermagazin WISO. Als Justizpolitische Korrespondentin be-‐richtet sie über Entscheidungen der obersten Bundesgerichte und gibt im ZDF rechtliche Ein-‐schätzungen zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Bis August 2014 berichtete sie als ARD-‐Inlandskorrespondentin aus Niedersachsen vier Jahre für alle aktuellen ARD-‐Sendungen wie Tagesschau und Tagesthemen. Im NDR Fernsehen moderierte Dr. Sarah Tacke verschiedene Nachrichten-‐Sendungen, zuletzt Hallo Niedersachsen und NDR Aktuell 21:45. Dr. Sarah Tacke ist promovierte Juristin. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über das Medienpersönlich-‐keitsrecht. Dafür erhielt sie Stipendien der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Stif-‐tung der Deutschen Wirtschaft. Sie ist Autorin im Hamburger Kommentar zum gesamten Medi-‐enrecht. Von 2008 bis 2010 volontierte sie beim NDR.
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Die Zeit, 12. Juni 2014
Medien als Folterwerkzeug PEER STEINBRÜCK rezensiert das Buch von Christian Wulff: Die Skandalisierer werden selbst zum Skandal
Sicher hat Christian Wulff im Verlauf seines Dramas Fehler begangen. Einige Personen sind der Auffassung, dass diese Fehler allein seinen Rücktritt rechtfertigen. Der Autor des Buches Ganz oben Ganz unten, das es hier zu besprechen gilt, ist aber unschuldig. Nichts von dem, was ihm medial vorgeworfen und juristisch ins Feld geführt worden ist, hat Bestand. Er muss sich weder verteidigen noch rechtfertigen. Er möchte uns seine Sicht auf eine Affäre schildern, die zu Un-recht mit seinem Namen verknüpft wird. Natürlich berichtet er subjektiv und bewegt sich auf dem weiten Feld der freien Meinungsäußerung. Was denn sonst? Seine Geschichte über Anmaßungen von Medien und Justiz, journalistisches Jagdfieber und Ru-delverhalten, die Beschädigung einer öffentlichen Person im höchsten Staatsamt, Manipulation und Indiskretionen, sogar Rechtsbeugungen, Denunziationen und Nötigung – die schreckt für-wahr auf. Wulffs Buch eröffnet einen Perspektivwechsel, in dessen Licht die Skandalisierer selbst zum Skandal werden.
In dieser Geschichte finden sich nicht wenige, denen jede Selbstkontrolle, der Sinn für Verhält-nismäßigkeit und die Achtung vor Rechtsprinzipien abhandengekommen sind. Die Spiegel- Af-färe vor über 50 Jahren war schlechthin der Skandal der Politik im Umgang mit einem kritischen Journalismus und der Pressefreiheit.
Jetzt ist es umgekehrt. Mit einem gewissen Abstand stellen sich der »Abschuss« und die Entwürdigung von Christian Wulff als Skandal eines gewalttätigen Journalismus im Umgang mit einem Politiker dar. Im Fal-le Wulff wurde aus der scharfen Klinge der Meinungsfreiheit ein Folterwerkzeug.
Nun gab es nicht nur Jäger und Treiber, Mitläufer und Informanten, Talkmaster und Schlachten-bummler, die an der politischen und persönlichen Verfolgung und Zurschaustellung von Christi-an Wulff beteiligt waren. Mich selbst und meine politischen Logenmitglieder will ich gar nicht übergehen: all jene im politischen Parkett, denen entweder die Aufführung einer Machtprobe verborgen blieb oder denen das Schauspiel zwar absurd, demütigend und vielleicht sogar wider-wärtig erschien, die aber sprachlos die Regisseure wie die voreingenommenen Kritiker gewähren ließen. Es beschämt mich, dass ich den richtigen Zeitpunkt für eine Geste gegenüber Christian Wulff verpasst habe.
Diese – von wenigen Ausnahmen abgesehen – erstaunlich passive Rolle der politischen Klasse angesichts der Demontage eines ihrer Repräsentanten verblüfft nach wie vor. Nach ersten Mel-dungen über die Finanzierung seines Hauskaufes wurde Wulff in ein wirkungsmächtiges Schema des Schnäppchenjägers, Bonus-Präsidenten, Tollpatsches und Koofmichs gepresst und zum Op-fer erkoren. Frühe Sticheleien vom Beginn seiner Amtszeit steigerten sich zu Hieben gegen seine Amtsführung und persönliche Integrität. In einer »stillschweigenden Verabredung« einiger Me-dien (Bild, FAZ und Spiegel nennt Wulff dabei immer wieder) ging es schließlich nicht mehr um das »Ob«, sondern nur noch um das »Wann« seines Rücktritts.
Nun mag die politische Klasse – ebenso wie das breite Publikum – keine prädestinierten Opfer, weil sich viele selbst bedroht fühlen oder eine Ansteckung befürchten. Deshalb hält sich die Courage, sich mit ihnen zu solidarisieren, in sehr engen Grenzen. Wenn die angerührte Skandali-sierung im Mahlstrom sich überschlagender und selbst fütternder Nachrichten, leckermäuliger Talkshows, empörter Internet-Blogs und feilgebotener Gerüchte dann Wirkungsmacht entfaltet, wenn jeder Satz und jede Bewegung darauf abgeklopft werden, ob sie als Fauxpas oder Fettnäpf-
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chen ausgebeutet werden könnten, dann öffnet sich ein Trichter, in dem der Hauptdarsteller des vermeintlichen Skandals mit zunehmender Geschwindigkeit abwärts gerissen wird. Dabei will ihm keiner beistehen und ihn schon gar nicht begleiten. Das hat Christian Wulff selbst im höchs-ten Staatsamt leidvoll erfahren. In geringerem Maße habe ich verwandte Erfahrungen gesammelt. Ein unvergessenes Beispiel journalistischer Arglist waren die Andeutungen des Chefredakteurs der Welt und WamS wenige Wochen vor der Bundestagswahl, ich könnte mich der Stasi oder sogar dem KGB hingegeben haben. Ich habe mich deshalb gefragt, ob eine Besprechung des Buches von Christian Wulff nicht als dreister Vergleich oder als Betroffenheitsarie missverstanden werden könnte. Wenn ich dieses Risiko in Kauf nehme, dann weil dieses Buch der verbreiteten Lesart der »Wulff-Affäre« die Inszenierung ebendieser Affäre gegenüberstellt und zentrale Fragen über die Person Wulffs hinaus aufwirft. Ein Schlaglicht auf den anmaßenden, selbstgerechten, rüden Journalismus
Rechtfertigt der Zweck einer kritischen und aufklärenden Berichterstattung Mittel, die rück-sichtslos die Würde einer Person des öffentlichen Lebens beschädigen? Wenn die Politik und ihre Protagonisten zu Recht der Kontrolle durch eine freie Presse unterliegen und jedwede Kon-trolle über die Presse außer Frage steht, wie ist es dann um die Selbstkontrolle der Medien be-stellt? Wer diktiert die politischen Bedingungen für Rücktritte in Deutschland? »Mächtige Medi-en vertreten längst den Anspruch, Politik nicht nur zu begleiten und zu kommentieren, sondern selbst Politik zu gestalten und zu bestimmen«, schreibt Wulff. Das ist der über die Geschichte seiner persönlichen Demütigung hinausgehende Kern seines Bu-ches. Bereits weit vor meiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten der SPD beschäftigte mich öffentlich ebenfalls die Vorstellung, dass die Medien mit ihrer Deutungsmacht und ihren Unter-haltungsangeboten eines Tages die Politik ablösen könnten. Die Geschichte, die Christian Wulff erzählt, ist ein Lehrstück darüber, dass im Verhältnis zwischen Politik und Medien und auch Justiz etwas mächtig aus dem Gleichgewicht geraten ist. Das tut unserer Demokratie nicht gut. In Rückbetrachtung der »Wulff-Affäre« ist es deshalb an der Zeit, ein Schlaglicht auf den anma-ßenden, selbstgerechten und rüden Teil des Journalismus zu werfen, ohne dass die namentlich von Wulff genannten Vertreter und Organe dieser Branche dies – in einer Empfindlichkeit, die umgekehrt proportional zu ihrer Fähigkeit des Austeilens steht – als eine Attacke auf die Presse-freiheit und den investigativen Journalismus umdeuten können. Es ist nicht weniger erlaubt, das Vorgehen der niedersächsischen Justiz gegen Wulff massiv infrage zu stellen, ohne dass deshalb die Unabhängigkeit der Justiz infrage gestellt wird.
Natürlich lesen wir die Version von Christian Wulff. Aber er kann seine Sicht offenbar so fest untermauern, dass die damaligen Schlagzeilen von Bild, FAZ und Spiegel auf ihre Wortführer und deren Rudel im Schlepptau zurückschlagen. Wulffs Version verliert auch dadurch nicht an Durchschlagskraft, dass seine eigenen Fehler als Bagatellen erscheinen und sein Selbstbild sehr pastellfarben ausfällt. Weniger Ausflüge in die Geschichte seiner persönlichen Verdienste und in die Tiefen seiner Motive hätten der Glaubwürdigkeit seines Buchs nichts genommen. Politisches Lagerdenken sei ihm fremd, schreibt er. Im Umgang mit Bundespräsident Rau wie auch mit Vorgängern im Amt des Ministerpräsidenten trug er keineswegs immer Glacéhandschuhe (was er heute bedauert). Den Irrtum, dass er nach seiner Wahl dem Medienzirkus entkommen würde, weil sich der Bun-despräsident auf neutralem Terrain bewege, legt er offen. Tatsächlich unterlag er wohl der fun-damentalen Fehleinschätzung, er könne seine Liaison mit Bild steuern, die er zur kontrollierten Berichterstattung über Veränderungen in seinem Privatleben und wohlwollenden Begleitung als Politiker eingegangen war. Im »Nahverhältnis« zu Bild gibt es aber keine einseitigen Kündigun-gen.
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Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass Christian Wulff in der Begleitung und im Glanz seiner zweiten Ehefrau zu distanzlos die Nähe zu »den Schönen und Reichen« und den Spiegel in den Gazetten gesucht hat. Diese Distanzlosigkeiten wie auch manche kommunikativen Schnitzer mag man kritisieren. Aber dann bitte auch die Kleinkariertheit und Missgunst, mit der Gastfreundschaft und Großzügigkeit flugs in Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung umge-münzt werden (auf Seite 212 des Buches werden einmal die »Großzügigkeiten« aufgelistet, die deutschen Journalisten aufgrund ihres Berufsstandes gewährt werden). Wulffs Selbstbefragung fällt etwas knapp aus. Aber an der Wucht seines Buches und seines Impulses zur Gewissenser-forschung über das Verhältnis von Politik und Medien sowie zwischen Medien und Justiz ändert dies nichts. Man merkt Wulff an, wie sehr ihn die Kategorisierung als klassischer Vertreter des Parteiensys-tems von Anbeginn seiner Kandidatur im Juni 2010 – gegen den freiheitlich gesinnten Joachim Gauck als Vertreter des Volkes – bis hinein in seine Präsidentschaft verletzt hat. Sein Buch zeigt, mit welchen Ambitionen er damals ins Schloss Bellevue einzog. Seine Reden zur Banken- und Finanzkrise, zur Verschuldung der Staaten oder zur Bringschuld der Politik, sich verständlich zu erklären, sind im Lärm der Jagdhörner untergegangen. Banal waren sie durchaus nicht. Sein zentrales Anliegen waren der gesellschaftliche Zusammenhalt, die innere Friedfertigkeit einer hoch ausdifferenzierten Gesellschaft, das Integrationsangebot einer Einwanderungsgesellschaft. Und damit beginnt es! Abgesehen von der auch in bürgerlich-konservativen Kreisen und in eini-gen Medienhäusern verbreiteten Präferenz für seinen Gegenkandidaten Joachim Gauck, war sein Plädoyer für die Einwanderung wohl das Lindenblatt, auf das sich dann die Speere richteten und in deren Abwehr sich Christian Wulff verhedderte. Er betrat mit seinem Bild von der »bunten Republik Deutschland« (in seiner Antrittsrede im Juli 2010) mit einem Bein und dann mit dem Satz »Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland« (in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010) mit beiden Beinen die Beete hochgradiger Empfind-lichkeit. Und zwar all derjenigen, die mit der Unübersichtlichkeit einer zunehmend pluralisti-schen Gesellschaft hadern, die Wulffs Standpunkt im Gegensatz zur »Volksmeinung« sahen und die das christliche Abendland in einem Abwehrkampf gegen einen totalitären Anspruch des Is-lams vermuten. Bild: »Warum hofieren Sie den Islam so, Herr Präsident?«
Was folgte, war zunächst Geplänkel – bis die erste Welle anbrandete. Es waren dann drei Wel-len, die in einem »kollusiven Zusammenwirken«, wie es in der Juristensprache heißt, den Damm vor dem Präsidialamt zerschlugen und Christian Wulff hinfortspülten. Die erste Welle wurde über den privaten Hauskredit angehoben, die zweite Welle über den Anruf auf der Mailbox des Bild- Chefredakteurs, und die dritte Welle folgte mit der Bild- Schlagzeile Vertuschungs-Verdacht. Wer zahlte Wulffs Sylt-Urlaub? «.
Während er die Hauskredit-Welle noch abreiten konnte – und diese später völlig versandete –, gelang es durch die medial geschickt inszenierte Verbreitung von Gerüchten über seine Mailbox-Nachricht, Wulff als durchgeknalltes Staatsoberhaupt darzustellen, das die Pressefreiheit unter-drücken wollte – nach dem Motto: »Staatsoberhaupt greift nach der Pressefreiheit! Schützt Bild.« Natürlich war sein Anruf samt Mailbox-Nachricht ein Fehler. Er hatte sich vor Widersachern entblößt, und die konnten dieses peinliche Bild nun nach Belieben herumzeigen. Aber was lag eigentlich gegen ihn vor im Sinne eines krassen politischen Fehlverhaltens oder sogar eines straf-rechtlich relevanten Vergehens, das eine derartige mediale und schließlich juristische Verfolgung rechtfertigte?
Das musste erst noch arrangiert werden. Die Sylt-Welle schlug hoch. Es wurde manipulativ der Eindruck erweckt, der Filmfonds-Manager und Freund David Groenewold habe in einem Sylter Hotel Beweismaterial, das Wulff belasten könnte, vernichtet. Dieser Vertuschungsversuch wurde – so Christian Wulff – wider besseres Wissen von Bild- Redakteuren konstruiert, um die Staats-anwaltschaft anzuspornen, einen Anfangsverdacht zu bejahen, und sie damit zum Handeln zu
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bewegen. Wulff spricht in diesem Zusammenhang von einem Komplott – und in der Tat liest sich dieses vorletzte Kapitel seines Buches, Die letzte Kugel, wie ein Politthriller. Bis heute kann sich das Sylter Hotel nicht erklären, wie die Groenewold und Wulff inkriminierende, höchst du-biose Notiz den Weg in die internen Hotelunterlagen gefunden hat. Es wird deutlich, dass dieser Bild- Artikel mit der »Mär von der angeblich drohenden Vernich-tung von Beweismitteln« klar kalkuliert die Staatsanwaltschaft zum Einschreiten veranlassen sollte. Das gelang. In einer geradezu verblüffenden Offenheit gesteht der zuständige General-staatsanwalt im April 2013, dass der Artikel in der Tat der Grund für die Eröffnung eines Ermitt-lungsverfahrens war. Als die Staatsanwaltschaft dann am 16. Februar 2012 beim Bundestagsprä-sidenten einen Antrag auf Aufhebung der Immunität stellte, wovon zuerst und noch vor (!) dem Betroffenen selbst die Bild- Zeitung Kenntnis erhielt, war das Schicksal von Christian Wulff besiegelt. Einen Tag später trat er zurück. Erst fütterten die Zeitungen die Justiz, dann fütterte die Justiz die Zeitungen
Die Staatsanwaltschaft stellte diesen Antrag, obwohl Wulffs Anwälte bereits am 12. Februar 2012 in einem Schreiben alle Einzelheiten zum Sylt-Aufenthalt samt allen Zahlungsmodalitäten erläutert hatten und obwohl zwei Tage später eine einstweilige Verfügung des Landgerichts Köln ergangen war, die es dem Springer-Verlag untersagte, die auf einen Vertuschungsversuch zielen-den Behauptungen von Bild weiter zu verbreiten. Wieso die Staatsanwaltschaft dies unberück-sichtigt ließ, erklärt Wulff atemberaubend mit politischen Kabalen und einer Triebfeder an der damaligen Spitze des niedersächsischen Justizministeriums. Fünf Monate später erkannte der Springer-Verlag die einstweilige Verfügung in allen acht Punkten rechtskräftig an. Aber da war das Wild bereits erlegt und erledigt. Auf den Skandalexzess der Medien folgte der »Ermittlungsexzess« der Justiz (Heribert Prantl). Vier Staatsanwälte und 20 Kriminalbeamte drehten 14 Monate lang wegen einer angeblichen Vorteilsannahme – die nach acht Gerichtstagen auf lächerliche 140 Euro abmagern würde – je-den Stein um und produzierten 30 000 Blatt allein in den Hauptakten. Als Steuerzahler platzt einem der Kragen über diesen unverhältnismäßigen Aufwand. Als Staatsbürger folgt man ent-setzt den Hinweisen auf Rechtsbeugungen im Zuge der Ermittlungen. Als Mitmensch packt ei-nen der heilige Zorn über die Kränkungen, die der Familie Wulff und – über die Kompromittie-rungen – ihrem Umfeld angetan wurden. Die einzige Passage des Buches, die für Heiterkeit sor-gen könnte, weil so grotesk, ist jene über einen Kriminalbeamten, der Frau Wulff der Unwahr-heit überführt zu haben glaubte, weil er das von ihr verzehrte Chateaubriand für einen Rotwein hielt, während sie doch ausgesagt hatte, dass sie als stillende Mutter keinen Alkohol getrunken habe. Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende. »Das einvernehmliche Verhältnis zwischen Staats-anwaltschaft und Presse, das meinen Rücktritt herbeigeführt hat, funktionierte auch über den Tag meines Rücktritts hinaus unverändert gut. Nur war es jetzt andersherum: Jetzt fütterten die Zei-tungen nicht mehr die Justiz, jetzt fütterte die Justiz die Zeitungen«, schreibt Wulff und liefert Beispiele für Denunziationen. Diese Wortwahl ist keine Übertreibung, ebenso wenig wie Nöti-gung, wenn Wulff die Durchstechereien auch aus der Niedersächsischen Staatskanzlei an den Spiegel aufdeckt. Er fährt später fort: »Es war ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Dafür, dass zahlreiche Medien der Staatsanwaltschaft aktive Hilfestellung boten, revanchierte sich diese mit pikanten Details aus den laufenden Ermittlungen.« Die Bedenkenlosigkeit, mit der privateste Details aus laufenden Ermittlungen widerrechtlich feilgeboten wurden, ist ein weiterer Grund, sich zu entrüsten. Wie immer die Bewertungen über Christian Wulffs Sicht auf seinen Fall ausfallen mögen, insbe-sondere von denjenigen, die sonst gleißende Scheinwerfer auf andere zu richten wissen, aber nun selbst in einem dubiosen Licht erscheinen: Sein Buch liefert reichlich Stoff, einige Fragen von
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existenzieller Bedeutung für unsere Demokratie aufzugreifen. Das Verhältnis von Politik und Medien ist in einem kritischen Dialog neu zu justieren, ohne dass eine freie Presse sich darüber in ihrer kontrollierenden und aufklärenden Funktion beeinträchtigt fühlt. Sie hat sich umgekehrt mit der Frage zu beschäftigen, wer noch in die Politik gehen und damit in einem Kommunal-, Landes- oder Bundesparlament für unser Gemeinwesen eintreten und Verantwortung überneh-men soll, wenn er oder sie maßlosen Empörungsspiralen ausgesetzt wird und sich bis in privates-te Angelegenheiten entblättert sieht. Irgendwann gilt dann: Wer in die Politik geht, ist entweder das Produkt einer Negativauslese oder ein (mehr oder weniger) heroisches Opfer zukünftiger Intrigen oder Skandale. Was heißt das auf Dauer für unsere demokratische Substanz?
Unter dem Druck des Wettbewerbs um Auflage, Quote und Klicks, im Hochgeschwindigkeits-journalismus um die erste und süffigste Nachricht, in der Tendenz zur Personalisierung und Re-duzierung von Politik auf Duellsituationen haben wir es gewiss mit anderen Zeiten zu tun als jener, in der es nur zwei öffentliche Fernsehanstalten, kein Internet, keine Onlinedienste und kein Twitter gab. Aber das ist keine Rechtfertigung dafür, dass »unter dem Mantel der journalisti-schen Aufklärungspflicht Regeln von Moral und Anstand massiv verletzt« werden, wie Wulff schreibt. In der Politik gibt es Fehler und Fehlbesetzungen. Aber das ist kein Grund für die An-maßung einiger Journalisten, Personalpolitik machen zu wollen und einem breiten Publikum ihre persönlichen Charakterbenotungen und Psychogramme von Politikern als Leitfaden auszulegen. Nicht zuletzt wirft das Wulff-Buch die Frage nach der konspirativen Willfährigkeit von Behör-den im Zusammenwirken mit Medien auf. Die Verbohrtheit einer Staatsanwaltschaft, die den kardinalen Anfangsfehler, auf den Flügeln einer Medienberichterstattung in ein Ermittlungsver-fahren gegen die höchste Amtsperson der Republik gesegelt zu sein, durch besonderen Eifer zu überspielen versucht, steht auf einem Extrablatt. Das hat einen Hauch von Fanatismus nach dem Motto: Findest du keine Rechtfertigung für dein Tun, dann verdoppele deine Anstrengungen. Christian Wulff hat außer Diensten dem Land vielleicht seinen größten Dienst erwiesen, indem er Machtverschiebungen im Gefüge unserer demokratischen Gesellschaft beschreibt, die einer näheren Musterung und Korrektur bedürfen. Es geht – altmodisch gesprochen – um mehr wech-selseitigen Respekt vor den jeweiligen Aufgaben und Funktionen frei gewählter Politiker und einer freien Presse.
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Samstag, 12. März 2016, 9.00 Uhr
Schutzschild für einen Helden. Sabine Kehm im Gespräch mit René Hofmann Sabine Kehm arbeitet seit vielen Jahren für den Formel I-‐Weltmeister Michael Schumacher, zunächst als Sprecherin, dann als Managerin. Die gelernte Journalistin war und ist sein Schutz-‐schild, und das noch mehr, als Schumacher 2013 so schwer beim Skifahren verunglückte. Nun ging es plötzlich darum, Journalisten davon abzuhalten, sich ins Krankenhaus einzuschleichen. Ein Gespräch über die Wünsche der Medien und die Bedürfnisse eines deutschen Helden.
Sabine Kehm
Managerin von Michael Schumacher
Seit 2010 Managing Director The MS Office (komplettes Management Michael Schumacher und Familie). Seit 2000 Medienberaterin Michael Schumacher. 1994-‐2000 Sportredakteurin Die Welt, Sports, Süddeutsche Zeitung. 1992-‐1994 Axel Springer Schule. 1987-‐1992 freie Mitarbeit Main Post, u. a. Studium Sport und Sportpublizistik in München und Köln. Abschluss: Diplom.
René Hofmann
Süddeutsche Zeitung, Stv. Ressortleiter Sport
Jahrgang 1974. Aufgewachsen im Landkreis Main-‐Spessart. Ausbildung an der Deutschen Jour-‐nalistenschule in München. Seit 2000 Mitglied der Sportredaktion der Süddeutsche Zeitung. Seit 2010 Mitglied der Ressortleitung der SZ-‐Sportredaktion.
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Bildblog, 18. Februar 2016
Bunte, Die Aktuelle, Gala etc.
Wie gemein! Wer setzt solche Gerüchte in die Welt? Über zwei Jahre ist es jetzt her, dass sich Formel-1-Fahrer Michael Schumacher bei einem Skiunfall schwer am Kopf verletzt hat und ins Koma fiel. Inzwischen befindet er sich in einer langwierigen Reha-Phase.
Viele Medien nehmen (abgesehen von den anfänglichen Ausrastern) inzwischen Rücksicht auf Schumacher und dessen Familie, berichten nur noch selten und beteiligen sich nicht an Spekula-tionen. Einige lassen immer noch nicht locker und verletzen in routinierter Regelmäßigkeit die Persön-lichkeitsrechte der Familie, setzen Gerüchte und Falschmeldungen in die Welt und versuchen auf perfide Weise, den Fall Schumacher zu Geld zu machen. In aller Regel bekommt man davon nichts mit, weil es in den düstersten Ecken des Zeitschriftenregals passiert: in „Freizeit Revue“, „Bunte“, „Gala“, „die aktuelle“, den Regenbogen- und „People“-Heften.
Sabine Kehm, Schumachers Managerin, die auch seine Familie in der Öffentlichkeit vertritt, hat sich seit dem Unfall einige Male öffentlich zu Wort gemeldet. Dabei hat sie grobe Angaben zu Schumachers Gesundheitszustand gemacht und immer wieder erklärt, dass der Genesungspro-zess sehr lange dauern werde. Und dass sie medizinische Einzelheiten nicht diskutieren möchte, um Schumachers Privatsphäre zu schützen. Von Anfang an hat sie versichert, dass sie „entscheidende Neuigkeiten im Gesundheitszustand Michaels weiterhin bekanntgeben“ werde. Man müsse „einfach Geduld haben“. Doch Geduld füllt keine Titelseiten. Die Redaktionen der Knallpresse wollen Details. Sie wollen ganz genau wissen, was im Krankenzimmer vor sich geht. In allen Einzelheiten. Sie nennen das „Wahrheit“, weil „Wahrheit“ so klingt, als würde da irgendwas Wichtiges verheimlicht, und als hätte die Öffentlichkeit verdammt noch mal ein Recht darauf, endlich Genaueres zu erfahren.
So sieht die aktuelle „Gala“ aus, über die ihr Verlag Gruner & Jahr schreibt, sie schaffe „eine intime, aber immer respektvolle Nähe zu den Stars“.
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Im Artikel („Das Ende der Stille“) schreibt das Blatt:
Zum Gesundheitszustand von Schumacher äußerten sich seine Familie und seine Managerin Sabine Kehm generell nur spärlich und vage. Der 47-Jährige mache „der Schwere seiner Ver-letzungen entsprechend Fortschritte“, die Reha-Phase werde sehr lange dauern, es sei „ein Kampf“. In diesem Duktus bleiben die Statements. Kein Wunder, dass es immer wieder wilde Spekulationen um Schumacher gibt, die für Schlagzeilen sorgen. Schlagzeilen? Was denn für Schl…
(Ausgabe 11/2015. Hintergrund: Familie Schumacher soll ihr Ferienhaus verkauft haben.) Nach der Logik der „Gala“ sind die Schumachers also selbst schuld an solchen Schlagzeilen. Nur ein „ehrliches Wort“, schreibt sie, würde „alle Spekulationen im Keim ersticken“. Anders gesagt: Das Blatt wird erst mit dem Gerüchteverbreiten aufhören, wenn die Familie genug Details aus-gepackt hat. Corinna Schumacher, 46, täte sich damit einen großen Gefallen.
Sich. Natürlich. Auch die „Bunte“ will die Stille um Michael Schumacher einfach nicht ertragen und füllt sie lieber mit ein paar exklusiven Geschichten:
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Viele davon musste sie, wie diese, in der digitalen Version nachträglich schwärzen, weil sie falsch waren oder sich die Familie juristisch dagegen gewehrt hat. Hier waren es Gerüchte über Schumachers Gesundheitszustand, die das Blatt „aus dem engsten Schweizer Umfeld der Fami-lie“ erfahren haben wollte. Managerin Kehm erklärte später: Alles Quatsch.
Wenn der Burda-Verlag seine „Bunte“ beschreibt, nennt er sie übrigens ohne einen erkennbaren Anflug von Ironie eine „journalistische Institution“, die für „einzigartigen People-Journalismus“ stehe und „der Garant für hochprofessionelle aktuelle Berichterstattung“ sei. Viele Menschen kaufen ihm das ab. Und (auch deswegen) seine Hefte.
Das gilt auch für Blätter wie „die aktuelle“. Für alle, die sie nicht kennen, hier die Kurz-Charakterisierung vom Verlag (Funke):
Spannende und seriöse Reportagen über Showstars, VIPs und Königshäuser, ohne Sensations-lust, sondern mit viel Gefühl, bestimmen das redaktionelle Angebot und prägen den „People-Magazin“ – Charakter. Hach ja:
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Das ist die aktuelle Ausgabe. Der „Insider“, von dem das Zitat auf der Titelseite stammt, ist ein französischer Rennfahrer, der angeblich mit Schumacher befreundet ist.
Gefunden hat „die aktuelle“ das Zitat in diesem französischen Magazin:
Familie Schumacher hat, wie uns ihr Anwalt bestätigte, bereits eine Verfügung gegen das „aktu-elle“-Titelblatt erwirkt. Die ePaper-Ausgabe ist (wie die meisten Schumacher-Ausgaben, die bisher erschienen sind) nicht mehr erhältlich.
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(Vor ungefähr einem Jahr gab es einen ähnlichen Fall: Irgendeine französische Postille hatte da-mals unter Berufung auf einen „Insider“ Dinge über Schumachers Gesundheitszustand behaup-tet. Der Informant sei ein enger Freund der Familie, hieß es, und er habe die Informationen von Schumachers Frau und dessen Arzt. Die Gerüchte verbreiteten sich auch hierzulande. Schuma-chers Managerin teilte daraufhin mit, die Informationen seien falsch. Der Mann sei nie mit Schumacher befreundet gewesen, er habe außerdem weder Kontakt zu Schumachers Frau noch zu Schumachers Arzt gehabt.)
Oft findet „die aktuelle“ ihre Geschichten auch im Internet. In einer der jüngsten Schumacher-Ausgaben schreibt sie:
Auf der Fan-Homepage von Michaels Sohn Mick, 16, fand man im Dezember 2014 rührende alte Familienbilder: Dreikäsehoch Mick mit seinem berühmten Papa. In diesem Jahr gibt es Bilder von Micks Karriere und Kollegen … Und was schließen wir daraus? Genau:
Überall scheint der letzte Funken Hoffnung zu erlöschen. War alles Beten und Hoffen umsonst? Es macht unendlich traurig, dass immer mehr Menschen Schumi offenbar aufgegeben haben. Seine Familie wird das wohl auch schmerzlich spüren. Es wird immer schwerer, an Genesung zu glauben. Die Zeit der Entscheidung rückt näher, sich zu fragen, ob man selbst noch hoffen kann. Wenn die Kraft fehlt, noch an ein Wunder zu glauben, bleibt nur noch die Liebe und die Erinne-rung.
Voilà:
So geht das seit zwei Jahren. Lieblingsthema, selbstverständlich: Schumis Gesundheitszustand.
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Bei näherer Betrachtung wird schnell klar, mit welchen Tricks „die aktuelle“ sonst noch arbeitet. „Aufgewacht!“ bezieht sich nicht auf Michael Schumacher, sondern (wie die Mini-Unterzeile verrät) auf irgendwelche Menschen, die schon mal aus dem Koma erwacht sind. Die angebliche „Lungenentzündung“ basiert auf einer unbestätigten „Bild“-Geschichte, die „Bild“ später korri-gierte. Die „Traurige Weihnachten“-Story ist eine Collage aus alten Zitaten und Gerüchten. Bei „Er sitzt in der Sonne!“ steht ganz klein neben dem Foto: „St. Moritz, 26.1.2013“ – es wurde also ein Jahr vor dem Unfall aufgenommen. Zweitliebstes Thema: Schumis Familie.
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Auch hier immer die gleichen Muster: Bei „Eine neue Liebe macht sie glücklich!“ geht es nicht um Corinna Schumacher, son-dern um ihre Tochter, die angeblich einen neuen Freund hat. Der „neue ‚Papa‘ für Schumis Sohn“ ist Formel-1-Pilot Sebastian Vettel, also „Papa“ im Sinne von „Ziehvater“, weil er ihm ja bestimmt gute Formel-1-Tipps geben kann und so. Bei „’Sie standen vor der Trennung!’“ steht in der kleinen Unterzeile: „Wer setzt solche Gerüchte in die Welt? Es geht um die Zeit vor dem Unfall…“ Und: „Wie gemein!“
Das alles ist nur ein winziges Abbild des alltäglichen Irrsinns, nur ein Tropfen aus dieser gewal-tigen Schlagzeilenflut.
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Allein die Ausgaben, die in diesem Eintrag abgebildet sind (das französische Blatt und die erst kürzlich erschienenen Ausgaben ausgenommen), sind insgesamt über 12 Millionen mal verkauft worden. Rechnet man alle verkauften Frauen-Freizeit-Titel zusammen, kommt man in die Hun-derte Millionen. Jedes Jahr. Hunderte Millionen Zeitschriften voller hochprofessioneller Berichterstattung. Ohne Sensations-lust. Sondern mit viel Gefühl. Mit Dank an Micky B. und Dominik H.
Quelle: http://www.bildblog.de/76660/wie-gemein-wer-setzt-solche-geruechte-in-die-welt/
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Spiegel Online, 27. August 2014
Nach Unfall von Michael Schumacher
"taz" und ZDF durften Krankenhaus-Fotos zeigen
Darf Corinna Schumacher gezeigt werden, wie sie ihren Mann Michael im Krankenhaus besucht? Nein, meint Schumacher - und klagte. Doch, meint das Gericht - weil mit dem Foto der Medienrummel vor der Klinik kritisiert wurde.
Köln - Die Frau des ehemaligen Rennfahrers Michael Schumacher ist mit einer Klage gegen die Zeitung "taz" und das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) gescheitert. Corinna Schumacher woll-te den beiden Medien die Veröffentlichung von Fotos untersagen, die sie auf dem Weg zu ihrem verunglückten Mann in der Klinik von Grenoble zeigen. Das Landgericht Köln entschied am Mittwoch jedoch zugunsten der Medien. Nach Auffassung des Gerichts sei der Besuch der Klinik zwar an sich noch kein Ereignis der Zeitgeschichte mit einem überragenden Berichterstattungsinteresse. Der nicht nachlassende Me-dienrummel rund um den Besuch - auch nach Corinna Schumachers Appell, sie in Ruhe zu las-sen - sei jedoch durchaus ein Ereignis von zeitgeschichtlicher Bedeutung. Nicht nur Befriedigung der Neugier
Die "taz" und das ZDF hätten das Verhalten der Medien in ihren Berichten in Frage gestellt und mit den Fotos der belagerten Corinna Schumacher die Situation vor dem Krankenhaus verdeut-licht. "Die Berichterstattung dient damit nicht lediglich der Befriedigung von Neugier und der Unterhaltung der Leser", schrieb das Gericht in seiner Urteilsbegründung. "Sie leistet vielmehr einen erheblichen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, indem der Leser in die Lage ver-setzt wird, sich selbst ein Urteil darüber zu bilden, ob er diese Berichterstattung wünscht."
Mehrere Gerichte - darunter auch das Landgericht Köln - hatten anderen Medien die Veröffentli-chung der Fotos zuvor untersagt. Die Begründung lautete, der eher unterhaltende Charakter die-ser Berichte rechtfertige nicht den Eingriff in Corinna Schumachers Privatsphäre. Im Fall von "taz" und ZDF sei die Berichterstattung jedoch "anders zu beurteilen" als bei "rein unterhalten-den Beiträgen", urteilten die Richter. Schumachers Anwalt hatte die Medienkritik in den Berichten von "taz" und ZDF während einer Verhandlung als "Feigenblatt" bezeichnet. Es sei fragwürdig, eine bestimmte Art von Berichter-stattung zu kritisieren und dabei das Beanstandete selbst zu reproduzieren. Kritik am Verhalten der Reporter vor der Klinik sei natürlich völlig in Ordnung, aber man hätte dafür nicht wieder das Foto veröffentlichen müssen, sagte der Anwalt.
Das Gericht sah dies anders und urteilte, dem Bild komme in diesem Fall ein eigener Informati-onswert zu. "Dieses Bild illustriert die Lage vor dem Krankenhaus (...). Es zeigt, wie sich die Klägerin (Corinna Schumacher) durch mehrere Fotografen hindurchdrängeln muss, um ihren Mann im Krankenhaus besuchen zu können. Sie kommt, wie es auch die Bildunterschrift dar-stellt, 'kaum durch zu ihrem Mann'. Diese Belagerung des Krankenhauses durch Journalisten (...) wird dem Leser durch das Bild plastisch vermittelt und setzt ihn damit besser als eine reine Wortberichterstattung in die Lage, den Hintergrund der Kritik zu erfassen und sich seine eigene Meinung zu bilden."
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NZZ am Sonntag, 20. April 2014
Die Frau, die zu Schumachers Stimme wurde Seit dem Jahreswechsel liegt der ehemalige Rennfahrer im Koma. Die frühere Journalistin Sabine Kehm kämpft heute als seine Managerin gegen Spekulationen.
Von Elmar Brümmer Die Strapazen der letzten Wochen und Monate lassen sich wegschminken, inzwischen manchmal auch wieder weglächeln, aber sie haben sich tief in die Seele eingegraben. Mit dem schweren Skiunfall und dem schweren Schädel-Hirn-Trauma von Formel-1-Rekordweltmeister Michael Schumacher haben sich auch das Leben und die Arbeit seiner Managerin Sabine Kehm drama-tisch verändert. Kaum ein Tag seit Jahresbeginn, in dem sie nicht mit dem Auto zwischen ihrem Büro in Gland am Genfersee und dem Klinikum in Grenoble pendelt, wo der Rennfahrer im Koma liegt. Was nach der eingeleiteten Aufwachphase passiert, kann noch keiner sagen. Die einzigen verlässlichen Informationen über den Gesundheitszustand oder aus der Familie kom-men von Sabine Kehm. Sie kanalisiert, dämmt Spekulationen ein – aber kann Mutmassungen nicht verhindern. Jedes Dementi oder jedes Schweigen zieht lawinenartig neue Berichterstattung nach sich. Denn es geht nicht nur um ein Schicksal, sondern um einen Weltstar der Medien. Und das strapaziert die 49-jährige Deutsche weit mehr als die 300 Kilometer Pendelverkehr. Sensationsjäger im Spital
Vor den Kameras hat sie sich in den ersten Januar-Tagen, als das Klinikum von einer Hundert-schaft Journalisten belagert wurde, wenig anmerken lassen, obwohl ihr Objektive und Mikrofone mehr als nah kamen. Emotionen über ihre Professionalität hinaus zeigte sie nur, wenn es um den seelischen Zustand der Familie ging und um die Auswüchse der Medien – etwa, wenn sich ein als Priester verkleideter Sensationsjäger auf die Intensivstation im fünften Stock schmuggeln wollte oder Angehörige anderer Patienten bestochen werden sollen, damit sie Handyfotos von Schumacher machen. Frontfrau zu sein, dass kennt Kehm aus ihrem ersten Leben als Reporterin auch von der anderen Seite. Die These eines preisgekrönten Textes von ihr über den Rennfahrer lautete: «Wenn die Formel 1 das Universum ist, ist Michael Schumacher die Sonne.» Es war eine sehr kritische Auseinandersetzung mit dem Menschen und der Szene. Diese Erfahrung hat ihr auf dem nicht immer einfachen Weg mit Schumacher im Haifischbecken Formel 1 geholfen. Denn der Mann, der den modernen Rennsport definiert hat, hat auch polarisiert wie kein anderer. Kehm war dabei Vermittlerin, nicht Verhinderin. Den schwersten Unfall von Schumacher auf der Rennstrecke erlebte sie als Journalistin, fragte im Herbst 1999 für die «Süddeutsche Zeitung» um ein Exklusivinterview an, im Wissen darum, wie viel Aufsehen die Worte des von einem doppelten Beinbruch genesenen Formel-1-Stars er-regen würden. Als Antwort auf die Anfrage bekam sie ein Angebot vom damaligen Schumacher-Manager Willi Weber: Ob sie sich nicht vorstellen könne, künftig als Schumi-Sprecherin zu ar-beiten. Nach kurzem Überlegen, auch Zögern, konnte sie. Sie blieb auch nach dem ersten und zweiten Karriereende Schumachers an seiner Seite, nicht mehr nur als Medienbeauftragte, son-dern um die Geschäfte zu führen. Und derzeit als Krisen-Managerin. Es zeigt sich, dass Schumacher der grösste Star des deutschen Sports ist, immer noch. Und es zeigt sich, wie wichtig Kehm für Schumacher und dessen Familie ist. Sie denkt, sie lenkt, sie schützt. Und erlangt selbst eine Prominenz, auf die sie gut verzichten könnte. Die Mitteilungen über den Gesundheitszustand auf der offiziellen Website sind kurz und präzise. Aber Kehm hofft, spätestens wenn Schumacher in die Rehabilitation kommt, auf solche Bulletins ganz verzichten zu können. Eine vage, sehr optimistische Hoffnung. Die Zurückhal-tung in der Kommunikation geschieht ihrer Meinung nach ganz im Sinne von Schumacher: «Wir sind uns sicher, dass er es anders nicht wollen würde.» Was sein Privatleben angeht, ist Schuma-
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cher so konsequent, wie er bei seinen Überholmanövern war: kein Thema. Vor allem: keine Ausnahme. Mittlerweile hat sich die Berichterstattung über den Patienten Schumacher zu einer Diskussion über die Rolle der Medien ausgewachsen. Kürzlich sass Kehm in einer Fernsehdiskussion bei Günther Jauch, um unter dem Sendungstitel «Wie geht es Michael Schumacher? – Prominente und die Grenzen der Berichterstattung» vor allem die als Wahrheiten publizierten Ferndiagnosen wie die des gefeuerten Formel-1-Arztes Gary Hartstein zu geisseln, die sie als «in Teilen für sehr verwerflich» hält. Als gelernte Journalistin erkennt sie das Anrecht der Öffentlichkeit auf Infor-mationsfluss zwar an, zumal die Anteilnahme weltweit riesig ist. Aber das gehe eben nur bis zu einem gewissen Punkt. «Bestimmte Dinge gehen nur die Familie etwas an», sagt Kehm. Immer wieder muss auch Ehefrau Corinna Schumacher an die Medien appellieren, Ärzte, Freunde oder Verwandte nicht zu bedrängen. Für die Öffentlichkeit ergebe sich letztlich ein Bild, «das wir eigentlich permanent korrigieren müssten, indem wir das wahre Bild erzählen», sagt Kehm über ihre Sisyphusarbeit. Twitter und Internet aber lassen eine Nachrichtenhoheit nur bedingt zu. Gegen diesen Druck, die Dynamik und die Geschwindigkeit sind selbst Kommunikationsprofis machtlos. Bis hin zu dem anfänglich tatsächlich «Live-Ticker» getauften Newsfeed des deutschen Magazins «Focus». In der sonst harmlosen und daher wenig aufschlussreichen Talkrunde von Jauch ärgerte sich die Managerin über solche «Fakten in Anführungszeichen». Auch das Satiremagazin «Titanic» hatte sich auf höchst geschmacklose Weise am Medien-Thema «Schumi» beteiligt. «Keep fighting, Michael»
Manchmal geben auch einfach nur ehemalige Rennfahrer wie Jean Alesi naive Interviews, die zu Sensationen aufgebauscht werden – der Franzose hatte nach einem Besuch lediglich erzählt, dass Schumacher reagiere, wenn man ihn zwicke. In der Formel 1, die an diesem Wochenende in Schanghai fährt, wo Schumacher im Oktober 2006 seinen 91. und letzten Grand-Prix-Sieg er-rungen hat, nimmt man am Schicksal des ehemaligen Champions aufrichtig Anteil. Auf Autos und Helmen prangt die Aufschrift «Keep fighting, Michael», Mercedes widmete ihm den ersten Saisonsieg. Und die Schumacher-Vertraute Kehm absolviert den öffentlichen Part ihres Jobs wie früher an der Rennstrecke. Nur steht sie jetzt eben nicht neben Michael Schumacher, sondern vor ihm.
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Samstag, 12. März 2016, 10.45 Uhr
Vom Wert eines Freispruchs. Jörg Kachelmann im Gespräch mit Kuno Haberbusch Bis März 2010 war Jörg Kachelmann der Wettermoderator aus den Tagesthemen. Dann wurde er am Flughafen verhaftet. Ein Gespräch über Recht und Gerechtigkeit mit einem Mann, der vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen wurde. Was bringt so ein Freispruch, wenn Medien mit Berichten über das Intimleben eines Prominenten längst ein Vorurteil in den Köpfen des Publikums erzeugt haben?
Jörg Kachelmann
Wettermoderator
Kuno Haberbusch
NDR, Hamburg; netzwerk recherche
Kuno Haberbusch volontierte nach dem Abitur beim Badischen Tagblatt. Von 1976 bis 1979 studierte er Rechtswissenschaften in Tübingen und Berlin. Zwischen 1979 und 1981 war Haber-‐busch Mitarbeiter bei den Kreuzberger Stadtteil-‐Initiativen und Herausgeber des Süd-‐Ost-‐Kuriers, einer Kreuzberger Stadtteilzeitung. Seit 1981 arbeitete er als freier Mitarbeiter für di-‐verse politische Magazine der ARD, bevor er 1985 bei der NDR-‐Sendung „Panorama“ zunächst Redakteur wurde und 1997 die Leitung der „Panorama“-‐ und „extra 3“-‐Redaktion übernahm. Haberbusch erhielt im Jahr 2002 den Adolf-‐Grimme-‐Preis für die NDR-‐Produktion „Die Todespi-‐loten“. Von 2004 bis 2009 war Kuno Haberbusch Leiter des Medienmagazins „Zapp“ und des Satiremagazins „extra 3“. Seitdem arbeitet er beim NDR im Programmbereich Kultur und Do-‐kumentation. Haberbusch gehört dem Vorstand von netzwerk recherche an.
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Meedia, 30. September 2015
Die verlorene Ehre des Jörg Kachelmann – und welche Rolle die Medien dabei (nicht) spielten Bild und Bild.de wurden vom Landgericht Köln zu einem Rekord-Schmerzensgeld für Jörg Kachelmann verurteilt. Für dessen Anwalt ist die hohe Summe der neue "Maßstab für Medienopfer". Das Verfahren zeigt aber vor allem, dass bei der Bewertung der Rolle der Medien im Fall Kachelmann oft jeglicher Maßstab verloren geht.
Von Georg Altrogge 635.000 Euro Schmerzensgeld. Die höchste je von einem Prominenten auf dem Klageweg er-strittene Summe. Der Fall Kachelmann schreibt ein weiteres Kapitel Mediengeschichte mit ei-nem Superlativ. Fast mag man denken, darunter geht es auch nicht in der erbittert geführten Feh-de des früheren ARD-Wettermoderators gegen Zeitungen und Zeitschriften. Vor allem den Me-dienhäusern Springer mit seiner übermächtigen Bild und Burda (Bunte, Focus) wirft der Meteo-rologe vor, seine berufliche Existenz mit Hetzkampagnen rund um seinem Strafprozess systema-tisch vernichtet zu haben. Burda hat sich den Justizmarathon erspart und außergerichtlich eine (vermutlich deutlich sechsstellige) Summe an Kachelmann gezahlt. Axel Springer war dazu nicht bereit und kassierte nun in erster Instanz ein Urteil, dessen Höhe Medienbeobachter noch vor wenigen Jahren für aberwitzig gehalten hätten. Nach Sichtweise Kachelmanns dürfte die (vorläufig) erstrittene Geldentschädigung noch zu niedrig ausfallen. Sein Anwalt Ralf Höcker hatte von Bild und Bild.de 2,25 Millionen Euro ge-fordert. In der Tat sind die Folgen des Vergewaltigungsverfahrens für den Moderator trotz des Freispruchs katastrophal: Kachelmann scheint für einen TV-Job im deutschsprachigen Raum auf Lebenszeit nicht mehr vermittelbar zu sein, verbunden mit einem Verdienstausfall, der die Höhe der ihm jetzt zugesprochenen und (z.B. von Burda) bereits bezahlten Summen deutlich überstei-gen dürfte. Sein ehemaliger Arbeitgeber ARD hat ihn noch vor Prozessbeginn fallen lassen und ihn nie rehabilitiert. Kachelmann arbeitet sich seit dem Ende seines Prozesses an den Medien ab, die früher seine Bühne waren und von denen er sich verraten und verkauft fühlt. Und er hört nicht auf, im Gegenteil: Aus seinen Tweets spricht heute noch ungebremste Wut. Das Justizopfer scheint im Endlos-Rache-Modus verfangen. Das ist nicht gut, auch nicht für ihn selbst.
Die Wahrheit ist: Im Fall Kachelmann gibt es keine Gewinner. So spektakulär das Verfahren war, so sehr hat es selbst die besten Journalisten zermürbt und an ihre Grenzen geführt. Von der überraschenden Verhaftung Kachelmanns am Frankfurter Flughafen im März 2010 bis zum überfälligen Freispruch Ende Mai 2011 vergingen 14 Monate. Und wenn in diesem Zusammen-hang das Versagen von Institutionen thematisiert werden soll, so ist dieses Versagen nicht in erster Linie den Medien, sondern der Justiz anzulasten. Die Staatsanwaltschaft Mannheim hatte die öffentliche Aufmerksamkeit mit einer höchst fragwürdigen Pressemitteilung, in der von der Verhaftung eines „51-jährigen Schweizer Journalisten und Moderators“ die Rede war, unmittel-bar nach der Festnahme verschickt. Den Klarnamen zu recherchieren, war für die Redaktionen eine Sache von zwei Minuten; der Fall war in der Welt. Dass Kachelmann als bekanntes Fern-sehgesicht keinen Anspruch darauf hatte, gegen Fotos und Namensnennung vorzugehen, kam hinzu. Genau so wie der konträr zum öffentlichen Image stehende Tatvorwurf. Die Medien (nicht einmal die ARD, der das Ganze hochnotpeinlich war) hatten gar keine Möglichkeit, den Fall zu ignorieren.
Dass in den Monaten nach der Verhaftung immer neue Einzelheiten publiziert wurden, die den inhaftierten Angeklagten schwer belasteten und seinen Ruf aufgrund etlicher intimer Details rui-nierten, geht im Wesentlichen auf eine einzige Quelle zurück: die Anklageschrift aus der Feder
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zweier offensichtlich fehlgeleiteter und getriebener Staatsanwälte, die – wie der Prozess zeigen sollte – eine ihnen vom Gesetz vorgegebene Pflicht grob verletzten: nämlich neben belastenden auch entlastende Umstände gründlich zu ermitteln. Oder die einzige Belastungszeugin, die Ex-Geliebte, aufgrund etlicher Widersprüche und Ungereimtheiten gründlich zu überprüfen. Wäre die Staatsanwaltschaft ihren Aufgaben nachgekommen, hätte es das Vergewaltigungsverfahren gegen Jörg Kachelmann nach Ansicht vieler Strafrechtsexperten nie gegeben. Hier liegt der Kern des Problems. Als die öffentliche Hauptverhandlung vor dem Landgericht Mannheim begann, war Kachelmann bereits wieder auf freiem Fuß, acht Monate später dann der Freispruch, der „mieseste aller Zeiten“, wie der Angeklagte befand. Nicht die Medien, sondern Ankläger und Prozess haben ihm das Leben genommen, das er vorher führte. Vieles in der Argumentation von Kachelmann und seinem Anwalt Ralf Höcker erzeugt ein fal-sches Bild. So spricht der Jurist von einer „furchtbaren Kampagne“ der Bild-Zeitung, obwohl die Kölner Pressekammer dies ausdrücklich verneint und lediglich „Fahrlässigkeit“ unterstellt. Das Boulevardblatt hat zunächst – man muss es nicht mögen oder lesen – das getan, was es immer tut, wenn es um Ermittlungsverfahren gegen Prominente geht. Wer den Spiegel in jener Zeit aufmerksam verfolgt hat, weiß, dass auch das Nachrichtenmagazin in seiner Berichterstattung nicht an klebrigen Details gespart hat. Allerdings hat der Spiegel auch früh Skepsis an der Über-zeugung der Staatsanwaltschaft angemeldet und die Glaubwürdigkeit der Zeugin angezweifelt. In den allermeisten anspruchsvollen Medien unterschied sich die Berichterstattung eher in Nuan-cen. Den Vorwurf einer gezielten Kampagne gegen den Angeklagten muss sich allenfalls Burdas Bunte machen lassen. Dort wurden einseitig Kachelmanns „Lausemädchen“ schon vor der Aus-sage im Prozess gegen entsprechendes Honorar präsentiert, und die windige Ex-Geliebte durfte via Titelstory noch Politik in eigener Sache betreiben, als ihren Tatschilderungen längst kaum einer mehr glaubte. Aber selbst wenn alle Medien in größter Zurückhaltung berichtet hätten, wenn nur Anklage und der grobe Verlauf der achtmonatigen Verhandlung öffentlich geworden wäre: Hätte das Kachel-mann nach dem Freispruch bei der ARD wieder auf seinen Stammplatz nach der Tagesschau befördert? Wohl kaum, und dass dies so ist, ist doch ein gesellschaftliches Thema und keine di-rekte Folge von Berichterstattung. Sobald man versucht, Lehren aus dem Publizierten zu verall-gemeinern, wird klar, wie wenig der Fall Kachelmann für Grundsatzdebatten geeignet ist. Hier kommen das eklatante Versagen einer Staatsanwaltschaft, das Informationsmonopol der Ermitt-ler und die Tatsache zusammen, dass es hinsichtlich des Tatvorwurfs bis heute nur zwei Men-schen gibt, die die Wahrheit kennen: die Belastungszeugin und Kachelmann selbst. Bei solchen Konstellationen sind die Medien überfordert; sie berichten über beide Seiten und richten schon damit Schaden an.
Hieraus zu folgern, sie sollten es gar nicht tun, wäre grundfalsch. Wo verliefe die Grenze? Wür-de das auch für das Verfahren wegen Bestechlichkeit gegen einen Spitzenpolitiker gelten? Für die Stasi-Ermittlungen gegen einen ranghohen Staatsbeamten? Für den Prozess gegen einen Pro-fifußballclub-Präsidenten wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe? Die Frage ist nicht ob, sondern wie berichtet wird, und da müssen Redaktionen täglich Entscheidungen treffen. Bild und Bild.de haben nach Überzeugung des Landgerichts Köln im Fall Kachelmann oftmals falsch ent-schieden. Nachdem Axel Springer Berufung angekündigt hat, geht der Rechtsstreit weiter. Die über den inzwischen jahrelangen Rechtsstreit befeuerte Fehde zwischen dem Moderator und Bild wird durch den Gerichtsentscheid neu entfacht. „Keine Millionen für Kachelmann“, titelte Bild.de gekonnt unangemessen nach der Verhängung der Rekord-Strafe in eigener Sache. Der Moderator keilte via Twitter zurück: „Abwarten, schmierige Schmierlappoiden aus dem Ekel-Koben von #fiesefriede Bekomm ich noch einen Wagner heute Abend?“ So geht es in die nächs-te Instanz. Und danach in nächste. Irgendwie wünscht man sich, dass alles schon vorbei wäre.
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Süddeutsche Zeitung, 1. Oktober 2015
Rekordsumme für Kachelmann „Bild“ und Springer müssen dem Wettermoderator 635 000 Euro zahlen. Der Verlag geht in Berufung „Danke, Danke, Danke, Danke, Danke.“ So ging das den halben Vormittag zu im Twitter-Account von Jörg Kachelmann, der dort die Glückwünsche entgegennahm zu seinem Erfolg ge-gen die Bild-Zeitung. Zwischendurch schaltete er zum Wetter: „Warum der Ostwind im Ober-rhein aus Norden weht.“
Zu 635 000 Euro Schmerzensgeld verurteilte das Landgericht Köln die Boulevardzeitung und den Axel-Springer-Verlag am Mittwoch wegen der Berichterstattung über den Strafprozess ge-gen Kachelmann, dem die Vergewaltigung einer Ex-Freundin vorgeworfen wurde. Das Landge-richt Mannheim sprach ihn im Mai 2011 frei, seitdem führt Kachelmann Zivilprozesse gegen die Frau, die ihn damals beschuldigte und verschiedene Medien. Mit Burda einigte er sich wegen der Berichterstattung in Focus und Bunte auf einen Vergleich in unbekannter Höhe. Axel Springer lehnte dies ab und muss nun die höchste Summe bezahlen, die deutsche Gerichte bisher einem Geschädigten zugestanden haben. In einer öffentlichen Sitzung erklären wollten die Richter ihre Entscheidung nicht, die Beteiligten konnten sich das Urteil in der Geschäftsstelle abholen.
Anschließend begann das Interpretieren: „Herr Kachelmann musste die schlimmste Hetzkam-pagne der deutschen Presserechtsgeschichte über sich ergehen lassen“, sagte sein Rechtsanwalt Ralf Höcker. „Sein Ruf wurde durch Bild & Co. vollständig ruiniert. Dieses Urteil ist die Quit-tung. Es wird hoffentlich abschreckende Wirkung auf den Boulevard haben.“
Aber auch der Axel-Springer-Verlag versuchte, sich zumindest ein bisschen als Gewinner dar-zustellen: „Er hat rechnerisch ganz deutlich verloren“, sagte Jan Hegemann, der Springer vor Gericht vertritt. Kachelmann hatte etwa 150 Artikel und Fotos aus der Bild und deren Onlinean-gebot in der Klageschrift aufgeführt und insgesamt 2,25 Millionen Euro Schadenersatz gefordert. Das Gericht urteilte nun, Bild habe in 38 Fällen die Persönlichkeitsrechte verletzt. Die Berichter-stattung habe nicht einem berechtigten Informationsinteresse der Öffentlichkeit gedient, „son-dern allein zur Befriedigung der Neugier der Öffentlichkeit“. Zudem sei es aufgrund der Berichte zu „unzulässigen Vorverurteilungen“ Kachelmanns gekommen. Durch die teilweise reißerische Berichterstattung werde Kachelmann auch in Zukunft als „frauenverachtender und gewaltberei-ter“ Mensch stigmatisiert und dadurch in seinem Berufs- und Privatleben massiv beeinträchtigt bleiben, teilte das Gericht in einer schriftlichen Erklärung mit. Rechnete man die Doppelungen heraus, so Hegemann, die durch die Veröffentlichung in der Printausgabe und im Onlineangebot zu Stande kommen würden, bliebe ein Kern von 20 ver-schiedenen Texten und Fotos, in denen das Gericht Kachelmann Recht gab. Darunter sind Fotos, die Kachelmann auf dem Weg zu seinem Anwalt zeigen, Details über sein Sexualleben und Chat-Protokolle, die Gespräche mit Freundinnen wiedergeben. Dies gehöre zu seiner Privatsphä-re, führten Kachelmann und sein Anwalt an. Springer machte geltend, dass die Chat-Protokolle Teil des Strafprozesses gewesen seien, im Gericht öffentlich verlesen wurden. Das Landgericht Köln urteilte nun, dass solche Aussagen für die Täterschaft keine Relevanz gehabt hätten. „Das weiß man hinterher“, sagte Anwalt Hegemann. Die von Kachelmann unterstellte „Kampagne“ konnte das Gericht nicht erkennen. Es habe nicht feststellen können, dass Bild „vorsätzlich und mit Schädigungsabsicht gehandelt hat“. Der Springer-Verlag kündigte bereits an, den Weg durch die Instanzen notfalls bis nach Karls-ruhe gehen zu wollen. Auf die Frage, welche Konsequenzen aus dem Urteil folgen würden, sagte Anwalt Hegemann: „Die Presse muss sorgfältig abwägen, was sie tut.“ Dagegen wird wohl auch Jörg Kachelmann nichts einzuwenden haben. Bernd Dörries
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Samstag, 12. März 2016, 14 Uhr
Im Ausnahmezustand. Was Journalisten in Winnenden und Haltern angerichtet haben Statements von Betroffenen und Fachleuten: Wie sie das Agieren der Medien in einer Extremsi-‐tuation erlebt haben. Was sie sich von Journalisten wünschen. Welche Erwartungen sie selbst als Leser/Zuschauer/Zuhörer haben, wenn wieder etwas passiert.
Mika Baumeister
Ehem. Schüler Josef-‐König-‐Gymnasium Haltern, freier Journalist
19 Jahre alt, ehemaliger Schüler des Halterner Joseph-‐König-‐Gymnasium. Seit etwa vier Jahren journalistisch aktiv. Veröffentlichte seine Kritik an den Medien im Rahmen des Germanwings-‐Absturzes auf Meistergedanke.de. Schreibt hauptsächlich bei Tom’s Hardware und Mobilege-‐eks, Schwerpunkt Internet, Hardware und Virtual Reality.
Sven Kubick
Albertville-‐Realschule Winnenden, Schulleiter
Geb. 1970 in Esslingen am Neckar. Nach der allgemeinen Hochschulreife Pädagogikstudium an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Einstellung als Lehrkraft an der Theodor-‐Heuss-‐Realschule Kornwestheim (Auszeichnung „Bildungswerkstatt“ durch das KM). 2003 – 2005 Aus-‐bildungslehrer für Praktikanten der PH Ludwigsburg. Seit 2003 Mitglied des bilingualen Arbeits-‐kreises am Kultusministerium Baden-‐Württemberg. 2005 – 2008 Fachleiter Englisch am Seminar für Didaktik und Lehrerausbildung. 2008 – 2010 Realschulkonrektor in Tamm (Kreis Ludwigs-‐burg). Seit 2010 Schulleiter der Albertville-‐Realschule Winnenden – intensive Auseinanderset-‐zung mit der Amoktat und dem Gedenken an die Opfer. Seit 2015 gewähltes Kuratoriumsmit-‐glied der Stiftung gegen Gewalt an Schulen.
Gisela Mayer
Stiftung gegen Gewalt an Schulen/Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden
Studium der Philosophie, Psychologie und Kristallographie in München. Nach Studienabschluss Unterricht am Oskar-‐von-‐Miller-‐Gymnasium, München. 1985-‐1987 Wissenschaftliche Mitarbei-‐terin am Philos. Lehrstuhl in Bayreuth, Mitautorin des bayerischen Lehrbuchs für Ethikunter-‐richt an Schulen. 1987 Stipendium der Konrad-‐Adenauer-‐Stiftung, Ausbildung für Rhetorik. Seit 1991 Mitarbeiterin des Metzler-‐Verlages, Bereich Literatur-‐Lexikon, Fachbereich Psychologie. Seit 2004 Lehrtätigkeit im Bereich Erwachsenenbildung. Seit 2005 Lehrtätigkeit an Krankenhäu-‐sern -‐ Bereich Ethik, Psychologie. Seit 2008 Lehrtätigkeit an verschiedenen Schulen (Gymnasi-‐um, Berufliche Schularten). 2010 Autorin von „Die Kälte darf nicht siegen“. 2009 Gründung der „Stiftung gegen Gewalt an Schulen“. Seit 2014 Leitung der Stiftung. 2015 Gründung der philo-‐sophischen Praxis „ProPhilia“. Autorin verschiedener Veröffentlichungen zu Fragen der Erzie-‐hung, Gewaltprävention, Vergebung. www.stiftung-‐gegen-‐gewalt-‐an-‐schulen.de
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Frank Nipkau
Chefredakteur, Zeitungsverlag Waiblingen
Frank Nipkau, Jahrgang 1964, aufgewachsen in Lengerich (Westfalen), Geschichtsstudium in Bielefeld. Volontär und Redakteur beim Westfalen-‐Blatt. Lokalchef Cottbus bei der Lausitzer Rundschau. Seit Juni 2002 Chefredakteur des Zeitungsverlages Waiblingen, der auch die Win-‐nender Zeitung herausgibt. Theodor-‐Wolff-‐Preisträger.
Petra Tabeling
Journalistin, Dart Center, Köln
Petra Tabeling arbeitet als freie Journalistin, Autorin, Moderatorin und Projektmanagerin. Nach dem Studium der Germanistik, Anglistik und der Allgemeinen Literaturwissenschaft sowie Me-‐dienplanung, -‐entwicklung und -‐beratung und wissenschaftlicher Mitarbeit in der Medienfor-‐schung, volontierte sie 2001 bei der Deutschen Welle, wo sie anschließend als Redakteurin tätig war. Danach berichtete sie für diverse Medien wie dem WDR, DLF, FAZ, NZZ aus mehreren Län-‐dern zu migrations-‐ und (kultur)politischen Themen, aus Irland/Nordirland bereits seit 15 Jah-‐ren. Sie engagiert sich bei Reporter ohne Grenzen und spezialisierte sich seit 2006, dem Jahr ihres Dart Center Ochberg Fellowships, und einem anschließenden Heinz-‐Kühn-‐Stipendium, welches sie nach Indonesien führte, auf Arbeitsbedingungen von Journalisten in Krisengebieten. Sie begründete unter Mark Brayne (BBC), Dart Centre Europe Direktor, das deutsche Büro in Köln. Seither trainiert sie Studenten und Volontäre, forciert Kooperationen und Ressourcen für einen sensibleren Umgang in den Medien, ist Jurymitglied des Journalistenpreises des Weissen Rings und Beiratsmitglied des Forschungsverbundes Target (Tat-‐ und Fallanalysen hochexpres-‐siver zielgerichteter Gewalt) der FU Berlin im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Sie produziert und schreibt weiterhin Beiträge und Publikationen (u.a. für den WDR, DLF u.a.).
Thomas Weber
Zentrum für Trauma-‐ und Konfliktmanagement, Köln
Dipl.-‐Psych. Thomas Weber, geboren 1967. Geschäftsführer des Zentrums für Trauma-‐ und Konfliktmanagement (ZTK) GmbH. Leiter der mittelfristigen psychologischen Nachsorge nach verschiedenen Amokläufen (u.a. Winnenden). Psychologische Nachsorge nach verschiedenen Großschadensereignissen. Entwicklung eines interdisziplinären Konzepts der mittelfristigen Nachsorge für Gewalt-‐ und Unfallopfer und nach sog. Großschadensereignissen (SIN-‐Konzept). Entwicklung des Konzepts der Kollegialen Nachsorge nach berufsbedingten Übergriffen. Be-‐treuung von Hilfsorganisationen weltweit im Bereich Stressmanagement und Nachsorge nach traumatischen Erfahrungen. Fortbildungen in Institutionen und Verwaltungen, u.a. zum Um-‐gang mit psychisch auffälligen Klienten. Mitautor des Buches (zusammen mit Hanne Shah): „Trauer und Trauma – Die Hilflosigkeit der Betroffenen und der Helfer und warum es so schwer ist, die jeweils andere Seite zu verstehen“ (Asanger-‐Verlag, 2. Auflage 2015)
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Samstag, 12. März 2016, 16 Uhr
Lernen aus der Katastrophe
Podiumsdiskussion mit Mika Baumeister, Gisela Mayer, Frank Nipkau, Petra Tabeling, Thomas Weber
Moderation: Kuno Haberbusch (NDR/nr)
Das nächste große Unglück, das nächste spektakuläre Verbrechen wird die Menschen wieder erschüttern und die Medien vor die alte Frage stellen: Wie reagieren? Wie erfüllen wir einer-‐seits die Erwartungen unserer Leser, Hörer und Zuschauer nach Information, und wie schützen wir zugleich die Opfer und ihre Angehörige vor Voyeurismus?
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taz, 6. März 2010
Winnenden-Amoklauf in den Medien
Bis zur letzten Träne Bald jährt sich der Amoklauf in Winnenden. Die Medien brachen damals sämtliche Tabus. Zum Jahrestag droht eine neue Journalisten-Invasion. Haben sie dazugelernt? Von Ingo Arzt
Erst ist ein vom Regen oder von Tränen halb verschwommener Brief zu sehen, die geschwunge-ne Schrift stammt von einem Kind, es hat Herzen gemalt und Worte geschrieben wie: "Ich werde dich nie vergessen." Daneben flackert eine Kerze, Stofftiere, Blumen, noch mehr Briefe, ein ganzes Meer der Trauer breitet sich aus. Davor kauern und knien Schüler und Eltern, viele wei-nen oder halten sich in den Armen. Das alles vor einer Schule in einer deutschen Kleinstadt. Winnenden. Jeder kennt die Bilder. Am 11. März jährt sich der schreckliche Amoklauf zum ers-ten Mal, 15 Menschen wurden dabei ermordet, zwei davon in Wendlingen. "Winnenden" ist zum Argument in Diskussionen um Waffenrecht, Videospiele, Jugendschutz, dem Zustand der Schu-len, dem sozialen Zusammenhalten geworden. Der Name der baden-württembergischen Klein-stadt hat sich ins kollektive Gedächtnis des Landes gebrannt wie Eschede oder Erfurt.
Nicht zum ersten Mal kam die Frage auf, ob sich die Medien korrekt verhalten haben, als sie die Bilder einfingen. In jenen Tagen nach der Tat, in denen Journalisten, ihre Fragen, ihre Kameras, Mikrofone, Notizblöcke zur Bilderwelt des Traumas der Menschen dort wurden. Tage, in denen Journalisten für viele Winnender zu Aasgeiern der Informationsgesellschaft verkamen. Auch, weil die intimsten Details die meisten Leser finden. Es gibt nur wenige Journalisten, die näher am Geschehen dran waren, als der Chefredakteur des Magazins Werben & Verkaufen, Jochen Kalka. Er wohnt in Winnenden, seine Kinder gehen hier zur Schule. Mit seinem Wissen hätte er im vergangen Jahr viele Top-Geschichten haben können, mit Details über die Familien der Opfer oder die des Täters, er kennt viele Menschen im Ort. "Mir ist es schwergefallen, damit journalistisch umzugehen. Man kann viel kaputtmachen. Dann kann man nicht mehr durch den Ort gehen, weil man genau das tut, was man kritisiert", sagt er. Kurz nach dem Amoklauf stammelten traumatisierte Kinder etwas in Mikrofone. Manche Ge-schichten kennt Kalka aus erster Hand: Dass Journalisten Kindern und Jugendlichen bis zu 100 Euro für eine gute Szene boten. Stellt hier eine Kerze ab, dann umarmt euch - mit etwas Glück weinen sie vielleicht. Als die Opfer beerdigt wurden, standen Fotografen mit Leitern und armdi-cken Zoomobjektiven an der Friedhofsmauer. Soziale Netzwerke im Internet sind nach allen verfügbaren Bildern von Täter und Opfern abgegrast worden, natürlich ohne sich um so etwas wie Bildrechte zu scheren. Reporter zogen von Haus zu Haus und klingelten, um Freunde oder Angehörige der Opfer ausfindig zu machen. "Die Stadt ist so klein, diese Enge hat alle zusätzlich hochgepeitscht. Jeder wollte die bessere Geschichte haben", sagt Kalka. Als die zweite Welle der Berichterstattung über die Sensationsjagd der Medien anrollte, wurde es besser. Moralische Ein-sicht? "Nein, die Stories waren einfach durch", sagt Kalka.
Auch er hat einen Fehler gemacht: Er stellte für einen Onlinebericht ein Zitat seiner eigenen Tochter ins Netz. Als sie es las, bekam sie einen Weinkrampf. Er bereut das, sagt er heute. Vor allem zeigt es, unter welchem enormem Druck Journalisten fatale Fehler machen. In der taz ha-ben dem Autor dieses Textes zwei Schüler einer betroffenen Klasse den Tathergang geschildert. Darf man das drucken? Man kann sich tausend Mal sagen: Bevor ich als Journalist die Opfer eines solch traumatischen Erlebnisses behellige, hänge ich meinen Job an den Nagel. Und wenn es so weit ist, dann muss eine Zeitung voll werden. Auf einmal ist es sogar ein gutes Gefühl, die Geschichte zu haben.
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Jetzt naht der Jahrestag und mit ihm die nächste Presseinvasion. Deshalb hat die Stadt über drei Wochen vor dem 11. März 2010 Journalisten ins Rathaus geladen. Regionalzeitungen sind da, ein paar Kamerateams, auch Privatfernsehen. Die Rektorin der Albertville-Realschule, Astrid Hahn, richtet einen Appell an die Medien: "Wir wollen diese Zeit für uns verbringen. Es ist ein ganz, ganz wichtiger Meilenstein zur Verarbeitung. Wir brauchen das, um in eine gute Zukunft blicken zu können." Sie spricht von der Tatzeit, in der die Schüler privat ohne Medien trauern wollen.
Beim Presserat gab es 47 Beschwerden über die Berichterstattung. Daraus wurden zwei öffentli-che und eine nichtöffentliche Rüge. Böse Zungen behaupten, die Abgemahnten ließen sich da-von so sehr beeindrucken wie Mahmud Ahmadinedschad von UN-Sanktionen. Es gab eine Rüge für eine 3-D-Animation im Internet, die zeigte, wie der Täter durchs Schulhaus lief und wen er dann erschoss. Außerdem für eine Fotomontage in der Bild, sie zeigte den Täter im Kampfanzug (nur nebenbei: er trug keinen) und eine Grafik des Moments, in dem er abdrückte.
"Die Grafik war sicherlich ein Grenzfall. Aber auch die berühmten Fotos des Napalm-versehrten Mädchens aus Vietnam wären aus Sicht der Opfer oder Angehörigen schwer erträglich. Wenn die Medien die Realität abbilden wollen, müssen sie manchmal auch harte Dinge zeigen - auch als Grafik", sagt Nicolaus Fest aus der Bild-Chefredaktion der taz. Ein Foto einer Überwa-chungskamera wäre schließlich rechtlich auch unproblematisch gewesen, so habe man sich eben, um die Dramatik der Situation zu illustrieren, für eine Grafik entschieden.
Es gab auch Pressevertreter, die sich bei den Angehörigen entschuldigten, wie "Brisant"-Redaktionsleiter Hans Müller-Jahns auf der Jahrestagung des Journalistenverbands Netzwerk Recherche. Psychologen forderten zwar nach Winnenden eine Art Presseinterventionsteam, ähn-lich wie die psychologischen Notdienste, um im Falle von Katastrophen oder Gewalttaten den Betroffenen sofort beratend zur Seite zu stehen. Allerdings ist die Diskussion im Sande verlau-fen. Der Presserat will demnächst eine Broschüre mit Tipps herausbringen, wie sich Journalisten in Situationen wie Amokläufen beim Recherchieren verhalten sollten. Trotz der Rügen sagt Edda Kremer vom Beschwerdeausschuss des Presserats, die meisten Printmedien hätten sich in Win-nenden verantwortungsbewusst verhalten. Dass Journalisten auch nach schrecklichsten Ereignissen bohrende Fragen stellen müssen, das sehen auch der Winnender Oberbürgermeister Bernhard Fritz oder Astrid Hahn so. Beide loben die Medien auch immer wieder und sprechen von einzelnen schwarzen Schafen. Der Psychologe Thomas Weber koordiniert die Betreuung der Betroffenen in Winnenden, dazu gibt es ein Büro in der provisorischen Schule. Manchmal, sagt er, kommen immer noch Fotografen einfach rein und schießen Bilder. "Besonders durch das unaufgeforderte, unkontrollierte Fragen erinnern sich die Kinder wieder an den 11. März. Dann kochen die Erinnerungen hoch und es kommt zu einer Retraumatisierung", sagt er. Dabei können Medien durchaus bei der Verarbeitung helfen, wenn die Betroffenen von sich aus an die Öffentlichkeit wollen. So ist es bei Kindern und Eltern. Sie haben sich beispielsweise im Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden politisch engagiert. Wichtig sei, sagt Weber, dass die Betroffenen die Kontrolle behalten, denn die ging an dem Tag der Tat vollkommen verloren: "Wenn Kinder und Jugendliche Interviews und Medienarbeit mitgestalten können, dann kann das bei der Verarbeitung helfen", sagt Weber. Besonders regionale Zeitungen hätten das beherzigt. Er nennt einen Artikel des Waiblinger Zeitungsverlags als vorbildlich, der unter Beratung des Dart Centre Europe entstand. Die Organisation bildet unter anderem Journalisten fort, um sie auf eine sensible Berichterstattung über Gewalt und Tragödien vorzubereiten. Auch Kalka hat nach einem halben Jahr einen sehr sensiblen Text für das Magazin der Süddeut-schen Zeitung verfasst. Drei Angebote, ein Buch zu schreiben, lehnte er ab. Ein Mitarbeiter eines renommierter Verlags sagte ihm, er sei nicht richtig betroffen, weil seine Kinder noch lebten.
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Momentan, sagt Kalka, liegt wieder viel Nervosität und Trauer über Winnenden, der Jahrestag zerrt an den Nerven. Astrid Hahn sagt, die Winnender wollen die Opfer zwar nie vergessen. Aber eine solche Gedenkfeier werde es nur dieses eine Mal geben. Dann wird sich der Medien-tross auf andere Themen stürzen. Das Synonym "Winnenden" aber wird bleiben.
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SZ-Magazin, 29. Mai 2009
Zwei Monate nach dem Amoklauf: Der Ort Winnenden versucht langsam, zu so etwas wie All-tag zurückzufinden – auch wenn es fast unmöglich scheint. Notizen aus einer verwundeten Stadt Von Jochen Kalka Der Randstreifen an der Straße ist jetzt fast fertig. Hier, gegenüber der Albertville-Realschule, standen die Übertragungswagen der Fernsehsender, dicht an dicht, tiefe Spuren hatten sie in den Fahrbahnrand gegraben, der Asphalt war angebrochen. Als die Fernsehteams weg waren, kamen die Straßenarbeiter. Winnenden macht sich daran, die Spuren zu beseitigen. Vor dem Schulge-bäude lagen wochenlang Blumensträuße, jetzt erinnern nur noch ein paar verwelkte Blätter an den Amoklauf vom 11. März. Alles andere ist weggeräumt, die Kränze, die Fotos, die Teddybä-ren, die Glückssteine, die Kerzen, die Briefe, die Buntstifte, die Haarspangen, die sich vor dem Schreckensort an der Albert-viller Straße angesammelt hatten. Einige Relikte, heißt es, sollen in einer Gedenkstätte im Rathaus aufbewahrt werden. Zusammen mit dem Kondolenzbuch der Stadt. ---------
Die Menschen kommen wieder aus ihren Häusern. Sie gehen auf den Markt. Sie stehen im Su-permarkt an der Kasse. »In der ersten Zeit hat ja hier fast niemand mehr eingekauft«, sagt Elke Hafendorfer, die Kassiererin des Rewe-Markts in der Altstadt. »Es war so eine Mischung aus Angst und Schockstarre.« Vielleicht könnte man auch sagen: Einkaufen, Rumräumen, Alltag, das schien plötzlich nicht mehr wichtig. Wer denkt schon an Milchvorräte, wenn die Hölle über einen hereingebrochen ist?
--------- In der ganzen Stadt haben Eltern ihren Kindern Tiere gekauft: Hamster, Meerschweinchen, Springmäuse, Hasen. Eine Masseninvasion von Kleintieren. Sie wurden aus Backnang, Wein-stadt, aus Fellbach und auch aus Stuttgart angekarrt, denn in Winnenden gibt es keine Zoohand-lung. »So nach zwei Wochen ist das losgegangen«, sagt Zdenko Maric, der Filialleiter einer Tier-futter-Handlung in der Innenstadt. Eltern wollen ihren Kindern etwas geben, wofür sie sorgen können, etwas, was ein Gefühl von Verbundenheit schafft. ---------
Nie hätte ich gedacht, dass mich dieses Ereignis selbst so schockiert, so lähmt. Dabei darf ich nicht jammern, ich habe kein Kind verloren, keinen unmittelbaren Freund, für meine Familie und mich geht das Leben weiter wie bisher. Nein, stimmt nicht. Es geht natürlich für niemanden hier einfach so weiter. Wir wohnen in Winnenden, meine beiden Töchter gehen hier zur Schule, zum Glück ist es nicht die Albertville-Realschule. Meine Frau ist Lehrerin in Fellbach, rund zehn Ki-lometer entfernt. Unsere Kinder haben am Tag der Tat in ihren Schulen verfolgt, was passierte, sie erfuhren alles in SMS-Nachrichten von Freunden. ---------
»Es wird noch lange dauern, bis die Kinder mit all dem umgehen können«, sagt Bruno-Ludwig Hemmert. Der Mann trägt einen komplizierten Titel, er ist der Sprecher des Kriseninterventions- und Bewältigungsteams der bayerischen Schulpsychologen. Das Team ist seit dem Tag des Amoklaufs in Winnenden im Einsatz. »Noch ist keine Zeit für echte Verarbeitung. Es geht nur um Beruhigung. Man darf nicht zu früh glauben, man habe es geschafft.« Das glaubt hier auch
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keiner. Aber was bleibt den Menschen schon übrig? Sie versuchen, wieder zu etwas Normalität zu finden. Die Lehrer und Schüler der Albertville-Realschule zum Beispiel: Der Unterricht wur-de wieder aufgenommen. Nicht in der alten Schule, das will den Kindern niemand zumuten. Also waren sie bisher in den beiden Gymnasien nebenan und in der schräg gegenüberliegenden Ge-schwister-Scholl-Realschule untergebracht, jetzt sind sie in ein eigenes Quartier umgezogen: ein Containerdorf. Was die Albertville-Realschule angeht, war im Rathaus und im Lehrerkollegium von Umbau die Rede, sogar von Abriss. Mittlerweile steht fest, dass die Schüler eines Tages wieder in das Gebäude zurückkehren sollen. ---------
Als ein paar Wochen nach der Tat die Schulleiterin Astrid Hahn ihre Schüler während des Unter-richts besuchen wollte und an der Tür eines Klassenzimmers klopfte, sprangen Kinder schreiend auf, manche flüchteten in die Ecken. Auch der maskierte Amokläufer soll am 11. März an der Tür des ersten Zimmers geklopft haben, an dem er vorbeikam, ganz genau weiß man es nicht. Als er den Raum dann betrat, rief ein Schüler »Fasching ist vorbei«, dann schoss der Amokläufer los. Schon der bloße Gedanke, da kommt ein Unbekannter von außen, lässt alles wieder hoch-kommen. Mittlerweile gilt die Regel für alle: nicht anklopfen. Um Ostern herum, rund einen Monat nach der Tat, wird zum ersten Mal ein wenig aufgeräumt. Die Feuerwehr lässt ihre auf Halbmast gesetzten Fahnen zuerst verschwinden. Die Agip-Tankstelle an der Bundesstraße 14 zieht die Fahnen wieder nach oben, ebenso Rewe und Obi. Bei »McDonald‘s« hatten sie eine schwarze Schürze über das »c« im Schriftzug gebunden, der improvisierte Trauerflor wird jetzt entfernt. Ein einziges Trauerband wird noch Wochen später am Ortsschild von Winnenden flattern. Die roten Andachtskerzen beim Drogeriemarkt Müller bleiben: Sie wurden dort bald nach der Tat kistenweise angeboten, gleich beim Eingang. Wenn man jetzt davor ein paar Minuten stehen bleibt, kann man tatsächlich zwei alte Damen im Vorbeigehen schimpfen hören: »Eigentlich schlimm, dass der ein Geschäft draus macht« - »Ach geh, wenn der keine Kerzen hätte, wär‘s aber auch nicht gut.«
--------- Die letzten Fahnen, die eingezogen werden, sind die vor dem Rathaus. »Nun kämpfen und arbei-ten wir dafür, dass unsere Stadt wieder so lebens- und liebenswert erstrahlt, wie sie bisher war«, sagt Oberbürgermeister Bernhard Fritz. Worte, die stark klingen sollen, nach vorn gerichtet. Nun ja. »Es ist für uns alle hier sehr schwer, wieder zur Normalität zurückzukehren. Es wird auch noch lang dauern.« Fritz schluckt. Man kann verstehen, warum sich Bruno-Ludwig Hemmert vom Interventionsteam um ihn Sorgen macht. Der Bürgermeister musste sich um so vieles kümmern, durfte keine Schwäche zeigen. Er war ja der exponierteste Bürger der Stadt. »Ich habe ihn gefragt, wer kümmert sich um Sie?«, erzählt Hemmert, »Darauf sagte er: Meine Tochter, die ist Sozialpädagogin.«
--------- Als die ersten warmen Tage kommen, wagen sich die Menschen zögerlich raus. Beim Rundgang durch den Ort kann man Leute sehen, die aufräumen, die ihre Häuser herrichten. Eine Frau streicht ihren Balkon in frischem Gelb, andere pflegen ihre Gärten, fast scheint es, als pflanzten sie mehr Blumen als sonst. Mehr Farbe gleich mehr Lebensfreude. Geht das? --------- Der Drang aufzuräumen, alles neu herzurichten, überträgt sich auch auf die Kinder. »Papa, guck mal in meinen Schrank«, sagt meine elf Jahre alte Tochter voller Stolz. Sie sortiert ihre Regale neu, ihre Kleiderschränke, sie mistet Spielsachen aus, von ganz allein. Ein Selbstreinigungspro-zess.
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Seit dem Ereignis sind 70 Psychologen in Winnenden. In Erfurt damals waren es nur zehn. »85 Prozent der Menschen sind Selbstheiler«, sagt Hemmert, der Teamleiter. »Viele sehnen sich da-nach, das Thema könnte einfach irgendwie weg sein, ein beinahe kindlicher Wunsch. Er ist aber nicht realisierbar. Man kann, was passiert ist, nicht ungeschehen machen. Es ist Teil des Lebens, man muss es annehmen.« Die Kosten für die Einzelbetreuung der Schüler sind mit der Unfall-versicherung abgedeckt, denn ein Amoklauf gilt als Schulunfall.
--------- Und dann gibt es die Menschen, für die eine Rückkehr in den Alltag einfach nicht möglich ist. Die irgendwas tun müssen, für sich selbst und gegen die Stille zu Hause. Die Familien von acht Opfern des Amoklaufs haben eine Stiftung gegen Gewalt an Schulen gegründet. Sie sammeln Unterschriften für strengere Waffengesetze und ein Verbot von gewaltverherrlichenden Compu-terspielen. Immerhin: Die große Koalition plant eine Verschärfung des Waffenrechts, aber wie weit die wirklich gehen wird, ist noch offen. Die Stiftungssprecherin Gisela Mayer sagt: »Was zu wünschen wäre, wäre ein bisschen Mut.«
--------- Die Eltern des Amokläufers hat niemand mehr in Winnenden gesehen. Erst zogen sie wochen-lang von Bekannten zu Bekannten, mit ihrer 13-jährigen Tochter, einem sehr beliebten Mädchen, Klassensprecherin am Lessing-Gymnasium. Für kurze Zeit wohnten sie in Leutenbach, nicht weit von Winnenden. Inzwischen leben sie irgendwo im schwäbischen Hinterland, unter falschem Namen. Der Vater hat in seiner eigenen Firma, einem Verpackungsunternehmen im benachbarten Affalterbach, einen neuen Chef eingesetzt. ---------
»Ketchup? Wieso ist denn dieses Päckchen Ketchup in deinem Mäppchen?«, frage ich meine Tochter. »Wenn wieder ein Amokläufer kommt«, sagt sie, »schmier ich mich damit voll und stelle mich tot.« Sie meint es völlig ernst. Spaß verstehen die Schüler von Winnenden nicht mehr. In den ersten Wochen nach dem 11. März fehlt der Stadt jegliches Kinderlachen. Die Stadt ist wie ein Wohnhaus, in dem Angehörige verstorben sind. ---------
Ausgerechnet der Mandolinenclub Schwaikheim bricht als Erstes das Schweigen. Ein Konzert, knapp zwei Wochen nach dem 11. März. »So sanft klingen die Saiten der Mandolinen, so ein-schmeichelnd friedlich, dass sie auch für Trauernde Labsal sein sollten«, schreibt die Winnender Zeitung. Und der »Mitsingclub« bietet »trotz trauriger Zeit« Gelegenheit, »unsere momentane Stimmung auszudrücken« - mit einem Liederprogramm, das »vielleicht dazu beiträgt, dass unse-re Seelen wieder ein wenig ins Schwingen geraten«.
--------- Die Situation erinnert an die Zeit nach dem 11. September 2001. Damals war die ganze Welt im Schockzustand. Niemand wusste: Wie lang ist Schweigen geboten? Wie lang muss das normale Leben aussetzen? Ab wann darf man eigentlich wieder lachen? Als sich damals Harald Schmidt als Erster wieder mit Scherzen vor die Kamera traute, hielt ganz Deutschland den Atem an: Geht das? Darf der das?
Auch in Winnenden schweben diese Fragen jetzt ständig über allem. Wochenlang wurde alles abgesagt, das ganze Leben geradezu: der Auftritt des Amaryllis Quartetts, der Seniorentanz im »Schloss-Café«, die Vernissage von Dorothea Geppert-Beitler. Auch der »Tag des Baumes«, die Aktion »Winnenden putzt«, die Jugendgemeinderatswahl, die Sportlehrerehrung, abgesagt wurde
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sogar der Auftritt des regionalen Comedy-Stars Andreas Müller im 40 Kilometer entfernten Böb-lingen. Jetzt geht es wieder los, behutsam. Am 7. Mai tritt das Amaryllis Streichquartett doch noch auf. Am 10. Mai findet der Comedy-Auftritt von Andreas Müller in Böblingen statt. »Die Zeit war hier angehalten wie eine Uhr«, sagt der Psychologe Hemmert. »Aber so, wie es ein Davor gab, muss es auch ein Danach geben.« Abgesagt bleiben Stadtfeste wie der »Wonnetag« im Mai oder auch der »City-Treff« im Juli, in früheren Zeiten ein Riesenrummel zwischen all den Fachwerk-häusern. »Die Wunden, die der Amoklauf geschlagen hat, sind tief«, entschuldigt sich Oberbür-germeister Fritz. Dennoch wolle man den Jugendlichen der Stadt etwas bieten, für den Herbst ist ein Open-Air-Konzert geplant. ---------
Vielleicht tun sich die Älteren fast schwerer damit, jetzt wieder Worte zu finden. Die jungen Menschen machen das, was junge Menschen eben tun: Sie gehen ins Internet. Die meisten Schü-ler tauschen sich in Internet-Foren aus, besonders viele auf dem regionalen Sozialen Netzwerk Kwick.de. Freunde der Opfer stellen dort Videos ihrer getöteten Mitschüler ins Netz und schauen sie sich fast täglich stundenlang an. Explosionsartig entwickelt sich Kwick zu einer der meistge-nutzten Sites in Deutschland, überholt im März MySpace und knackt die Marke von einer Milli-arde Seitenaufrufe (zum Vergleich: Spiegel Online hatte im März 688 Millionen Seitenaufrufe). ---------
Im Blumenladen an der Schorndorfer Straße: Von fern hört man das Martinshorn eines Polizei-wagens, ganz leise nur. »Immer wenn man das hier hört«, sagt Tanja Zelder, die Blumenverkäu-ferin, »bleiben alle stehen, keiner sagt was, keiner bewegt sich.« Es wird Ewigkeiten dauern, bis die Menschen hier beim Klang eines Martinshorns nicht mehr automatisch an den 11. März den-ken. ---------
Als ich zum ersten Mal sehe, dass meine ältere Tochter den kleinen Schutzengel nicht mehr trägt, den sie von ihrer Oma geschenkt bekommen hat, frage ich: »Hast du ihn vergessen?« - »Nein«, sagt sie, »ich will ihn nicht mehr tragen. Er erinnert mich immer daran. Und ich will nicht mehr daran erinnert werden.«
--------- Ich ertappe mich dabei, wie ich im Auto nach dem Start alle Türknöpfe verschließe. In der Angst, ein Amokschütze könnte mich in meinem Auto überfallen. Wenn ich vor der Musikschule warte, um meine kleine Tochter abzuholen, sehe ich direkt vor mir den Parkplatz, von dem der Täter am 11. März mit dem VW flüchtete, genau auf dem Jakobsweg, der Winnenden an dieser Stelle kreuzt. 2345 Kilometer sind es von hier bis Santiago de Compostela, steht auf einem Schild an der riesigen Jakobuslinde. ---------
Bis vor Kurzem hing am Eingang zur Fußgängerzone noch das große Transparent. »Wir trauern« stand darauf. Mehr nicht. Dann wurde es abgehängt, ein paar Tage lang blieb die Stelle leer. Jetzt hängt da ein neues Transparent. Es wirbt für die »WinCard - das neue Einkaufserlebnis in Ihrem attraktiven Winnenden«.
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www.meistergedanke.de, 30. März 2015
Umgang der Medien mit Schülern und Angehörigen in Haltern By Mika Baumeister Zu Beginn ein kleiner Hinweis: Ich selbst bin Schüler am Joseph-König-Gymnasium, kannte beide Lehrerinnen sowie einige der SchülerInnen, die bei dem Flugzeugabsturz am 24. März in Südfrankreich ums Leben kamen. Im Folgenden versuche ich, die Gedanken vieler Schüler so-wie der Angehörigen einiger Familien mit eigenen Erfahrungen zusammenzufassen. Weder war ich der allerbeste Freund eines der Opfer noch möchte ich ein Vertreter für alle Schüler sein. Doch das hier ist das, was viele über die fragwürdigen Methoden erfahren mussten, mit denen ich sprach: Egal ob auf Seite der Angehörigen (Eltern / Geschwisterkinder) oder der der Mittrau-ernden (Schüler / Angereiste aus anderen Städten). Im Prinzip ist das hier schon fast die Nachhut der medienkritischen Beiträge; viele Institutionen veröffentlichten bereits ihre Kritik an der pe-netranten und pietätlosen Berichterstattung (Etwa derDeutsche Journalisten-Verband oder der BILDblog). Dennoch finde ich wichtig, dass auch aus dem Inneren eine Meinung an die Öf-fentlichkeit kommt: Liebe Konsumenten von Klatschblättern oder einigen TV-Sendern, su-chen sie sich neue Berichterstatter!
Liebe Sensations-Journalisten, haben sie schon einmal auf einen Schlag viele ihrer Freunde, Bekannte oder sogar Verwandte verloren? Nein? Bei der Berichterstattung einiger Medien merkt man das. Und gerade jenen
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Pressevertretern möchte ich raten, sich einmal zu überlegen, wie sie sich bei dem letzten Todes-fall in der Familie gefühlt haben. Was würden sie wohl machen, wenn ihre große Trauer von einem noch größeren Aufgebot von Kameras gefilmt wird?
In den letzten Tagen ist so viel passiert, wurde so viel geredet, gab es so viele Gerüchte. Das alles fügt sich zu einem großen Ganzen zusammen. Und dieses ist aus Sicht vieler vollkommen widerlich. Ganz abgesehen von der Tat des Co-Piloten, die ich hier vollkommen außen vor las-sen möchte (ich war nicht in der Lage, mich ausreichend über neue Untersuchungsergebnisse zu informieren), sowie dem Tod der anderen Passagiere, gibt es hier großen Aufklärungsbedarf für die konsumierende Menge. Denn, in einem Satz zusammengefasst: Die Berichterstattung in Haltern war nicht in Ordnung. Fange ich einmal chronologisch an: Dienstag, 13:05. Durchsage von unserem Schulleiter: Alle sollen nach Hause gehen, es sei etwas passiert, die verfrühte Beendigung des Unterrichts sei kein Grund zur Freude. Schon vorher wussten einige, was unter Umständen passiert sein könnte. Im-merhin stand etwa das Datum des Spanien-Austausches in den Schulnachrichten, einige Schüler nutzen ja bekanntlich das Smartphone auch im Unterricht. Und es war auch bekannt, dass der Flieger in Düsseldorf landen sollte. Zusammen mit der Ankunftszeit des Fliegers konnte man – wie in der Pressekonferenz am Mittwoch gesagt wurde – nur darauf hoffen, dass die Schüler den Flieger nicht erreichten oder ein weiteres Flugzeug zur ähnlichen Zeit flog. Der erste Journa-list vor Ort kam von der örtlichen Presse, gegen 13:40 stand die Halterner Zeitung vor der Tür. Durch die physikalische Nähe vollkommen legitim. Ich selbst verließ als einer der letzten Schü-ler gegen 14:00 das Schulgelände, bei insgesamt 2 oder 3 Pressevertretern – wie gesagt, eine öffentliche Bestätigung gab es nicht, die Berichterstattung ließ aber fast keinen Zweifel zu. Zu-hause wurde dann eine Runde Twitter gecheckt: Die ersten „großen Player“, die tatsächlich Hal-tern vermuteten, waren Bild (zumindest unter #Haltern) und Sat1. Der Startschuss um das beste Bild ging also um spätestens 14:30 los. Doof, dass ich mich bei Twitter beteiligte: Ein anonymer Anruf auf dem Haustelefon. Und schwupps, hat die Bild angerufen. Ob ich denn etwas erzählen könne, wie es mir gehe und in welchem Verhältnis ich zu den Opfern stehe. Nun ja, da wurde wohl einfach mal gegoogelt und ein Impressum ausgegraben, in dem man seine Nummer im Normalfall angeben sollte. Einerseits clever, andererseits perfide. Weitere Infos gab es für das Klatschblatt natürlich nicht.
Vorher: Journalisten mit Teleobjektiven für Nahaufnahmen
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Nachher: Trauernde schützen Trauernde durch eine menschliche Blockade
Um 17:30 (wieder an der Schule) ging dann das an einen Zoo erinnernde Schauspiel los: Die Presse hinter ihren Absperrungen begaffte uns Schüler – vergleichbar mit exotischen Tieren im Tierpark und neugierigen Besuchern. Trotz einer immer noch fehlenden 100%igen Bestätigung des Todes gab es bereits jede Menge Tränen. Wir fühlten uns, als würde die Presse nur auf unse-re Reaktion zur endgültigen Affirmation warten, um zerstörte Menschen abzufilmen.
Schon fast zurückhaltend, dennoch deutlich zu erkennende Trauernde. Das Gesicht wurde nachträglich zensiert.
Und was machen die Medien? Großaufnahmen von Leidtragenden! Bild, Sat1, Ruptly, alle mit dabei. Ich selbst hatte keine Zeit, viele passende Fotos und Videos zur Beweisführung heraus zu suchen. Doch wer sich mit den News aus Haltern aktiv beschäftigt hat, wird einige Fotos gese-hen haben – Halterner können sich auf jeden Fall wiedererkennen. Deshalb gab es dann eine Art Selbsthilfe, um zumindest die Arbeit zu erschweren. Mithilfe einer kleinen Menschenmauer wurden die Medien so belagert, dass keine ordentlichen Aufnahmen gemacht werden konnten. Die Absperrung am Dienstag lag noch etwas näher an der Treppe als die am Mittwoch, daher gab es noch einmal besseres Bildmaterial für die Presse respektive die TV-Sender. Bei dem Schutzversuch der Trauernden an dieser Stelle mal ein herzliches Dankeschön an H, K, J, S und natürlich auch den Rest, die mit ihrem Rücken die Sicht versperrten. Vorbildlich verhielt sich anfangs N24. Mit einem kleinen Abstand von etwa 4 Metern zur eigentlichen Grenze (die oft bis zum letzten Zentimeter genutzt wurde) war die Berichterstattung genauso gegenwärtig für das Publikum vor der Mattscheibe, dabei aber deutlich weniger störend für die Anwesenden. Aber auch die ersten schwarzen Schafe taten sich auf: Eine Journalistin meinte, sich freche Sprüche gegenüber uns leisten zu müssen. Sie wurde mit 2-3 Leuten bestraft, die sich vor die Kamera stellten und jede Aufnahme unmöglich machten. Hilfe zur Selbsthilfe. Gegen Abend kamen dann die ersten Witzbolde an, die direkt bis zu den Trauernden gingen. Mit den Kameras direkt an den Grabkerzen und einer immer noch großen Menge Betroffener. Kein Kommentar nötig.
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Haltern am See. Medienaufgebot am 25.03. vor dem Joseph-König-Gymnasium
Dutzende Übertragungswagen blockierten die Bushaltestelle des Schulzentrums. Mittwochmorgen kam es dann zum Höhepunkt des Wahnsinns. Die Absperrung, um etwa 5 Me-ter nach hinten verschoben, war komplett von Redakteuren gefüllt (siehe Foto). Es war vorher abzusehen, dass das Medienaufgebot hoch sein werden wird. Doch wie viele nun tatsächlich da waren, überraschte alle. In der Regel wird der Ort, an dem die Journalisten standen, komplett mit Fahrrädern der Schüler gefüllt. Keiner wird nachgezählt haben, aber der Eindruck des oben ge-nannten Zoos verstärkte sich noch. An die Verstorbenen gedenken konnte so im Prinzip niemand wirklich. Sie können ja einfach mal mit den Gedanken spielen: Man wird von allen Winkeln beobachtet und soll seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Wer nicht genügend Imagination besitzt, um sich das vorzustellen, hier ein kleiner Hinweis: Geht nicht. Den Schülern bot sich zwar die Möglichkeit, auch in der Aula zu trauern. Doch die Stimmung an im Freien ohne eine räumliche
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Enge war für viele angenehmer, außerdem konnten (und können immer noch) Kerzen abgestellt werden. Eltern von Schülern blieben generell außen vor und mussten in der Regel draußen blei-ben.
Full-House bei der Pressekonferenz im neuen Rathaus. Schulleiter Wessel wird von Journalisten an die Wand getrieben.
Nachher bei der Pressekonferenz im neuen Rathaus kam die Frage auf, wie denn das Medienauf-gebot den Trauernden helfen könne. „Wie wichtig ist es, dass die Medien in diesem Maße auch aus so vielen Ländern berichten?“ Sylvia Löhrmann sagte sinngemäß, dass es für die Angehöri-gen wichtig sei, zu sehen, wie stark das Leid geteilt werde. Sie sprach desweiteren darüber, dass die Schüler ihren geschützten Raum brauchen, um die Situation zu verarbeiten. Doch wenn wir schon auf dem Weg zur Schule gefilmt und befragt werden, gehen wir schon mit einer Vor-belastung in die Klassenräume und wir können definitiv nicht so mit der Situation umgehen, wie es eigentlich sein sollte.
Reicht es denn nicht theoretisch, wenn nur 4 Kameras vor Ort sind? Etwa die ARD für die ers-ten, zweiten und dritten Programme, die dpa sowie Reuters für private Sender und die Lokalzei-tung? Das Bildmaterial hinter der Absperrung ist im Prinzip das Gleiche – und hier kommt dann aberdas unbeschreiblich Böse ins Spiel.
Geld für Bilder aus der Schule und Interviews – Geht’s noch? Laut einem Seelsorger soll sich sogar ein Journalist mit einer Notfallseelsorger-Warnweste unter die Schüler gemischt haben. Ich glaube, dazu braucht man überhaupt nichts sagen, das ist einfach nur sehr traurig. Allgemein scheint es wohl auch Personen gegeben haben, die mit dem Stereore-korder in der Tasche zu den Kerzen herantraten, um Gespräche aufzuzeichnen; Handykameras unter einem Strauß Blumen sollen für Exklusivbilder genutzt worden sein. Eine Person sollte wohl versucht haben, sich als Lehrer zu verkleiden – nur doof, dass man bei einer solch kleinen Schule das Kollegium (etwa 80 Lehrer) kennt. Auf so eine schlechte Idee muss man erst einmal kommen. Würde die Sensationshascherei dort wenigstens aufhören. Aber nein. Geld für Interviews oder Aufzeichnungen der Gespräche in den ersten Stunden des Mittwochs wurden ebenfalls geboten. Das besthonorierte vor-Ort-Interview wäre wohl bei etwa 80€ dotiert gewesen, soweit ich weiß, gab es auch Einladungen zu Talkshows mit höheren Vergütungen. Diese Interviewanfragen gin-gen aber nicht immer an halbwegs reife Personen aus der Oberstufe, sondern auch an unschuldi-ge Seelen aus den Klassen 5-7. Mit 10-13 Jahren alten Personen solche Deals zu machen, ist nicht mehr fragwürdig, sondern grenzt an krimineller Energie. Es hat einen guten Grund, warum es Vormünder gibt. Doch diese konnten hier leider nicht eingreifen. Mit vorne dabei: Natürlich die Bild-Zeitung. Nachher will es natürlich wieder keiner gewesen sein, Herr Diekmann. Ärger-
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lich, dass es hier leider keine handfesten Beweise gibt. Dabei hatte mir ihr Mitarbeiter am Tele-fon doch eigentlich noch gesagt, dass die Zeitung seriös arbeiten möchte und Persönlichkeits-rechte geschützt werden würden.
Ich möchte an dieser Stelle an einige Paragrafen des Pressekodex erinnern, der in der Regel zu-mindest den Berichtenden bekannt sein sollte. Für alle anderen: Hierbei handelt es sich um pub-lizistische Grundsätze, die die Berufsethik der Arbeit eines jeden leiten sollen. Bei der Beantra-gung eines Presseausweises stimmt man der Einhaltung der Paragrafen zu – durch meine Tätig-keit bei verschiedenen Webseiten habe auch ich einen Presseausweis und dadurch auch diese Grundsätze unterschrieben.
4. Grenzen der Recherche Bei der Beschaffung von personenbezogenen Daten, Nachrichten, Informationsmaterial und Bildern dürfen keine unlauteren Methoden angewandt werden.
Die Bestechung zur Heranschaffung von neuen Infos ist skrupellos und zeugt von schlechtem Geschmack.
8. Persönlichkeitsrechte
Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestim-mung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erör-tert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sen-sationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung.
Bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Großaufnah-men von Trauernden sind für mich äußerst identifizierend. Und bei den Schlagzeilen einiger Medien nicht von einer reißerischen Überschrift zu sprechen, wäre heuchlerisch. Ein Bild der bereits verheirateten Spanischlehrerin am Mittwochmorgen auf der Webseite der Bild (relativ schnell wieder gelöscht, aber es war sichtbar) gab es ebenfalls zu sehen. Leider habe ich keinen Screenshot vorliegen. Zu dem Punkt des Privatlebens komme ich später noch einmal, auch da gibt es einige Stories, die erzählt werden müssen.
11. Sensationsberichterstattung und Jugendschutz Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Bru-talität und Leid. Die Presse beachtet den Jugendschutz.
Vom Leid sprachen wir bereits. Da muss nichts weiteres hinzugefügt werden. Zum Teil Jugend-schutz ist an sich nur der zu sehende / hörende Teil gemeint; etwa dass FSK-Freigaben beachtet werden müssen. Doch zum Jugendschutz gehört auch, dass bei der Erstellung von Material mit Minderjährigen ein richtiger Umgang unbedingt nötig ist.
Dauernde Berichterstattung macht es nicht besser
Markus Preiss (ARD) während einer Liveschaltung aus Haltern.
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Wenn alle 5 Minuten der gleiche Experte sagt, dass es keine neuen Infos gibt, dann sollte man sich überlegen, ob man vielleicht aus 10 Stunden Sondersendung 2 Stunden macht. Gibt das wirklich so gute Quoten, N24? Der gleiche Einspieler, die gleiche Behauptung, das gleiche Ge-rücht – Wie oft hat Steffen Schwarzkopf sich wiederholen müssen, nur um die Sendung zu fül-len? Er hat wortgewandt mit immer neuen Formulierungen das exakt identische gesagt. Das zeugt von einem gut ausgebildeten Berichterstatter, macht auf der anderen Seite aber auch die Verzweiflung der Produktionsleiter deutlich, für die die Sendung weitergehen muss. Wer ein Interview gab oder auch nur kurz mit einem Berichterstatter sprach, wurde direkt von einer gro-ßen Meute belagert. Ob man den anderen auch Infos geben könne, und sei es auch nur eine kurze Beschreibung der aktuellen Gefühlslage. Jeder Leser dieses Textes darf sich nun kurz überlegen, wie man sich nach dem Tod von seinen Freunden fühlt.
Ob ein Kondolenzschreiben wie dieses an die Öffentlichkeit gehört?
In der Halterner Sixtus-Kirche durfte nicht gefilmt werden – das hinderte die Redakteure vom Focus nicht daran, eine Nachricht im Kondolenzbuch zu kopieren und zu veröffentlichen. Mo-ment, für wen waren Kondolenzbücher noch einmal gedacht? Sicherlich nicht für die breite Öf-fentlichkeit. Wäre es eine Trauer um alle Verstorbenen, gäbe es sicherlich wenig Einspruch. Doch die zitierte Stelle ist eindeutig an eine einzige Person gerichtet; durch den genutzten Aus-schnitt des Textes ist auch der Kurs eindeutig identifizierbar, der dieses Schreiben hinterließ. Auch interessant sind die Medien, die erst in der ersten Reihe stehen und sich nachher zurück-ziehen. Begründung: „Wir wollen den Schülern ihren Raum zum Trauern lassen“. Aber warum kommen sie dann überhaupt am ersten Tag direkt zur Schule und bleiben nicht fern?! Diese ge-spaltene Zunge war in den letzten Tagen häufig zu sehen, zu lesen und zu hören.
Das unverschämteste aber war, dass einige Reporter im Kreis standen und lauthals anfingen zu lachen. Einer von ihnen hüpfte herum. Es war weder Respekt noch Anteilnahme zu spüren. Laut-hals los zu lachen, zwanzig Meter entfernt von vielen Trauernden, finde ich unmenschlich(…) – Zitat einer Mitschülerin
Belästigung der Familien über alle Kanäle Die Schule, die Kirche sowie das Rathaus waren in den letzten Tagen die Hauptspielplätze der Presse. Doch Bild, Bunte, Spiegel TV (sprich RTL) sowie zwei englisch sprechende Französin-nen ließen sich nicht beirren und klingelten tatsächlich an die Türen einiger betroffener Familien. Wie war das noch einmal mit dem Pressekodex, Paragraf 8? Durch zusätzliche Anrufe – immer mit unterdrückter Rufnummer – stellte sich bei den Betroffenen zum Teil ein Angstzustand mit der Angst, verfolgt zu werden, ein. Dabei waren die Anrufe nicht nur an normalen Zeiten, auch mitten in der Nacht soll es geklingelt haben. Ein Telefonat soll besonders krank gewesen sein. Ein scheinbar junges Mädchen rief bei einer der Opferfamilien an. Das Gespräch ist an dieser Stelle sinngemäß nachgebildet:
„Hallo, ich komme aus der Stufe unter [der verstorbenen Person]. Mir tut das so leid.“ „Also aus der neunten?“
„Ja, ich glaube schon. Wann ist der Trauergottesdienst?“
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Ekelhaft. Wie grässlich es sein muss, mit tiefstem Schmerz auch noch Angst vor heuchlerisch-freundlicher Presse vor dem eigenen Heim, dem Rückzugsort, haben zu müssen.. Doch die Fami-lien selbst reichen den Voyeuren ja auch nicht: Die Bild ging noch weiter und suchte nach Per-sonen, die auf den Facebook-Profilbildern der Verstorbenen markiert waren. Und wurden leider auch fündig. Diese skrupellose, unseriöse Gruppe von Journalisten macht angeblich nur ihren Job – diese Ausrede hörten wir in den letzten Tagen so oft. Doch ihr Job kann auch anders erle-digt werden. Das sieht man bei den Öffentlich-Rechtlichen Programmen. Keine Spekulation, keine Hetzjagd auf Angehörige, keine Interviews gegen Geld – und doch gab es exakt die glei-chen Informationen. Wieder mein Appell an diese pietätlose Randgruppe von Journalisten: Was wäre, wenn sie ein Betroffener sein würden? Was glauben sie Leser, wie erleichtert wir uns fühlten, als am Donnerstagabend zum ersten Mal seit Dienstag keine Journalisten mehr hinter uns standen und uns ablichteten. Die Stimmung än-derte sich; die angespannte Atmosphäre wich einer angemessenen Befindlichkeit.
Eine Redaktion, die sich anscheinend selbst nicht kennt
Dieser Herr von Spiegel TV kannte nicht einmal seine Kollegen. Ich erwähnte ja bereits, dass die Team von Spiegel TV an der Tür mindestens eines der Opfer klingelte. Nun ja, am Samstag war dann einer des Teams an der Schule und machte Filmaufnah-men von den Kerzen sowie der Trauernden. Ich wies ihn darauf hin, dass die Flatterbandsperre auch für ihn gelten würde. Zuerst einsichtig ging er 5 Meter zurück, nur um dann wieder nach vorne zu treten und aus einem anderen Winkel zu filmen. Wow, was für eine Einsicht. Später sprachen wir noch einmal kurz miteinander. Was mich denn daran stören würde. Er hatte wohl schon wieder vergessen, dass er die Kamera auf einen der vielen abgelegten Briefe und Gedichte hielt. Schließlich machte er ja nur Aufnahmen vom Kerzenmeer.
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Dann kam aber der Knüller: Die Frage, was er denn davon halten würde, dass seine Kollegen bei den Betroffenen zuhause waren, konnte er nicht beantworten. Das würde die Bild zwar machen (sic!), aber Spiegel TV eigentlich nicht. Da fallen einem nur zwei Lösungen ein: Entweder hatte der Kameramann einen Fall von akuter Demenz bei geringem Alter. Oder, ganz unwahrschein-lich, log er ja vielleicht einfach. Man weiß es nicht!
Dutzende Freundschaftsanfragen nach dem Flugzeugunglück Wofür die Medien eher weniger etwas können, sind die Freundschaftsanfragen bei den Betroffe-nen. Dutzende Fremde wollten symbolisch mit den Schwestern, Brüdern und Eltern befreundet sein – einfach nur, um es zu können. Dennoch: Jede Person, die nur ein Trauerbanner auf der eigenen Facebook-Seite hatte, bekam Anfragen. Ob dazwischen auch einige Redakteure waren? Mit Sicherheit. Viele werden Fakes gewesen sein, um etwa Beiträge von Trauernden lesen zu können.
Und der nächste Medienrummel kommt bestimmt
Beerdigungen, Trauermarsch, Jahresseelenamt: All diese Ereignisse stehen in der Kleinstadt Hal-tern noch an. Der 4. April steht bereits als Datum für den Trauermarsch fest, hier ist wieder mit einem großen Medienaufgebot zu rechnen. Die Hoffnung liegt auf der Anonymität der Masse: Vielleicht schaffen es die Vertreter ja, keine Nahaufnahmen zu machen.
Die noch anstehenden Veranstaltungen können von den Journalisten genutzt werden, um zu zei-gen, dass man auch ordentlich, mit Anstand und Würde über Angehörige und deren Trauer be-richten kann. Wir Halterner würden uns auf jeden Fall über ein gemäßigtes Aufgebot an Kame-ras und weniger Einsatz von Vergrößerungsoptiken freuen.
Liebe Pressevertreter: Erinnern sie sich an die Versprechen, die einst bei der Entgegennahme des Presseausweises gegeben wurden. Zeigen sie, dass sie noch Scham und Mitgefühl empfin-den. Versuchen sie nicht, das exklusivste Bildmaterial zu bekommen, koste es was es wolle. Liebe Konsumenten von Bild, Bunte und Co.: Vermeiden sie, die reißerischen Neuigkeiten zu lesen. Seriöse Portale bieten bessere Infos, hetzen weniger und sind generell objektiver. Sie fi-nanzieren als LeserInnen im Prinzip die Journalisten, die letzten Endes bei den Angehörigen vor der Haustüre stehen. Vielleicht ist die Zwangsabgabe an ARD, ZDF und die Dritten gar nicht so verkehrt. Wo Moral und Scham enden, beginnt der Journalismus.
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Auch skrupellose Seitenbetreiber bei Facebook nutzten die Trauer, um für ihre Veranstaltungen möglichst viele Teilnehmer zu mobilisieren. Inzwischen 37.000 Personen nehmen am Event von „Kifferfakten“ teil.
Disclaimer: Ich sprach am Dienstag kurz mit Channel5 sowie der ARD (Markus Preiss Dienstag und Jens Eberl Mittwoch-Freitag). Bei der Pressekonferenz am Mittwoch kam es zu einem kur-zen Gespräch mit RTL. Dienstag rief die Bild-Zeitung an. Für Angaben mit konkretisierten Me-dien liegen zum Teil Screenshots und Links vor. Meine Quellen sind direkte Angehörige, fremde Trauernde, meine Freunde, Notfallseelsorger und Lehrer.
Quelle: http://meistergedanke.de/2015/umgang-der-medien-mit-schuelern-und-angehoerigen-in-haltern/43
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Dartcenter, 28. April 2014 (www.dartcenter.org)
Fotos Andrea Gjestvang
Die Wucht der Bilder
Michael Pfister ist Bildredakteur. Er wählt aus, was wir zu sehen bekommen und verteidigt sei-ne Foto-Auswahl nicht selten gegen die Wünsche von Chefredaktion und Art Director. Pfister beauftragt Fotografen weltweit und beschäftigt sich dabei seit vielen Jahren mit Krisenberichter-stattung und Ethik. Er beobachtet die weltweite Diskussion über die Macht der Bilder, gerade, wenn es um Katastrophen, Kriege und menschliche Tragödien geht. Im Interview mit Petra Ta-beling vom Dart Centre Deutschland spricht er über seinen ethischen Anspruch und die Realität in den Redaktionen.
Petra Tabeling: Herr Pfister, man könnte ja annehmen, dass Katastrophen relativ leicht zu fotografieren sind, denn man muss einfach nur draufhalten bei dem, was passiert. Es brennt, es gibt Trümmer, verletzte oder weinende Menschen. Ist das so einfach? Michael Pfister: Nein. Gerade in solchen Fällen kann man die Fotos erfahrener Fotojournalisten von einfachen „Schnappschüssen“ meist gut unterscheiden. Müssen z.B. Leichen wirklich abge-lichtet werden oder reicht es, wenn man Opfer aus Distanz erahnen kann? Welche symbolischen Elemente können ein Foto vielschichtiger machen? Ich persönlich möchte eine angemessene Berichterstattung und bevorzuge Nuancen. Dazu gehört nicht, dass man ein Bild vom brennen-den Wrack mit Leichen zeigt. Wir wissen doch gar nicht, wann und wo es unsere Leser sehen und wie stark es sie dann schockiert. Außerdem geht es dabei auch um die Angehörigen der Ver-unglückten. Erfahrene Fotojournalisten wählen nicht die erstbeste und einfachste Position für ein Foto, son-dern versuchen zum Beispiel, die Situation vom Großen zum Kleinen zu verorten. Sie achten auf Details wie Gesten, Körperhaltung und Blicke, Spuren, Umgebung – sie versuchen die Atmo-sphäre visuell stimmig einzufangen. Im besten Falle vereint ein spannend aufgebautes Bild ver-schiedene Aspekte: z.B. im Vordergrund eine Rettungskraft, die einen Gegenstand aufhebt, und im Hintergrund ein Teil des abgestürzten Flugzeuges.
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Junge Fotografen können von ihren erfahrenen Kollegen viel lernen, wenn sie deren Arbeiten gezielt studieren. Und für mich als Bildredakteur in der Redaktion ist es wichtig, jedes Foto ein-ordnen und nach Möglichkeit auch verifizieren zu können. Dazu gehören die fünf journalisti-schen W’s in der Bildlegende: Wer, Wo, Was, Wann und Warum. Haben Sie Beispiele für Fotos, die Sie nicht gedruckt haben?
Ja, ich habe zum Beispiel häufig schon nicht journalistische, gestellte und inszenierte Fotos aus-sortiert. Außerdem entscheide ich mich gegen Fotos, die mir Fotografen und Nachrichtenagentu-ren zugesendet haben, die ich jedoch nicht auf ihren Wahrheitsgehalt verifizieren konnte. Wenn ich Fotoreportagen beauftrage, achte ich darauf, dass Fotografen und Reporter auch zu-sammen passen. Zum Beispiel haben wir zum Grubenunglück in der Türkei im Mai 2014 einen bestimmten Reporter hingeschickt, aber der gewünschte Fotograf konnte nicht und ich sollte jemand anderen suchen. Ich hatte zwei erfahrene Fotografen, von denen ich weiß, dass sie sensi-bel vorgehen. Da ich aber den Reporter kannte, wusste ich, dass er sie ggf. dazu drängen würde, Dinge zu tun, die sie nicht unterstützen würden. Ein lokaler Fotograf vor Ort hat dann Bilder gemacht von einer Frau, die ihren Mann verloren hat. Bei dieser Reportage wurden verschiedene Regeln gebrochen: Es war z.B. sehr deutlich, dass die Frau traumatisiert war, und man hätte sie nicht vor die Kamera zerren sollen. Ich wusste vorher schon, dass diese Reportage nur Leid ver-ursachen würde, konnte mich in der Redaktion aber nicht durchsetzen. Immerhin konnte ich den beiden mir bekannten Fotografen diesen Konflikt ersparen.
Wie gut kann man im journalistischen Tagesgeschäft auf solche Dinge Rücksicht nehmen? Ich denke, dass das eher bei Wochen- oder Monatszeitschriften möglich ist. Bei täglich erschei-nenden Medien werden diese Fragen nicht gestellt, da geht es um das schnelle Entscheiden und Handeln. Über die Konsequenzen wird nicht nachgedacht, denn morgen gibt es schon das nächs-te Thema, die nächste Ausgabe. Sensibilität braucht Zeit und man muss sie entwickeln. Als ich vor zehn Jahren angefangen habe, mich mit Krisenberichterstattung auseinanderzusetzen, habe ich gemerkt, dass es Journalisten gibt, die sich seit 30 oder 40 Jahren mit diesem Thema beschäftigen. Und nur weil sie stetig dazu lernen, sind sie in der Lage, diesen Job zu machen. Ich habe sehr viel mit verschiedenen Fotogra-fen zusammengearbeitet und es war immer eine Vertrauensbasis da. Ich versuche meistens, mit-tel- und langfristig nachhaltige Kontakte zu Fotografen aufzubauen und sie für schwierige The-men zu sensibilisieren. Dann kann man auch Krisen gemeinsam meistern, weil man eine gemein-same Haltung entwickelt hat und eine gemeinsame Sprache spricht. Aber man muss sehr viel Ausdauer mitbringen, um solche Kontakte zu entwickeln.
Ein Beispiel für das Dilemma im aktuellen Tagesgeschäft war der Flugzeugabsturz über der Ukraine im Juli 2014. Der Fotograf Jerome Sessini hat als einer der ersten Fotos vom Unglücksort gemacht, und u.a. tote Körper noch im Stuhl sitzend oder die Tagebuchein-träge eines Kalenders gezeigt. Das löste viele Diskussionen aus – wo sind aus Ihrer Sicht die Grenzen der multimedialen Darstellung? Ich saß an dem Tag in der Redaktion. Neben den offiziellen Agenturen sah ich auch die Websei-te des US-Nachrichtenmagazins TIME, die in ihrem Fo-tobloghttp://lightbox.time.com herausragende Fotos sehr früh publizieren. Diese Fotos haben sich stark abgehoben von dem, was die Agenturfotografen produziert haben. Und ich wusste intuitiv, dass sie über den Moment hinaus wichtig sein werden – positiv oder negativ. Sessini, mit dem ich zu diesem Zeitpunkt auch schon zusammen gearbeitet hatte, hat die Bilder beinahe poetisch umgesetzt. Er hat auch bewusst Dinge ausgelassen. Er hat seine Bilder so kom-poniert, hat die Tragödie so abgebildet, dass seine Bilder auch in Zukunft noch aussagekräftiger sein werden als das Foto, dass an diesem Tag in jeder Zeitung erschienen ist. Ich konnte seine
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Bilder nicht bekommen und habe mich dann an dem Tag für ein anderes Bild entschieden, für einen leeren Flugzeugsessel im Kornfeld. Dies war für mich auch sehr berührend. Solche sym-bolhaften Fotos haben es aber sehr schwer, in die Zeitung zu kommen, denn die Redakteure funktionieren häufig nach dem gleichen Muster: Sie wollen das Wrack sehen, möglichst persön-liche Dinge von Menschen, die dort umgekommen sind, und sie wollen ein möglichst aktuelles Fotos sehen, den letzten Stand der Dinge. Aktualität und Aufmerksamkeit sind die wichtigsten Kriterien, nicht Einordnung und Informati-on – und dieser Trend nimmt zu. Die Medien kommen durch Internet, Facebook-Bilder und Y-outube-Videos von Menschen vor Ort immer mehr in Zugzwang, aber sie reflektieren diese Quellen nicht und ordnen sie nicht ein. Es wird einfach raus gesendet, einfach gedruckt. Und das ist schade.
Als moralischen Tiefpunkt empfinde ich die Bildergalerien von Opfern, die immer wieder ge-druckt werden, teilweise mit Fotos aus persönlichen Quellen, teilweise aus Facebook.
Diese Fotogalerien sind sehr umstritten, werden aber immer wieder gemacht. Wie kann man sich als Bildredakteur dieser Entwicklung entgegen stellen?
Der Zeitdruck und die Komplexität hat zugenommen, auch in einer Print-Redaktion. Die Leser können heutzutage alle Fotos konsumieren, ob die Zeitung sie nun druckt oder nicht. Ich bin der Ansicht, dass die Zeitungsredaktionen die Aufgabe eines Filters haben sollten. Eine Zeitung soll-te bewusst Fotos drucken oder sich bewusst dagegen entscheiden.
Das Berufsbild des Fotoredakteurs hat sich stark verändert. Die Herausforderung ist, alles Mate-rial, alle Fotos, die man auf legalem Wege zugestellt bekommt oder beschaffen kann, durchzu-schauen, auszuwählen und zu präsentieren. Durch das Internet kommt aber eine ganz neue Di-mension dazu: Das „Monitoring“. Wir müssen permanent schauen, was machen die anderen Me-dien mit riesigen Newsrooms, die Daily Mail, der Guardian oder die New York Times? Das ist eine in den vergangenen Jahren neu hinzugekommene Zusatzaufgabe, wird aber vorausgesetzt. Denn wenn man das nicht macht, kommt ein anderer Redakteur mit einem Bild aus dem Internet und dieses hat plötzlich Vorrang vor den eigenen Quellen. Dann muss man aufwändig suchen, aus welcher Quelle dieses Bild stammt. Die eigenen Qualitätsstandards werden immer neu durcheinander gewirbelt, weil immer mehr Material auf einen einprasselt und für die Bewertung kaum Zeit bleibt. Da siegt dann oft die Aktualität über die Qualität. Leider erhöhen auch die Nachrichtenagenturen diesen Druck, indem sie auch grenzüberschrei-tende Bilder auf den Markt werfen, einfach, „weil sie da sind“ und manche Redaktionen sie ha-ben wollen. Und dann sind da noch die Reporter vor Ort, die die Nachrichtenagenturen und de-ren professionelle Filter überholen, indem sie ihre Bilder direkt ins Internet stellen. Da müssen stärkere Standards entwickelt werden.
Wie haben Sie diese Standards für sich selbst entwickelt? Neben der Reflexion meiner eigenen Arbeit ist es für mich sehr hilfreich gewesen, Beispiele für „best practice“ anzuschauen. Mich hat z.B. auf den Webseiten des Dart Centers ein Interview mit einer ukrainischen Fotojournalistin sehr beeindruckt. Sie hat aus sehr persönlicher Perspektive geschildert, wie sie die Ereignisse auf dem Maidanplatz erlebt hat. Und das hat mir Mut ge-macht, weil ich gesehen habe, wie komplex Ihre Entscheidungen vor Ort waren. Es ist nicht nur für unsere Leser, sondern auch für uns im kollegialen Austausch wichtig, die Arbeitsbedingun-gen und Zusammenhänge hinter den Geschichten zu verstehen, diese sichtbar zu machen und sie mitzuteilen.
Kommen wir auf eines ihrer eigenen Projekte: Sie haben zusammen mit der norwegischen Fotojournalistin Andrea Gjestvang ein Fotoprojekt über die Überlebenden des Utoya Mas-sakers gemacht – „One day in history“. Entstanden sind sehr persönliche und nahezu äs-
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thetische Bilder der überlebenden Jugendlichen. Was hat Sie an diesem Projekt am meis-ten interessiert? Andrea war an diesem Freitag in Norwegen und hat als Fotoredakteurin gearbeitet. Sie wurde selbst evakuiert, weil eine Bombe in ihrem Redaktionsgebäude hoch ging. So wurde sie selbst ein Teil dieser Berichterstattung. Sie erzählte mir, dass sie nicht einfach so zum Alltag überge-hen könne, sondern sich weiter intensiv damit beschäftigen wollte. Ich habe gespürt, dass es für sie als Fotografin sehr wichtig war. Wir wollten ein zeitloses Dokument schaffen. Sie hat mit einer Mittelformatkamera diese Porträts gemacht, in der höchstmöglichen Qualität, und nicht mit einem schnellen Auslöser. Die Stimmung und ohne äußere Hilfsmittel zu arbeiten, waren wich-tig. Ich wusste, dass Andrea mit der gebotenen Vorsicht an die Jugendlichen herantreten würde. Die entstandenen Porträts sind nicht voyeuristisch, sondern ein Zeitdokument, wie es ihnen jetzt und hier geht. Zuerst waren sie die „Überlebenden“ des Ereignisses, dann waren sie „traumati-siert“ und als sie nicht mehr jeden Tag in der Zeitung standen, waren sie wieder ganz einfach Jugendliche in Norwegen. Andrea hat sie an ihren Lieblingsorten fotografiert: Sie waren zuhause in ihrem Zimmer, weil sie nicht mehr rausgehen wollten, oder sie waren im Wald, oder an einem anderen Ort, der ihnen viel bedeutet. Es ging darum, ihre Geschichte in ihren eigenen Worten aufzuschreiben und dazu ein Foto zu machen. Die Texte wurden von Andrea zusammengefasst, die Überlebenden haben sie aber selber geschrieben. Vielen Dank für das Interview.
Quelle: http://dartcenter.org/traumajournalismus/die-wucht-der-bilder/
Michael Pfister Michael Pfister arbeitet als freier Journalist, Fotoredakteur und Creative Consultant. Seine Lauf-bahn begann als Reporter für das Schweizer Radio DRS und Printmedien. Später initiierte und produzierte er Multimedia-Projekte, Diskussionsrunden, Festivals und Konferenzen und arbeitete im Kulturmanagement für das British Council, Swiss Arts Council und Swiss Music Export im In- und Ausland. Am Schweizer Medienausbildungszentrum MAZ in Luzern studierte er mit Fachrichtung Bildredakteur und ging als Fotoredakteur zum Ringier Verlag, dann nach Deutsch-land zur Foto- und Reportage Agentur laif in Köln. Hier arbeitete er mit Pulitzer-Preisträgern und World Press Photo Gewinnern sowie Reportage-Agenturen weltweit zusammen. Als Fotore-dakteur bei der Bild am Sonntag beauftragte er vier Jahre lang Fotografen und Reporter in der ganzen Welt. Als Experte im Bereich Foto- und Reportagejournalismus trainierte er bei Work-shops in Kairo, Ägypten und Luzern/ Schweiz Fotografen und Nachwuchsjournalisten. Als Initi-ator und Moderator von Gesprächsrunden im u.a. im Rahmen des internationalen Literaturfesti-vals in Berlin forciert er eine nuanciertere Diskussion über Fotojournalismus und Menschenrech-te in Konfliktsituationen. Er ist seit Jahren Mitglied von Reporter ohne Grenzen, Freelens und PEN.
Der Link zum Foto-Projekt „One day in history“ von Andrea Gjestvang:
http://andreagjestvang.com/photography-2/one-day-in-history/
„Im Visier der Meute“ – nr-‐Journalistentagung, 11. bis 13. März 2016, Tutzing Reader
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Samstag, 12. März 2016, 19.00 Uhr
Am Zug. Petra und Moritz Schwegler und Rudolf Bögel über das Bahnunglück von Bad Aibling Moritz Schwegler, 18 Jahre, saß am 9. Februar in einem der Züge, die bei Bad Aibling zusam-‐menstießen. Elf Menschen starben, er blieb körperlich weitgehend unverletzt. Er und seine Mutter, die Medienredakteurin Petra Schwegler, berichten davon, wie Journalisten in den Stunden und Tagen nach dem Unfall agiert haben.
Rudolf Bögel
tz, Chefredakteur
Jahrgang 1962, geb. in Fürstenfeldbruck; 07/2006 – heute Chefredakteur der TZ, München; 01/2003 -‐ 06/2006 Stellvertretender Chefredakteur der TZ, München; 06/2000 -‐ 12/2002 Redakteur im Ressort Münchner Wirtschaft, Vertretungen im Ressort Panorama bei der Süddeutschen Zeitung, München; 02/1998 -‐ 02/1999 Pressesprecher und stellvertretender Geschäftsführer beim Kulturfestival Tollwood, München; 08/1991 -‐ 01/1998 Ressortleiter Loka-‐les bei der Abendzeitung, München; 09/1990 – 07/1991 Chef vom Dienst bei der Abendzeitung, München; 04/1990 -‐ 08/1990 Ressortleiter Lokales bei der Abendzeitung, Augsburg, Ausgabe für Schwaben; 04/1987 -‐ 03/1990 Redakteur Fernsehen und Lokales bei der Abendzeitung, München; 09/1983 – 03/1987 Freier Mitarbeiter Lokales und Sport bei der Süddeutschen Zei-‐tung, Fürstenfeldbruck
Moritz Schwegler
Moritz Schwegler, 18 Jahre, saß am 9. Februar in einem der Züge, die bei Bad Aibling zusam-‐menstießen.
Petra Schwegler
Werben & Verkaufen Online, Ressortleitung Medien
Geboren 1971, aufgewachsen in Berchtesgaden. Studium: Diplom-‐Journalistik und Politikwis-‐senschaft an der Katholischen Uni Eichstätt (1991 bis 1996). Redakteurin beim Branchendienst „Kabel & Satellit“ (1996 bis 1999), seit 2000 beim Verlag Werben & Verkaufen. Anfangs Ressort-‐leitung Medien beim Branchendienst „Kontakter“, ab 2005 Ressortleitung Medien in der Nach-‐richtenredaktion „W&V/Kontakter“, seit 2011 Ressortleitung Medien bei W&V Online in Mün-‐chen.
Moderation:
Günter Bartsch, netzwerk recherche
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Werben und verkaufen online, 11. Februar 2016
Als Fünfter registriert und körperlich nahezu unverletzt entlassen.© Foto: Petra Schwegler
ZUGUNGLÜCK VON BAD AIBLING
Von Petra Schwegler
Warum ich dieses Bild erst jetzt veröffentliche Dieses Foto ist am Dienstagvormittag entstanden. Gegen 11 Uhr. Vier Stunden nach dem Zug-unglück von Bad Aibling. Es zeigt die Hand meines 17-jährigen Sohnes, der in einem der beiden kollidiertenMeridian-Züge saß und der gut drei Stunden zuvor von der Feuerwehr als Fünfter offiziell im Sammellager Kolbermoor registriert wurde. Körperlich nahezu unverletzt – einer von 60 der insgesamt rund 150 Passagiere. Das Motiv hängt bereits vergrößert über seinem Schreib-tisch. Als Erinnerung an den 9. Februar 2016, künftig sein zweiter Geburtstag. Ich wurde gefragt, warum ich dieses Bild nicht gleich auf Facebook gepostet oder via Twitter verbreitet habe. Ganz ehrlich: Es lag mir am Dienstag fern, die sozialen Netze zu bedienen und dort frohe Botschaften zu verkünden. Es war der Tag der Opfer, der Schwerstver-letzten, der Helfer, von denen wir viele kennen und die Unmenschliches zu leisten hatten. Das furchtbare Unglück lag über uns, war unüberhörbar, zumal die Flugroute der Rettungshub-schrauber im Mangfalltal über unsere Ortschaft führte. Und es war greifbar – wir hatten uns um unseren Sohn zu kümmern, um das Erlebte, seinen Schock, den er sich von der Seele reden musste. Zum Feiern war uns nicht zumute. Unser Tag hatte um 6.59 Uhr seine Wende genommen – als das Telefon klingelte und ein verwirrter 17-Jähriger die Botschaft durchgab: "Mama, irgendet-was Furchtbares ist mit dem Zug passiert. Aber mir geht es gut." Wie wir später erfuhren, war das elf Minuten nach dem Zusammenstoß, der elf Tote und 80 teils Schwerstverletzte zur Folge hatte.
Nun bin ich nicht nur besorgte Mutter, sondern auch erfahrene Medienjournalistin. Ich kenne und beobachte die Mechanismen der Printmedien, Sender und heutzutage auch Onlineportale
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nach großen Unglücken seit 20 Jahren. Reißerische Schlagzeilen, die Hatz ums erste Schock-Foto oder Video vom Unglücksort und der Drang politischer Wichtigtuer zum Rampenlicht wa-ren die von mir erwarteten Reaktionen, befeuert von Botschaften in sozialen Netzen.
Genauso kam es. Natürlich verbrachten wir den Tag vor TV-Gerät, Radio und Internet. Ent-täuscht haben uns die Öffentlich-Rechtlichen, die teils nur Interviews mit unbeteiligten Offiziel-len ins TV-Programm einflochten. Gut informiert haben uns die bayerischen Radiosender und lokalen Onlineportale. Überrascht hat uns ein Sender aus der RTL-Familie: N-TV. Für ihn wirkte der gebürtige Münchner Christof Langvor Ort und berichtete sehr sachlich von den Rettungsar-beiten.
Die überwiegend aggressive Pressemeute rund um den Unglücksort und auch üble Kommentare auf Facebook ("Wer ist schon so blöd und steigt in einen Unglückszug?") rund ums Geschehen in Bad Aibling machten unseren Sohn übrigens sehr betroffen. Die ersten Überlebenden, die nach der Evakuierung oder sogar noch aus den Zugwracks Botschaften abgesetzt hatten, standen schon wenige Stunden später vor Mikrofonen. Dies zu beobachten, schockierte ihn. Zumal die Unverletzten in seinem Waggon ihre Smartphones nach dem Unfall in erster Linie nutzten, um mit integrierten Taschenlampen nach Verwundeten zu suchen und um überhaupt Licht ins Dun-kel der Unglücksstunde zu bringen. Oder um Eltern und Freunde zu informieren.
Die Idee, das Szenario zu filmen, hatte er nicht. Ebenso wie ich später nicht auf die Idee kam, unsere persönliche frohe Botschaft am Tag des Unglücks in der Öffentlichkeit zu streuen. Es hätte nicht gepasst. Unbewusst war mir wohl auch klar, dass ich so die Medien auf die Spur mei-nes Sohnes gebracht hätte – es war gut, ihm das fürs Erste zu ersparen.
Dank Facebook und Co, die er als Teenager rege nutzt, hat mein Sohn allerdings selbst genügend Spuren hinterlassen. So ist er jetzt ein gesuchter Gesprächspartner der mehr oder weniger seriö-sen Medien – Stichwort "traumatisierter Augenzeuge". Ein großer Sender hat ihn heute Morgen angerufen und um ein Interview angefragt. Ob er es geben wird? Wir überlegen noch. Wir wis-sen jetzt aber, dass wir uns nicht länger verstecken können. Doch die Art und Weise müssen wir uns nicht aus der Hand nehmen lassen. Selbst wenn ich mit diesem Beitrag Kritiker auf den Plan rufen werde. Update: Mein Sohn wird das Interview nicht geben. Aber er wird voraussichtlich bei einer Pro-duktion im österreichischen Fernsehen mitwirken.
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Bildblog, 14. Februar 2016 (leicht gekürzt)
Bild, Bild am Sonntag, Bild.de, Huffingtonpost.de, tz-online.de etc.
Katastrophenjournalismus heute — eine Anleitung Sie sind ein deutsches Medium und fragen sich, wie Sie nach einem schweren Unglück trotz der Un-durchsichtigkeit und Hektik in kurzer Zeit möglichst viele Klicks abstauben?
Da können wir helfen.
Wir haben uns die Berichterstattung nach dem Zugunglück in Bad Aibling genauer angeschaut und daraus ein paar hilfreiche Regeln abgeleitet. Wenn also das nächste Mal eine Katastrophe eintritt:
1. Atmen Sie auf keinen Fall tief durch. Beeilen Sie sich. Hauen Sie sofort alles raus, was Sie in die Finger kriegen. Alles. Sofort!
(maz-online.de, Dienstag)
(maz-online.de, Mittwoch)
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2. Schildern Sie immer wieder ganz ausführlich und in riesiger Aufmachung die grausamen Details.
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Wenn der Polizeisprecher sagt:
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(n24.de)
… dann besorgen Sie sie woanders.
(„Focus Online“)
(n24.de)
(ovb-online.de)
(tz.de)
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3. Sie sind ein Fachmedium, das thematisch eigentlich nichts mit der Sache zu tun hat? Egal.
(„Sport 1“)
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(„Focus Money“)
***
4. Fangen Sie möglichst früh an, über die Ursachen und Hintergründe zu spekulieren. Raten Sie einfach drauflos.
(Bild.de)
(stuttgarter-zeitung.de)
(Bild.de)
***
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5. Benutzen Sie die Spekulationen über die Ursache als Clickbait.
***
6. Benutzen Sie alles als Clickbait.
(„Focus Online“)
(„Huffington Post“)
(„Huffington Post“)
***
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7. Ein Augenzeugenvideo vom Unglück taucht auf? Clickbait!
(Bild.de)
(abendzeitung-muenchen.de)
(express.de)
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8. Ausschnitte! Zeigen Sie Ausschnitte!
(mopo24.de, Unkenntlichmachung von uns)
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(„Tagesschau“, Unkenntlichmachung von uns)
(RTL, Unkenntlichmachung von uns)
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(„Bild“, Unkenntlichmachung von uns)
Pro-Tipp: Laden Sie das Video auf ihre eigene Seite hoch und schalten Sie Werbung davor. So ver-dienen Sie jedes Mal mit, wenn sich jemand das Schock-Video angucken will.
(welt.de)
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Um die Nörgler wegen des Videos zu besänftigen, schwurbeln Sie sich eine Rechtfertigung zusam-men oder denken Sie sich irgendeinen Vorwand aus, warum Sie die Bilder zeigen.
(merkur.de, Unkenntlichmachung von uns)
(Unkenntlichmachung von uns)
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9. Empören Sie sich über Medien, die die Bilder gezeigt haben. Ignorieren Sie die Tatsache, dass Sie sie selbst gezeigt haben.
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10. Lassen Sie Beinahe-Opfer zu Wort kommen, die zwar überhaupt nicht dabei waren, aber fast.
(tz.de, Unkenntlichmachung von uns)
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11. Fotografieren Sie Trauernde.
(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)
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12. Wühlen Sie im Privatleben der Opfer und veröffentlichen Sie alles, was Sie finden können.
(tz.de)
(merkur.de, Unkenntlichmachung von uns)
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(„Focus Online“)
(„Bild“, Unkenntlichmachung von uns)
(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)
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(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)
(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)
(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)
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(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)
(„Bild am Sonntag“, Unkenntlichmachung von uns)
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13. Bedrängen Sie die Angehörigen, Freunde, Nachbarn und Kollegen der Opfer. Nehmen Sie keine Rücksicht.
(„Bild am Sonntag“, Unkenntlichmachung von uns)
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(Bild.de, Unkenntlichmachung von uns)
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Alles beherzigt? Glückwunsch! Damit dürften Sie Ihre Reichweite erheblich vergrößert haben. Und das Leid vieler Menschen. Aber so ist das eben.
Mit Dank auch an Matthias K. und Michael H.
Quelle: http://www.bildblog.de/76421/katastrophenjournalismus-‐heute-‐eine-‐anleitung/
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Sonntag, 13. März 2016, 9.00 Uhr
An der Grenze. Alena Jabarine und Jürgen Soyer im Gespräch mit Günter Bartsch über Flüchtlinge Das Interesse der Medien an Flüchtlingen, ihren Erfahrungen in der Heimat und auf der Flucht ist enorm. Dabei sind Geflohene nicht nur Gesprächspartner mit interessanten Geschichten, sie sind oft auch traumatisierte Opfer von Krieg, Gewalt und dem, was sie auf dem Weg nach Deutschland erlebt haben. Berichte über ihr Schicksal helfen einerseits die Akzeptanz von Flüchtlingen in Deutschland zu verbessern, können den Geflohenen aber auch neue Wunden zufügen. Alena Jabarine recherchierte für den NDR undercover in einem Flüchtlingsheim. Jürgen Soyer leitet Refugio, das Münchner Behandlungszentrum für traumatisierte Flüchtlinge. Beide diskutieren darüber, worauf Journalisten achten sollten, wenn sie mit Flüchtlingen spre-‐chen oder sie über längere Zeit begleiten.
Alena Jabarine
NDR, Reporterin, Hamburg
Alena Isabelle Jabarine wurde 1985 in Hamburg geboren, studierte Politikwissenschaften an der Universität Hamburg und Internationale Beziehungen am Institut für Internationale Studien in Barcelona. Während ihres Studiums hatte sie Stationen u.a. bei der dpa in Tel Aviv sowie beim Deutschlandfunk in Köln und bei den Vereinten Nationen in Genf. Später volontierte sie beim Norddeutschen Rundfunk und ist heute freie Fernseh-‐ Radio-‐ und Printreporterin, u.a. für Pano-‐rama 3, NDR Info und Zeit Online.
Links zu Beiträgen von Alena Jabarine:
Teil 1 der vierteiligen Serie auf Panorama 3: „Protokoll einer Flucht, Teil 1“ http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Protokoll-‐einer-‐Flucht-‐aus-‐Syrien,panoramadrei1732.html
Panorama im Ersten: „Ein syrischer Anwalt auf der Flucht“ http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2015/Ein-‐syrischer-‐Anwalt-‐auf-‐der-‐Flucht-‐,fluchtprotokoll352.html
Undercover-‐Reportage: „Notstand im Erstaufnahmelager“ http://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Notstand-‐im-‐Erstaufnahmelager,fluechtlinge3078.html
Artikel auf Zeit.de: „Kehrt um!“ http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-‐11/fluechtlinge-‐slowenien-‐lager-‐ndr-‐reporterin
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Jürgen Soyer
Refugio, Geschäftsführer, München
Geb. 1967 in München, Dipl. theol., Dipl. Soz.-‐Päd. (FH), systemischer Therapeut (DGSF), syste-‐mischer Supervisor und Organisationsentwickler (DGSF). Langjährige Erfahrung in der Jugend-‐ und Erwachsenenbildung; langjährige Tätigkeit in Einzel-‐, Paar-‐ und Familientherapie, insbe-‐sondere auch im interkulturellen Kontext (Flüchtlinge, binationale Ehepaare); Ausbilder (u.a. Ärztekammer Bayern, Bayerische Psychotherapeutenkammer, Katholische Stiftungsfachhoch-‐schule Benediktbeuern); Supervisor im Profit und Non-‐Profit-‐Bereich. Seit 1999 bei REFUGIO München, Beratungs-‐ und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer Refugio, zu-‐nächst als Sozialarbeiter, seit 2012 Geschäftsführer
Moderation:
Günter Bartsch
netzwerk recherche, Geschäftsführer, Berlin
Günter Bartsch, Jahrgang 1979, ist Journalist und seit 2009 Geschäftsführer der Journalisten-‐vereinigung netzwerk recherche, Berlin. Werdegang: 1999 Volontariat bei Allgäuer Zei-‐tung/Augsburger Allgemeine, anschließend Redakteur in Füssen. 2002–08 Politikwissenschafts-‐Studium in Augsburg und Berlin.
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Zeit online, 3. November 2015
Flüchtlinge in Slowenien:
"Kehrt um!" Eine NDR-Reporterin begleitet Flüchtlinge auf ihrem Treck durch Slowenien – und wird plötzlich zur ohnmächtigen Vermittlerin zwischen Polizei und den Migranten. Von Alena Jabarine
Das sogenannte Flüchtlingscamp in Slowenien: ein Feld mit Absperrgittern, darüber Qualm von Tränengasgranaten der Polizei © Alena Jabarine
Ich stehe auf einem Feld in Slowenien, einem Land, von dem ich bislang kaum etwas gehört habe. Ich bin Fernsehjournalistin. Für das ARD-Magazin Panorama (hier der Beitrag) will ich mit Flüchtlingen sprechen, die sich auf der Flucht durch den Balkan befinden. Hier, an einem kleinen Fluss direkt vor einem Maisfeld, wo sich bis auf einen Traktor in der Ferne nichts regt, sollen sie gleich vorbeiziehen.
Und dann kommen sie. Angeführt von zwei Polizeipferden, zieht die Karawane von rund 2.000 Menschen, die aus Kroatien kommen, den schmalen Weg entlang. Eine nicht enden wollende Schlange. Zu ihren Seiten bewaffnete Soldaten. Sobald ein Mensch ausschert, wird er zurückge-wunken. Ich reihe mich ein. Alle sind bepackt mit Taschen und Tüten, eingehüllt in Decken, Kinder tragen sie wie Bündel auf dem Arm. Es geht durch das Maisfeld. "Eine Stunde Pause", schreit ein Polizist. Sie lassen sich nieder. Kinder turnen im Gras, einige dösen, eine junge Frau singt fröhlich. Ich setze mich zu ihnen. Sie sind erschöpft, doch die Stimmung ist gut. Es herrscht Zuversicht. Ein genaues Ziel haben die meisten nicht, Hauptsache Europa, sagen sie. Sicherheit, das ist das, wonach sie suchen. Ein li-banesischer Mann stellt mir seinen autistischen Sohn vor. Er will nach Deutschland, sagt der Vater, denn dort würden Autisten gefördert. Ein anderer Mann kommt mit seinem Sohn auf mich zu. Der sei 13 und solle auf eine gute Schule kommen. Ob ich ihnen Schweden oder Deutschland empfehlen würde?
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"Go, go", ruft der Polizist. Weiter geht es unter einer Brücke hindurch, hoch auf einen Deich. Ein Helikopter fliegt über unseren Köpfen. Die Kinder schreien, sie kommen gerade aus dem Krieg. "Gleich sind wir da, mein Schatz", sagt ein Vater und wirft sich sein Kind über die Schulter. Links neben uns glitzert der Fluss friedlich. "Wie Vieh treiben sie uns durch die Felder", sage ein Mann, der eine dicke Filzdecke über seiner Schulter trägt. "Weißt du denn, wohin es geht?", frage ich ihn. "Nein, ich hoffe nur, dass etwas Gutes vor uns liegt" sagt er. "Wenn es aber eine Mauer aus Feuer wäre", fügt er hinzu, "so wür-den wir hineinspringen." Denn hinter ihnen sei nichts mehr geblieben. Plötzlich entsteht ein lautes Stimmengewirr. Man hört Pfiffe und Schreie. Ich klettere schnell links den Deich hinunter. "Was ist los?", frage ich einen jungen Mann, der mir vor ein paar Stunden erzählt hat, dass er Schwimmer sei und in Deutschland Sportlehrer werden wolle. "Das war's", sagt er, "ich kehre um. Die Flüchtlinge im Camp sagen, dass wir auf gar keinen Fall hin-eingehen sollen." Ich vernehme die lauten Sprechchöre. Auf der anderen Seite des Deiches muss sich das Camp befinden. "Warum?" "Es muss grauenvoll sein. Ich gehe da auf gar keinen Fall rein!"
Ich klettere den Deich hinauf und versuche zu erkennen, was auf der anderen Seite passiert. Und da sehe ich sie: Hunderte von Flüchtlingen stehen eingepfercht in einem Gehege. "Kehrt um!", schreien sie den Neuankömmlingen zu. Seit vier Tagen seien sie dort eingesperrt, ohne Verpfle-gung, ohne Schlafmöglichkeiten. Kinder seien gestorben.
Nun verstehe ich die Verunsicherung. Viele sind den Deich heruntergestiegen, keiner scheint zu verstehen, was vor sich geht.
Die Situation spitzt sich zu. "Wir verlangen nach dem Roten Kreuz", rufen einige Männer. Ande-re versuchen, die Karawane zur Umkehr zu drängen. Doch innerhalb weniger Minuten hat die slowenische Polizei hinter ihnen eine Mauer gebildet. Polizisten mit Gewehren, Schlagstöcken, maskiert, blockieren den Weg. Die Flüchtlinge sind eingeschlossen. Zwischen Deich und Fluss, zwischen Camp und Polizei. Und ich mittendrin. Ich spüre die Spannung in der Luft. Wo könnte ich hinrennen? Es gibt keinen Fluchtweg, ich werde nervös. Ich greife nach meinem Pass in der Jackentasche und bewege mich auf die Poli-zeimauer zu. "Ich bin Journalistin aus Deutschland", rufe ich. "Wie haben Sie die Grenze über-quert?", kommt es zurück. "Ich bin einfach mit den Menschen mitmarschiert." "Sprechen Sie Arabisch?", fragt einer hinter seiner Maske. Er sei der Polizeichef. Ich nicke. "Sagen Sie den Leuten, dass sie in das Camp gehen sollen."
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Die Reporterin soll entscheiden
Polizisten versuchen, die Flüchtlingskarawane zu lenken. © Alena Jabarine
Ich drehe mich um. Inzwischen haben sich auch die Flüchtlinge aufgestellt. Zwischen ihnen und den Polizisten sind nur ein paar Meter. Zwei Fronten, und ich in der Mitte. Die Flüchtlinge bli-cken mich erwartungsvoll an. "Die Polizei sagt, ihr sollt ins Camp gehen", rufe ich und ernte empörte Reaktionen. Sie werden dort nicht hineingehen, schreien sie durcheinander, um keinen Preis der Welt.
"Was sagen die?", fragt der Polizist von hinten. Ich laufe zurück. "Sie sagen, im Camp seien die Menschen seit Tagen nicht versorgt worden. Sie haben Angst." "Das ist eine Lüge", erwidert der Polizist. Er versichert mir, im Lager stünde Essen und Trinken bereit. Die Menschen drinnen seien erst seit kurzer Zeit da. Es seien nur einige wenige, die immer wieder Probleme machten, Zelte anzündeten, Polizisten attackierten. Wieder drehe ich mich um, muss überlegen, wie ich die Worte des Polizisten filtern kann. Denn überzeugt bin ich von seinen Worten nicht. Die Flüchtlinge sind in Panik. Einige gehen auf mich zu. Ohne nachzudenken, schreie ich sie an: "Setzt euch sofort hin! Wollt ihr, dass es eskaliert? Hier sind überall Kinder, wenn es eskaliert, wird es gefährlich!" "Hört auf die Journalistin, sie hat recht", schreien einige.
Ich bin in eine seltsame Rolle geraten. Die Menschen schauen mich erwartungsvoll an. Ich, die Reporterin, soll entscheiden, was zu tun ist. Aber ich weiß es nicht. Habe keine Ahnung, was sie auf der anderen Seite erwartet. Würde ich selbst dort hineingehen? So geht das eine Stunde lang weiter. Die Polizei bekräftigt, die Situation im Camp sei gut. Die Flüchtlinge müssten dort rein, sich registrieren lassen. In wenigen Stunden würden sie dann schon auf dem Weg nach Österreich sein. Doch die Flüchtlinge davon zu überzeugen, ist unmög-lich. Sie haben Angst. Sie sind entschlossen, umzukehren, und es kostet mich viel Kraft, sie da-ran zu hindern.
"Sind wir hier in Guantanamo?" Lange werde ich das nicht mehr schaffen, das spüre ich. Die Flüchtlinge verlangen nach dem Roten Kreuz. "Wie sollen wir diesem Land vertrauen, das uns mit Militär und maskierten Poli-
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zisten begleitet?", rufen sie. Nicht einmal in Mazedonien und Serbien sei man ihnen so begegnet. "Sind wir hier in Guantanamo?" Ich spreche mit dem Polizeichef. "Hören Sie", sage ich, "bitte bringen Sie sofort jemandem vom Roten Kreuz!" Die Augen des Polizeichefs wirken hilflos. Ich spüre, dass ich unerwartet in eine Machtposition geraten bin. Eigentlich darf ich hier nicht sein. Aber nun werde ich gebraucht.
Der Polizist telefoniert. Doch alles dauert zu lang. Die Flüchtlinge werden ungeduldig. Mittler-weile ist es dunkel geworden und bitterkalt. Immer noch sind die Menschen eingekesselt, sie haben begonnen, kleine Feuer zu entzünden. Ich bin beeindruckt von ihrer Standhaftigkeit. Nach etwa einer Stunde hat die Polizei keinen Vertreter des Roten Kreuzes auftreiben können. "Geh du ins Camp und schau es dir an!", rufen die Flüchtlinge. "Wir vertrauen nur dir." "Bringen Sie mich ins Camp", sage ich zum Polizeichef. Wenn doch alles vorbereitet sei, dann solle er es mir zeigen. "Okay", sagt er schließlich. Es geht auf die andere Seite des Deiches. Er reicht mir die Hand und hilft mir hinauf.
"Du musst uns helfen!", schreien mir einige Flüchtlinge hinterher. "Unsere Kinder werden erfrie-ren", rufen andere und halten ihre Babys in die Luft.
"Ich verstehe nicht, wovor ihr Angst habt", rufe ich zurück. "Ihr seid dem Krieg entronnen, ihr seid Tausende Kilometer durch den Balkan marschiert. Nun seid ihr in Europa, ihr habt es doch geschafft." "Wie sollen wir in dieser Situation keine Angst haben?", schreit eine junge Frau. "Hast du nicht gehört, was die im Camp uns zugerufen haben?"
Eine Sandsteppe als Lager
Bewacht von einem Soldaten, warten die Flüchtlinge auf einem Deich. © Alena Jabarine
Mittlerweile haben sich unter den Flüchtlingen Wortführer herauskristallisiert. "Ihr Journalisten, ihr könnt nur fotografieren und filmen", ruft einer. "Und wenn wir sterben, haltet ihr noch drauf." Ich verachte mich selbst. "Hör zu", ruft einer nach oben. "Kennst du das Bild von der ungari-
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schen Journalistin, die dem syrischen Vater ein Bein gestellt hat?" Ich nicke. "Wenn du uns jetzt nicht hilfst, dann bist du keinen Deut besser als sie. Und wenn unsere Kinder heute Nacht hier erfrieren, dann bist du dafür mitverantwortlich!"
Mit dem Polizeichef gehe ich auf der anderen Seite des Deiches hinunter. Und dann sehe ich das sogenannte Camp: eine schwarze Sandsteppe. Darauf sorgfältig aufgebaute Gehege. In einigen Bereichen vegetieren Menschen vor sich hin. Hängen am Zaun, kauern auf dem Boden. Der Himmel ist schwarz, Flutlicht hüllt die Szene in grelles Licht, über allem eine riesige Rauchwol-ke. Ein martialisches Bild mitten in Europa. Wir gehen durch das Gehege. Ich erwarte, dass der Polizeichef mich in ein Zelt oder ein Gebäu-de führen wird, mir die Verpflegung und die Schlafmöglichkeiten zeigen. Doch er bleibt stehen. Ich schaue ihn an. "Wo sollen die Menschen denn nun hin?", frage ich ihn. Stille. Ein Blick nach unten. "Hier?" Er nickt. Und wo schlafen sie? Er nickt. Und die Kinder? Er nickt. Stille. Ich bilde mir ein, dass seine Augen glasig werden. Einige Flüchtlinge, die uns gefolgt sind, schauen mich erwartungsvoll an. Ich halte Blickkontakt mit einem bärtigen Mann, er hält zwei Kinder an den Händen. Ich will etwas sagen, doch die Worte fehlen mir. "Es tut mir Leid", sage ich schließlich, "doch das hier ist das Camp. Hier wirst du auf dem Boden schlafen. Auch deine Kinder. Ich habe das nicht gewusst." Er blickt freundlich. "Das macht uns nichts", sagt er, "aber bitte, gibt es we-nigstens Decken für unsere Kleinen?" Erwartungslos blicke ich zum Polizeichef. Er schüttelt den Kopf. Decken gibt es nicht. Und Essen und Trinken? Das gibt es, sagt er energisch. Und wann? Das wisse er nicht. Gesenkter Blick.
Eine Kapitulation und Offenbarung
In diesem Moment bleibt die Zeit stehen. Es ist eine Kapitulation. Eine Offenbarung. Das ist das, was den Menschen hier geboten wird. Ein Außengehege in bitterer Kälte. Sie hatten mich benut-zen wollen, um die Menschen in diese Hölle zu locken. Doch nun liegt die Wahrheit auf dem Tisch. Und ich will mich in Luft auflösen. Denn auf der anderen Seite warten 2.000 Menschen darauf, dass ich ihnen sage, was sie tun sollen. "Wir können nichts dafür", sagt der Polizeichef. "Das ist alles, was wir geben können. Wir haben heute 5.000 erwartet. Doch gekommen sind 15.000." Zwei junge Syrer rennen hinter mir her. "Bitte, wir beschweren uns nicht, wir schlafen draußen, das haben wir ohnehin seit Wochen getan. Aber bitte, dürfen wir ein wenig Laub sammeln, um unsere Kinder darauf zu betten?"
"Du musst hier raus", sagt der Polizeichef. Wir verlassen das Camp, rauf auf den Deich. Dort warten die Flüchtlinge. Die Journalistin ist zurück, rufen sie. Einige haben bereits ihre Taschen geschultert, sind bereit, ins Camp zu gehen, warten nur noch auf meine Bestätigung. Ich drücke mich, will nichts sagen.
Ein Mitarbeiter vom UN-Flüchtlingswerk ist mittlerweile gekommen und versucht, die Leute zum Einlenken zu überreden. Erfolglos. Ich ziehe ihn zur Seite. "Was ist hier los?", schreie ich. "Ihr seid die Vereinten Nationen. Was ist hier los?" "Bist du hier, um Probleme zu machen?", schreit er zurück. "Du sprichst Arabisch, es ist deine Aufgabe, die Menschen in das Camp zu bewegen. Es liegt in deinen Händen, sag den Leuten, was sie zu tun haben!" Er weicht meinem Blick aus. "Erwartest du von mir, dass ich die Men-schen in diese Hölle locke? Seid ihr nicht dafür verantwortlich, diese Menschen zu versorgen?" Ich gehe zum Polizeichef. "Bitte", flehe ich, "lass doch die Menschen hier. Hier gibt es wenigs-tens Gras, Bäume. Bringt ihnen Wasser für die Kinder und lasst sie hier." "Das geht nicht", sagt er. "Wenn sie nicht freiwillig gehen, werden wir sie mit Gewalt ins Camp befördern."
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Die UN reagieren hilflos
Ich atme tief durch. Die Flüchtlinge warten auf meine Ansage: "Was empfiehlst du uns? Sollen wir hineingehen, oder nicht?" Stille. "Die Wahrheit ist, dort drinnen ist es nicht besser als hier", sage ich schließlich. "Es ist schrecklich. Es tut mir Leid." Noch nie habe ich mich so hilflos gefühlt. Wir sind mitten in Europa. Ich bin der Hoffnungs-schimmer dieser Menschen, denn sie sind eingeschlossen, und ich bin frei. Frei und handlungs-unfähig.
Ich beschließe, zu gehen: meine Kollegen treffen, die Handys aufladen, Hilfe organisieren. Hier kann ich nichts mehr tun.
Ein Mann mit einem Säugling rennt auf mich zu. "Bitte, kannst du uns heißes Wasser für unser Kind mitbringen?" Seine Frau rennt zurück und bringt mir eine silberne Thermoskanne. "Fühl mal die Füße meines Kindes. Eiskalt sind sie." Ich nehme die Thermoskanne und gehe. Blicke nicht mehr zurück, schäme mich. Mein Kollege zieht mich in eine Kneipe zum Aufwärmen. Ich stehe neben mir. Hier sitzen Menschen und trin-ken Bier. Und nur wenige Hundert Meter entfernt haben Eltern Feuer entzündet, um ihre Kinder vor dem Erfrieren zu retten. Die Flüchtlingskrise ist tatsächlich mitten in Europa angekommen. Ich rufe den Leiter des UN-Flüchtlingshilfswerks für Zentraleuropa an. Gestern erst habe ich ihn interviewt, vor eben diesem Camp. "Babar", sage ich, "Ihr müsst etwas unternehmen. Es ist der blanke Horror." "Das weiß ich", sagt er. "Ich werde tun, was ich kann." Eine halbe Stunde später meldet er sich zurück. Seine Kollegen würden in einer halben Stunde Decken schicken. Und wenn ich nicht angerufen hätte?
Nach einer Stunde will ich zurück zum Camp, Aufnahmen machen, die Situation dokumentier-ten. Wenn ich als Journalistin eine Macht habe, dann ist die der Bilder.
Doch als wir zurückkommen, hat sich die Situation bereits geändert. Die Polizei hat die Flücht-linge mit Tränengas in das Camp getrieben. Nun sind sie eingepfercht. Maskierte Helfer ziehen kollabierte Frauen aus dem Gehege. Andere werfen Wasserflaschen in die Menge. Ein Soldat schlägt mit seinem Schlagstock auf das Geländer. Irgendwo da drinnen der kleine autistische Junge. Ich kann nicht mehr zu diesen Menschen zurück. In meinem Arm halte ich die Thermos-kanne mit dem heißen Wasser für das Baby.
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Sonntag, 13. März 2016, 10.15 Uhr
Unter Beobachtung. Peer Steinbrück im Gespräch mit Nico Fried Peer Steinbrück war Landesminister, Ministerpräsident von Nordrhein-‐Westfalen und Bundes-‐finanzminister. Für seine klaren Worte liebten ihn die Journalisten, und er wusste mit ihnen umzugehen. Doch als er für die Wahl 2013 Kanzlerkandidat der SPD war, dauerte es nicht lange, bis ihn die Medien zum „Pannen-‐Peer“, „Problem-‐Peer“ oder „Peerlusconi“ machten. Im SZ-‐Magazin demonstrierte er kurz vor der Wahl mit einer berühmt gewordenen Geste, was er von diesen Spitznamen hält. Ein Gespräch mit dem Mann hinterm Stinkefinger über Leben und Ar-‐beiten unter Beobachtung.
Peer Steinbrück
SPD, MdB
Peer Steinbrück, geboren am 10.1.1947 in Hamburg, ist verheiratet und hat drei Kinder. Er trat 1969 in die SPD ein. 1974 schloss Steinbrück sein Studium an der Christian-‐Albrechts-‐Universität in Kiel als Diplom-‐Volkswirt ab. Zwischen 1976 bis 1986 übte er verschiedene Tätig-‐keiten in Bundes-‐ und Landesministerien, im Bundeskanzleramt in Bonn und der Ständigen Ver-‐tretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-‐Berlin aus. Bis 1990 leitete Steinbrück das Büro des Ministerpräsidenten in NRW, Johannes Rau. Nach drei Jahren als Staatsekretär übernahm er das Wirtschaftsministerium in Schleswig-‐Holstein, wechselte 1998 nach NRW, wo er 2000 Finanzminister und 2002 Ministerpräsident wurde. Von 2005 bis 2009 war Steinbrück Bundesfi-‐nanzminister und stellvertretender Vorsitzender der SPD. Seit 2009 ist er Mitglied des Deut-‐schen Bundestags. Für die Bundestagswahl 2013 war er Kanzlerkandidat der SPD. Steinbrück übernahm 2014 den Vorsitz der Parlamentariergruppe USA im Deutschen Bundestag.
Nico Fried
Süddeutschen Zeitung, Leiter der Parlamentsredaktion
Jahrgang 1966. Studium: Politikwissenschaft, Staatsrecht und Neuere deutsche Literatur in München und Hamburg. Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule München. Freie Tä-‐tigkeit 1993 bis 1996 für Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Hamburger Abendblatt, Norddeutscher Rundfunk, Badische Zeitung, Südwestpresse. 1996 bis 2000 Redakteur bei der Berliner Zeitung, zuletzt: Leitender Redakteur Seite 3 und verantwortlich für die Asien-‐Berichterstattung. 2000 bis 2007 Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, Parlamentsbüro Berlin, Zuständigkeit: Deut-‐sche Außenpolitik. Seit 2007 Leiter der Redaktion Berlin der Süddeutschen Zeitung.
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Zeit online, 10. Januar 2013 Peer Steinbrück:
Immer Ärger mit der Presse Die SPD schimpft auf "Kampagnenjournalismus" gegen Peer Steinbrück. Übertreiben es die Medien oder klären sie nur auf? Und was kann der Kandidat tun? Von Lenz Jacobsen
Am Dienstag ist Johannes Kahrs der Kragen geplatzt. Er konnte einfach nicht mehr anders, er musste "ein Zeichen setzen", wie der SPD-Bundestagsabgeordnete sagt. Ein Zeichen gegen die Berichterstattung über seinen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, die er als ungerecht und "an Kampagnenjournalismus grenzend" empfindet.
Auslöser war die Berichterstattung des Handelsblatts, das Steinbrück angriff, weil er im Auf-sichtsrat von ThyssenKrupp angeboten hatte, sich für eine industriefreundliche Energiepolitik einzusetzen. "Dabei ist das sogar offizielle Beschlusslage unserer Partei", sagt Kahrs. DasHan-delsblatt stellte das auf eine Ebene mit dem Versagen des Berliner Regierenden Bürgermeis-ters Klaus Wowereit, der kurz zuvor als Chef eines anderen Aufsichtsrats zurückgetreten war – dem des desaströsen Berliner Flughafenneubaus.
Für Kahrs schlug diese Meldung "dem Fass den Boden aus". Zusammen mit seinen Mitstreitern vom einflussreichen Seeheimer Kreis der SPD veröffentlichte er schon tags darauf, am Mitt-woch, einen bemerkenswert wütenden Text. "Es reicht!", schreiben die Abgeordneten. Die zahl-losen Vorwürfe gegen Steinbrück und die größtenteils negative Berichterstattung seien "heiße Luft", in Teilen "einfach nur lächerlich" und beförderten Politikverdrossenheit,"Profillosigkeit und Sprachnebel in der Politik".
"Das musste einfach mal raus, wenn man noch in den Spiegel gucken will", sagt Kahrs im Ge-spräch mit ZEIT ONLINE.
Medien haben sich auf Steinbrück eingeschossen Ist Steinbrück wirklich Opfer einer journalistischen Kampagne, wie seine Genossen wütend be-haupten? Erst Medienliebling als kantiger, inhaltlicher und stilistischer Gegenentwurf zu Kanzle-rin Angela Merkel, dann genau aus diesen Gründen heruntergeschrieben?
Seit der Aufregung über die Nebenverdienste Steinbrücks als Redner steht dieser Verdacht im Raum. Doch ein gesteuertes, abgesprochenes Vorgehen gegen Steinbrück gibt es nicht. "Natür-lich treffen sich da nicht drei Chefredakteure in einem Hinterzimmer und sprechen eine Linie ab", sagt selbst Kritiker Kahrs. Und Journalistikprofessor Stephan Weichert, der sich in Studien und Büchern mit der Entwicklung des Politikjournalismus beschäftigt, wiegelt ebenfalls ab: "Ei-ne Kampagne ist das nicht, eher ein reflexhafter Vorgang. Die Medien haben sich eben auf Steinbrück eingeschossen." "Gefühlte Wahrheiten summieren sich zu einem Skandal"
Große Steinbrück-Geschichten schreiben sich in diesen Tagen quasi von allein. Schließlich lässt sich jedes Mal die ganze Chronologie seiner Rückschläge und Probleme nacherzählen. Das füllt Zeilen. Die Erzählung von Steinbrücks Abstieg ist längst so reich an Kapiteln und hat eine sol-che dramaturgische Eigendynamik entwickelt, dass es verlockend ist, sie Woche um Woche wei-terzustricken. Ob es sich dabei tatsächlich um Verfehlungen des Kandidaten handelt, ob das gan-ze "irgendeine Substanz" hat, wie Steinbrück-Anhänger Kahrs das nennt, ist längst egal gewor-den. "Gefühlte Wahrheiten summieren sich zu einem Skandal", beschreibt Experte Weichert diese Dynamik. "Hängen bleiben nur einfache Bilder und Aussagen wie: Steinbrück ist geldgie-rig. Egal, ob das so stimmt oder nicht."
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Wenn der Spiegel auf seinem Titel fragt: "Warum macht Peer Steinbrück so viel falsch?", geht es ja schon längst nicht mehr darum, wo sich Steinbrück in der Sache Fehler oder Verfehlungen geleistet hat. Es geht nur noch darum, wie sein Verhalten wirkt – beziehungsweise darum, wie Medien entschieden haben, dass es wirkt. Politik und Journalismus werden zum Treibhaus, zur verschlossenen, klaustrophobischen Sphäre, die sich nur noch auf sich selbst bezieht und so ihre eigenen, völlig abgekoppelten Dynamiken schafft.
"Wie lange noch?"
Am Mittwoch als Kahrs und Co. ihre Anklageschrift an die Medien veröffentlichten, hob das Handelsblatt Steinbrück wieder auf den Titel. "Wie lange noch?", fragte die Wirtschaftszei-tung . Spiegel Online raunte am selben Tag in einem Aufmacher-Text über die Grünen und ihre vermeintliche Unzufriedenheit mit Steinbrück. Focus Online schrieb über die "Fehlbesetzung" Steinbrück. Ob Steinbrück sich im Aufsichtsrat von ThyssenKrupp tatsächlich unredlich verhal-ten hatte, war da schon wieder unwichtig geworden. Die Meldung hatte lediglich dazu gedient, die Geschichte seines Abstieges wieder weiterspinnen zu können. Gegen diese Dynamik scheint der Kandidat selbst machtlos. "Steinbrück hat sich nie entschie-den, ob er all das jetzt ignorieren will, ob er es kleinreden oder mit Humor und Ironie kontern will", sagt Experte Weichert. "Es gibt eigentlich keine Kommunikationsstrategie, mit der er da noch rauskommen kann." Und vermutlich wird er den Medien weiter "Futter liefern", wie Weichert das nennt. Denn Stein-brück – und das ist der springende Punkt – will nicht strategisch reden. Er will so reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Er hält das für seine vielleicht größte Stärke.
Freie Rede ist zur Schwäche geworden Als die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung ihn zum Kanzlergehalt befragte, hätte er abwie-geln können und die Gehälter von Krankenschwestern, Erzieherinnen oder Putzfrauen zum ei-gentlichen Problem und Thema erklären können. Die Aufregung wäre ihm erspart geblieben.
Doch Steinbrück sagte, was er dachte. Als einfacher Abgeordneter und ungebundener Welterklä-rer haben ihn die Medien dafür gefeiert und ihm gern Raum geboten. Nun aber ist seine freie Rede längst zu seiner Schwäche geworden. "Ab einer gewissen Flughöhe kann ein Politiker nicht einfach so reden, wie ihm die Schnauze gewachsen ist", sagt Weichert. Steinbrück ist jetzt kein Freigeist mehr, er ist erster Repräsentant der SPD. Was er sagt, wird nun daran gemessen, wie sehr es mit dem Bild und dem Programm der deutschen Sozialdemokratie übereinstimmt. Deshalb war die Sache mit dem Kanzlergehalt tatsächlich bemerkenswert, deshalb haben die Medien diese Abweichung von dem, was einem Sozialdemokraten eigentlich wichtig sein sollte, zu Recht thematisiert. Ist Weißwein über fünf Euro unsozialdemokratisch?
Wenn Steinbrück beweisen wollte, dass Politiker nicht "weichgespülte" Funktionärs- und Reprä-sentantensprache reden müssen, sondern sehr wohl kantig, widersprüchlich und persönlich un-verkennbar, ja menschlich bleiben können, wenn er an sich selbst zeigen wollte, dass man keine geschickte Kommunikationsstrategie braucht, sondern nur einen klugen Kopf und rhetorisches Talent – dann ist Peer Steinbrück gescheitert. Und sein Anhänger Kahrs? Schadet er seinem Kandidaten nun nicht auch noch, indem er der Debatte um seine Verfehlungen durch das wütende Papier neue Nahrung liefert? "Kann schon sein", sagt der Abgeordnete trotzig, aber das sei ihm gerade herzlich egal. Auch er will jetzt nicht strategisch klug kommunizieren, sich nur nach den Gesetzen der Medien richten. "Es kann doch
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nicht sein, dass wir auch die lächerlichsten Dinge schlucken sollen, ohne uns wehren zu dürfen", sagt er. Kahrs hofft jetzt darauf, dass die Medien es so weit übertreiben, dass sie Steinbrück nicht mehr wirklich schaden können. So wie vor einigen Wochen, als man tatsächlich darüber diskutierte, ob es nun verwerflich oder unsozialdemokratisch sei, dass der Kandidat keinen Weißwein unter fünf Euro kauft. "Noch zwei bis drei solcher absurder Peinlichkeiten, dann kippt das, und wir könnten am Ende sogar profitieren."
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SZ-Magazin,13. September 2013
EIN INTERVIEW OHNE WORTE
Sagen Sie jetzt nichts, Peer Steinbrück FOTOS: ALFRED STEFFEN Ein Foto-Interview ohne Worte, in dem der SPD-Kanzlerkandidat nichts sagt und doch alles ver-rät: über nicht so nette Spitznamen, Angela Merkels Krisenmanagement und das Geheimnis sei-ner glücklichen Ehe.
PEER STEINBRÜCK Geboren: 10. Januar in Hamburg Beruf: Politiker Ausbildung: Studium zum Diplom-Volkswirt an der Uni Kiel Status: Ein Mann sieht rot
Peer Steinbrück kommt direkt vom Bundestag ins Berliner Studio unseres Fotografen. Gut ge-launt, leger, ohne Krawatte. Die entscheidende Phase des Wahlkampfs liegt noch vor ihm. Sein Elan ist spürbar. Man hat den Eindruck, als wolle er gleich das Jackett ausziehen und die Ärmel hochkrempeln, um allen zu zeigen: Die miesen Umfragewerte, der mehr als holprige Start als SPD-Kanzlerkandidat, die atmosphärischen Störungen mit Sigmar Gabriel - juckt mich alles gar nicht mehr, jetzt geht's bei null los! Der Mann glaubt unverdrossen an seine Siegchance bei der Bundestagswahl. Sein Pressesprecher Rolf Kleine, der ehemalige Bild-Journalist, begleitet ihn. Das Interview dauert gerade einmal 25 Minuten. Steinbrück überlegt bei jeder Frage nur kurz, greift manchmal auf herumliegende Requisiten aus dem Fotostudio zurück und antwortet meist spontan. Für Pressemann Kleine bei einer Antwort »vielleicht etwas zu spontan«. Dieses Foto mit dem Stinkefinger, das würde er gern streichen, sagt Kleine beim Betrachten der Fotos nach dem Interview. Aber Steinbrück - bekannt für seine gradlinige Art, für seine Ecken und Kanten - lässt sich nicht dreinreden: »Nein, das ist okay so.«